Mord in Beat - Mel Arrighi - E-Book

Mord in Beat E-Book

Mel Arrighi

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Beschreibung

Ich habe Wanda erstochen – beteuert Ken. Es gibt gar keine Leiche – beteuert die Polizei. Das Blut stammt von einer harmlosen Schnittwunde – beteuert die Kronzeugin. Der Mord war nur gespielt – beteuert Wandas Regisseur. Daß solche Widersprüche selbst einen Anwalt unsicher machen, ist klar. Wie er sie aufklären will, ist allerdings unklar. Und als die Tote in voller Lebensgröße vor ihm steht, scheinen die letzten Reste von Klarheit beseitigt ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Mel Arrighi

Mord in Beat

Aus dem Amerikanischen von Wolf Hackenberg

FISCHER Digital

Inhalt

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1

Es war ein lausiges Jahr gewesen. Von meinen letzten zehn Fällen hatte ich zehn verloren. Die Spielautomaten zeigten immer nur Null Null Null an. Es reichte, um das Selbstvertrauen von jedem Anwalt zu unterminieren.

Einen anderen Weg als den nach oben gibt’s jetzt gar nicht mehr, hatte ich mir dauernd eingeredet. Aber als ich an diesem Morgen im Korridor stand und zuschaute, wie der Polizeichef mit seinen Leuten die Möbel aus meinem Büro trug, überzeugte mich auch diese Redensart nicht mehr. Du hast’s mal wieder geschafft, Harrington, sagte ich mir; du hast einen neuen Tiefpunkt deiner bemerkenswerten Karriere erreicht.

Der Polizeichef kam mit einem Arm voller Gesetzbücher aus dem Büro. Er hatte die geschmeidige Sorglosigkeit eines Eisbären, und schon der erste Blick überzeugte einen, daß man ihm nichts anvertrauen durfte, was zerbrechlicher war als ein Stück Abflußrohr. Und natürlich ließ er auch prompt die Hälfte fallen, mir direkt vor die Füße. Das dickste Buch traf mit der Kante genau meine große Zehe.

»Vorsicht!« schnauzte ich, als wir uns beide bückten, um die Bücher aufzuheben. »Wenn das kaputtgeht, wird die volle Kraft des Gesetzes Sie treffen!«

»Herr Rechtsanwalt, das Gesetz sind wir!« erinnerte er mich voller Würde. Er streckte sich und preßte die Bücher an die Brust wie einen Stoß Brennholz. Ich hörte die Einbände platzen, als dieser Neandertaler sie wie trockene Zweige umarmte.

Ich trat zur Seite und schaute hilflos zu, wie der Polizeichef mit seinen Männern dieses gräßliche Geschäft beendete.

Es gibt nichts Deprimierenderes für einen Anwalt, als wenn er aus seinem eigenen Büro hinausgeworfen wird. Als ob einem Taschendieb die Brieftasche geklaut wird; oder wenn ein Kinderarzt die Masern kriegt. Du bist der Fachmann; du solltest wissen, wie man solche Ungelegenheiten vermeidet.

Sicher, ich war drei Monate mit der Miete im Rückstand. Aber das ist ja schließlich nichts Neues in der Geschichte der Beziehungen zwischen Hausbesitzer und Mieter. Es gibt zivilisierte Hausbesitzer in dieser Welt, die in solchen Situationen eine löbliche Toleranz offenbaren. Doch die Verwalter dieses Gebäudes, die Herren Cramer & Lipp, waren weder zivilisiert noch tolerant. Meine Nase paßte ihnen nicht. Sie wollten mich auf die erniedrigendste Weise eliminieren.

Ich war so töricht gewesen, einen ehemaligen Mieter in einem Prozeß gegen Cramer & Lipp zu vertreten. Mein Klient war ein aufgeweckter junger Bücherrevisor, der ein Büro in einem der komfortablen, modernen, von Cramer & Lipp verwalteten Häuser gemietet hatte. Erst nach Unterzeichnung des Vertrags kam die Hausverwaltung dahinter, daß es sich um einen Neger handelte.

Cramer & Lipp lauerten auf eine passende Gelegenheit. Sie warteten, bis dieser arme Bücherrevisor gegen eine der hundertundelf kleingedruckten Vorschriften des Mietvertrags verstieß. Und dann kündigten sie ihm. Es war ein klarer Fall von Diskriminierung, und in diesem Sinne argumentierte ich auch vor Gericht. Ich verlor natürlich.

Man hätte nun meinen sollen, diese Wahlkämpfe finanzierende Gesellschaft von Rechtsheuchlern würde Vergangenes begraben sein lassen. Doch weit gefehlt. Cramer & Lipp beargwöhnten mich mit Argusaugen. Die Wohnungsmakler wurden angewiesen, über die »fragwürdigen« Leute zu tuscheln, die mein Büro frequentierten.

Mein Mietvertrag lief aus. Cramer & Lipp weigerten sich, ihn zu erneuern. Ich blieb; nun aber als »säumiger Mieter«. Ich ahnte nichts Böses. Ich hatte so viele Jahre dort gewohnt, daß ich mir einbildete, ich sei auch so eine ständige Einrichtung dieses Hauses wie der Schokoladenautomat unten in der Halle. Cramer & Lipp, gerissen wie sie waren, warteten, bis harte Zeiten für mich anbrachen; bis ich einmal die durchaus passable Miete nicht zahlen konnte, die ich über so lange Zeit hinweg pünktlich gezahlt hatte. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, warteten sie ein paar Monate. Dann schlugen sie zu. Sie verdoppelten meine Miete.

Das war’s. Die Rückstände und die neue Miete waren mehr, als ich bei meinen begrenzten Möglichkeiten zusammenschnorren konnte. Die Kündigung kam, und ich flog raus.

Es war ein verrottetes, altes und feuergefährliches Bürogebäude. Doch ich würde es vermissen. Seit ich meine Praxis eröffnet hatte, war hier, am unteren Broadway, mein Büro gewesen. Eine Ära war zu Ende. Ich hatte nicht das Geld, um mir ein neues Büro zu mieten. Und es ist nicht einfach, als Jurist mit dem Hut in der Hand Klienten zu finden; zumal, wenn dieser Hut schon einen Fettfleck hat.

Gelinde ausgedrückt – meine Aussichten waren trübe. Während ich derart trübsinnig über meine Zukunft meditierte, bemerkte ich zwei junge Leute – einen Jungen und ein Mädchen –, die den Flur entlang rasch auf mich zukamen. Das Mädchen kannte ich. Ein kleiner Beebop-Fan namens Shelly Green.

»Was ist denn passiert, Harrington?« rief mir Shelly beim Näherkommen zu. Sie trug eine enge, unten weit ausgestellte Hose, viel freien Bauch mit Nabel als Blickfang. Sie war erst achtzehn, aber ihr Busen hatte beängstigende Ausmaße. Ihr Haar, lang und glatt, schrie nach einer Wäsche. »Haben Sie Ihren Laden zugemacht?« fragte sie.

»Gekündigt, ja. Aber nicht arbeitslos«, entgegnete ich tapfer. »Sie können mir mein Büro wegnehmen. Aber meine Ausbildung und meine Erfahrung, die bleiben.«

»Ausgezeichnet«, sagte Shelly. »Ich habe Ihnen einen Klienten mitgebracht.«

Ich warf einen raschen Blick auf ihren Begleiter. Noch ein verlorener Prozeß. Genau das, was ich jetzt brauchte.

Es war ein junger Bursche, Anfang Zwanzig, mit einem netten, frischen Gesicht. Aber offenbar in miserabler Verfassung. Sein Pulloverhemd und die Hosen waren unsauber und zerknittert, als schlafe er auch darin. Er hatte sich zwar rasiert, aber er mußte ziemlich nervös dabei gewesen sein, denn sein Kinn war reichlich zerhackt. Er hatte die sentimental-verängstigten Hundeaugen eines gehetzten Opfers.

»Er braucht Hilfe, Harrington«, fuhr Shelly beharrlich fort.

»Die brauchen wir beide«, murmelte ich. Ich sah den Jungen an.

»Wie heißen Sie?«

»Ken«, antwortete er. »Ken Sadler.«

»Geht’s um Rauschgift?« Das ist eine wichtige Frage. Schieber und Rauschgiftsüchtige – das ist nicht mein Bier. Das stelle ich immer vorher schon klar.

Er antwortete nicht sofort. Er blickte so unsicher in die Gegend, als sei es gar nicht so einfach, diese Frage zu beantworten. »Nicht direkt«, sagte er schließlich.

»Na schön, ich habe ein paar Minuten Zeit.« Die Räumungsmannschaft hatte die Ruhe weg. Es war kein sonderlich erfreulicher Anblick, wie diese Affen meine Existenz demontierten. Und mir blutete immer das Herz, wenn es um junge Leute mit verstörten Augen und hilflosen Gesichtern ging. »Ziehen wir uns in mein provisorisches Büro zurück«, schlug ich vor.

Ich nahm sie mit in die schmierige Kneipe am Ende der Straße. Es war ein armseliges, stinkendes Loch; nicht mehr als eine Theke und ein paar Nischen an der gegenüberliegenden Wand. Die Luft war stickig und beißend vom Geruch gebrannten Kaffees. Was Küche oder Hygiene anbelangte, hatte ich keinerlei Grund, diesen Ort den etwas feineren Lokalen der Nachbarschaft vorzuziehen, wie etwa Horn & Hardast an der Ecke. Doch ich hatte hier jahrelang gegessen. Vielleicht habe ich ein gewisses Verhältnis zur Tradition. Und Saul, der Besitzer, besaß diesen Laden schon, solange ich mich erinnern konnte. In all den Jahren hatte er ihn lediglich einmal durch eine neue Tischdecke vervollkommnet; und deshalb war er mir sympathisch.

Ich steuerte in eine hintere Nische, wo wir einigermaßen ungestört waren. Shelly und Ken setzten sich mir gegenüber. Sie bestellten nur Kaffee. Ken sah nicht ausgesprochen wohlgenährt aus. Vermutlich hatte er seit Tagen nichts Gescheites in den Magen gekriegt. Aber vielleicht war es sogar besser, daß er gar nicht erst versuchte, etwas zu essen; er hätte wahrscheinlich alles wieder ausgespuckt.

Ich bin das genaue Gegenteil. Katastrophen steigern meinen Appetit. Ich bestellte Rühreier mit Schinken, dazu Pommes frites, Toast und Butter und Marmelade. Die beiden starrten mich völlig entgeistert an, während ich aß. Ich war bestrebt, mich in meinem Vergnügen nicht irritieren zu lassen.

Ich hatte es keineswegs eilig, mich mit seinem Fall zu befassen. Und Ken schien auch keine Eile zu haben, ihn zur Sprache zu bringen. Kauend gelang es mir, eine belanglose Plauderei in Gang zu halten. Ich erkundigte mich bei Shelly nach unserem gemeinsamen Freund Lancelot. Was hatte er zur Zeit für Pläne? Wie ging’s denn der Love Society?

Ich sollte noch ein Wort über Lancelot sagen, denn durch ihn hatte ich Shelly Green zufällig kennengelernt. Ich glaube zwar nicht, daß irgendwo auf dieser Erde noch Heilige umherwandeln. Doch dieser junge Lancelot kam meiner Vorstellung von einem Heiligen noch am nächsten. Vielleicht, weil er so jung war, ungefähr vierundzwanzig, und offenbar noch keine Gelegenheit gehabt hatte, von der Gesellschaft korrumpiert zu werden.

Lancelot gehört zu einer Hippie-Sekte, die sich die »Tillers« nennen. Diese »Tillers« sind junge Hippies, die die Geldwirtschaft abgeschafft haben, was eine hervorragende Idee ist, wenn sie gelingt. Sie verteilen Lebensmittel an Bedürftige und erbetteln sie von denen, die welche übrig haben. Kein Mammon befleckt diese Aktion; alles geschieht im Geiste der Liebe und Barmherzigkeit.

Lancelot rief dann etwas ins Leben, was sich Love Society nennt. Es ist keine Organisation; bei Lancelot ist überhaupt nichts organisiert. Es ist nur der Name, den irgend jemand diesem Unternehmen gegeben hat. Lancelot praktiziert das in seinem Wohnblock; genauer gesagt in zwei zusammenhängenden Appartements, die das gesamte Stockwerk eines Mietshauses am Tompkins Square in East Village einnehmen. Hier nimmt Lancelot jeden auf, der ein Dach über dem Kopf braucht. Man stellt keine Fragen. Man verlangt kein Geld. Gewöhnlich leben dort an die zwanzig bis fünfundzwanzig Leute für einige Zeit zusammen, Jungen und Mädchen. So eine Art Hippie-Heilsarmee-Herberge.

Lancelot führt ein hartes Regiment. Es gibt strenge Vorschriften. Keine Techtelmechtel mit Mädchen unter achtzehn. Kein Rauschgift innerhalb der Wohnung. Aber auch damit konnte er in der Nachbarschaft üppig wuchernde Gerüchte nicht verhindern. Und das sind ganz schön wilde Gerüchte!

Eines Tages mußte es ja passieren. Lancelot bekam Scherereien mit dem Gesetz. Er nahm ein sechzehnjähriges Mädchen auf, das plötzlich durchdrehte. Sie kehrte zu ihrer Familie zurück und erzählte Geschichten von wilden Orgien mit Lancelot und seinen »Tiller«-Knaben. Lancelot wurde wegen Beihilfe zu einem Vergehen an einer Minderjährigen angeklagt. Er nahm mich als Anwalt.

Ich gewann den Fall. Übrigens war das mein letzter Erfolg, bevor die Pechsträhne begann.

Es war nicht schwierig gewesen, vor Gericht die Absurdität der Anklage nachzuweisen. Im Rahmen meiner Verteidigung lud ich mehrere junge Mädchen, die bei der Love Society gewohnt hatten, als Entlastungszeugen für Lancelot vor. Shelly war eine von ihnen. Lancelot hatte sie aufgegabelt, als sie gerade mit Bronxville und der gepflegten Familienidylle Schluß gemacht hatte.

Seither hatte Shelly bei den Hippies Karriere gemacht. Sie lebte mit einer Rock’n’Roll-Band zusammen, den Beasts, vier Burschen ohne jedes musikalische Gehör auf der Jagd nach der professionellen Anerkennung. Sie nährte sie, wusch ihre Sachen und besorgte ihnen den Haushalt. Notfalls zahlte sie auch die Miete; denn ihr Vater, ein Kleiderfabrikant, gehörte zu den Erfolgstypen und schickte ihr regelmäßig Schecks. Und es erwies sich meistens als notwendig, denn die Beasts waren nicht ausgesprochen gefragt.

»Wie geht’s denn den Knaben?« fragte ich jetzt Shelly, um ein Loch in der Unterhaltung zu stopfen.

»Den Beasts?« Ihr Gesichtsausdruck wurde verdrießlich; der Mund verzog sich unfroh. »Die haben mich sitzenlassen.«

»Sitzenlassen? Was meinst du denn damit?«

»Einfach weggelaufen. Dino ebenso wie die anderen.« Dino war der Bandleader; eine Reklameschönheit, alles Zähne und Locken. Er war Shellys große Liebe.

»Wo sind sie denn hin?« fragte ich.

»Ein Agent hat ihnen ein Engagement in einem Club irgendwo an der Küste besorgt. Und weg waren sie.« Jetzt war sie dem Weinen nahe.

»Und ich habe sie so gebeten, mich mitzunehmen!«

»Die kommen schon wieder«, tröstete ich sie.

Aber Shelly schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Harrington, ich glaub’s nicht. Ich weiß nur, daß sich Dino dünngemacht hat. Schlicht und einfach.«

»Wieso denn das?«

»Gestern wollten wir heiraten«, sagte sie.

»Sieh mal an! Hattest du denn das Datum festgesetzt?«

»Gestern war mein Geburtstag.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich.

Shelly zog ein schiefes Gesicht. »Achtzehn«, sagte sie. »Volljährig. Mann, und wie volljährig ich war! Ich hätte Dino geheiratet, und mein alter Herr hätte nichts dagegen tun können.« Verzweifelt fuhr sie fort: »Und da muß Dino mit den anderen einfach auf und davon! Wegen solcher Nebensächlichkeit! Allmählich frage ich mich, ob Dino mich wirklich liebt.«

In diesem Punkt war auch ich einigermaßen skeptisch. Aber ich hielt lieber den Mund.

Während der ganzen Zeit hatte Ken so aufmerksam zugehört, wie jemand mit einem solchen Knacks dazu in der Lage ist. Ich hatte zunächst gedacht, Shelly und er seien Freunde. Aber er schien das alles zum erstenmal zu hören; da wurde mir klar, daß er Shelly offenbar nicht näher kannte.

Da sein Gesicht immer mehr Verwirrung verriet, fragte ich ihn: »Was ist los? Sie sehen ja so erschrocken aus?«

»Oh, nichts«, murmelte er. Er war wohl ziemlich schüchtern. Doch dann siegte seine Neugier. »Wer sind die Beasts?« fragte er.

»Lassen Sie sich durch den Namen nicht irritieren«, antwortete ich.

»Es sind Menschen. Eine Modeerscheinung. Eine Rock’n’ Roll-Band.«

Shelly kniff schmerzvoll die Augen zusammen. Unbeirrt, voller Inbrunst, wenn auch etwas niedergeschmettert, verbesserte sie: »Sie haben einen einfach hinreißenden Sound!«

»Wie lange kennen Sie Shelly schon?« fragte ich Ken.

»Ich traf sie letzte Nacht.«

Shelly riß sich aus ihrer Melancholie. Sie erinnerte sich, daß sie mich nicht wegen ihrer eigenen Probleme, sondern wegen Ken aufgesucht hatten. »Ken wollte bei der Love Society bleiben«, erklärte sie.

»Sind Sie ein Hippie?« fragte ich ihn. Er sah nämlich nicht danach aus. Jedenfalls trug er keines der sichtbaren Kennzeichen eines Blumenkindes.

»Nein«, erwiderte Ken. »Aber ich bin pleite. Ich hatte von der Love Society gehört. Ich bin einfach hingegangen und hab sie gebeten, mich aufzunehmen. Ich konnte sonst höchstens im Hausgang übernachten.«

»Was sind Sie denn von Beruf?«

»Ich bin Musiker.«

»Er bläst Klarinette«, ergänzte Shelly.

»Und Saxophon. Wenn ich ein Engagement habe.«

»Sie haben in letzter Zeit nicht viel Glück gehabt, was?« meinte ich mitfühlend.

»Es war lausig. Na ja, ich bin neu in der Stadt; da dauert es eine Weile, bis man den richtigen Start findet.«

»Wo kommen Sie denn her?«

»Pennsylvania. Aus Harrisburg, Pennsylvania.«

»Und wie kommt’s, daß Sie so mies beieinander sind? Wo haben Sie denn vorher gewohnt?«

»Im Hotel. Vor ein paar Tagen bin ich rausgeflogen. Ich konnte die Rechnung nicht mehr bezahlen.«

Ein Leidensgenosse. Ein weiteres Opfer der hartherzigen New Yorker Hausbesitzer. Wir könnten unsere Erfahrungen austauschen. Mir gefiel der Junge immer besser.

»Haben Sie denn keine Freunde, an die Sie sich wenden könnten?« fragte ich.

Kens Blick wurde wachsam. »Ich habe ein paar Freunde, aber ich –« er zögerte – »ich bin im Augenblick nicht in der Verfassung, zu ihnen zu gehen.«

»Wegen des Schlamassels, in dem Sie stecken?«

Er nickte kurz. »Ja.«

»Ich hab gestern abend mal bei der Love Society vorbeigeschaut«, sagte Shelly, »ich wollte den Verein mal wiedersehen, singen, hören, was los ist. Ken saß da mit einem langen Gesicht; er redete mit niemandem ein Wort. Erst dachte ich, er sei vielleicht irgendwie introvertiert. Ich nahm ihn also beiseite und kümmerte mich ein bißchen um ihn. Ich merkte, daß er wegen irgendwas in der Klemme saß. Aber ich konnte ihn nicht bewegen, auch nur einen einzigen Ton zu sagen. Ich wollte es gerade aufgeben, da fing er plötzlich an zu reden. Und dann erzählte er mir diese völlig verrückte, wilde Geschichte.« Sie riß dramatisch die Augen auf, um die Wirkung von Kens Geschichte zu illustrieren. »Zuerst dachte ich, er wollte mich auf den Arm nehmen. Aber als ich kapierte, daß er die Wahrheit sagte, wußte ich: Er braucht einen Rechtsanwalt; und zwar sofort.«

»Ich habe ihr gesagt, daß ich mir keinen leisten kann«, bemerkte Ken.

»Harrington kannst du dir leisten«, erwiderte Shelly. »Jeder kann sich Harrington leisten.«

Ich bin diese zweifelhaften Komplimente gewohnt. Ich versuche, sie nicht krummzunehmen. Ich überlegte, daß selbst ein stellungsloser Musiker irgendwo Eltern haben mußte. Oder einen reichen Onkel.

Auf jeden Fall war es nun Zeit, zur Sache zu kommen. Ich ließ den Rest einer Brotkruste auf den Teller fallen, wischte mir mit der Serviette die Butter von den Fingern und fragte: »Also, junger Mann – wo brennt’s?«

Ken blinzelte; so abrupt gefragt zu werden, das verwirrte ihn. Doch er antwortete ruhig und beherrscht.

»Ich glaube, ich habe ein Mädchen umgebracht«, sagte er.

Das war ein ganz guter Anfang. Doch seine Ausdrucksweise machte mir Kopfzerbrechen. »Sie glauben, Sie hätten ein Mädchen umgebracht? Wissen Sie es denn nicht?«

»Nein, ich weiß es nicht.« Es klang aufrichtig. Ich merkte, daß er keine Wortspielereien mit mir trieb. »Ich glaube, ich habe ein Mädchen umgebracht. Ich bin ziemlich sicher. Aber ich weiß es nicht.«

»Sie meinen, Sie wissen nicht, ob sie tot ist?«

»Nein. Wenn ich sie umgebracht habe, ist sie tot.«

Das wurde mir zu spitzfindig. »Wenn Sie sie umgebracht haben! Warum sind Sie denn nicht sicher? Haben Sie das geträumt?«

Er überdachte das einen Augenblick. Mit leiser, unsicherer Stimme sagte er: »Manchmal kam mir das so vor. Aber das Blut war echt.«

»Hören Sie«, sagte ich geduldig, »erzählen Sie mir doch mal die ganze Geschichte.«

»Ich war auf einem Trip«, berichtete er. »Einem LSD-Trip.«

»Aha.« Ich begann zu verstehen. »Mißerfolg?«

»Ich weiß nicht. Mir fehlt der Vergleich. Es war das erste Mal, daß ich LSD genommen habe.«

»Und Sie glauben, daß Sie ein Mädchen umgebracht haben?«

»Ja.«

»Dann war es aber ein schlechter Trip«, sagte ich. »Ein sehr schlechter sogar.« Ich steckte mir eine Zigarette an, schob die Teller zur Seite und stützte die Ellbogen auf. »Na, dann erzählen Sie mal.«

2

Er erzählte mir die Geschichte nicht in einem Stück; es kam alles brockenweise aus ihm heraus. Er hatte deutliche Bilder vor Augen, nachdrückliche Erinnerungen, aber sie paßten nicht unbedingt zusammen. Sie lagen wie unzählige bunte Glassplitter einer zerbrochenen Scheibe umher. Man mußte sie sortieren und dann wieder zusammensetzen, um ein einigermaßen klares Bild zu erhalten.

Ich will versuchen, das Ganze zu rekonstruieren.

Da haben wir einen Jungen, Ken Sadler, der auf dem Fußboden eines Ateliers liegt. Es ist späte Nacht. Er kommt gerade wieder zu sich. Genau über ihm ist ein Dachfenster, aber er sieht nichts als Dunkelheit dahinter. Das bißchen Licht, das in dem schottendurchwobenen Studio vorhanden ist, stammt von einer kleinen Lampe.

Er dreht den Kopf herum. Da steht eine Pflanze auf dem Fußboden, ein paar Meter von seinem Kopf entfernt. Eine Pflanze, wie er sie noch nie gesehen hat. Die Blätter sind merkwürdig verdreht. Die Blattadern treten deutlich hervor. Er kann fast den Saft pulsieren sehen, wie er in den Chlorophyllzellen wächst. Die Farben sind ungewöhnlich lebendig. Große Flecken aus flimmerndem Gelb wie Blitzlichter vor dem Grün der Blätter.

Er schließt die Augen. Als er sie wieder öffnet, ist das Bild verschwunden. Er sieht jetzt eine ganz normale Topfpflanze vor sich. Sein Blick löst sich von der Pflanze und gleitet darüber hinweg. Er sieht in der Mitte des Raumes ein nacktes Mannequin – nein, es sind mehrere. Die Mannequins kleben, Vorderan Rückseite, aneinander. Eines scheint das andere zu gebären. Ken hebt ein wenig den Kopf. Sofort wird er von einer wahren Farbenexplosion zurückgeworfen – gleißende, wirbelnde Räder aus Rot, Gelb und Schwarz, wogende Bänder aus Violett, Lila und Grün. Inmitten dieses wahnwitzigen Spektrums stürzen feurige Wände auf ihn.

Ihm schwindelt, wird übel, er sinkt zurück und schließt die Augen. Vielleicht ist er wieder ohnmächtig geworden. Er ist sich nicht sicher. Er ist bei Bewußtsein, aber es ist jene Art von Bewußtsein, die der Schläfer zwischen Traum und Wachen empfindet.

In der Traumphase sieht er das Gesicht eines jungen Mannes; es ist ein sympathisches Gesicht, doch die Lippen sind ein wenig zu rot, das Lächeln ist ein bißchen zu freundlich. »Nichts ist einfacher«, sagte er. »Man törnt sich an – und flyst wieder raus.«

Dann sieht er ein anderes Gesicht; das Gesicht eines hübschen, dunkelhaarigen Mädchens. Sie starrt ihn an, die Augen aufgerissen vor Entsetzen. »Nein!« flüstert sie. Das Gesicht entfernt sich, als weiche das Mädchen langsam zurück, aber die Augen halten ihn fest. »Bitte, tun Sie es nicht!«

Ken setzt sich auf. Sein Kopf ist klar, doch er fühlt sich benommen. Er weiß, irgend etwas stimmt nicht. Aber er weiß nicht, was. Irgend etwas ist passiert; aber er kann sich nicht daran erinnern. Er weiß auch nicht, warum er überhaupt hier ist, warum er in einer völlig fremden Umgebung zu sich kommt.

Er erkennt ein Atelier; jetzt sieht er die Dinge, wie sie wirklich sind. Die aneinanderhängenden Mannequins sind nackte Frauenfiguren einer Skulptur, die in der Mitte des Raumes steht. Die schreienden Farben entstammen ungerahmten Leinwänden an der Wand, grelle Muster von Op Art.

Unsicher steht er auf. Geht zu einem Spiegel an der Wand. Schaut hinein.

Auf seinem Gesicht ist Blut.

Sein erster Gedanke ist, daß er sich geschnitten hat. Er hebt die Hand, um nach der Wunde auf seiner Wange zu suchen. Die Hand im Spiegel ist blutverschmiert. Erstaunt blickt er an sich hinunter. Auf dem Hemd und an der Hose ist kein Blut. Doch beide Hände sind rot von getrocknetem Blut. Erst jetzt kommt ihm zum Bewußtsein, daß es nicht sein Blut ist.

Ken dreht sich um und blickt umher. Ihn friert.

Da sitzt auf der anderen Seite ein Mädchen in einem Sessel. Es ist das Mädchen, das er in seinem Wachtraum gesehen hat. Ein recht zerbrechlich wirkendes Mädchen in einem modischen, weißen Minirock und weißen Stiefeln; dunkelbraunes Haar fällt über ihre nackten, knochigen Schultern. Sie sitzt sehr aufrecht in diesem Sessel, die Knie zusammen, wie eine aufmerksame Schülerin, die dem Unterricht folgt. Sie starrt ihn an. Noch immer liegt in ihren Augen das gleiche Entsetzen, an das er sich seltsamerweise aus seinem Traum erinnert. Sie sitzt völlig regungslos da.

Ken spricht sie ängstlich an: »Wanda?!«

Sie antwortet nicht. Sie rührt sich nicht.

Er geht auf sie zu. Sie bewegt sich immer noch nicht. Ihre Augen sind starr auf ihn gerichtet.

Er zögert, streckt die Hand aus und berührt sie leicht an der Schulter. Seine Berührung stört eine unsichere Balance. Sie kippt seitwärts vom Sessel.

Voller Entsetzen starrt Ken auf die Puppenfigur am Boden. Sie ist auf die Seite gefallen. In ihrem Rücken steckt ein Messer.

Ken wird von Panik ergriffen. Er rennt zur Tür, stößt sie auf, flieht aus dem Atelier, rennt die vier Stockwerke hinunter.

Er tritt auf die Straße, die nicht mehr und nicht weniger vertraut aussieht wie irgendeine andere stille Straße in West Village. Er blickt an dem Haus hinauf – brauner Sandstein, frisch gestrichen. Er kann sich nicht erinnern, es je zuvor gesehen zu haben.

Ken läuft die Straße hinunter. Das ist alles, was er im Augenblick tun kann, um sich zu beruhigen, um nicht durchzudrehen. Die Straße ist ausgestorben; die Fenster der Häuser sind dunkel. Seine Haut prickelt bei der Vorstellung, daß ihn zahllose argwöhnische Augen beobachten.

Als er die Straßenecke erreicht, hört er das Heulen von Sirenen, die sich nähern, die lauter werden. Er drückt sich in einen Hauseingang. Zwei Polizeiwagen rasen vorbei. Vorsichtig späht Ken um die Mauer. Die Wagen halten schleudernd vor dem Sandsteingebäude, das er gerade verlassen hat. Polizisten springen heraus und rennen in das Haus.

Ken verläßt sein Versteck; er fängt an zu rennen. Als er um die Ecke jagt, stolpert er fast über einen älteren Mann, der seinen Hund ausführt. Ken bemerkt das kaum. Er rennt, wie man manchmal in einem Alptraum läuft; man weiß nicht, wovor man wegläuft, man läuft vor panischer Angst.

 

»Sehr interessant«, sagte ich. Ken hatte mitten in seiner Geschichte aufgehört. Ich hatte ihn reden lassen; Fragen wollte ich mir für später aufheben. Auch Shelly hatte gespannt zugehört.

»Sie sagen, Sie hätten ziemlich viel getrunken, bevor Sie das LSD nahmen?« fragte ich.

»Na ja, für meine Verhältnisse jedenfalls«, erwiderte Ken. »Ich war ziemlich deprimiert, als ich aus meinem Hotel rausflog. Ich klapperte wahllos ein paar Bars ab. Ich hatte nur noch fünf Dollar. Ich wußte, daß ich damit nicht weit kommen konnte; da dachte ich, ich könnte sie ebensogut versaufen. Ich hatte nicht etwa vor, mich zu betrinken«, ergänzte er. »Ich wollte nur für ein paar Stunden meine Sorgen vergessen. Aber ich hatte nicht viel gegessen, und ich bin das Trinken eigentlich nicht gewöhnt, und so –« Er hielt inne und zuckte unglücklich mit den Schultern.

»Und so hatten Sie plötzlich einen in der Krone«, vervollständigte ich den Satz. »Und dann landeten Sie in dieser Bar in East Village. In welcher?«

»An den Namen kann ich mich nicht erinnern. Es war früher mal eine polnische Tanzdiele.«

»Das Dom?« fragte Shelly.

»Ja, so hieß es«, bestätigte Ken.

»Und dort trafen Sie diesen Burschen, Brad«, fuhr ich fort »Erinnern Sie sich nicht an seinen Nachnamen?«

»Den hat er nicht genannt. Er sagte Brad; nur Brad.«

»Und Sie schlossen auch gleich Freundschaft mit ihm.«

»Er tat das. Ich habe kein Wort gesagt; ich war genug mit meinem eigenen Kram beschäftigt. Er fing an zu reden. Ein sehr gesprächiger Typ. Er war Engländer; wenigstens tat er so. Ich bin nicht schlau daraus geworden. Jedenfalls machte er sehr auf freundlich. Und, weiß der Himmel, ich konnte einen Freund brauchen.«

Er hielt inne und blickte gedankenvoll vor sich hin. Mit seinen sanften Augen und dem zarten Mund wirkte er leicht verwundbar. Man konnte sich ausmalen, wie sich in solch einer Bar jemand an ihn heranmachte. Die meisten Burschen in New Yorker Bars sind so zugänglich wie Schildkröten. Aber Ken sah wie ein kleiner Junge aus, dessen Cockerspaniel gerade überfahren worden war. Man hätte zu ihm hingehen, ihm über das Haar fahren, seinen Arm drücken mögen und sagen: »Na, Kleiner, tröste dich, du wirst schon darüber hinwegkommen.«

»Weiter«, sagte ich.