Mord kennt keine Feiertage - Christian Humberg - E-Book

Mord kennt keine Feiertage E-Book

Christian Humberg

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Beschreibung

Zimtgebäck, Schnee und ein rätselhafter Mord auf Crannock Hall

Eigentlich ist Chief Inspector Timothy Smart schon auf dem Weg zu Frau und Festtagsbraten, als sein dandyhafter Freund Robin Chandler ihn bittet, nach Crannock Hall zu kommen. Auf diesem vor Cornwalls Küste gelegenen Landsitz haben sich einige der Reichsten und Schönsten des Landes eingefunden, eingeladen vom mysteriösen Lord Bainbridge persönlich. Chandler fürchtet nahendes Unheil - mörderischer Art, wohlgemerkt! Smart gibt dem Drängen nach. Mit ihm kommt ein Sturm, der die Insel von der Außenwelt abschneidet. Und nicht nur das: Bald ist Lord Bainbridge mausetot. Der Täter muss sich unter den Anwesenden auf Crannock Hall befinden - und kann jederzeit wieder zuschlagen!

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Teil 2

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil 3

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Teil 4

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Über das Buch

Zimtgebäck, Schnee und ein rätselhafter Mord auf Crannock Hall Eigentlich ist Chief Inspector Timothy Smart schon auf dem Weg zu Frau und Festtagsbraten, als sein dandyhafter Freund Robin Chandler ihn bittet, nach Crannock Hall zu kommen. Auf diesem vor Cornwalls Küste gelegenen Landsitz haben sich einige der Reichsten und Schönsten des Landes eingefunden, eingeladen vom mysteriösen Lord Bainbridge persönlich. Chandler fürchtet nahendes Unheil – mörderischer Art, wohlgemerkt! Smart gibt dem Drängen nach. Mit ihm kommt ein Sturm, der die Insel von der Außenwelt abschneidet. Und nicht nur das: Bald ist Lord Bainbridge mausetot. Der Täter muss sich unter den Anwesenden auf Crannock Hall befinden – und kann jederzeit wieder zuschlagen!

Über den Autor

Christian Humberg verfasst Romane, Comics, Theaterstücke und Sachbücher für Kinder und Erwachsene. Er schrieb unter anderem bereits für Star Trek und Perry Rhodan Neo, und seine Werke wurden in mehr als ein halbes Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach für die Bühne adaptiert. Seine Kolumnen und Artikel erscheinen bundesweit in der Presse. Christian Humberg ist häufig auf Conventions zu finden. Noch häufiger zu finden ist er vor seinem PC-Monitor, der ihm die Sicht auf den Mainzer Dom versperrt. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse erhielt er 2015 den Deutschen Phantastik-Preis.

Weitere Titel des Autors

Clara-Clüver-Reihe

Mörderische Brise

Trügerische Ufer

Santorin-Reihe

Mörderisches Santorin – Zoe und der tote Reeder

Christian Humberg

Mord kennt keineFEIERTAGE

Ein Weihnachtskrimi

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Für die Originalausgabe:

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Textredaktion: Dorothee Cabras, Grevenbroich Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de Covermotiv: © shutterstock: PixMarket | Niko28 | avh_vectors | ArtBackground | SERHII_TRYHUBA E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7517-4816-2

Sie finden uns im Internet unter luebbe.de Bitte beachten Sie auch: lesejury.de

Teil 1

Zu Weihnachten scheint ein Zauberstab über die Welt zu schweifen, durch den plötzlich alles viel sanfter und schöner wirkt.

Norman Vincent Peale, Pfarrer

Mord kennt keine Feiertage, alter Knabe. So leid es mir auch tut.

Timothy Smart, Chief Inspector

Kapitel 1

Verbrechen zahlten sich nicht aus, niemand wusste das besser als der fähigste Mann von Scotland Yard. Dennoch gab es Momente, in denen Timothy Smart einfach nicht anders konnte. Da tat sogar er Dinge, die ihm eigentlich nicht zustanden.

Ein kleines Plätzchen wird schon niemandem auffallen, dachte der Chief Inspector. Es ist ja auch nur für den ärgsten Hunger.

Die Schale mit den selbst gebackenen Köstlichkeiten stand auf dem festlich geschmückten Tisch in der Küche. Smart war in den vergangenen Stunden mehrfach an ihr vorbeigekommen, während er im Haus der Ermordeten nach Fingerabdrücken und anderen verräterischen Hinweisen gesucht hatte, und jedes Mal hatte er ihr sehnsüchtige Blicke zugeworfen. Nun fand er sich abermals in dem kleinen Raum im Erdgeschoss des Hauses wieder, und die Versuchung wurde einfach zu groß.

Mabel Ashton war eine hervorragende Köchin gewesen. Das hatten ihre Nachbarn bei der Befragung bereits bestätigt, aber das konnte Smart ihrer Küche auch ohne die Aussagen anderer ansehen. Alles in diesem Raum schien es ihm geradezu zuzurufen – von den geblümten Topflappen über den auf Hochglanz polierten Herd bis hin zum Inhalt des Vorrats- und auch des Kühlschrankes, in dessen Gefrierfach schon der Weihnachtsbraten wartete. Dieses Zimmer war das Herzstück des gesamten Hauses gewesen, solange die Witwe Ashton in ihm gelebt hatte.

Den Braten würde sie nun nicht mehr zubereiten, dafür hatte ihr unbekannter Mörder gesorgt. Aber zu den Adventsplätzchen war die Verstorbene immerhin noch gekommen.

Und ich noch nicht zu meinem Lunch, dachte Smart und spürte, wie sein Magen tadelnd grummelte. Von daher …

Smart war Anfang sechzig und das, was man mit Fug und Recht »vollschlank« nennen durfte. Er hatte schwarzes Haar, das an den Schläfen längst grau geworden war, und ein Gesicht, das seine Freunde aus dem Pub nach ein, zwei Pints gern mit »ebenso harmlos wie füllig« beschrieben. Das hellblaue Hemd spannte am Bauch recht bedrohlich, und Smarts Hausarzt Mortimer Gillicuddy lag ihm schon so lange mit Vorträgen über Cholesterin und Blutfettwerte in den Ohren, dass er selbige auf Durchzug stellen musste, wann immer er die Praxis des schnauzbärtigen Mittvierzigers betrat. Er aß halt gerne, na und? Wer hart arbeitete, brauchte viel Nahrung. Und überhaupt. Der Mensch war ja nicht auf der Welt, um sich ihre Segnungen vorzuenthalten. Hätte Gott gewollt, dass seine Kinder am Hungertuch nagten, dann hätte er ihnen wohl kaum das Talent mitgegeben, köstliche Mehlspeisen, saftige Steaks und goldbraun frittierte Leckereien zu kreieren. Oder eben Adventsplätzchen.

Ein letztes Mal sah Smart sich um. Die Küche war leer bis auf ihn selbst, aber im Haus der Ermordeten, das in einer ruhigen Seitenstraße am Ortsrand von Bristol lag, tummelten sich nach wie vor die Kolleginnen und Kollegen der lokalen Dienststelle. Die Spurensicherung war nicht abgeschlossen, auch wenn man die Leiche bereits abtransportiert und alle Nachbarn verhört hatte, und Smart wollte nicht von unliebsamen Gästen dabei erwischt werden, wie er seinem Magen eine kleine Durchhalte-Belohnung gönnte.

Mrs Ashton hätte sicher nichts dagegen, sagte er sich, als er die Hand nach der Plätzchenschale ausstreckte. Im Gegenteil. Sie wäre bestimmt froh zu sehen, dass die guten Stückchen noch einen Nutzen finden.

Abermals knurrte sein Magen. Das Wasser der freudigen Erwartung lief ihm im Mund zusammen, und seine Fingerkuppen verharrten kribbelnd über der Auswahl. Welche Köstlichkeit sollte er sich nehmen? Eins von den kreisrunden Dingern mit Marmeladenfüllung? Oder lieber von den Marzipanstückchen, die so schön im Licht der Deckenlampe glänzten? Auch die Zimtsterne sahen buchstäblich zum Reinbeißen aus. Und irrte er sich, oder waren die winzigen Mürbeteig-Weihnachtsmänner, die die Verstorbene allem Anschein nach per Hand geformt hatte, mit dunkler Schokolade überzogen?

Colin Carmichael, Mrs Ashtons Nachbar zur rechten Seite, hatte Smart vorhin ausführlich beschreiben können, wie die Witwe beim Backen vorgegangen war, denn Carmichael war ihr dabei zur Hand gegangen. Außerdem, so erinnerte sich der Chief Inspector, hatte Colin Carmichael die Weihnachtsmänner besonders gelobt. Sie seien ihnen so gut geraten wie in keinem Jahr zuvor, das waren seine genauen Worte gewesen.

Smart leckte sich über die Lippen. »Wer wäre ich«, murmelte er dann, »einem sachdienlichen Hinweis nicht nachzugehen?«

Er nahm einen der Weihnachtsmänner, dankte der Verstorbenen im Stillen … und biss dem kleinen Gesellen mit Genuss den bemützten Kopf ab.

Dann riss er die Augen auf.

»Ist alles in Ordnung, Chief Inspector?«, fragte Nigel Paddington.

Der Enddreißiger war von der ortsansässigen Polizeidienststelle und betrat just in diesem Augenblick die Küche. Er hatte eine käsig blasse Stirn, die erst an seinem Hinterkopf endete, und ein Gesicht wie ein liebenswerter Schoßhund. Sein schlanker Körper steckte in einem dunklen Anzug, der ihm zwei Nummern zu groß zu sein schien, und an seinem Kinn klebte noch immer ein winziger Fetzen Toilettenpapier. Dort hatte er sich allem Anschein nach an diesem Morgen beim Rasieren geschnitten.

Smart kannte den stets etwas ungelenk wirkenden Mann erst seit wenigen Stunden, ahnte jedoch, dass Missgeschicke dieser Art in Paddingtons Leben eine stolze Tradition hatten.

»Smart?«, fragte Nigel Paddington, als der Inspector noch immer nicht antwortete. »Stimmt etwas nicht, Sir? Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen. Und Sie rühren dabei keinen Muskel. Brauchen Sie einen Arzt oder …«

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Denn Timothy Smart konnte nicht länger an sich halten und spuckte auf den Küchenboden.

»Nüsse!«, rief Smart dann. Fassungslos – und entschuldigend – starrte er Paddington an. »Nigel, das sind Nüsse!«

»S… Sir?«

»Kommen Sie, Junge«, sagte Smart. Er klopfte Nigel Paddington auf die knochige Schulter und drängte dann in Richtung Ausgang. »Vielleicht ist es noch nicht zu spät!«

Draußen vor dem Reihenhaus aus rotem Backstein warteten die Dienstwagen der Polizei. Smart sah zu den Fenstern der Nachbarhäuser, von wo aus der Rest der Marple Road nach wie vor dem tragischen Geschehen zusah, und lief schnurstracks auf den vordersten Wagen zu.

»Sir«, kam Paddington ihm nach. Er hatte sich seinen Hut von der Garderobe im Hausflur genommen, und hielt ihn mit einer Hand auf dem Kopf fest. »Was ist denn los? Geht es Ihnen gut? Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«

»Aber können Sie fahren, Nigel?«, fragte Smart keuchend. Er hatte die Beifahrertür erreicht und riss sie schwunghaft auf. »Können Sie fahren, so schnell wie der Wind? So, als hinge Ihr Leben davon ab, Mann?«

Paddington schluckte hörbar. »I… Ich werde es versuchen.«

Anderthalb hektische Herzschläge später startete er den Motor, und der mattschwarze Vauxhall Astra setzte sich in Bewegung. Der Wagen war schon älteren Baujahrs, aber gut in Schuss. Paddingtons Knöchel traten hervor, so fest umklammerte der jüngere Mann das mit dünnem Kunstleder überzogene Lenkrad, während er zur Kreuzung raste, die die Seitengasse mit der breiteren Straße des Wohnviertels verband. »Wo soll’s hingehen, Sir?«, fragte er.

Smart zog sich den Anschnallgurt über den Bauch und arretierte ihn. »Zum Bahnhof, Nigel. Temple Meads Station. Und, bei Gott, drücken Sie auf die Tube!«

Das genügte. Paddington biss sichtlich die Zähne zusammen, doch sein Fuß drückte dabei das Gaspedal durch, und sein Arm schaltete den Vauxhall in einen höheren Gang.

Die Stadt Bristol lag am Ufer des Flusses Avon und gehörte mit ihren knapp fünfhunderttausend Einwohnern zu den größten Siedlungen im britischen Südwesten. Menschen aller Art und Klassen lebten hier, gingen ihrer Arbeit nach und vertrieben sich ihre Freizeit auf den Einkaufsstraßen, in den Pubs und Restaurants oder bei Wanderungen durch die Cotswolds, einer bezaubernd ursprünglich gebliebenen Wald- und Hügellandschaft, deren südliche Ausläufer nur einen besseren Katzensprung weit entfernt waren.

Smart war zum ersten Mal in der Stadt, kannte die Cotswolds aber von gemeinsamen Urlauben mit seiner geliebten Mildred und wusste daher aus erster Hand, wie schön die Gegend war, in der die Witwe Ashton gelebt und auch ihr bedauernswertes Ende gefunden hatte. Es stimmte, was er seinem Freund Robin Chandler stets sagte, wenn sie auf der Spur eines Mörders waren: Das Böse, so es denn existierte, machte vor nichts und niemandem halt. Erst recht nicht vor Schönheit und Idylle.

Die Straßen von Bristol waren bereits vorweihnachtlich geschmückt, und hartnäckige Reste von Schneematsch klebten auf ihrem Pflaster. Durch die Fenster des Vauxhall sah Smart schmucke Lichterketten an den Dachrinnen der Häuser, Weihnachtselfen aus Plastik, die hier und da an den Hauswänden befestigt waren und gen Schornstein zu klettern schienen, und gelegentlich sogar aufblasbare Schneemänner hinter hüfthohen Gartenmauern. Alles kündete vom Fest, das nur noch wenige Tage entfernt war. Selbst die kleinen Bushaltestellen, deren Zahl zunahm, je tiefer Paddington in den Stadtkern vordrang, waren geschmückt worden und wiesen leuchtende Sterne an den Dächern auf.

Es war noch nicht spät, gerade mal Nachmittag. Doch das Wetter ließ leider zu wünschen übrig. Zwar hatten sich die argen Schneefälle der vergangenen Woche verzogen, doch die Wolken, aus denen sie über das wehrlose England hergefallen waren, hingen noch immer am Himmel. Dort sorgten sie mühelos dafür, dass vierzehn Uhr aussah wie neunzehn Uhr mit schlechter Laune. Hinzu kam ein unangenehm kalter Nieselregen, der einem in den Kragen kroch und tat, als wollte er sich da bis Neujahr einnisten.

Paddington ließ sich davon nicht beirren. Angenehm zielsicher steuerte er den Wagen durch das Gewirr der Straßen in der Innenstadt, nahm die Brock’s Bridge über den Fluss und zögerte nicht, das Blaulicht auf dem Wagendach einzuschalten, als sich vor ihnen ein kleiner Stau zu bilden schien. Sofort machten die übrigen Verkehrsteilnehmer ihnen Platz.

Nach knapp zwanzig Minuten erreichten sie Temple Meads. Der Bahnhof war der größte der gesamten Stadt und stammte aus dem neunzehnten Jahrhundert. Mit seinen vielen Türmchen, Zinnen und der Fassade aus altem Sandstein wirkte er fast wie eine mittelalterliche Burg oder wie ein Adelssitz aus Queen Victorias Tagen. Doch es war kein Adliger, nach dem Smart hier Ausschau zu halten gedachte.

»Der Zug nach London, Nigel«, sagte der Inspector. Schnaufend stieg er aus dem Wagen, den sein Begleiter neben dem Haupteingang des Bahnhofsgebäudes abgestellt hatte. »Finden Sie heraus, wann der Zug nach London abfährt. Und wo, hören Sie? Wir müssen ihn unbedingt noch erreichen!«

Sofort lief der Untergebene los. Kaum eine Minute später kehrte er zurück auf den Bahnhofsvorplatz, keuchend vor Anstrengung. »G… Gleis zwölf, Sir. Abfahrt in vier Minuten.«

»Grundgütiger, wir haben noch eine Chance!«

Smart zögerte nicht. So schnell seine Beine ihn trugen, lief er durch die Wartehalle des Bahnhofs, vorbei an Kiosken, Essensständen und blinkenden Automaten. Auf langen Holzbänken, die in Reihen angeordnet waren, saßen Reisende und sahen mit missmutigen Mienen zu der großen Anzeigetafel über dem Durchgang zu den Bahnsteigen. Eine der beiden zur U-Bahn führenden Rolltreppen streikte, und an der Ecke, die zu den Toiletten führte, saß ein Teenager-Mädchen mit glattem langen Haar und sang zu Gitarrenklängen kaum weniger unmelodisch klingende Lieder.

Alldem schenkte Smart nur wenig Beachtung. Auch nach seinem Begleiter drehte er sich nicht mehr um. Sein Ziel war eindeutig – Gleis zwölf. Für nichts anderes gab es in diesen Momenten noch Platz in seinem Kopf.

So war es immer, wenn er die Lösung eines Falles fest vor Augen hatte. Dann legten sich gewissermaßen Scheuklappen über ihn, zumindest beschrieb Mildred es auf diese Weise. »Wenn du weißt, wo du hinmusst«, sagte sie in diesen Momenten stets, »dann guckst du nicht mehr nach rechts und links. Dann könnte man dir den Hut vom Kopf oder die Taschenuhr aus der Westentasche stehlen, und du würdest es nicht merken. Ich schätze, das ist bei dir ganz normal.«

Doch hatte er das wirklich? Die Lösung des Falles vor Augen?

Nicht, wenn ich zu spät komme, dachte er. Dann nicht.

Auf Gleis zwölf herrschte ein ähnlich dichter Betrieb wie auf dem übrigen Bahnhofsgelände. Der Zug nach London fuhr gerade ein, und die Wartenden tummelten sich vor den langsam werdenden Waggons. Viele von ihnen hatten schwere Koffer bei sich, manche sogar Fahrräder. Eine vierköpfige Familie schien ihren halben Hausstand mit auf die Reise nehmen zu wollen, und ein ältlicher Mann mit Priesterkragen, unter dessen Arm ebenfalls ein Ticket klemmte, war auf einer der Wartebänke eingeschlafen, die in regelmäßigen Abständen auf dem Gleis zu finden waren.

Das ist es!, dachte Smart.

Grunzend vor Anstrengung sprang er neben den Priester, der prompt erschrocken aufwachte, auf die Bank. Smart war beileibe kein sportlicher Mensch, aber manchmal ging es eben nicht anders.

»He!«, staunte der Mann mit dem Priesterkragen. »Was in aller Welt machen Sie denn da? Was stehen Sie hier auf der Bank?«

»Scotland Yard«, erwiderte Smart, ohne den Blick von der Masse der Passagiere zu nehmen. »Ich suche jemanden.«

»Da oben?«

Nigel Paddington kam näher. Der jüngere Mann war schweißgebadet, und sein Atem ging laut und schnaufend. »Inspector. Wen in aller Welt suchen wir denn?«

Da sah Smart ihn. Drüben am Eingang von Waggon 23. »Dort, Nigel!«, rief er. »Dort ist er. Schnappen wir ihn uns, schnell!«

Auch Colin Carmichael hatte Koffer bei sich. Außerdem führte er eine gut aussehende Brünette am Arm, die einen modischen Mantel trug.

Smart bahnte sich einen Weg durch die Menge und bekam den Ärmel des Mantels zu fassen. »Halt!«, rief er. »Keinen Schritt weiter, Mr Carmichael.«

Die Dame mit dem brünetten Haar erschrak zutiefst.

Ihr Begleiter blinzelte nur ungläubig. »Inspector Smart?«

Carmichael sah aus, als könnte er kein Wässerchen trüben. Er war Anfang vierzig, hatte ein markantes Kinn und dunkles, volles Haar. Seine Brille mit dem schwarzen Gestell und die breiten Schultern ließen ihn beinahe wie Clark Kent wirken, das Alter Ego von Superman aus den Comics.

»Mr Carmichael«, sagte Smart. »Ich fürchte, ich muss Sie auffordern, von der Waggontür wegzutreten.«

Carmichael runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

Die Dame an seiner Seite sah ihn fragend an. »Was meint er damit, Colin?«

Smart erkannte sie nun. Ihr Haar war nicht länger zu einem Pferdeschwanz gebunden, und die zivile Kleidung ließ sie älter – und mondäner – wirken, als sie war. Aber das Gesicht ließ keine Fragen offen. Das war Sharon Fulton, die junge Frau vom Pflegedienst. Ihr Foto hatte auf Mrs Ashtons Kommode gestanden. Offenbar hatte die alte Dame die Pflegerin sehr lieb gewonnen.

»›Er‹ meint«, antwortete Smart an Stelle des Gefragten, »dass wir mit unserer Unterredung von heute Vormittag leider noch nicht fertig sind. Es gibt neue Informationen, die eine Fortsetzung dringend erforderlich machen.«

Carmichael schüttelte den Kopf. »In dem Fall werden Sie mich telefonisch kontaktieren müssen, Inspector. Nach unserer Ankunft.«

»Darf ich erfahren, wohin die Reise geht?«, schaltete sich Paddington ein. Er musterte Carmichael streng. »Heute früh meinten Sie noch, Sie seien über die Feiertage zu Hause.«

Und doch sah ich eine gepackte Reisetasche auf dem Rücksitz des Autos in seiner Einfahrt, dachte Smart. Schon da hätte ich eigentlich stutzig werden müssen.

»Sie dürfen nicht«, meinte Carmichael schroff. »Pläne ändern sich, Gentlemen. So einfach ist das. Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte.«

Die meisten Fahrgäste waren inzwischen im wartenden Zug. Nur die Tür, die Carmichael aufhielt, stand noch immer offen. Der Schaffner ließ seine Pfeife erklingen, und sie klang ungeduldig.

»Mr Carmichael«, sagte Smart streng, »ich fürchte, Sie missverstehen uns. Das war keine Bitte. Wir werden unser Gespräch fortsetzen – jetzt.«

Fulton sah ihren Begleiter fragend an. »Colin? Was passiert hier?«

»Miss Fulton, wir haben berechtigten Grund zur Annahme, dass Ihr Begleiter uns angelogen hat.« Smart sprach zu ihr, ließ Carmichael dabei aber nicht aus den Augen. »Wissentlich angelogen.«

»Warum sollte er das tun?«, wunderte sie sich. Ihr Arm, den sie bisher bei Carmichael untergehakt hatte, löste sich von ihm. »Colin?«

»Ja«, fand Paddington. Er lächelte siegessicher. »Eine wirklich gute Frage.« Dann stutzte er und sah ratlos zu Smart. »Inspector?«

Der Schaffner hatte genug. Sichtlich wütend trat er zu der kleinen Gruppe vor Waggon 23. »Bedaure, aber Sie müssen diesen Zug jetzt freigeben. Steigen Sie ein, oder bleiben Sie hier, mir ist es vollkommen gleich. Aber entscheiden Sie sich!«

»Wir fahren mit«, sagte Carmichael.

»Wir bleiben hier«, sagte Smart zeitgleich und fügte dann noch ein nicht minder entschiedenes »Wir alle!« hinzu.

Dem Schaffner genügte das als Antwort. Er grunzte ungehalten und nahm Carmichael den Griff der Waggontür aus der ausgestreckten Hand. Dann stieg er selbst in den Zug und signalisierte dem Lokführer, dass sie endlich abfahrbereit waren.

»Inspector Smart!«, echauffierte sich Carmichael. »Wie können Sie es wagen …«

Smart ließ ihn gar nicht erst ausreden. Die Zeit für Höflichkeiten war vorbei. »Nüsse«, sagte er. »Die Nüsse haben Sie verraten, Carmichael.«

Der Angesprochene runzelte die Stirn. »Was reden Sie denn da, Mann?«

»In Mrs Ashtons Weihnachtsplätzchen sind Nüsse«, erklärte Smart. »Ich habe sie selbst probiert, daher weiß ich das mit absoluter Sicherheit. Und Sie, Sir, erzählten mir erst heute Morgen, wie gern Sie mit Ihrer geliebten Nachbarin gebacken hätten. Wie viel Spaß Sie stets dabei hatten, und wie viel Sie während des Backens immer genascht hätten. Besonders an den Weihnachtsmannplätzchen, die in diesem Jahr angeblich so gut gelungen waren.«

Der Zug nach London setzte sich in Bewegung. Nur noch Sharon Fulton sah ihm traurig nach. Carmichaels Aufmerksamkeit ruhte ganz allein auf Timothy Smart.

»Und?«, fuhr der jüngere Mann den Inspector an. »Was soll das beweisen, Sie alter Narr? Ich mochte Mabel sehr, und sie mochte mich.«

»Es beweist, dass Sie unter keinen Umständen so eng mit Mrs Ashton waren, wie Sie behauptet haben«, meinte Smart. »Denn genascht haben Sie definitiv nie an ihren Plätzchen. Sie nicht, Mr Carmichael!«

»N… Nüsse?« Nun sah Miss Fulton wieder zu ihrem Begleiter. Ein Hauch von Erkenntnis zog über ihre Züge, und ihr Gesicht wurde blass. »Aber Colin, du bist doch allergisch gegen Nüsse.«

Smart kniff die Lider enger zusammen und studierte den anderen Mann genau, achtete auf jede Regung. »Bei welchen Details haben Sie mich noch angelogen, Sir? Welche weiteren Teile Ihrer Aussage von heute früh erweisen sich bei näherer Betrachtung als unwahr? Und vor allem, Carmichael: Was haben Sie sonst noch zu verbergen?«

Fulton wich gleich mehrere Schritte von Carmichael zurück. Ihr Mund stand offen vor Entsetzen, und sie hob instinktiv die Hand an ihre Lippen. Kein Laut drang mehr aus ihrer Kehle, und in ihren weit aufgerissenen Augen glitzerte es feucht – erste Vorboten nahender Tränen.

»Und warum«, betonte Paddington, der von alldem wenig zu bemerken schien. Dabei nickte er so eifrig, als wäre ihm die Lösung des Falles schon die ganze Zeit klar gewesen. »Vor allem warum.« Wieder stutzte er und warf Smart einen Hilfe suchenden Seitenblick zu. »Äh … Warum, Sir?«

»Gute Frage, Nigel«, bestätigte Smart. Er sah Carmichael dabei streng ins Gesicht. »Eine wirklich sehr gute Frage …«

Einen Moment später ließ der abgefahrene Zug ein lautes Pfeifen hören. Er schien damit die Welt jenseits von Temple Meads zu begrüßen, doch Chief Inspector Timothy Smart kam es vor, als besiegele er nur Carmichaels Schicksal.

Zwei Stunden später war alles vorbei. Unter der trüben Neonlampe in Nigel Paddingtons Bristoler Verhörzelle war Colin Carmichaels Unschuldsfassade eingestürzt wie ein zu wackeliges Kartenhaus. Der junge Nachbar der Toten hatte alles gestanden, und seine Liebschaft Sharon Fulton hatte den Beamten den nötigen Kontext geliefert.

Miss Fulton selbst traf keine Schuld, natürlich. Sie hatte nur ihren Job gemacht und sich aufopferungsvoll um die alte Mrs Ashton gekümmert. Deshalb konnte sie auch nichts dafür, dass der Mann von nebenan dunkle Absichten gehegt und sie dafür ausgenutzt hatte. Fulton hatte geglaubt, für Colin Carmichael sei sie die wahre Liebe. Doch in Wahrheit war sie für ihn nur ein Spielzeug gewesen, fürs Schlafzimmer und für seine heimliche Vendetta.

Timothy Smart schüttelte den Kopf, als könnte er die unschönen Bilder so aus ihm vertreiben. Er stand auf dem Dach der Bristoler Polizei-Hauptwache, die Stadt und den breiten Fluss unter sich, und hielt seine alte Parker-Halfbent-Pfeife in der Hand. Sie brannte nicht, noch nicht, aber schon allein das Gefühl des glatten Holzes an seinen Fingern gab ihm seine innere Ruhe zurück.

Im selben Moment flog die Tür zum Treppenhaus hinter ihm auf. So viel zum Thema Ruhe …

»Ach, hier stecken Sie!«, staunte Paddington. »Na, da kann ich unten ja lange suchen.«

»Hallo, Nigel«, murmelte Smart. Er drehte sich nicht um, sondern ließ den Blick einfach auf den Straßenschluchten und dem Band des Avon ruhen, der im Licht einiger weniger Sonnenstrahlen glitzerte.

Paddington trat neben ihn. »Wir haben sie, Sir«, berichtete er eifrig. »Die Unterschrift, meine ich. Carmichael hat sein Geständnis unterzeichnet und …« Nun stutzte er und deutete fragend auf die Albert. »Eine Pfeife, Inspector? Sagten Sie nicht, Ihre Gattin hätte Ihnen diese Gewohnheit ausgeredet?«

Ach, dachte Smart. Ausgerechnet daran erinnert er sich! »Das hat sie«, bestätigte er gelassener, als er sich fühlte. »Und wie Ihnen Ihr scharfer Blick sicher bestätigen wird, ist die Pfeife kalt. Ich halte sie nur, Nigel. Nichts weiter.«

Paddington schien zu spüren, dass er eine Grenze zu überschreiten drohte, und wich hörbar zurück. »N… Natürlich, Sir.«

Autos hupten unten auf den Straßen. Der Nieselregen hatte sich lange verzogen, doch neuer Wind kam nun auf. Dem altehrwürdigen Bristol schien ein eher ungemütlicher Abend ins Haus zu stehen. Smart war froh, ihn nicht mehr miterleben zu müssen.

»War sonst noch etwas, Nigel?«, fragte er seinen jüngeren Kollegen.

Paddington klang bewundernd. »Sir, wie … wie in aller Welt haben Sie das nur gemacht? Ich meine … Jeder hier kennt selbstredend die Geschichten. Wir wissen, dass Sie ein brillanter Beobachter sind und Fälle lösen, an denen sich ganze Heerscharen von klugen Köpfen die Zähne ausbeißen würden. Wir können es ja lesen, schwarz auf weiß, so wie alle anderen.«

Smart schloss die Augen, für den Moment peinlich berührt. Diese elenden Geschichten … Er würde sie wohl nie loswerden. »Glauben Sie nicht alles, was in Büchern steht, Nigel«, bat er. »Autoren neigen zur Übertreibung. Sie nennen das dann zwar ›dramatischer Effekt‹, aber unterm Strich ist es schlichte Übertreibung.«

»Das mag sein, Sir«, beharrte Paddington. »Doch heute durfte ich es ja aus nächster Nähe miterleben. Sie sind so beeindruckend wie alle sagen. Das ist keine Fiktion, Sir, das ist die Wahrheit.«

Mein lieber Chandler, dachte der Inspector und schickte einen stummen Gruß in die Ferne. Wir müssen reden. Ein eher ernstes Wörtchen, wie ich finde.

Robin Chandler war ein langjähriger Kamerad und gelegentlicher Weggefährte des Chief Inspectors. Der jüngere Mann stammte aus dem, was man die bessere Gesellschaft nannte, und genoss diesen sozialen Status in vollen Zügen. Frühere Generationen hätten einen wie ihn vermutlich als Dandy oder Lebemann bezeichnet, der Sorgen nicht kannte und sich auch um Geld keine selbigen machen musste. Smart hingegen bezeichnete ihn schlicht als Freund – und das trotz des eher anstrengenden Hobbys, das Chandler pflegte.

Seit Jahren schon brachte der Enddreißiger mit den aristokratischen Zügen ausgewählte Fälle des Inspectors in Prosaform zu Papier. Anfangs hatte Chandler dies als reinen Zeitvertreib verstanden und Smart erst gar nicht eingeweiht. Doch als er einen kleinen Stapel Geschichten fertig gehabt hatte – darunter eine novellenlange Version der Devonshire-Morde aus dem vorvorletzten Winter –, war er zu Smart gekommen, um ihm reinen Wein einzuschenken. Smart erinnerte sich noch heute an diesen Tag, als wäre er gestern gewesen.

»Sie haben es aufgeschrieben?«, hatte er gesagt, die dicht bedruckten Seiten fassungslos in den Händen. »Die gesamten Ermittlungen?«

»Ich habe sie fiktionalisiert, Smart«, hatte Chandler entgegengehalten, als wäre das ein Widerspruch. »Das ist nicht das Gleiche. Ich habe die Abläufe und die Wendungen Ihrer Fälle beibehalten, denn sie zeigen Ihre ermittlerische Genialität. Aber die Details? Die Namen der handelnden Personen, die Orte, die wir gemeinsam bereist haben, und all das? Davon werden Sie in meinen Storys nicht eine oder einen wiederfinden, das versichere ich Ihnen.«

»Hier steht mein Name«, hatte Smart protestiert. »Und der Ihre, Chandler.«

»Äh«, so sein Freund merklich perplex. »Ja, nun. Selbstverständlich. Es sind die Fälle des Timothy Smart. Wem nützt es, Ihre Brillanz zu verdeutlichen, wenn Sie dabei gar nicht vorkommen? Und was meine Wenigkeit angeht … Betrachten Sie mich in diesen Texten doch einfach als das, was ich auch im realen Leben war und bin, Smart: Ihr ehrlicher Bewunderer und, wenn ich so sagen darf, willfähriger Begleiter. Der Watson zu Ihrem Holmes, wenn man so möchte. Der Hastings zu Ihrem Poirot. Der Horowitz zu Ihrem Hawthorne und der Hutchinson Hatch zu Ihrem Professor von Du…«

»Schon gut, schon gut«, hatte Smart abgewunken. »Ich hab’s verstanden. Und auch wenn ich Ihre Art des Zeitvertreibs ein wenig exzentrisch finde, steht es Ihnen selbstverständlich frei, Buch über unsere Erlebnisse zu führen.« An dieser Stelle des Gesprächs hatte er skeptisch auf den Stapel dicht beschriebener Manuskriptseiten gedeutet. »Die Frage ist nur, warum Sie mir das alles jetzt zeigen? Immerhin schreiben Sie die Texte offenkundig nicht erst seit gestern.«

»In der Tat, nein«, lautete Chandlers kleinlaute Erwiderung. »Seit gestern habe ich allerdings einen Verlagsvertrag für sie …«

Seit jenem Gespräch war viel Zeit verstrichen. Neue Fälle waren gekommen und gegangen, und aus manchen waren – buchstäblich unter Robin Chandlers Federführung – neue Texte geworden. Smart hatte keinen einzigen von ihnen gelesen, doch allem Anschein nach schlugen sie sich recht erfolgreich am Markt. Was ihm nicht zuletzt die Menschen bestätigten, denen er auf seinen Einsätzen begegnete. Menschen wie eben Nigel Paddington.

»Es freut mich«, wandte sich der Chief Inspector nun an seinen Kollegen aus Bristol, »dass wir gemeinsam erfolgreich waren. Richten Sie Ihrem Team bitte meinen Dank und mein Lob aus. Aber ich versichere Ihnen, mein lieber Nigel: Nicht alles, was gedruckt wird, ist auch wahr.«

Smart wusste, dass Chandler nicht log, wenn er ihre gemeinsamen Abenteuer schilderte. Doch Smart war viel zu bescheiden – und viel zu wenig interessiert an Ruhm und Prominenz –, um sich für selbige feiern zu lassen, weder von Polizeikollegen noch von der Öffentlichkeit. Er war ein gemütlicher Mensch, zumindest sah er sich selbst so, und mochte es ruhig und übersichtlich. Wie daheim in dem kleinen Reihenendhaus, das er mit seiner Mildred bewohnte und in dessen Garten er gerne saß, um den Vögeln zuzuschauen. Ob auch dort heute Schnee gefallen war? Er wusste es nicht, aber er freute sich auf nichts mehr als darauf, es herauszufinden.

Bald, dachte er und sah ein letztes Mal zu Bristols Straßenschluchten. Bald bin ich wieder zu Hause. Und dann ist endlich Weihnachten.

Jetzt würde ihn nichts mehr aufhalten, da war er sich absolut sicher. Der Fall Ashton war abgeschlossen, der Täter auf dem Weg ins Gefängnis. Niemand stand mehr zwischen dem Chief Inspector und dem wohlverdienten Feiertagsurlaub auf dem heimischen Sofa.

Smart dankte Paddington erneut für die gute Zusammenarbeit, wandte sich dann ab und ging zurück über das Dach in Richtung Treppenhaus. Er kam drei Schritte weit, bevor sein Handy klingelte.

»Ist das etwa Mr Chandler?«, hoffte Paddington. Er war stehen geblieben, genau wie Smart selbst, und starrte nun ebenfalls staunend auf das Display von dessen Mobiltelefon, auf dem eine Smart unbekannte Festnetznummer prangte. »Mit einem neuen Fall?«

»Das will ich nicht hoffen«, antwortete Smart leise. Dann nahm er den Anruf entgegen und hob das Telefon ans Ohr. »Chief Inspector Smart hier. Ich grüße Sie.«

»Smart!« Die Stimme des Mannes am anderen Ende der Verbindung klang vertraut. Doch es lag etwas in ihr, das Smart nur sehr selten an Robin Chandler hörte: Unsicherheit. »Gott sei Dank, ich erreiche Sie noch! Ich hatte schon Angst, Sie wären im Weihnachtsurlaub.«

»Die Angst ist nicht ganz unbegründet«, sagte Smart mit einem bestätigenden Blick in Richtung Paddington. »Ich bin nämlich gerade im Begriff, mich in selbigen zu verabschieden. Mein Zug nach London geht in weniger als zwei Stu…«

»Smart!«, fiel Chandler ihm ins Wort. »Bevor Sie weitersprechen … Wäre es Ihnen möglich, vorher einen kleinen Abstecher an die Küste einzuplanen?«

Smart runzelte die Stirn.

»Ist er das?«, hauchte Paddington neben ihm. »Wirklich? Da ist Robin Chandler dran? Wie aufregend!«

»An die Küste?«, wiederholte der Inspector. »Ich verstehe nicht ganz, Chandler. Ist alles in Ordnung?«

»Das frage ich mich ebenfalls«, gestand sein Freund am Telefon. »Und ich gebe offen zu: Die Antwort lautet vermutlich ›Nein‹. Also, können Sie kommen, Smart? Ginge das? Ich fürchte nämlich, andernfalls gibt es bald Tote …«

Kapitel 2

»Crannock Hall?«, fragte der Bärtige ungläubig. Sein Küstenakzent war dicker als der Londoner Nebel. »Was in aller Welt woll’n Se denn da? Noch dazu jetzt um die Zeit?«

Smart schlug den Kragen seines Mantels höher und erklärte sich erneut. »Ich komme von Scotland Yard. Ein alter Freund hat mich vorhin inständig gebeten, auf die Insel zu kommen. Es geht angeblich um Leben und Tod.«

Der Bärtige schnaubte. Einen schlechteren Scherz schien er noch nie gehört zu haben.

Seit Robin Chandlers mysteriösem Anruf waren mehrere Stunden vergangen. Smart hatte den Großteil der Zeit auf dem Motorway verbracht und seinen spontan organisierten Leihwagen von Bristol aus weiter südwestlich gesteuert. So schnell er nur konnte, war er gefahren – bis hierhin, an den wohl äußersten Zipfel von Cornwall. Und an einen Hafen, der den Namen kaum verdiente.

Der von nur wenigen alten Lampen beleuchtete Platz oberhalb des schmalen Sandstreifens war klein und nur noch fleckenweise geteert. Gras und Unkraut wucherten aus breiten Rissen in seinem Belag, und kleine Nagetiere verkrochen sich in den Schatten. Mehrere Lagerhallen säumten die ebene Fläche und wirkten mit ihren schmutzigen Fassaden, den trüben Fenstern und den windschiefen Toren allesamt, als hätte sie schon seit den Jugendjahren der verstorbenen Queen Elizabeth II. kein Mensch mehr betreten.

Eine Handvoll Fischerboote lag schräg gegenüber an nicht minder alt aussehenden Stegen vertäut, und kaltes, dunkles Wasser leckte im Takt, den die Wellen vorgaben, über die groben Steine am Ufer. Der Mann mit dem Bart war die einzige Person weit und breit, abgesehen von Smart selbst. Alle anderen Bewohner des kleinen Ortes waren wohl vernünftig genug, sich im Warmen aufzuhalten.

Der Mann von der Fährgesellschaft war von undefinierbarem Alter. Er hatte rotes Haar, das ihm unter der Kapuze zottelig ins Gesicht fiel, und einen nicht minder wild wuchernden Bewuchs an Kinn, Wangen und Mundpartie. Er trug gelbes Ölzeug zu grünen Gummistiefeln, und die Träger seiner Hose lagen so straff gespannt auf den knochigen Schultern, dass sie dort Striemen hinterlassen mussten. Ein aufgenähtes Schild an der Brustpartie seiner Latzhose wies ihn als S. Bigsby aus.

Als Smart vorhin angekommen war, hatte Bigsby schon wie selbstverständlich am Fähranleger gestanden, einem etwas breiteren Steg mit einem Schild der Fährgesellschaft. Und auch jetzt noch sah er den Chief Inspector an, als bewiese dieser schon allein durch seine bloße Anwesenheit, wie schlecht es um seinen Verstand bestellt sein musste.

»Leben und Tod«, wiederholte Bigsby und brummte spöttisch. »Auf Crannock Hall. Nee, is’ klar.« Ein Lachen schloss sich an, kehlig und rau wie der Wind. »Das Einzige, was da draußen verreckt, Meister, das ist Ihr Geduldsfaden. Vor Langeweile, verstehen Se? Da ist doch nix und niemand außer dem ollen Bainbridge.«

Smart musste zugeben, dass seine Ortskenntnis minimal war. Alles, was er über das Ziel seiner Reise wusste, war das, was Chandler ihm vorhin am Telefon beschrieben hatte. Eigentlich hatte er längst auf dem Heimweg sein wollen. Ein Abstecher ans Meer war in seinem ursprünglichen Reiseplan nicht vorgekommen. Auch das bisschen Reisegepäck, das er nach Bristol mitgenommen hatte, bewies es.

Doch ein wenig hatte er seit Chandlers Anruf bereits recherchiert. Crannock Hall war ein altes Anwesen, das mutterseelenallein vor der Küste Cornwalls lag – auf einer Insel, die so unbedeutend schien, dass sie nicht einmal über einen Namen verfügte. Aus Gründen, über die sein Freund am Telefon nicht hatte sprechen wollen, hielt Chandler sich aktuell dort auf. Und wie er Smart deutlich gemacht hatte, brauchte er Unterstützung.

Smart nahm die kleine Reisetasche von einer Hand in die andere und wandte sich erneut an Bigsby. »Können Sie sich vorstellen, was auf Crannock Hall vielleicht sonst noch gefährlich sein mag? Außer der Langeweile?«

»Pff.« Der Rothaarige sah ihn kritisch an. »Vielleicht das Wetter?«

Das kam tatsächlich hin, fand Smart. Die Laune der Natur hatte sich seit seiner Abfahrt aus Bristol jedenfalls deutlich verschlechtert. Der Nieselregen von vorhin war von dicken, eisigen Tropfen abgelöst worden, die, von kurzen Unterbrechungen wie dieser abgesehen, nahezu ununterbrochen fielen. Auch der Wind hatte gehörig an Kraft gewonnen und schlug Smart nun vom offenen Wasser her entgegen wie ein Preisboxer, der sich langsam für den Kampf warm machte.

Am Himmel war kein Platz mehr für Sonnenstrahlen. Stattdessen türmten sich Unwetterwolken übereinander, eine dunkler als die andere. Sturm lag in der Luft, das spürte Smart genau. Oder wenigstens gewaltiger Schneefall.

Deswegen ruft Chandler mich aber sicher nicht her. Nicht wegen des Winters. Die Toten, von denen er gesprochen hat, können damit nichts zu tun haben.

Er wusste nicht, was seinen Freund umtrieb. Smart hatte ihn nie zuvor von einem Anwesen namens Crannock Hall sprechen hören, und auch vorhin am Telefon hatte er sich nicht lange darüber auslassen können. Selbst der Grund für seine Anwesenheit an der Küste war dem Chief Inspector unbekannt, hätte er Chandler dieser Tage doch weit eher in irgendwelchen Londoner Gentlemen’s Clubs, auf den VIP-Tribünen von Polo-Turnieren oder auf den Dinnerpartys der High Society vermutet.

Doch Smart kannte den jüngeren Mann gut. Mehrfach schon hatten sie einander in brenzligen Situationen zur Seite gestanden, Gefahren ins Auge geblickt und Rätsel gelöst, die ebenso perfide wie abscheulich gewesen waren. Sie konnten einander vertrauen, zur Not sogar blind. Chandler würde ihn nie um einen Gefallen wie diesen bitten, wenn die Lage nicht ernst wäre.

Erst recht nicht so kurz vor den Feiertagen, dachte Smart. Es muss ihm wichtig sein, was immer es ist. Wichtig … und todernst.

»Die Fähre kommt aber noch, ja?«, fragte er den Bärtigen.

Sie warteten nun schon seit zwanzig Minuten. Der Mann hatte ihm versprochen, dass man ihn problemlos auf die Insel ohne Namen bringen konnte. Die kleine Fähre, zu dessen Team er gehörte, kutschierte ja schließlich tagtäglich Pendler und Touristen zu den Inseln vor der Küste und zurück. Doch allmählich spürte Smart die Kälte in den Knochen. Es wurde allerhöchste Zeit, dass er ins Warme kam.

»Na sicher«, antwortete Bigsby. Er zog eine Taschenuhr aus den Untiefen seines Ölzeugs, was regelrecht bizarr wirkte, und studierte deren Ziffernblatt. »Die sollten Se sehen in genau … Jetzt!«

Smart hob den Blick und dann verblüfft die Brauen. Draußen auf dem Wasser war tatsächlich exakt in diesem Moment ein Schiff erschienen. Noch war es wenig mehr als ein Schemen in der diesigen Ferne, doch Smart war, als könnte er den dazugehörigen Motor bereits tuckern hören.

Als das schwimmende Gefährt näher kam, folgten weitere Details ins Feld seiner Wahrnehmung. Die Fähre war weiß und länglich, kaum breiter als ein Londoner Linienbus. Sie hatte ein Ober- und ein Unterdeck, eine winzige Kommandobrücke und einen schief aussehenden Schornstein, aus dem in dicken Wolken dunkler Qualm aufstieg. Der Union Jack flackerte an ihrem Heck, und zwei Männer standen an der Reling, beide in ähnlicher Kluft wie Bigsby. Neben ihnen hingen ein roter Rettungsring und eine Art Planke aus ockerfarbenem Material. Plastik?

»Na also«, freute sich Bigsby und steckte die Uhr wieder in die Tasche. »Unsere alte Lissy ist pünktlicher als jeder Steuereintreiber. Machen Se sich da mal keine Sorgen, Meister. Die hat noch jeden ans Ziel gebracht, ohne die geringste Verspätung.«

Smart sah zu, wie die Fähre anlegte. Tatsächlich prangte der schmutzig-weiße Schriftzug LISSY an ihrer Seite. Die beiden Männer an Bord warfen Bigsby ein Tau zu, das dieser an einem Poller befestigte. Dann öffneten sie eine Art Gatter in der Reling und fixierten die Plastikplanke dazwischen. Das Boarding konnte beginnen.

Während die Männer arbeiteten, zog Smart das Handy aus der Manteltasche. Schon in Bristol hatte er versucht, seine geliebte Mildred zu erreichen, und die Gelegenheit schien günstig für einen zweiten Anlauf. Er wollte seiner Frau wenigstens mitteilen, dass sich seine Heimkehr noch ein wenig verzögerte. Vorhin war sie leider nicht zu Hause gewesen – sondern unterwegs zum Supermarkt, wie er vermutet hatte. Nun wagte er einen neuen Vorstoß und wählte die vertraute Nummer.

»Geh’n Se ruhig schon an Bord, Meister«, meinte Bigsby. »Sie sind ja eh der einzige Passagier heute Abend. Wir brauchen zwar noch ’nen Moment, bis Lissy wieder ablegt. Aber ich bezweifle, dass bei dem Wetter sonst noch jemand kommt.«

Smart umfasste den Griff seiner Reisetasche fester und setzte vorsichtig einen Fuß auf die Planke, dann einen zweiten. Zu seiner eigenen Überraschung trug das Plastikkonstrukt ihn mühelos; dabei war er bei Weitem kein Schmalhans. Im Gegenteil: Gillicuddy klagte schon seit vielen Jahren über sein Gewicht und seinen Leibesumfang, der zwar nicht nennenswert wuchs, aber leider konstant zu groß war – zumindest aus Sicht eines Mediziners. Was Gillicuddy dabei aber außer Acht ließ, war eine Wahrheit, die dem erfahrenen Kriminalermittler Smart jedoch lieb und teuer war: Die Welt konnte ein grässlicher Ort sein, und süße, salzige und vor allem sämig-sahnige Köstlichkeiten machten sie automatisch schöner. Erst recht in der Vorweihnachtszeit.

Es tutete in der Leitung. Smart hielt sich das Handy dicht ans Ohr, um den Wind abzuschirmen, und bezog am Bug der LISSY Station. Von hier aus konnte er die Brücke sehen, hinter deren kleiner Fensterfront eine desinteressiert wirkende Kapitänin ihrer Arbeit nachging, Steuerkonsolen kontrollierte und aus einer dampfenden Thermoskanne trank. Die Frau schien in seinem Alter zu sein – und mindestens in seiner Gewichtsklasse.

Wieder ein Tuten. Smart kniff die Lider enger zusammen, als der Wind auffrischte und ihm salzige Kälte ins Gesicht blies. Draußen auf dem Meer war der Himmel inzwischen nahezu schwarz.

Wo steckst du nur wieder, Liebes?, dachte der Chief Inspector.

Hatte Mildred vielleicht eine Freundin getroffen und sich festgeplaudert? So etwas passierte häufig, denn in dem Vorort, in dem sie seit Jahrzehnten lebten und in dem Mildred auch aufgewachsen war, kannte sie nahezu jeden. Smart konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sie mit Marion Pearson oder der verwitweten Lydia Sinclair im Bäckercafé des Supermarktes stand und die Zeit vergaß. Andererseits: Würde das wirklich Stunden dauern?

Er wollte schon wieder auflegen, als es plötzlich in der Leitung klickte. Einen Herzschlag später hörte er eine angenehm vertraute, wenngleich atemlos klingende Stimme.

»Timmy, bist du das?«

»Mildred«, freute sich Smart. »Wo steckst du denn schon wieder? Hab ich dich aus dem Keller geholt, oder kommst du gerade erst nach Hause?«

»Ich war tatsächlich unterwegs«, antwortete sie lachend. »Beim Fleischer, den Braten fürs Fest bestellen, und dann noch auf dem Markt für die letzten Kleinigkeiten. Ich weiß ja, wie gern du deinen Plumpudding magst, und ich dachte, wir gönnen uns dieses Jahr auch mal wieder Klöße.«

Smart lief das Wasser im Mund zusammen. Seine Gattin zählte zu den besten Köchinnen des gesamten Königreichs, zumindest in seinen Augen, und auch das war Gillicuddys Sache gewiss nicht zuträglich. Er konnte sie sich regelrecht vorstellen, allein in der heimischen Küche, umgeben von prall gefüllten Einkaufstaschen, die sie gleich ausräumen würde, und den Hörer des alten Telefons am Ohr.

»Klöße klingen absolut wundervoll«, sagte er.

»Weißt du schon, wann … kommst?« Die Verbindung wurde schlechter. »Du meintest ja, der Fall sei au… …nem guten Weg.«

Smart runzelte die Stirn und sprach instinktiv lauter. »Deswegen rufe ich an, Liebes. Ich muss noch einen kurzen Umweg einlegen, von daher wird das vermutlich erst morgen etwas mit mir und dem Weihnachtsurlaub. Chandler braucht hier draußen meine Hilfe.«

»Was sag… du?«, erwiderte sie. »Ich verste… so schlecht. Was ist mit Robin?«

»Er erwartet mich auf Crannock Hall«, sagte Smart. »Hörst du? Ich schaue nur kurz nach dem Rechten, ja? Danach mache ich mich sofort auf den Weg.«

»Cranno…?« Mildred klang verwirrt. Jedenfalls vermutete er das, denn allzu viel hörte er leider nicht mehr von ihr. »Was in aller Welt ist …nock Hall?«

»Ein potenzielles Problem in Cornwall«, antwortete Smart. Inzwischen schrie er beinahe ins Telefon und ahnte dennoch, dass Mildred so wenig von ihm verstand wie er von ihr. »Befürchtet er zumindest. Wie gesagt: Ich schaue nach, und dann bin ich im Nullkommanichts unterwegs nach Hause.«

Schweigen. Im ersten Moment dachte er, sie sei beleidigt. Dann aber begriff er, dass sie schlicht nicht mehr in der Leitung war.

»Mildred?«, fragte er laut. »Hörst du?«

Statt einer Erwiderung erklang plötzlich ein Besetztzeichen. Frustriert nahm Smart das Handy vom Ohr.

»Das mit den Mobiltelefonen können Se sich sparen, Meister«, rief Bigsby ihm zu. Der Rothaarige stand auf dem Landungssteg, nicht mehr als eine bessere Armlänge von Smarts Position an der Reling entfernt. »Die Dinger haben hier nur arg sporadisch Empfang. Je weiter Sie rausfahren, desto schlechter wird’s sogar.«

Danke für die Warnung, dachte Smart und winkte dem anderen Mann bestätigend zu. Mildred hatte genug verstanden, um zu wissen, dass er sich ein wenig verspäten würde. Das genügte für den Moment völlig, zumal sie das von seinen Einsätzen kannte. Auch wenn er, wie üblich, natürlich gern länger mit ihr gesprochen hätte.

Die Crew der LISSY fuhr die Planke ein und schloss das Tor in der rostigen Reling. Die Kapitänin schien den Motor hochzufahren, denn das rhythmische Tuckern wurde plötzlich wieder lauter.

»Auf zum Lord, hm?«, meinte einer der Ölzeug-Männer. Er grinste Smart zu. »Einer ist immer der Letzte.«

Smart hatte keinen blassen Schimmer, was er meinte, nickte aber freundlich. Dann suchte er unter dem Vordach der Kommandobrücke Schutz vor dem Regen, der wieder neu einsetzte. Bigsby winkte zum Abschied.

Die Fähre verließ den Hafen. Smart spürte den Antrieb unter seinen Schuhsohlen, roch die würzige Seeluft ebenso wie den Diesel des Schiffsmotors. Zwei Möwen kreisten in der Nähe, nur wenige Handbreit über unruhigem Wasser. Es waren die ersten Möwen, die ihm überhaupt auffielen. Auch die Tiere schienen keine große Lust auf das ungemütliche Wetter zu haben, zumal es minütlich dunkler wurde.

»Entschuldigung«, sagte Smart. Dabei drehte er sich zur Seite und klopfte an eines der Brückenfenster, das einen schmalen Spalt offen stand. »Dürfte ich Sie vielleicht etwas fragen?«

Die Kapitänin hatte eine Hand am Steuer. In der anderen hielt sie ihre Thermoskanne. »Was’n?«

»Wie lange dauert die Fahrt bis Crannock Hall?«