Sechs in der Eifel - Carola Clasen - E-Book

Sechs in der Eifel E-Book

Carola Clasen

4,8

Beschreibung

Wenn in der Eifelnacht die Masken fallen ... Sechs Studenten der Psychologie verbringen ihre Semesterferien auf Hof Bergrath, einem verlassenen Bauernhof in der Nähe von Weyer in der Eifel. In Rollenspielen erproben sie die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit, verkleidet als Vampir, Pirat, Cäsar, Dirndl, Schneewittchen und Krankenschwester. Hauptkommissarin Sonja Senger tanzt derweil auf einer Party in der Bonner Staatsanwaltschaft, flieht nach einer Stippvisite aus der neuen Wohnung von Oberstaatsanwalt Wesseling und verfährt sich auf dem Heimweg in die Eifel hoffnungslos. Ihr Auto wird gestohlen, als sie es kurz aus den Augen lässt, und zu Fuß geht sie einem roten Licht entgegen, das durch den Blätterwald flackert. Sie erreicht einen Hof. Das Schild "Zutritt verboten" kann sie nicht daran hindern, einzutreten. Am Fuße einer Treppe liegt eine Krankenschwester tot am Boden, und eine Handvoll Kostümierter steht ratlos um sie herum. Ein Unfall? Sonja Senger kommen Zweifel. Sie nimmt völlig verkatert und noch im Abendkleid die Ermittlungen auf und lässt die Tote in die Rechtsmedizin bringen. Als man aber dort von keiner sturzfremden Gewalt ausgeht, glaubt sie, die schreckliche Nacht für immer vergessen zu können. Aber da geschieht ein weiteres Unglück auf Hof Bergrath ...

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Carola Clasen

Sechs in der Eifel

Bisher von der Autorin bei KBV erschienen:

»Novembernebel«

»Das Fenster zum Zoo«

»Tot und begraben«

»Auszeit«

»Schwarze Schafe«

»Wildflug«

»Mord im Eifel-Express«

»Spiel mir das Lied vom Wind«

»Tote gehen nicht den Eifelsteig«

»Die Eifel sehen und sterben«

»Nirgendwo in der Eifel«

Seit 1998 schreibt Carola Clasen Kriminalromane, die in der Eifel spielen. »Sechs in der Eifel« ist ihr achter Roman mit der eigenwilligen Kommissarin Sonja Senger. Auch mit ihren Kurzgeschichten und Lesungen hat Carola Clasen sich einen Namen in der Region gemacht. Die »Queen of Eifel-Crime« ist Mitglied im Syndikat, lebt und arbeitet in Hürth.

Carola Clasen

Sechs in der Eifel

Der achte Fall von Sonja Senger

Originalausgabe

© 2013 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-942446-95-2

E-Book-ISBN 978-3-95441-145-0

Für Marie-Luise und InaIhr wisst schon, warum.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

»Das verstehe ich nicht«, sagte Martin Beck.

Kommissar der Riksmord-Kommissionen in Stockholm,in Und die Großen lässt man laufenvon Maj Sjöwall und Per Wahlöö

1. Kapitel

Kaum hatte Anselmo die Tür des kleinen Mansardenzimmers hinter sich geschlossen, stürmte Sandra ans Fenster, zog die Gardinen zurück und riss beide Flügel auf. Es war kurz nach Mitternacht, ein zunehmender Mond hing in einem wolkenlos schwarzen Himmel voller Sterne. Alle sechs Birnen der Deckenlampe brannten, die ganze Welt sollte sehen, wenn Sandra sich auszog.

Obwohl sie eigentlich niemand sehen konnte, wie Anselmo wusste, denn Uwe hatte ihnen die absolute Einöde in Weyer in der Eifel versprochen, und tatsächlich stand weit und breit kein anderes Haus am Waldrand. Der alte Hof Bergrath mitsamt Scheune und Schuppen gehörte Uwes Vater, der aber keinerlei Interesse daran zeigte, sondern ihn leer stehen und verkommen ließ. Er wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass sein eigener Sohn hier jeden Sommer mit sechs Kommilitonen ein paar Wochen lang immer wieder das gleiche aufregende Rollenspiel veranstaltete. Sie nannten das »Sommermärchen«.

In Karnevalskostüme verkleidet konnten sich die Studenten neu erfinden. Jeder Tag stand unter einem anderen Motto. Gestern war es um Vertrauen gegangen, vorgestern um Loslassen. Eifersucht war das heutige Thema. Ein spannendes Problem aus psychologischer Sicht. Ging es doch bei der Eifersucht ursprünglich vor allem darum, die eigene Stellung innerhalb einer Gruppe und damit letztlich den Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen zu sichern.

Das war schon der vierte Sommer, und jeder verlief anders, obwohl die Themen immer dieselben waren. Jeder der ausgewählten Probanden ging anders mit den künstlich gestellten Situationen um. Einmal hatten zwei schon in der ersten Nacht den Hof panikartig verlassen, und letzten Sommer, da hatte es eine ziemlich heftige Prügelei unter den Männern gegeben, und die Frauen hatten sich beinah die Augen ausgekratzt.

Und in diesem Jahr? Noch war alles paletti. Keine Katastrophen in Sicht. Eine Woche lang hielten alle tapfer durch. Drei Wochen hatten sie noch vor sich. An ihm sollte es nicht liegen, dachte Anselmo und freute sich auf eine Nacht ganz allein mit Sandra Klemens.

Er musterte sie ausgiebig. Sie war hübsch, nicht gerade schlank, ihr Krankenschwesterkostüm machte ihre Kurven unübersehbar. Und sie hatte diese ungeheure Lust auf alles, was sich jenseits der Konventionen befand. Verglichen mit den beiden anderen jungen Frauen, Schneewittchen und Dirndl, mit denen Anselmo schon das Vergnügen gehabt hatte, war Krankenschwester Sandra eindeutig das große Los. Im wirklichen Leben war sie – wie alle anderen auch – Studentin der Psychologie.

Sie stand noch immer am Fenster. Sie breitete die Arme aus, schüttelte ihre langen, blonden Haare unter dem Schwesternhäubchen und rief in die Finsternis hinein: »Die Show beginnt!« Sie öffnete den breiten, roten Lackledergürtel, den sie um ihren engen Schwesternkittel, der knapp ihren runden Po bedeckte, gebunden hatte. Lasziv ließ sie den Gürtel hinter sich fallen, sodass er sich um ihre roten Highheels schlängelte, ehe sie sich wieder Anselmo zuwandte und aufgeregt rief: »Da ist jemand!«

Anselmo schielte über ihre Schulter und entdeckte tatsächlich gegenüber im kleinen Fenster des Schuppens ein wackliges Licht, das gegen die Dunkelheit kämpfte. Unmöglich, Sandra sah Gespenster. »Ach wo! Das ist nur unsere Deckenlampe, die sich in der Fensterscheibe spiegelt.«

»Nein«, behauptete Sandra. »Echt! Da ist jemand!«

»Und wenn schon!«, sagte Anselmo und legte seine weißen Vampirhandschuhe um ihren Hals. »Dann bieten wir ihm was!«

Von der Musik, die durch das Haus dröhnte, kamen im ersten Stock nur die rhythmischen Bässe an. Sandra und Anselmo bewegten sich dazu im Takt. Die ersten Motten segelten herein und steuerten auf die Deckenlampe zu. Anselmo streifte die weißen Handschuhe von seinen Händen und öffnete den Haken seines schwarzen Umhangs mit dem hohen Kragen des Vampirkostüms, ließ ihn von den Schultern gleiten und schleuderte ihn durch die Luft wie ein Torero seine Muleta.

Sandra öffnete den ersten Knopf ihres Kittels. Der Ausschnitt gab den Blick auf ihren roten Spitzenbüstenhalter und das kleine Tattoo auf der rechten Brust frei. Anselmo konnte seinen Blick kaum von der schwarzen Rose abwenden, deren Blätter sich öffneten.

Der zweite Knopf, der dritte Knopf, der Kittel sprang auf. Die schwarzen, halterlosen Strümpfe endeten eine Handbreit unter dem knappen Slip. Im Bauchnabel glitzerte eine Perle.

Anselmo riss sich das weiße Rüschenhemd vom Leib. Sein Amulett – ein silbernes Pentagramm – verdrehte sich am Lederband, ehe es auf seiner nackten Brust zur Ruhe kam.

Sandra warf die roten Highheels von den Füßen, kam mit tänzelnden Schritten auf Anselmo zu, legte ihre Hände auf seine Schultern und ließ sie langsam über seine Brust und seinen flachen Bauch bis zu seinem Gürtel gleiten. Anselmo knirschte mit seinen Vampirzähnen und fauchte leise.

»Beiß mich«, hauchte sie.

»Wenn du die Strümpfe anlässt«, forderte er.

»Wie du willst«, flötete Sandra und drehte sich zum offenen Fenster. Für den unsichtbaren Mann im Schuppen streichelten sie sich. Anselmo trat hinter sie, hakte ihren BH auf, streifte die Träger von ihren Schultern. Sandra warf den Kopf zurück.

»Leg dich hin!«, verlangte Anselmo.

Sandra winkte dem Licht im Schuppen zum Abschied zu, schickte ihm einen Luftkuss, gewährte ihm einen letzten Anblick ihrer Rückseite, ehe sie umständlich aufs Bett kletterte auf der Suche nach einer malerischen Position. Sie rekelte sich auf den Laken, kreuzte die Arme unter dem Kopf und winkelte ein Bein an. Das Schwesternhäubchen mit dem roten Kreuz rutschte ihr über den Pony.

Mit einem Hechtsprung warf Anselmo sich auf sie. Sie schrie auf. Das Bett ging in die Knie. Er presste seine Lippen an ihren Hals und begann an ihrer Schlagader zu knabbern. Von dort wanderten seine Vampirzähne über ihre Brüste und ihren Bauch und nagten zart an der Innenseite ihrer Oberschenkel.

Vergessen waren das offene Fenster, die Festbeleuchtung, das Schwirren der Motten, die schwarze Nacht, das Licht im Schuppen, die Freunde, die Bässe, die Welt.

Und ungehört öffnete sich die Tür.

2. Kapitel

Wenn möglich, bitte wenden, riet Alexander fürsorglich.

»Ach, nee!« Hauptkommissarin Sonja Senger hielt an, beugte sich vor, legte ihr Kinn aufs Lenkrad und blinzelte durch die Windschutzscheibe: Keine Straßenlaternen, keine Ampeln, keine Häuser, keine anderen Autos, rein gar nichts war zu erkennen, nur die Stele einer einsamen Bushaltestelle, die das Licht der Scheinwerfer reflektierte. Sonja bog in die Parkbucht ab und entnahm der Inschrift, dass sie sich an der Haltestelle Siedlung Weyer befand. Sie stieg aus und studierte den Fahrplan. Die Linie 821 fuhr auf dieser Seite in Richtung Kall.

»Kall?« Das war völlig unmöglich! Sie kam aus Bonn und wollte nach Hause, nach Wolfgarten. Kall lag keinesfalls auf ihrer Strecke.

Der 821er war ein sogenannter Taxi-Bus, der nur auf telefonische Anforderung fuhr und das nur zu zivilen Zeiten und erst dreißig Minuten, nachdem man auf die Idee gekommen war, mit einem Bus fahren zu wollen. Aber auf keinen Fall um 1.27 Uhr mitten in der Nacht.

Gegenüber, wo es nicht nur eine weitere Stele, sondern auch ein marodes Wartehäuschen mit Bank gab, fuhr der 821er nach Zingsheim – wenn man ihn vorher angefordert hatte. Zingsheim! Das war genauso unmöglich. Und perfide zugleich. Der VRS spielte der Frau Hauptkommissarin einen bösen Streich. Anders konnte es nicht sein. Einziger Trost war, dass Sonja nun wusste, wo sie sich befand. Aber auch das war kein Anlass zur Zuversicht.

Als sie wieder ins Auto stieg, schnurrte Alexander wieder: Wenn möglich, bitte wenden.

»Klugscheißer!«, fluchte sie, was ungerecht war, denn sie hatte ihr Navigationsgerät erst vor wenigen Kilometern eingeschaltet, als sie feststellte, dass sie die Orientierung verloren hatte. Und Alexander hatte bis eben noch vergeblich versucht, Kontakt zu einem Satelliten herzustellen.

Sonja tippte auf das Display, der Kartenausschnitt verkleinerte sich, weitere Ortschaften tauchten auf: Urft, Weyer, Zingsheim, Nettersheim. Die Straße, auf der sie stand, war die L 206.

Wenn möglich, bitte wenden.

»Ja, ja, ist ja schon gut.« Sonja hatte eine männliche Stimme gewählt, als sie ihr neues Navi einrichtete, weil sie es liebte, mit einem Mann zu diskutieren und nicht zu tun, was er sagte. Ihn Alexander zu nennen, war nicht Sonjas Idee gewesen, sondern die des Herstellers, der auch noch eine Frauenstimme namens Daniela im Programm hatte. Wütend koppelte Sonja das Navi aus seiner Befestigung und warf es neben sich, trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad und sprang wieder aus dem Auto.

Sie trug ein dunkelrotes, schmal geschnittenes Abendkleid aus leichtem Jersey, das nicht besonders tief ausgeschnitten, aber ärmellos und eng anliegend war und ihr bis auf die Knöchel reichte. Sie zog die schwarze Stola vom Rücksitz und raffte sie um ihre Schultern. Ratlos strich sie mit den Händen über das feuchte Autodach und beobachtete ihre Atemstöße, wie sie sich im Dunst der Nacht verloren. Unruhig blickte sie sich um. Kälte und Dunkelheit und Stille und Einsamkeit. Sie redete sich gut zu: Polizisten kennen keine Angst.

Die Frage, wie sie hier wieder wegkam, war weniger brisant als die Frage, wie sie bloß hierhergekommen war.

Sie war zu einer Party in die Staatsanwaltschaft Bonn eingeladen worden, hatte ein Glas Rotwein zu viel getrunken, zu viel geredet und gegessen. Als Krönung hatte sie ihren obersten Dienstherrn, Oberstaatsanwalt Bernd Wesseling, dazu überredet, mit ihr ein Tänzchen zu wagen. Zur Belustigung der Kollegen waren sie sich gegenseitig auf die Füße getreten und sich dabei nähergekommen, rein physisch, als je zuvor. In einem Anfall von Übermut hatte sie nicht widerstehen können, als er ihr lange vor Ende der Veranstaltung unbedingt seine neue Wohnung zeigen wollte. Sie war hinter ihm hergefahren und fragte sich, ob sie von allen guten Geistern verlassen sei. Ja, sie war es.

Bernd Wesseling hatte sich vor zwei Jahren aus unklaren Gründen von Aachen nach Bonn versetzen lassen. Nach einem halben Jahr war er das Pendeln satt geworden und hatte nach einer kleinen Dienstwohnung gesucht, denn Hilde, seine Frau, hatte nicht umziehen wollen. Sie hatte ihn noch nie in Bonn besucht. Das Ehepaar Wesseling führte nun eine Fernbeziehung, die beiden sahen sich nur am Wochenende, und nicht an jedem, was – wie Wesseling betonte – ihrer Ehe guttat. Obwohl er nicht mehr ganz so korrekt gekleidet war wie zu der Zeit, als Hilde noch auf seine Bügelfalten geachtet hatte, saß sein blonder Mittelscheitel doch immer akkurat am selben Platz, und seinen Herrenduft hatte er auch nicht gewechselt. Jene Mischung aus Sandelholz, Tabak und Zedern, von der er offenbar annahm, dass sie Frauen betörte.

Seine neue Wohnung lag unterm Dach in einer alten, hochherrschaftlichen Villa an der Poppelsdorfer Allee. Unten wohnte die Eigentümerin, eine ältere Dame, Elisabeth Hornschuh, Kunsthistorikerin im Ruhestand und Witwe, im ersten Stock ihr Sohn Theo, ein junger Anwalt, der aber die meiste Zeit in seiner Kanzlei verbrachte. Einen Staatsanwalt im Haus zu haben, empfand Frau Hornschuh als beruhigend, noch dazu einen älteren, seriösen Herrn, der gewiss kein Lotterleben führen würde.

So konnte man sich irren.

Die alte Dame war noch wach, hinter den Vorhängen brannte ein schummriges Licht. Die geschwungene Holztreppe knarrte unter den Schritten der verstohlenen Heimkehrer, sie kicherten und stolperten. Als sie oben angekommen waren, wurde unten eine Tür geöffnet.

»Herr Oberstaatsanwalt?«, krähte Frau Hornschuh.

»Psst!«, machte Wesseling und zog Sonja zu seiner Wohnungstür.

»Alles in Ordnung?«

»Aber sicher«, antwortete er, trat an das Geländer und sah hinunter. »Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie geweckt haben sollte.« Ganz Gentleman vom Mittelscheitel bis zum handgenähten Lederschuh.

»Nein, nein, das haben Sie nicht«, beteuerte Frau Hornschuh und trat in die Diele.

Sonja konnte sie nicht sehen, aber sie hatte sich längst ein Bild von ihr gemacht. Weiße Haare, aufgesteckt zu einer Vogelnestfrisur, teure Perlenkette auf einem grauem Twinset, Plüschpantoffeln – so musste sie aussehen.

»Ich bin froh«, rief die alte Dame, »dass Sie endlich da sind. Ich kann einfach nicht schlafen, wenn ich allein im Haus bin, und Theo ist noch unterwegs.«

»Ein fleißiger Junge«, lobte Wesseling. »Aus dem wird mal was.«

»Das will ich hoffen«, sagte Frau Hornschuh. »Eine gute Nacht wünsche ich Ihnen, Herr Oberstaatsanwalt, und der Dame auch.«

Wesseling wollte protestieren, aber sie hatte ihre Wohnungstüre schon zugedrückt. Er schloss seine Wohnung auf, küsste Sonja auf den Handrücken und schob sie sanft hinein. Im Halbdunkel streifte er ihr die Stola von den Schultern, hängte sie an den Türgriff und fragte: »Was möchtest du trinken?«

»Wasser!«, stieß Sonja hervor, balancierte voraus und hörte, wie die Wohnungstür mit einem kleinen Seufzer zufiel.

Der Flur war lang und schmal. Die Zimmertüren standen weit offen. Wohn- und Schlafzimmer seines Asyls zeigten zum dunklen Garten, Küche und Bad blickten über die Straße hinweg zur gegenüberliegenden Häuserzeile, ebenfalls Villen mit hohen, halbrunden Fenstern, Erkern und Giebeln.

Sonja konstatierte Gediegenheit: alte Dielenböden, Stuck an den Zimmerdecken, weiß lackierte Kassettentüren. Wesseling hatte seine Wohnung minimalistisch eingerichtet, kein Nippes, keine Blumen. Allein ein Balkon fehlte, wie Sonja im Stillen bemängelte.

Wesseling hängte sein Jackett ordentlich über eine Stuhllehne. Er trug ein blau-weiß gestreiftes Hemd und eine rote Krawatte. Er schenkte Rotwein in zwei Gläser. Sie ließ sich auf das schwarze Ledersofa fallen, er legte eine Platte auf – er hatte tatsächlich einen Schallplattenspieler –, setzte sich auf die Armlehne und reichte ihr ein Glas. War es das Glas, das ihre nackte Schulter kurz berührte, oder seine Finger? Sie prosteten sich zu, leise Piano-Musik begann im Hintergrund zu plätschern.

»Gershwin«, erklärte Wesseling überflüssigerweise. Sonja hatte Summertime aus Porgy and Bess längst erkannt. Sie nippte am Wein, er trank gar nichts, beide stellten ihre Gläser zurück. Er beugte sich hinunter zu ihr, näherte sich ihrem Ohr und flüsterte hinein: »Endlich.«

Sonja zog die Stirn kraus. Moment! Was ging hier vor? Sollte dieses »Endlich« sich auf ihren letzten gemeinsamen Fall vor über einem Jahr beziehen, als er darauf bestanden hatte, sie nach Hause zu fahren, nachdem sie sich auf dem Eifelsteig bei einem Gerangel mit Tätern und Opfern ihr rechtes Bein verletzt hatte? Seine Fürsorge im Schlafzimmer des Forsthauses war damals nur durch den Kollegen Neugebauer gestört worden, der Wesseling seinen Dienstwagen brachte, kurz bevor ... oder hatte er etwa schon länger ... etwa schon seit ihrer ersten Begegnung auf dem Feuerwachturm ... oder immer schon? Und sie selbst? Wollte sie das? Nein, hämmerte es in ihrem Kopf. Nein, nein, nicht jetzt, nicht hier, nicht so!

»Ich muss gehen«, sagte sie entschlossen, stieß ihn beiseite, erhob sich und strich ihr Kleid glatt. Ehe er aufstehen konnte, war sie schon an der Tür und nahm ihre Stola von der Klinke.

»Tut mir leid«, sagte sie, wartete seine Worte nicht ab, balancierte auf Zehenspitzen die Holztreppe hinunter und hörte, wie hinter ihr die Wohnungstür mit einem kleinen Seufzer zufiel.

Sonja floh hinaus und in ihr Auto wie auf eine rettende Insel, warf den Motor an und scherte aus. Ohne Hinweisschilder zu beachten, irrte sie umher, sie wollte nicht nach Hause. Noch nicht. Nach einigen Kilometern entkam sie endlich der Stadt Bonn und geriet auf freie Strecke, wo sie Gas geben und mit jedem Kilometer dem entsetzlichen Gedanken davonbrausen konnte: Was wäre geschehen, wenn sie geblieben wäre?

»Mist! Mist! Mist!«, fluchte Sonja und schlug dreimal mit der Faust aufs Autodach. Als der dumpfe Knall verhallt war, blinzelte sie hilfesuchend in den Himmel. Es war eine klare, wolkenlose Nacht. Die blasse Mondsichel war ab-, nein, zunehmend, und um sie herum tummelten sich die für einen Julihimmel üblichen Sternenkombinationen. Hilfe war von dort oben nicht zu erwarten. Auf keinen Fall würde jemand eine gepflegte Damentoilette herunterfallen lassen.

Sie stieg wieder ein, rollte einige Meter weiter, bog in einen Forstweg ein und parkte vor einer geschlossenen, rot-weißen Schranke. Die Scheinwerfer leuchteten ihr den Weg, als sie auf der Suche nach einem geeigneten Plätzchen unter der Schranke herkroch und hinter der Informationstafel Grabhügel der vorrömischen Eisenzeit über die Böschung kletterte.

3. Kapitel

Ein Poltern, lang anhaltend, kurze Stille, spitze Schreie. Sie gellten durchs Haus und riefen nach und nach die anderen auf den Plan: Schneewittchen, Dirndl und Cäsar, alle drei kaum bekleidet, aufgeschreckt, mit erhitzten Gesichtern, hielten sich an den Händen. Ungläubig kamen sie näher, schnell versuchten ihre Blicke die Situation zu erfassen.

Sandra lag am Fuß der Treppe auf dem Steinboden, wie dahingestreckt, Arme und Beine seltsam verdreht und verwinkelt und schlaff wie bei einer Puppe. Das Schwesternhäubchen mit dem roten Kreuz saß schief, der kurze Kittel hatte sich geöffnet und legte einen braun gebrannten Busen und den Spitzenansatz eines Slips frei. Die halterlosen Strümpfe waren verrutscht und durchlöchert. Schuhe trug sie keine. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Augen starrten unbeweglich in das Licht des Kronleuchters. Anselmo kniete neben ihr.

»Was ist passiert?«, schrie Dirndl und schlug sich die Hand vor den Mund.

»Sie ist gestürzt!« Die Stimme kam von oben. Dort stand Uwe in seinem Piratenkostüm auf dem Treppenabsatz und hielt sich am Geländer fest, als wäre ihm schwindlig.

Anselmo legte seine Hand an Sandras Hals, dorthin, wo seine Vampirzähne rote Flecken hinterlassen hatten. Er fühlte keinen Puls, schlug ihr gegen die Wangen und schrie: »Sandra! Sandra! Hörst du mich?« Er knetete ihren Brustkorb, er blies ihr seinen Atem in den offen stehenden, rot bemalten Mund, nichts, nichts, sie reagierte nicht. »Sandra! Bitte! Sandra!« Er hob ihren Kopf vorsichtig an und entdeckte eine Blutspur, die durch ihre Haare sickerte. »Nein!« Langsam legte er den Kopf wieder ab und strich ihr über die Wangen. »Nein!«

»Wieso?«, stieß das Dirndl hervor.

Schneewittchen griff sich ans Herz, ihre Stimme kippte um: »Wie konnte es ...?«

»Das ist doch unmöglich!«, winselte Cäsar.

»Wir müssen den Notarzt rufen!«, forderte Anselmo.

»Warum? Du siehst doch, dass sie tot ist!«, schrie Uwe von oben.

»Oh mein Gott!«, schrie Cäsar mit hochrotem Kopf. Seine Worte prallten an den Wänden ab. Als das Echo im Treppenhaus verhallt war, breitete sich entsetztes Schweigen aus.

»Das war kein Unfall!« Anselmos Stimme durchschnitt die Stille.

Uwe lachte drohend auf. Schneewittchen und Dirndl und Cäsar blickten fragend von einem zum anderen und rissen entsetzt die Augen auf.

Das Dirndl fasste sich mit beiden Händen an den Hals: »Aber ...«

Schneewittchen erbleichte, sie schwankte, drohte in Ohnmacht zu fallen: »Was denn sonst?«

Cäsar stand der Schweiß auf der Oberlippe: »Was denn sonst, etwa ...?«

»Mord!«, schrie Anselmo erbost. »Mord! Es war Mord!«

Uwe setzte einen Fuß auf die oberste Treppenstufe. »Gut, wenn du es unbedingt so willst, dann kannst du auch gleich zugeben, dass du es warst, der sie heruntergestoßen hat.«

»Anselmo?«, kreischten Schneewittchen und Dirndl im Chor und wandten sich ihm zu.

»Ich war es nicht!«, fluchte Anselmo.

»Du?«, stieß nun auch Cäsar hervor. Nervös nestelte er an seinem goldenen Gewand, das völlig verknautscht war, und wackelte nervös an seinem Lorbeerkranz aus Plastik, der ihm über den Kopf bis auf seine Schultern gerutscht war und aussah wie eine zu enge Kette. »Du? Ausgerechnet du?«

»Anselmo Lopes!«, ertönte Uwes unheilschwangere Stimme von oben. »Wir haben einen Mörder unter uns!« So sicher und endgültig hörte sich das an wie das Jüngste Gericht.

Mit weit aufgerissenen, schwarz geschminkten Augen starrten die beiden Frauen ihn an, als sei er tatsächlich zum Vampir mutiert.

»Ihr seid ja alle wahnsinnig!«, fluchte er, war mit zwei Schritten an der Haustür und stürzte hinaus, flog mit einem Satz die Stufen hinunter und stolperte in die Dunkelheit. Gehetzt blickte er sich um, aber niemand folgte ihm. Im Laufen riss er das Vampirgebiss aus seinem Mund und trug es in der geballten Faust, so fest, dass sich die Zähne in seine Handballen bohrten. Der Schmerz tat gut. Anselmo griff fester zu. Nicht genug Schmerz. Sein Herz schlug bis zum Hals.

Er kannte den Weg zur Landstraße. Was er dort tun könnte, wusste er erst, als durch das Unterholz die Scheinwerfer eines Auto aufblinkten, das vor der geschlossenen Schranke angehalten hatte. Atemlos hielt er inne, zerrte den schwarzen Umhang aus dem Hosenbund, schlug ihn über die Schultern und hielt ihn vorne zusammen, damit seine nackte, helle Haut und das glänzende Amulett ihn nicht verraten konnten. Dann sprang er von Deckung zu Deckung. Während er hinter dem letzten Baum beobachtete, wie der Fahrer ausstieg, wünschte er, dass er sich nicht kalkweiß geschminkt hätte.

Der Fahrer war eine Frau. Sie trug ein langes Kleid und blickte sich suchend um. Was trieb sie hier mitten in der Nacht? Hatte sie sich verfahren? Hatte sie eine Verabredung? Ein dunkles Geschäft? Wütend fluchte und schimpfte sie herum, während sie unter der Schranke hindurchkroch und hinter der Informationstafel Grabhügel der vorrömischen Eisenzeit über die Böschung kletterte. Als sie zwischen den ersten Baumstämmen verschwand, war Anselmos Stunde gekommen, und er sprang mit einem Satz über die Schranke.

4. Kapitel

Mitten in das erleichterte Aufatmen drangen hastige Schritte und ein Schnaufen an Sonja Sengers Ohr, gefolgt vom leisen Klacken einer Tür, einem vorsichtigen Brummen, dem schabenden Rollen von Reifen auf Asphalt. Sonja richtete sich auf. Die zwei Lichtkegel entfernten sich und wandten sich ab. Hastig stolperte sie über die Böschung, kroch unter der Schranke hindurch und lief zur Landstraße, stellte sich mitten auf den Asphalt und stemmte die Hände in die Hüften. »Das darf doch nicht wahr sein!«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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