Mord undercover - Rhys Bowen - E-Book
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Mord undercover E-Book

Rhys Bowen

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Beschreibung

Auf der Suche nach ihrem Ehemann gerät Molly Murphy in tödliche Gefahr …
Ein spannender Fall der Cosy Crime-Reihe von NYT Bestseller-Autorin Rhys Bowen

Molly Murphy ist besorgt: Ihr Mann Daniel, ein Captain beim New York Police Departement, wird vom Geheimdienst für einen Undercover-Auftrag angefordert. Er reist ab, ohne ihr zu sagen, wohin er geht und in was für einem Fall er ermittelt. Mollys schlechtes Gefühl bestätigt sich, als sie einen kryptischen Brief von Daniel erhält, der sie bittet, ihn in San Francisco zu treffen. Warum wendet er sich an sie und nicht an seinen Kontakt beim Geheimdienst? Molly hält es keine Sekunde länger aus und reist mit ihrem kleinen Sohn Liam durch's ganze Land, wo sie nicht nur eine schreckliche Nachricht, sondern auch ein neuer Fall erwartet, der ihrer aller Leben in Gefahr bringt …

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Flammen über San Francisco.

Alle Bände der Molly Murphy ermittelt-Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

Erste Leser:innenstimmen
„Dass Rhys Bowen die besten historischen Krimis schreibt, hat sie auch in diesem Molly Murphy-Band bewiesen!“
„Das Rätsel um den mysteriösen Brief von Daniel hat mich sofort gepackt.“
„Endlich geht meine liebste Cosy Krimi-Reihe weiter – ich empfehle alle Teile!“
„Molly meistert ihr Abenteuer mit viel Humor und irischem Charme.“
„Das historische San Francisco als Setting hat mir wunderbar gefallen!“

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Seitenzahl: 507

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Über dieses E-Book

Molly Murphy ist besorgt: Ihr Mann Daniel, ein Captain beim New York Police Departement, wird vom Geheimdienst für einen Undercover-Auftrag angefordert. Er reist ab, ohne ihr zu sagen, wohin er geht und in was für einem Fall er ermittelt. Mollys schlechtes Gefühl bestätigt sich, als sie einen kryptischen Brief von Daniel erhält, der sie bittet, ihn in San Francisco zu treffen. Warum wendet er sich an sie und nicht an seinen Kontakt beim Geheimdienst? Molly hält es keine Sekunde länger aus und reist mit ihrem kleinen Sohn Liam durch's ganze Land, wo sie nicht nur eine schreckliche Nachricht, sondern auch ein neuer Fall erwartet, der ihrer aller Leben in Gefahr bringt …

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Flammen über San Francisco.

Alle Bände der Molly Murphy ermittelt-Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

Impressum

Erstausgabe 2016 Überarbeitete Neuausgabe September 2022

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-816-5

Copyright © 2016 by Rhys Bowen. Alle Rechte vorbehalten. Titel des englischen Originals: Time of Fog and Fire

Published by Arrangement with Janet Quin-Harkin. c/o JANE ROTROSEN AGENCY LLC, 318 East 51st Street, NEW YORK, NY 10022 USA.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2021, dp Verlag Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2021 bei dp Verlag erschienenen Titels Flammen über San Francisco (ISBN: 978-3-96087-919-0).

Übersetzt von: Lennart Janson Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Pixel-Shot shutterstock.com: © Nomad_Soul depositphotos.com: © Denniro, © dml5050, © Serg64 Korrektorat: Martin Spieß

E-Book-Version 13.06.2023, 17:34:29.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Mord undercover

Dieses Buch ist meiner Freundin und Reisepartnerin gewidmet: Der ausgezeichneten Autorin Cara Black. Danke dafür, dass du Lesereisen in unterhaltsame Abenteuer verwandelst.

Wie immer geht auch großer Dank an meine Agentinnen, Meg und Christina, und an mein Team bei Minotaur: Kelly, Sarah und Elizabeth.

Und an John, der stets mein erster (und kritischster) Lektor sowie mein Chauffeur, Bodyguard und Reisegefährte ist.

Prolog

Nordtexas, Frühling 1895

Starker Wind blies aus Norden über die öde Landschaft, in der es nichts gab, was die Luftströme hätte bremsen können, abgesehen vom Stacheldrahtzaun, der die Steppenroller aufhalten sollte. Er drehte den Rücken zum Wind und schirmte die Augen gegen das grelle Licht ab, während er über das flache Nichts blickte.

„Sind Sie sich sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte er.

„Ja.“ Der andere war ein Mann weniger Worte und sprach durch zusammengebissene Zähne, um den Staub und Dreck im Wind fernzuhalten. Sie standen eine Weile nebeneinander, der Schürfer und der Großstädter, und sagten nichts. Gemeinsam starrten sie in die karge Landschaft, in der weder Baum noch Busch zu sehen waren.

„Und es gibt nichts? Ganz sicher nichts?“

Der andere schüttelte den Kopf. „Nicht die kleinste Spur. Tut mir leid.“

„Dann wurde ich hinters Licht geführt.“ Der erste Mann spuckte diese Worte förmlich aus.

„So wie viele andere, Kumpel.“

„Er wird damit nicht durchkommen.“

„Ich würde sagen, er kommt damit durch. Hier draußen herrschen nicht die gleichen Gesetze wie in Ihrer großen Stadt, Kumpel. Der Kerl ist längst weg und verprasst wahrscheinlich in diesem Moment Ihr Geld.“

„Nicht alles“, sagte der Mann. „Ich war nicht völlig blauäugig. Ich habe Mittel und Wege, um ihn zu finden. Und wenn ich ihn aufgespürt habe, werde ich ihn umbringen.“

„Viel Glück“, sagte der andere. „Sie werden es brauchen.“

Der Texaner drehte sich um und ging davon. Seine Cowboystiefel ließen klare, scharf umrissene Abdrücke im trockenen Staub zurück.

Eins

New York City, März 1906

Es war ein unruhiger Frühling gewesen, sowohl in Bezug auf das Wetter als auch auf mein Leben. Wir hatten früh einige warme Tage erlebt. Es blühte, Narzissen sprossen, die Vögel zwitscherten ihre Paarungsrufe, New Yorker legten Kleidungsschichten ab und erwachten aus ihrem Winterschlaf. Selbst die Bettler und Kreuzungskehrer hatten ein Lächeln auf den Lippen und bedankten sich mit frechen Sprüchen für die gelegentliche Münzgaben. Der März hatte noch recht harmlos begonnen, uns dann aber mit eisigen Winden malträtiert, die Blüten von den Bäumen rissen und uns sogar mit Schnee wieder in unseren Häusern eingesperrten.

Mein eigenes Leben hatte sich genauso unvorhersehbar und unruhig entwickelt. Zu Anfang des Jahres erholte sich Daniel noch von seiner Schusswunde, die er erlitten hatte, als er versuchte, einen übereifrigen Neuling davon abzuhalten, sich mit der fürchterlichen, neuen, italienischen Gang namens Cosa Nostra anzulegen. Daniel hatte überlebt, doch der junge Polizist hatte mit dem Leben bezahlt. Dazu kam noch, dass der aktuelle Police Commissioner Daniel nicht leiden konnte. Für ihn und seine Kumpane von Tammany Hall war Daniel zu geradlinig, da er sich weigerte, sich unterzuordnen und sich ab und zu bestechen zu lassen. Ich vermutete, dass sie nach einer Möglichkeit gesucht hatten, ihn loszuwerden, was sich allerdings nicht allzu einfach gestaltete, da er einer der angesehensten Police Captains von New York war. Doch während er mit seiner Schusswunde ausgeschaltet war, hatten dunkle Mächte versucht, ihn in Verruf zu bringen, solange er sich nicht persönlich dagegen wehren konnte. Aus einer unbekannten Quelle hatte sich das Gerücht verbreitet, Daniel hätte dem Neuling befohlen, den Boss der Cosa Nostra zu verhaften – ein törichter Plan, weil der sich mit mehr Leibwächtern umgab als der Kaiser von China. Tatsächlich war das genaue Gegenteil passiert: Daniel hatte herausgefunden, was der junge Mann vorgehabt hatte, und war ihm nachgeeilt. Unglücklicherweise hatte Daniel ihn nicht rechtzeitig aufhalten können und er war erschossen worden. Daniel hatte sich die zweite Kugel eingefangen, aber überlebt. Doch mittlerweile glaubte die halbe Polizeitruppe, dass Daniel Schuld am Tod des Kollegen war. Mein Ehemann, so verantwortungsvoll und mutig wie ein Mann nur sein konnte, war deswegen todunglücklich; und nicht in der Lage, die Sache ins rechte Licht zu rücken. Er sprach mittlerweile sogar erstmals von einem Rückzug aus der Polizei, und darüber, Anwalt zu werden oder in die Politik zu gehen, wie es seine Mutter immer vorgeschlagen hatte. Ich ertrug es nicht, ihn so still und nachdenklich zu sehen, wenn er in seinem Essen herumstocherte und kaum Augen für seinen jungen Sohn hatte. Es war schon so weit gekommen, dass ich am liebsten selbst zum Polizeihauptquartier gegangen wäre, um den Leuten dort gründlich die Meinung zu sagen.

Zum Glück kam es nicht so weit, da John Wilkie wieder in unser Leben trat. Als Ehefrau eines Police Captains hätte ich wohl lernen müssen, mich nicht mehr von unerwarteten Schicksalswendungen überraschen zu lassen. Doch die Haustür zu öffnen und John Wilkie auf der Schwelle stehen zu sehen, sorgte dafür, dass mir die Kinnlade herunterklappte. Einerseits ist es nicht unbedingt alltäglich, dass der Kopf des U.S. Secret Service zu Besuch kommt, und andererseits hatten wir uns nach unserer letzten Begegnung nicht gerade freundschaftlich getrennt. Als ich herausgefunden hatte, dass er mich als Lockvogel benutzt hatte, um meinen Bruder zu fassen, der dabei gewesen war, in Amerika Geld für die Irisch-Republikanische Bruderschaft aufzutreiben, war ich nicht in der Lage gewesen, meinen Zorn im Zaum zu halten. Das Ganze hatte mit dem Tod meines Bruders geendet, für den ich immer noch John Wilkie verantwortlich machte.

Mr. Wilkie schien diese unangenehme Zeit vergessen zu haben, als ich an einem stürmischen Märzabend in unserer kleinen Seitengasse, dem Patchin Place, die Haustür öffnete und er vor mir stand. Schneeflocken wirbelten um ihn herum und ich brauchte ein oder zwei Sekunden, um ihn zu erkennen, da er in einen dicken, roten Schal gehüllt war.

„Guten Abend, Mrs. Sullivan“, sagte er und streckte mir eine behandschuhte Hand entgegen. „Es ist schön, Sie wiederzusehen.“

„Mr. Wilkie“, antwortete ich, ohne sein Lächeln zu erwidern. „Das ist eine Überraschung.“

„Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen“, sagte er.

„Überhaupt nicht. Ich nehme an, dass es sich an diesem kalten und unfreundlichen New Yorker Abend nicht um einen Höflichkeitsbesuch handelt.“

Er lächelte. Sein Mund war immer noch unter dem Schal verborgen, doch ich konnte es an seinen Augen sehen. „Ich hatte gehofft, mich ungestört mit Ihrem Ehemann unterhalten zu können. Ist er zu Hause?“

„Er hat eben zu Abend gegessen“, sagte ich. „Kommen Sie doch herein, dann sage ich ihm, dass Sie hier sind.“

Ich hatte gerade die Haustür hinter uns geschlossen, als Daniel aus der Küche kam und sich noch die Mundwinkel mit einer Serviette abputzte. Es hatte Irish Stew gegeben, Daniels Lieblingsessen.

„Wer war da an der Haustür, Molly?“, fragte er, dann bemerkte ich die Überraschung in seinem Blick. „Mr. Wilkie. Das ist eine unerwartete Ehre, Sir. Lassen Sie mich Ihnen aus dem Mantel helfen. Und Molly, würdest du Mr. Wilkie bitte Handschuhe, Hut und Schal abnehmen?“

Wir befreiten Mr. Wilkie aus seiner äußeren Hülle.

„Ich fürchte, wir haben im vorderen Wohnzimmer kein Feuer vorbereitet, also müssen wir mit dem hinteren Vorlieb nehmen, das gleichzeitig mein Arbeitszimmer ist, jetzt da alle Schlafzimmer besetzt sind“, sagte Daniel, während er Mr. Wilkie den Flur hinunterführte.

John Wilkie lächelte. „Natürlich, Sie brauchen ja jetzt ein Kinderzimmer, nicht wahr? Sie haben ein Kind bekommen, seit wir uns zuletzt sahen. Junge oder Mädchen?“

„Ein Junge“, sagte ich. „Er ist mittlerweile achtzehn Monate alt. Wir haben ihn Liam genannt, nach meinem verstorbenen Bruder.“

Ich sah, dass Daniel mir einen warnenden Blick zuwarf, doch mein Kommentar schien Mr. Wilkie kalt zu lassen. Vielleicht hatte er bereits vergessen, wie mein Bruder gestorben war. Vielleicht war es ihm egal.

„Meinen Glückwunsch“, sagte er. „Ein Sohn, um die Familie zu begründen.“

„Können wir Ihnen etwas zu trinken anbieten, Mr. Wilkie?“, fragte Daniel, als er anhielt, um das Gaslicht im hinteren Wohnzimmer hochzudrehen. „Ich glaube, ich habe noch einen Rest von einem annehmbaren Whiskey übrig, sonst macht Ihnen Molly gewiss auch gern einen Kaffee oder einen Tee.“

„Zu dem Whiskey sage ich nicht nein.“

„Dann setzen Sie sich bitte ans Feuer und ich werde sehen, was ich tun kann“, sagte Daniel. Er sah wieder zu mir. „Molly, würdest du uns zwei Gläser bringen?“

Damit war klar, dass ich bei dieser Unterhaltung nicht erwünscht war, besonders, da Mr. Wilkie nichts hinzufügte, als er sich ans Feuer setzte. Nun gut, dachte ich. Je größer der Abstand, den ich zu John Wilkies Machenschaften halten konnte, desto besser. Ich ging wieder in die Küche, wo Liam protestierte, weil er in seinem Hochstuhl saß, obwohl offensichtlich Besuch im Haus war. Und Bridie, das Mädchen, das ich vor all den Jahren aus Irland mitgebracht hatte, räumte gerade den Tisch ab. Sie lebte zurzeit bei uns, damit sie in der Stadt zur Schule gehen konnte, und hatte sich als großartige Helferin erwiesen.

„Lass gut sein, Bridie, meine Liebe“, sagte ich. „Könntest du Liam aus seinem Stuhl holen und ihn bettfertig machen? Captain Sullivan hat Besuch.“

Sie stellte die Teller ab, die sie gerade aufeinandergestapelt hatte. „Komm mit, Liam“, sagte sie. „Wir machen dich bettfertig.“

Liam stieß einen Schrei aus. „Mama“, heulte er.

„Schlafenszeit, junger Mann“, sagte ich mit Nachdruck. „Und wenn du artig bist, wird Bridie dir die Geschichte von den drei Bären erzählen. Und dann kommt Dada, um dir Gutenacht zu sagen.“

Bridie trug ihn nach oben, während er immer noch protestierte. Doch als sie ihm etwas ins Ohr flüsterte, lächelte er sie an. Sie entwickelte sich beinahe zu einer Art kleiner Mutter, dachte ich. So erwachsen. Bereit, zur Frau zu werden. Ich holte zwei unserer guten Gläser aus dem Schrank, polierte sie und richtete noch einen Teller mit Käsestangen an, die ich am Tag zuvor gebacken hatte. Dann trug ich alles auf einem Tablett nach drüben.

Als ich die Tür öffnete, sagte Daniel gerade: „Ich gebe zu, was Ihre Spione Ihnen sagen, ist nicht falsch, und ich hielte es für schlau, Ausschau zu halten …“

Die Unterhaltung wurde unterbrochen, als ich hereinkam. Ich stellte das Tablett auf Daniels Schreibtisch ab. „Kann ich Ihnen noch etwas bringen, ehe ich damit beschäftigt bin, Liam ins Bett zu bringen?“, fragte ich.

„Nein, vielen Dank. Sehr freundlich, Mrs. Sullivan“, sagte Mr. Wilkie.

„Dann verschwinde ich wieder.“ Ich verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter mir. In der Vergangenheit hatte Mr. Wilkie mich als gute Detektivin bezeichnet und mich rekrutieren wollen, doch dieses Mal sollte ich offensichtlich nicht eingeweiht werden. Leider konnte ich durch die Tür nichts mehr hören, obwohl ich mein Ohr ans Holz legte, wie ich gestehen muss. Ich war also gezwungen, wieder zu meinen Pflichten als Ehefrau zurückzukehren und den Abwasch zu machen.

Nachdem ich die Küche aufgeräumt hatte, waren die beiden immer noch in dem Zimmer eingeschlossen. Ich ging hoch, um nach Liam zu schauen, stellte aber fest, dass er bereits eingeschlafen war. Bridie saß neben ihm und las im gedämpften Gaslicht ein Buch.

„Du musst nicht hier oben bleiben, mein Liebling“, sagte ich. „Komm nach unten und leiste mir in der Küche Gesellschaft. Da ist es schön warm.“

„In Ordnung.“ Sie folgte mir die Treppe hinunter.

„Was liest du?“

„Little Women“, sagte sie. „Das Buch hat mir meine Lehrerin ausgeliehen. Sie weiß, dass ich gerne lese.“

„Eine wissbegierige, kleine Schülerin“, sagte ich. „Deine Mutter wäre sehr stolz auf dich.“

„Und mein Vater?“ Sie sah mich wehmütig an. „Er hatte nie viel für Bücher übrig. Ich glaube, er ist ebenfalls tot, oder?“

Bridies Vater und Bruder waren mit einem Schiff nach Panama gefahren, um an dem neuen Kanal zu arbeiten, und wir hatten seit über einem Jahr nichts mehr von ihnen gehört. Da ich Gerüchte über die entsetzlichen Arbeitsbedingungen an diesem schrecklichen Ort gehört hatte, hielt ich es durchaus für möglich, dass Seamus tot war, doch ich legte Bridie einen Arm um die Schultern. „Nein. Ich glaube, er ist nur zu weit von jeglicher Kommunikationsmöglichkeit entfernt. Und wie du schon sagtest, er hat nie viel geschrieben. Vielleicht denkt er gar nicht daran, dass du dir Sorgen machen könntest. Männer sind da anders. Sie glauben nicht, dass wir Frauen uns Sorgen machen.“

Sie bekam ein tapferes Lächeln zustande. „Er wird mich gar nicht wiedererkennen, wenn er zurückkommt“, sagte sie. „Ich hoffe, ich kann dann trotzdem bei Ihnen bleiben. Oder bei Captain Sullivans Mutter draußen auf dem Land.“ „Damit beschäftigen wir uns, wenn es soweit ist …“, sagte ich und unterbrach mich, als ich hörte, wie sich eine Tür öffnete.

„Sie denken also darüber nach?“ Das war John Wilkies Stimme. „Was soll ich Präsident Roosevelt ausrichten?“ „Ich werde Ihnen bis zum Ende der Woche meine Antwort mitteilen“, sagte Daniel. „Es ist ein großer Schritt. Das kann ich nicht leichtfertig entscheiden.“

„Ich kann gewiss beim Commissioner alles in die Wege leiten, besonders wenn die Anfrage direkt vom Präsidenten kommt“, sagte Mr. Wilkie. Er stand im Flur und Daniel half ihm in den Mantel. Dann reichte er ihm Schal, Hut und Handschuhe.

„Es war schön, Sie wiederzusehen, Mrs. Sullivan.“ Mr. Wilkie wandte sich mir zu. „Vielen Dank für die Käsestangen. Die waren köstlich.“

Ich nickte höflich, während Daniel ihn hinausführte. Kaum war die Haustür wieder geschlossen, fragte ich: „Worum ging es da? Mr. Wilkie möchte, dass du für ihn arbeitest?“

„Ich fürchte, ich darf nicht darüber sprechen“, sagte Daniel. „Aber, ja, darauf läuft es hinaus.“

„Du würdest die Polizei verlassen?“

„Wenn Wilkie das hinbekommt, werde ich ihm unterstellt.“

„Und diese Anfrage kommt direkt von Präsident Roosevelt?“

„Ja.“ „Dann würdest du für den Präsidenten höchstpersönlich arbeiten?“

„Indirekt.“

„Du machst mich rasend, Daniel Sullivan“, sagte ich genervt. „Wie kannst du deiner Ehefrau verschweigen, was du tun wirst? So eine Entscheidung in deinem Leben geht doch auch mich etwas an.“

„Ich habe mich noch nicht entschieden“, sagte er. „Ich muss die Vor- und Nachteile abwägen. Dieser Auftrag ist nicht gerade unkompliziert. Er beinhaltet ein gewisses Maß an List.“

„Und Gefahr?“

„Vermutlich auch das. Doch in meinem aktuellen Beruf bin ich auch tagtäglich in Gefahr, wie du nur zu gut weißt. Ich habe mir erst kürzlich eine Kugel eingefangen.“

Ich legte eine Hand auf seinen Arm. „Dann mach das, was deine Mutter sich immer gewünscht hat. Geh in die Politik.“

Jetzt lachte er. „Kannst du dir vorstellen, dass ich als Kongressabgeordneter in Albany sitze? Oder noch schlimmer, in Washington? Ich bin mit dem Police Commissioner aneinandergeraten, weil ich keine Bestechungsgelder annehme und bei Korruption kein Auge zudrücke. Was glaubst du, wie viel schlimmer das in der Politik wäre? Ich bin denen verpflichtet, die mich gewählt haben. Ich würde mich der Parteilinie unterwerfen und gegen mein Gewissen handeln müssen.“

„Dieser Auftrag für John Wilkie, ist der in New York?“, fragte ich. „Kannst du mir wenigstens so viel sagen?“

„Nein, ich glaube nicht, dass sich die Sache in New York abspielt.“

„Würden wir umziehen müssen?“ „Nein. Es geht nur um einen kurzen Ausflug, hoffe ich. Höchstens einen Monat oder so.“

„Und ich würde hierbleiben?“

„Ja“, sagte er. „Das ist besser so. Bridie muss zur Schule. Du hast deine Freundinnen, die ein Auge auf dich haben können. Und ich hätte die Freiheit, zu tun … was ich tun muss.“

Ich schlang ihm die Arme um den Hals. „Ich will nicht, dass du etwas Gefährliches tust, Daniel.“

„Sei nicht albern.“ Er küsste mich auf die Stirn. „Ich kann auf mich aufpassen. Ich werde keine unnötigen Risiken eingehen. Alles wird gut.“

„Das klingt, als hättest du dich schon entschieden.“

„Ich denke, das habe ich“, sagte er. „Ich bin lieber draußen und tue etwas, als hier herumzusitzen und dabei zuzusehen, wie meinen Kollegen die spannenden Ermittlungen zugeschoben bekommen, und darauf zu warten, dass meine Feinde den nächsten Nagel für meinen Sarg finden.“

„Bitte sprich nicht von Särgen.“ Ich blickte in sein Gesicht.

Zwei

Zwei Tage später teilte Daniel mir mit, dass er beschlossen hätte, Mr. Wilkies Auftrag anzunehmen. Das sei eine gute Herausforderung für ihn, sagte er. Und eine gute Gelegenheit, um neue Möglichkeiten auszuloten. Wenn er sich beim Präsidenten gutstellte, wenn der Präsident ihn zu schätzen lernte, wer konnte wissen, wohin das führen mochte?

Ich sah von den Kartoffeln auf, die ich in diesem Moment schälte. „Ich wünschte, die Menschen aus meinem Dorf in Irland könnten mich jetzt sehen“, sagte ich. „Molly Murphy, aus dem baufälligen Cottage und mit einem Trinker als Vater, die jetzt mit einem Mann verheiratet ist, der vom Präsidenten der Vereinigten Staaten persönlich für einen Spezialauftrag angefordert wurde.“

Daniel grinste. „Bei dir klingt das alles viel bedeutender, als es eigentlich ist“, sagte er.

„Du könntest mir wenigstens einen Hinweis darauf geben, was du tun wirst.“ Ich starrte ihn an. „Wirst du Kriminelle jagen, Spione schnappen? Ich weiß überhaupt nicht, was der Secret Service tut.“

„Ich auch nicht“, entgegnete Daniel. „Die auch nicht, glaube ich.“ Er lachte. „Die Behörde wurde gegründet, um Geldfälschung zu verhindern und den Präsidenten zu schützen. Doch John Wilkie ist ein Mann mit Ambitionen, und ich bin mir sicher, dass er darauf aus ist, die Zuständigkeit zu erweitern.“

„Dann wirst du den Präsidenten beschützen?“, fragte ich unschuldig.

„Nein. Meine Aufgabe wird sehr viel bescheidener sein, das kann ich dir versichern.“

„Also Spionage?“, fragte ich. „Anarchisten?“

„Keine Anarchisten, versprochen.“ Er lächelte. „Und du machst die Sache viel größer, als sie eigentlich ist, Molly. Ich glaube nicht, dass es um mehr als einen einfachen Betrugsfall geht.“

Ich war erleichtert, weil er sich wenigstens nicht mit gefährlichen Ausländern anlegen würde. „Warum kommt Mr. Wilkie dann zu dir? Hat er nicht eigene Agenten, die für ihn die Drecksarbeit erledigen können?“

„Natürlich. Doch ich glaube, er will mich, gerade weil ich keiner von ihnen bin. Ich bin ein Außenstehender. Unbekannt.“

Ich stand da und starrte ihn mit einer halb geschälten Kartoffel in der Hand an. Ich wollte, dass er weitersprach. „Daniel, erzählst du mir wenigstens, wohin du gehst?“

„Das kann ich dir nicht sagen, weil ich es selbst nicht weiß. Ich werde in Washington, D.C. den Präsidenten treffen. Und dann …“

„Dann was? Ich bin deine Ehefrau. Habe ich nicht das Recht zu erfahren, wo du sein wirst? Was wenn, Gott bewahre, Liam todkrank wird? Oder deine Mutter?“

„John Wilkie wird wissen, wo ich bin. In einem ernsten Notfall kannst du ihn kontaktieren.“

„Und welche Art von Kleidung soll ich für dich einpacken?“; fragte ich. „Lange Unterhosen oder dein Sommerjackett?“

Er lachte und ließ einen Arm um meine Hüfte gleiten. „Ich werde nicht auf diesen subtilen Versuch hereinfallen, mir ein Geständnis zu entlocken, Molly Sullivan. Und ich werde selbst packen, wenn ich aufbreche.“

Ich seufzte und widmete mich wieder den Kartoffeln.

Die folgenden Tage vergingen viel zu schnell. Daniel erhielt Telegramme und verschickte vermutlich Antworten. Ich sorgte dafür, dass all seine Kleidung gewaschen war. Er packte nur eine lächerlich kleine Tasche. Das machte mir wenigstens ein bisschen gute Laune. Er konnte nicht erwarten, lange fort zu sein, wenn er so wenig Kleidung mitnahm. Als ich nach Paris gereist war, hatte ich eine große Reisetruhe dabei gehabt. Vielleicht machte ich mir also völlig grundlos Sorgen. Möglicherweise würde er nach einer kurzen Unterredung mit dem Präsidenten schon wieder nach Hause zurückkehren.

Daniel schien bester Stimmung zu sein, als er sich an einem frischen Märzmorgen von uns verabschiedete. Der Wind zerrte an seinem Schal, als er auf halbem Weg den Patchin Place hinunter stehenblieb, um zu winken und Liam einen Luftkuss zuzuwerfen. Dann war er fort. Ich blinzelte alberne Tränen weg. Ich war unnötig emotional. Er wurde ja nicht als Spion ins Ausland geschickt. Er erledigte nur einen simplen Auftrag für den Präsidenten. Das war nicht gefährlicher als seine normale Arbeit in New York.

Die Haustür auf der anderen Straßenseite öffnete sich und meine Nachbarin Gus Walcott kam heraus.

„Dann ist er unterwegs?“, fragte sie, als Daniel hinter der Ecke zur Greenwich Avenue verschwand.

Ich nickte.

„Kopf hoch. Er ist wieder da, ehe du dich versiehst.“ Sie lächelte mir aufmunternd zu. „Und es heißt doch, dass die Liebe mit der Entfernung wächst. Ich gehe zur französischen Bäckerei und hole Croissants. Komm in einer halben Stunde auf einen Kaffee rüber. Wir planen ein paar aufregende Dinge für die Zeit, in der Daniel fort ist.“

Ich versuchte, fröhlicher zu wirken, als ich mich am späteren Vormittag in ihre warme Küche führen ließ. Der Duft von frischem Kaffee und warmem Brot erfüllte die Luft. Gus’ Lebensgefährtin, Sid Goldfarb, stand am Herd, rührte in einem brodelnden Topf herum und sah in ihrem smaragdgrünen Samtjackett und ihrer schwarzen Seidenhose aus wie eine glamouröse Hexe. Ich sollte wohl erklären, dass Sid und Gus die Spitznamen der beiden Frauen sind, die offiziell Augusta und Elena heißen. Sie verfügten über ausreichend Geld, um sich ein Künstlerinnenleben leisten zu können, und dabei sämtliche Regeln der gehobenen Gesellschaft zu ignorieren. Sie probierten ständig neue Dinge aus, malten, schrieben, reisten und hatten ihren Spaß. Sie waren zudem passionierte Suffragetten. Ich unterstützte ihr Anliegen zwar, musste aber vorsichtig vorgehen, da es Daniel nicht zusagte, wenn Frauen unangenehm auffielen (oder das Frauenwahlrecht einforderten, nahm ich an). Und da er ein angesehenes Mitglied der New Yorker Gesellschaft war, durfte ich nichts unternehmen, was seine Stellung gefährdete. Doch als ich Liam auf dem Boden absetzte, wo er gleich seinen unsicheren Gang übte, ging mir auf, dass ich mich mehr beteiligen könnte, solange er fort war.

Sid und Gus mussten zu demselben Schluss gekommen sein. Sid hob den Blick vom Topf. „Wenn die Katze aus dem Haus ist, können die Mäuse auf dem Tisch tanzen, nicht wahr, Molly?“, fragte sie mit einem verschmitzten Lächeln. „Wir sprachen gestern Abend über dich, und darüber, dass es unsere Aufgabe sein wird, dich zu unterhalten. Es gibt Kunstgalerien, die du besuchen musst, und wir werden all unsere verrufenen Künstlerfreundinnen einladen, von denen dein Ehemann nichts hält. Außerdem planen wir eine Frühlingskampagne der Suffragetten und würden uns freuen, wenn du dabei bist. Wir ziehen sogar in Erwägung, wieder mit unseren Transparenten bei der Osterparade mitzumarschieren.“

„Ist das wirklich eine gute Idee?“, fragte ich, während Gus mir eine Tasse Kaffee hinstellte. „Beim letzten Mal war das nicht allzu erfolgreich, oder? Und Daniel war außer sich, als er mich aus einer Gefängniszelle retten musste.“

„Das ist jetzt schon mehrere Jahre her“, sagte Gus. „Ich glaube, dass immer mehr Frauen unsere Denkweise übernehmen. Und wir können nicht wegen einiger kleiner Rückschläge aufgeben.“ Sie nahm ein Croissant aus dem Korb auf dem Tisch und reichte es Liam, der sich augenblicklich auf den Teppich sinken ließ und an einem Ende des Croissants saugte.

„Wirst du wenigstens zu unseren Treffen kommen?“, fragte Sid. Sie legte den Kochlöffel weg und setzte sich neben mich.

„Natürlich.“

„Wir müssen dich beschäftigen, damit du dich nicht vor Sehnsucht verzehrst“, sagte sie. „Das hat bei uns auch gut funktioniert. Du siehst ja, wie emsig wir sind, seit die Kinder bei ihrem Großvater leben.“

„Ihr vermisst sie immer noch?“, fragte ich. Sid und Gus hatten zwei Waisenkinder von der Straße aufgenommen, die jetzt wieder glücklich mit ihrer Familie vereint waren. (Dank meiner Detektivinnenarbeit, sollte ich hinzufügen.)

„Natürlich. Aber wir werden sie bald wiedersehen. Ihr Großvater hat uns vergangene Woche geschrieben. Der Familie gehört eine Hütte in den Adirondacks. Und da der alte Mann einer solchen Reise noch nicht wieder gewachsen ist, sollen wir die Kinder dort hinbringen, um den Schnee zu sehen.“

„Oh, das wird bestimmt schön“, sagte ich. „Ich freue mich für euch.“

„Ich will schon seit Jahren meine Technik beim Skifahren verbessern“, sagte Sid. „Ich habe es während meiner Collegezeit mal ausprobiert, hatte aber nie so ganz den Dreh raus. Mein deutscher Skilehrer sagte mir in seinem unvergesslichen Akzent immer wieder, ich solle die Knie beugen. Ich habe sie gebeugt, konnte aber dennoch nicht beeinflussen wohin mich diese verdammten Ski trugen.“

Gus sah mich an. „Ich glaube, ich ziehe einen heißen Kakao am lodernden Feuer vor und genieße den Blick in die Berge durchs Fenster“, sagte sie. „Vielleicht nehme ich sogar meine Farben mit und fange die Szenerie ein.“

„Du wirst bestimmt mit den Kindern im Schnee spielen wollen, davon bin ich überzeugt“, sagte Sid. „Stell dir nur vor, wie viel Spaß wir haben werden, wenn wir Schlitten fahren und Schneemänner bauen. Und selbst …“ Sie sprang auf, weil der Topf auf dem Herd wütend brodelte.

„Was kochst du da? Es riecht interessant“, sagte ich.

„Eine Mulligatawny-Suppe aus dem indischen Kochbuch, das du uns geschenkt hast. Wir werden immer vertrauter mit der indischen Küche, nicht wahr, Gus? Wir planen, bald ein indisches Bankett zu geben. Wir werden Saris tragen, uns einen Punkt auf die Stirn malen und einen Sitarspieler einladen.“ „Sid wollte herausfinden, ob wir aus dem Bronx Zoo einen Elefanten ausleihen können, der unsere Gäste den Patchin Place entlangträgt“, sagte Gus.

„Was ist so witzig daran?“, fragte Sid, als Gus und ich in Gelächter ausbrachen.

„Und wie willst du den Elefanten aus dem Zoo herbringen? Bestimmt nicht in der Straßen- oder U-Bahn.“

„Details.“ Sid machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wir haben beschlossen, dass uns unser nächstes großes Abenteuer nach Indien führen wird, Molly. Du weißt, wie sehr wir uns danach sehnen. Aber natürlich werden wir nicht verschwinden, ehe Daniel wieder zurück ist und du ohne uns auskommst.“

„Ihr führt ein so aufregendes Leben“, sagte ich. „Meines wirkt eintönig im Vergleich.“

„Es war weniger eintönig, als du noch diese Detektei geführt hast, oder?“

„Definitiv.“

„Gelegentlich sogar ein wenig zu aufregend, würde ich sagen“, fügte Gus hinzu, während sie Liam vom Boden hob, ehe er in der Speisekammer verschwinden konnte. „Wir haben uns damals um deine Sicherheit gesorgt, Molly. Wir sind ganz froh, dass du diese Abenteuer aufgegeben hast.“

„Du hast wohl recht.“

Sie hob den Blick von ihrem Kaffee. „Vermisst du es immer noch? Die Aufregung? Die Zufriedenheit darüber, einen Fall abgeschlossen zu haben?“

„Als ob sie je wirklich aufgehört hätte“, sagte Gus. „Wer hat denn vergangene Weihnachten die Wahrheit über die Kinder herausgefunden? Oder das Rätsel um die Träume dieses armen Mädchens gelöst?“

„Ich muss meine Fähigkeiten wohl gelegentlich auf die Probe stellen“, gab ich zu. „Und ich muss gestehen, dass es mich wurmt, dass Daniel mir nichts über seinen neusten Auftrag erzählt hat. Ich weiß nicht, wohin er geht oder was er tun wird.“

„Es muss etwas streng Geheimes sein“, sagte Sid. „Ich wette, er wird als Spion arbeiten. Wie aufregend. Ich wäre gern Spionin, du nicht auch, Gus?“

„Er wird nicht als Spion arbeiten“, sagte ich rasch. „Er hat mir versprochen, er würde nicht ins Ausland gehen.“

„Vielleicht darf er dir nichts erzählen“, sagte Sid und warf Gus einen wissenden Blick zu.

Ich wünschte, sie hätte das nicht gesagt. Jetzt machte ich mir noch mehr Sorgen – Daniel könnte verdeckt nach Russland, Japan oder Deutschland reisen … allein die Vorstellung war unerträglich.

Daher war ich erleichtert, als ich wenige Tage später eine Postkarte mit einem Bild des Weißen Hauses in Washington erhielt. Auf die Rückseite hatte Daniel geschrieben:

Hier läuft alles gut. Kuss an Frau und Sohn.

Er war in Washington, nur wenige Meilen entfernt. Und wenn er Zeit hatte, um eine Postkarte zu kaufen und zu schreiben, konnte er nicht unmittelbar in Gefahr sein, sagte ich mir. Vielleicht hatte er die Wahrheit gesagt und arbeitete tatsächlich an einem einfachen Betrugsfall. Ich beschloss, die Zeit seiner Abwesenheit zu genießen. Sid und Gus hielten Wort: Sie nahmen mich zu einer Ausstellung im Tenth Street Studio mit – ein großes Gebäude, das einem Lagerhaus ähnelte und in dem mittellose Künstlerinnen und Künstler aus der Gegend für sehr geringe Kosten ein Atelier mieten konnten. Allerdings war leider keine Heizung inbegriffen. Die Ausstellung fand unter dem zentralen Kuppeldach statt, doch wenngleich die Kulisse sehr prachtvoll wirkte, war es doch kühl und unwirtlich. Ich war froh, dass ich meinen Fellmuff dabeihatte und geradezu erleichtert, als man mir ein Glas Glühwein anbot. Ich legte meine Hände darum und spürte, wie die Wärme in meine Finger strömte.

Ich muss gestehen, dass mich die neusten Trends in der Kunst nicht gerade beeindruckten. Ich hatte die Gemälde des Impressionismus stets als schön und heiter empfunden. Dieser Post-Impressionismus, Kubismus, Fauvismus oder wie auch immer man die Strömung gerade nannte, brachte keine Bilder hervor, die ich mir an die Wand hängen würde – verzerrte Gestalten, grelle Farben und alptraumhafte Motive. Doch diese Bilder repräsentierten wohl das neue Jahrhundert, in dem wir lebten; mit mechanischem Fortschritt, politischem Umbruch und neuen wissenschaftlichen Ansätzen. Ich gab mich natürlich höflich, wenn Sid und Gus sich für ein Bild begeisterten und es mit Gus’ Arbeit verglichen (die ich gleichermaßen uninteressant fand, obwohl ich das natürlich nie ausgesprochen hatte).

Ich lernte einen jungen Mann kennen, dessen Arbeiten mir gefielen. Er hieß Feininger und malte langgestreckte Gestalten in angenehmen Farben, ein bisschen wie Buntglasfenster. Ich unterhielt mich gerade mit ihm, als Gus zu mir kam und mich mit überschwänglicher Begeisterung davonzerrte.

„Du wirst nie erraten, wen wir gerade getroffen haben, Molly. Mr. Samuel Clemens.“ Als sie meinen verdutzten Gesichtsausdruck bemerkte, führte sie aus: „Du weißt schon, Mark Twain höchstpersönlich. Er hat sich hier ein Haus gemietet und uns am Samstag zu einer Soiree eingeladen. Komm mit, du musst ihn kennenlernen.“

Natürlich. Mark Twain. Ich errötete ob meiner Unwissenheit. Ich hatte ihn schon einmal sprechen gehört, als er in Greenwich Village war, daher wirkten sein weißes Haar und sein eindrucksvoller, weißer Schnurrbart nicht ganz so überraschend auf mich. Er schüttelte mir die Hand, als wir einander vorgestellt wurden.

„Das ist genau das, was ich gerade um mich brauche“, sagte er, als er sich im versammelten Publikum umsah. „Eine Schar wunderschöner Frauen. Jung und wunderschön. Seit mir Frau und Tochter gestorben sind, wirkt die Welt trostlos und leer.“ Er drückte meine Hand. „Sie werden auch zu meinem kleinen Treffen kommen, oder, meine liebe Mrs. Sullivan?“

„Natürlich. Sehr gern“, sagte ich.

„Sieh mal einer an“, sagte ich, während wir gegenseitig untergehakt über die 5th Avenue zurückliefen und mit großen Schritten über die letzten Schneereste stiegen. „Erst wird mein Ehemann vom Präsidenten angefordert, und dann erhalte ich auch noch eine Einladung zu einem gesellschaftlichen Treffen mit Mark Twain. Wenn Schwester Mary Patrick mich jetzt sehen könnte. Oder meine Mutter. Sie haben mir beide gesagt, dass es schlimm mit mir enden würde, wenn ich meine Lebensweise nicht änderte.“

Wir lachten immer noch, als wir in den Patchin Place einbogen. Ich glaube, das war für eine lange Zeit mein letztes Lachen.

Drei

Am Samstagabend zogen wir unsere feinsten Kleider an, um Mr. Twains Versammlung beizuwohnen. Eine großzügige, junge Dame der gehobenen Gesellschaft hatte mir einige sehr hübsche Seidenkleider geschenkt, als unser Haus abgebrannt war. Ich hatte in meinem Alltag nur selten eine Gelegenheit, sie zu tragen, war jetzt aber sehr froh, sie in meinem Kleiderschrank vorzufinden. Ich entschied mich für ein dunkelblaues Kleid mit passendem Spitzenschultertuch und steckte mir eine blaue Blume ins Haar. Ich kam mir recht glamourös vor, als ich mich von Bridie verabschiedete.

„Du wirst hier eine Weile allein zurechtkommen, oder?“, fragte ich. „Ich habe nicht vor, lange wegzubleiben und bin nur einen Block weit entfernt, auf der 5th Avenue, wenn du mich brauchst.“

„Ich komme schon zurecht“, sagte sie. „Ich bin fast zwölf Jahre alt. Und Liam schläft bereits.“

Ich umarmte sie. „Du bist mir eine so große Hilfe. Ich bin sehr froh, dich hierzuhaben.“

Sie strahlte mich an, doch dann wurde ihr Gesichtsausdruck wehmütig. „Ich erinnere mich kaum noch an meine echte Mutter. Sie sind jetzt eher wie eine Mutter für mich. Ich hoffe nur …“ Sie verstummte.

„Und du bist meine große Tochter“, sagte ich rasch, weil ich wusste, dass sie genauso fürchtete, wieder in erbärmlichen Verhältnissen bei ihrem Vater leben zu müssen oder herauszufinden, dass er gestorben war. „Zusammen mit Daniels Mutter werden wir dafür sorgen, dass dir im Leben alle Möglichkeiten offenstehen und du immer ein Zuhause hast.“

Sie nickte mit strahlenden Augen. Ich muss zugeben, dass ich Bedenken hatte, als ich die Tür hinter mir schloss. Ich hatte sie schon zuvor mit Liam alleingelassen, doch nur tagsüber, und während Sid und Gus gleich auf der anderen Straßenseite zu erreichen waren. Doch ich sagte mir, dass ich mich nicht verrückt machen dürfte. Ich hatte selbst nach Liam gesehen und das Haus überprüft. Alles war in Ordnung. Ich sollte sorglos ausgehen und Spaß haben.

Dennoch muss ich gestehen, dass ich erleichtert war, als ich an der Haustür meiner Nachbarinnen klopfte und erfuhr, dass Gus Kopfschmerzen hatte. Ihr war nicht nach einer lauten Party.

„Wir müssen nicht hingehen“, sagte ich augenblicklich.

„Das habe ich auch gemeint“, sagte Sid. „Doch sie besteht darauf, dass wir beide ausgehen und Spaß haben.“

„Dann werde ich schnell noch Bridie sagen, dass Miss Walcott zu Hause ist, falls sie Hilfe braucht“, sagte ich. Als das erledigt war, machten Sid und ich uns auf den Weg. Der Salon in Mr. Twains Haus in der 5th Avenue war bereits erfüllt von lautstarker Geselligkeit, als wir eintrafen. Mehr Frauen als Männer, fiel mir auf, und die meisten waren sehr modisch gekleidet.

„Wie schön, dass Sie gekommen sind.“ Mr. Twain nahm meine Hände. „Eine weitere strahlende Schönheit, die mein bescheidenes, eintöniges Leben erhellt.“

„Als ob irgendetwas an Ihrem Leben bescheiden wäre, Mr. Twain“, sagte ein Mann neben ihm. „Sie sind ein Gigant der amerikanischen Gesellschaft, seit Sie ein kleiner Junge waren.“

„Ich hoffe, Sie haben nicht vor, solch übertriebenes Gewäsch zu schreiben, jetzt da Sie die Erlaubnis haben, meine Biografie zu verfassen, Albert“, sagte er. Er drehte sich zu uns um. „Das ist Mr. Albert Paine, der mich lange mit dem Wunsch bedrängt hat, ich solle meine Autobiografie schreiben. Als nichts daraus wurde, wollte er mein Biograf werden. Er glaubt offensichtlich, mir bliebe nicht mehr allzu viel Zeit auf dieser Erde, doch ich habe mir immer geschworen, mit dem Halley’schen Kometen zu gehen, also bleiben mir noch ein paar Jahre. Ich bin mit ihm zur Welt gekommen und ich werde sie mit ihm verlassen.“

„Eine großartige Vorstellung, wenn wir alle unseren Todestag im Voraus wählen könnten“, sagte Mr. Paine. „Das wäre so viel aufgeräumter.“

Weitere Neuankömmlinge trafen ein und ich wurde mit Sid in die Menge gespült. Sid schien einige der Anwesenden zu kennen. Ich war recht eingeschüchtert, als ich feststellte, dass ich mich mit Autorinnen, Künstlern und Mitgliedern der Vierhundert, die Liste der High Society New Yorks, unterhielt. Ich war froh, im vergangenen Jahr in Paris gewesen zu sein, da sich die Unterhaltung immer wieder dieser Stadt und London zuwandte.

„Ich würde im Traum nicht daran denken, meine Kleider irgendwo anders anfertigen zu lassen“, sagte eine Frau. Sie trug die neuste Mode: Ein malvenfarbenes Kleid mit der angesagten Bolero-Taille und reichlich Spitzenbesatz, dazu ein fescher, malvenfarbener Turban auf dem Kopf und etwas zu auffällige Farbe auf Lippen und Wangen.

Ich begegnete dem Blick einer älteren Frau, die nüchtern gekleidet hinter ihr stand, und wir wechselten ein Lächeln. Immerhin gab es noch andere, die so dachten wie ich, sagte ich mir, als sie herüberkam, um mit mir zu sprechen.

„Ich muss gestehen, ich fühle mich hier ein wenig wie ein Fisch auf dem Trockenen“, sagte sie zu mir. „Ich weiß nicht, warum ich herkam, aber meine liebe Freundin Irma Reimer sagte mir, es wäre an der Zeit, wieder in die Gesellschaft zurückzukehren, und hat mich aus dem Haus geschleift. Kennen Sie Irma Reimer? Sie hat Verbindungen zu den Vanderbilts und den Astors.“

„Leider, nein“, sagte ich. „Ich bewege mich dieser Tage nicht so viel in der Gesellschaft. Ich habe ein kleines Kind.“

„Was für ein Glück“, sagte sie. „Mr. Endicott und ich waren nicht mit Kindern gesegnet. Das war uns beiden ein Stachel im Fleisch.“ Sie streckte eine Hand aus. „Ich bin Rose Endicott.“

„Molly Sullivan“. Wir gaben uns die Hand. „Sind Sie verwitwet?“, fragte ich angesichts ihres dunkelgrauen Kleides und der Tatsache, dass ihre Freundin meinte, sie müsse wieder in die Gesellschaft zurückkehren.

„Oh, nein“, antwortete sie. „Doch mein Ehemann ist viel unterwegs. Er macht Im- und Export. Seine Firma hat ein Büro in London und eines in Havanna. Manchmal ist er monatelang fort.“

„Oh, das muss schwer für Sie sein“, sagte ich. „Kann er Sie denn nicht auf seine Reisen mitnehmen?“

Sie wandte den Blick ab. „Ich bin leider recht empfindlich. Ich kann nicht gut reisen. Ich werde seekrank und dann wird Wilbur sehr ungeduldig mit mir. So ist es einfacher, auch wenn die Einsamkeit schwer zu ertragen ist.“

„Mein Ehemann ist im Augenblick ebenfalls fort“, sagte ich. „Es gefällt mir nicht, von ihm getrennt zu sein, daher kann ich Ihre Gefühle verstehen.“

Sie nahm meine Hand. „Wirklich? Ich bin so froh, Sie hier zu treffen. Darf ich so kühn sein, Sie zu mir einzuladen, während Ihr Ehemann fort ist? Ich wohne nicht weit von hier, bei der 8th Avenue.“

„Ich wohne ebenfalls in der Nähe“, sagte ich. „Im Patchin Place, eine Nebenstraße der Greenwich Avenue. Und ich komme Sie gern besuchen.“

„Werden Sie Ihr Kind mitbringen?“

„Er ist erst achtzehn Monate alt, fürchte ich, und fasst im Moment alles an“, sagte ich.

„Oh, aber es hebt immer meine Laune, ein lebhaftes Kerlchen im Haus haben. Bringen Sie ihn bitte mit – zum Tee vielleicht?“

„Na gut“, sagte ich.

Sid stieß zu uns. „Das ist meine liebe Freundin Molly Sullivan, von der ich Ihnen erzählt habe“, sagte sie, und ich bemerkte den jungen Mann neben ihr. Er war weniger modisch gekleidet als die meisten Gäste und sah recht schmal und unterernährt aus. Fast wie einer der Studenten, die man am Washington Square in der Nähe meines Hauses antreffen konnte. „Molly, das ist Richard Graves. Er ist Redakteur einer Zeitschrift, für die ich manchmal Artikel schreibe. Seine Zeitschrift unterstützt die Suffragettenbewegung. Er schreibt einen Artikel über Frauen in der Männerwelt und ich habe ihm erzählt, dass du eine erfolgreiche Detektei geführt hast.“

„Ich weiß nicht, wie erfolgreich“, sagte ich. „Ich habe es geschafft, ein paar Fälle aufzuklären, ohne dabei umgebracht zu werden.“

Wir lachten.

„Ich wäre sehr an einem Interview interessiert, Mrs. Sullivan“, sagte Mr. Graves. „Ich möchte der Welt dringend zeigen, dass Frauen keine Mauerblümchen sind, die verhätschelt werden müssen, sondern beinahe jede Arbeit so gut wie ein Mann verrichten können.“

„Nicht immer genauso gut“, sagte ich. „Versuchen Sie mal, in engen Röcken und spitzen Schuhen einen Verdächtigen zu verfolgen. Wir werden definitiv von Vorurteilen und Kleidung eingeschränkt.“

„Völlig richtig!“, warf Sid ein. „Aber die Kleidung wird von Männern entworfen, nicht wahr? Um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass Frauen zarte Pflänzchen sind, und sie so auf ihren Platz zu verweisen.“

„Obwohl es manche Frauen gibt, die sich wie Sie weigern, diese Bedingungen und Gepflogenheiten zu übernehmen“, sagte Mr. Graves und lächelte Sid an, die an diesem Abend eine Hose und eine Männer-Hausjacke trug.

„Natürlich. Ich habe mich noch nie den Regeln unterworfen“, sagte Sid. „Umso mehr bewundere ich eine Frau wie Molly, die eine hingebungsvolle Ehefrau und Mutter ist, und dennoch solche Meisterleistungen vollbringt.“

„Also wirklich, Sid.“ Ich errötete vor Verlegenheit. „Ich habe gearbeitet, weil ich mich über Wasser halten musste. Wäre ich mit Geld gesegnet, hätte ich wohl kaum eine Karriere als Detektivin eingeschlagen.“

Sid lächelte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du je damit zufrieden wärst, zu Hause herumzusitzen und Teepartys zu geben.“

„Vielleicht hast du recht.“

Mr. Graves berührte mich sanft am Arm. „Darf ich dann auf Sie zählen, Mrs. Sullivan? Sie könnten in mein Büro kommen oder ich besuche Sie zu Hause. Was immer Ihnen lieber ist.“

Ich war versucht. Vermutlich fühlte ich mich auch geschmeichelt. Aber ich hörte eine leise, warnende Stimme in meinem Kopf. Wenn Daniels Vorgesetzte tatsächlich nach Ausreden suchten, um ihn loszuwerden, würden sie sich dann nicht auf einen Artikel stürzen, der seine Ehefrau als großartige Detektivin porträtierte? Zumindest würde er damit aufgezogen werden, dass seine Ehefrau die Fälle für ihn löst. Und im schlimmsten Fall könnten ihm seine Vorgesetzen sogar unterstellen, dass er mich widerrechtlich in Polizeiangelegenheiten eingeweiht hätte.

„Das ist vielleicht keine gute Idee“, sagte ich. „Sie müssen wissen, dass mein Ehemann Polizeibeamter ist. Wenn auch nur der leiseste Verdacht entsteht, ich hätte ihm bei seinen Fällen geholfen, würde ich ihn damit sehr in Verlegenheit bringen.“

„Das verstehe ich“, sagte er. „Sie führen Ihre Detektei nicht mehr, oder?“

„Nein, ich habe sie aufgegeben, als ich heiratete.“

„So wie es alle Frauen tun, muss ich leider hinzufügen“, warf Sid ein. „Welcher Mann kann schon tolerieren, dass seine Ehefrau eine erfolgreiche Karriere hat?“

„Abgesehen von Nelly Bly“, sagte Mr. Graves. „Ich hörte, ihre Ehe sei eine sehr glückliche, und schauen Sie sich nur an, welche Heldentaten sie vollbringt.“

„Wir beide kennen Miss Bly, nicht wahr, Molly?“, fragte Sid.

„Ist sie nicht wundervoll? Und doch betrachten sie die meisten Frauen als Verrückte, statt als strahlendes Beispiel dafür, was Frauen vollbringen können“, sagte Mr. Graves ernst. „Wir müssen die Frauen bilden und ihnen verständlich machen, dass für sie alles möglich ist. Und Sie können dabei helfen. Wenn Sie mir das Interview geben, Mrs. Sullivan, verspreche ich, Sie den Artikel prüfen zu lassen. Und wir werden klarstellen, dass Ihre Abenteuer in der Vergangenheit liegen.“

Ich war immer noch hin und her gerissen und mir sehr bewusst, dass eine Menge Leute mich neugierig beobachteten. Eine Detektivin war wohl eine Rarität, selbst in der Gesellschaft von Mark Twain. „Ich werde darüber nachdenken und meine Entscheidung treffen, wenn ich weiß, wie lange mein Ehemann fort sein wird“, sagte ich.

„Ihr Ehemann ist fort?“ Mr. Graves grinste mich beinahe unverschämt an. „Welche bessere Gelegenheit könnte es geben? Er wird nicht widersprechen können. Das Interview wird abgewickelt sein, bis er zurückkommt.“

Sid berührte mich am Arm. „Sag ja, Molly. Denk daran, wie viel Gutes du für unsere Schwestern tun kannst, die ans Haus gefesselt sind und unter der Knute ihrer Ehemänner leben.“

„Ich hätte dennoch gern etwas Bedenkzeit“, sagte ich. „Ich muss an Daniels Karriere denken und darf mir keinen falschen Schritt erlauben, solange es in der Polizei Menschen gibt, die nur zu gern seinen Niedergang erleben würden.“ Ich wandte mich an Mr. Graves. „Wenn Sie mir Ihre Karte geben, verspreche ich, mich binnen weniger Tage mit einer Antwort zu melden.“

Er kramte in einer Tasche herum. „Nun gut“, sagte er. „Bitte sehr. Ich freue mich darauf, von Ihnen zu hören. Sie sind die Nachbarin von Miss Goldfarb, nicht wahr? Sie wird gewiss ihre magische Überzeugungskraft wirken lassen und Ihnen aufzeigen, welcher Gewinn Sie für die Frauenrechtsbewegung wären.“

Er bahnte sich einen Weg durch die Menge. Sid lächelte mich ermutigend an, ehe sie ihm folgte, und mich mit Mrs. Endicott alleinließ.

„Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich mit einer Berühmtheit plaudere“, sagte sie. „Jetzt freue ich mich nur noch mehr darauf, Sie bei mir zu Hause zu empfangen. Sagen wir nächsten Dienstag? Wie wäre es mit Mittagessen statt Tee? Meine Köchin ist recht gut.“

„Vielen Dank“, sagte ich. „Ich freue mich darauf.“

„Und Sie werden den kleinen Mann mitbringen? Das wäre mir eine große Freude.“

„Na gut. Doch ich muss Sie warnen: Er hat eine recht neugierige Phase erreicht.“

„Ich sollte hinzufügen, dass meine Köchin hervorragende Kuchen und Gebäck macht. Welches Kind könnte dem widerstehen?“

Als sie lachte, wirkte sie plötzlich deutlich jünger und ich konnte ihre frühere Schönheit erahnen, die bis zu diesem Moment unter Sorgenfalten und ihrer strengen Frisur verborgen gewesen war. Ich hatte zwei Kinder unter meiner Obhut, Freundinnen gleich auf der anderen Straßenseite und jetzt wollte mich auch noch ein Reporter interviewen. Doch ich wusste, dass ich mir trotz allem jeden Tag Sorgen um meinen Ehemann machen würde. Ich konnte gerade deutlich vor mir sehen, wie die Zeichen solcher Sorgen ein einst schönes Gesicht überschatten konnten.

Vier

Am Dienstag zog ich Liam sein bestes Matrosenhemd an, packte eine Tasche mit seinem Lieblingsspielzeug und machte mich mit dem Kinderwagen auf den Weg zu Mrs. Endicotts Haus. Es war ein großes, massives Stadthaus in der 14th Street. Das Ebenbild der respektablen New Yorker Mittelschicht. Das Hausmädchen, das mich in einen warmen Hausflur einließ, trug eine schicke Uniform. Sie nahm unsere Mäntel und Schals und sagte mir, dass Madam mich im Wohnzimmer erwarte.

„Ihnen zu begegnen war ein Geschenk des Himmels, Mrs. Sullivan“, sagte Mrs. Endicott nachdem sie großen Wirbel um Liam gemacht und uns in einem Sessel am lodernden Kaminfeuer hatte Platz nehmen lassen.

„Wie das, Mrs. Endicott?“, fragte ich.

„Sie waren eine Inspiration für mich. Ebenfalls von Ihrem Ehemann verlassen, und doch lassen Sie sich nicht davon herunterziehen. Sie sind fest entschlossen, Ihr Leben zu leben und das Beste daraus zu machen. Sie sind eine mutige Frau und ich habe beschlossen, selbst mutiger zu werden. Ich werde mehr rausgehen. Ich werde mir neue Hobbys zulegen und mir selbst ein Leben aufbauen, während Mr. Endicott fort ist.“

Wir begaben uns in Esszimmer und ließen uns Brathähnchen mit knusprigen Kartoffeln schmecken. Liam benahm sich überraschend gut, saß mithilfe eines Kissens auf einem gewöhnlichen Stuhl am Tisch und aß püriertes Gemüse.

„Er ist ein kleiner Engel, Mrs. Sullivan“, sagte Mrs. Endicott entzückt.

Ich lächelte. „Ich glaube, er weiß das Talent Ihrer Köchin zu schätzen, Mrs. Endicott. Sonst ist er nicht so engelsgleich.“

Dem Hauptgericht folgte Baiser mit Sahne, was Liam ebenfalls schmeckte. Als wir uns nach dem Dessert und einem Kaffee verabschiedeten, lud sie mich ein, sie bald wieder zu besuchen.

„Oh nein“, sagte ich und beobachtete, wie ihr die Gesichtszüge entglitten. „Sie müssen zu mir kommen“, fügte ich eilig hinzu. „Denken Sie daran, dass Sie sich selbst versprochen haben, mehr rauszugehen. Sie könnten im Laufe der Woche zum Mittagessen vorbeikommen, dann lade ich meine lebhaften Nachbarinnen von gegenüber dazu ein. Sie sind sehr originell und haben großartige Geschichten zu erzählen.“

Ihr Gesichtsausdruck wirkte beunruhigt. „War die seltsame Frau bei Mr. Twain eine von ihnen? Die mit dem männlichen Haarschnitt, die eine Hose trug?“

„Ja, das war Miss Goldfarb.“

Der Gesichtsausdruck wurde noch finsterer. „Und ich hörte, dass sie mit einer Frau mit ähnlichem Geschmack zusammenlebt?“

„Das ist ebenfalls korrekt.“

Sie zögerte. „Ich fürchte … Mr. Endicott würde solch eine Bekanntschaft nicht gutheißen, Mrs. Sullivan. Er ist recht streng in seinen Überzeugungen.“

„Aber er ist nicht hier, Mrs. Endicott“, sagte ich. „Wie sollte er je davon erfahren, es sei denn, sie erzählen ihm davon? Müssen Sie ihm täglich schreiben und von Ihren Unternehmungen berichten?“

Sie schwankte. „Ich weiß nicht einmal, wohin ich schreiben sollte. Und er hat ohnehin immer zu viel zu tun, um zu antworten. Manchmal höre ich einen ganzen Monat lang nicht von ihm.“

„Also dann. Kommen Sie und lernen Sie meine Nachbarinnen kennen. Ich garantiere Ihnen, dass Sie sie freundlich, charmant und geistreich finden werden. Es wird die beste Unterhaltung sein, die Sie seit Langem hatten.“

Sie brachte ein zögerliches Lächeln zustande. „Nun gut. Ich werde kommen. Das gehört dazu, wenn man auf eigenen Beinen stehen will, nicht wahr?“

„Und wenn Sie nicht aufpassen, werden meine Freundinnen Sie dazu überreden, sich der Suffragettenbewegung anzuschließen.“

„Oh je.“ Ihr entglitten wieder die Gesichtszüge. „Das würde Mr. Endicott nicht gefallen. Halten Sie es für schlau, das Wahlrecht zu fordern?“ „Ist es schlau, wenn eine Nation nur von der Hälfte ihrer Bürger gelenkt wird?“, fragte ich. „Sind Frauen nicht mit dem gleichen guten Urteilsvermögen gesegnet? Warum sollten unsere Männer entscheiden, was das Beste für uns ist? Wenn es um Gesetze zur Gesundheit der Frauen oder zur Kinderarbeit geht, sollten die nur von Männern beschlossen werden?“

Sie zögerte. „Wohl nicht. Aber Mr. Endicott würde sagen …“

„Mr. Endicott ist nicht hier, oder?“ Ich lächelte sie lieblich an.

Wir verabschiedeten uns und einigten uns darauf, dass sie später in der Woche zum Mittagessen zu uns kommen würde, sobald ich herausgefunden hätte, wann Sid und Gus Zeit hatten.

„Du liebe Güte. Was für eine aufregende Zeit“, sagte sie, als sie mit vor Begeisterung gerötetem Gesicht an der Haustür stand. „Meine Freundin Irma Reimer möchte, dass ich morgen mit ihr ins Lichtspieltheater gehe. Ich hatte abgelehnt, aber jetzt glaube ich, dass ich hingehen sollte. Obwohl ich diese bewegten Bilder immer etwas erschreckend finde, Sie nicht auch? Haben Sie die Welle gesehen, die direkt an der Leinwand bricht? Meine Güte. Ich dachte, ich würde davongespült werden. Der Hälfte des Publikums ging es ähnlich. Es gab viel Geschrei, das kann ich Ihnen sagen.“

„Ich habe die Welle gesehen“, sagte ich. „Manche Leute versuchten, aus dem Theater zu rennen, als ich dort war.“ Während ich den Kinderwagen mit Liam nach Hause schob, dachte ich über Mrs. Endicott nach. Ich kam nicht umhin, Mitleid für sie zu empfinden – eine liebe Frau, die unter dem Pantoffel ihres herrischen Ehemannes stand. Wie würde ich damit zurechtkommen, wenn Daniel über längere Zeit fort wäre? Es hatte nicht einmal eine Andeutung gegeben, wie lange ihn sein Auftrag fernhalten würde. Ich hatte einen Sommer in Paris ohne ihn ausgehalten. Doch da hatte ich meine Freundinnen bei mir gehabt und musste mich um meinen jungen Sohn kümmern. Ich fragte mich, ob Mrs. Endicotts Ehemann auch so viel unterwegs wäre, wenn sie ein Kind hätten. Bedarf es nicht eines Kindes, um eine Ehe zu festigen?

Am folgenden Tag hatte ich Liam gerade nach dem Mittagessen zu seinem Nickerchen hingelegt, und dachte darüber nach, ob ich die Gardinen abhängen und waschen müsste, als es an meiner Haustür klopfte. Ich erwartete, Sid oder Gus dort zu sehen, um mich zum Kaffee zu ihnen einzuladen, doch stattdessen stand ich einem fremden, jungen Mann gegenüber. Er wirkte recht ungepflegt und zerzaust und trug eine Jacke mit Flicken an den Ellenbogen.

„Mrs. Sullivan“, sagte er und hob seine Mütze an. „Es tut mir leid, Sie unangekündigt zu behelligen, aber ich habe beschlossen, zu handeln, solange das Eisen noch heiß ist, wenn man so will.“

Während er sprach, fiel mir auf, dass er mir bekannt vorkam, doch ehe ich etwas sagen konnte, streckte er die Hand aus und sagte: „Richard Graves. Wir sind uns bei Mr. Clemens begegnet und ich sagte Ihnen, wie gern ich Sie für meine Zeitschrift interviewen würde. Darf ich hereinkommen?“

„Oh, Mr. Graves.“ Ich stand unschlüssig da. „Ich glaube wirklich nicht, dass es hier und jetzt angemessen ist. Wie Sie an meiner Schürze sehen können, bin ich bei der Hausarbeit und nicht in der Lage, einen Gast zu empfangen.“

Jetzt lächelte er. Er hatte ein sehr freundliches Lächeln. „Ich interessiere mich wenig für den Zustand Ihres Hauses, Mrs. Sullivan. Ich selbst lebe in einer höchst unordentlichen Junggesellenwohnung, freue mich aber dennoch stets über Besuch von Freunden. Und da Sie neulich Abend etwas zögerlich wirkten, dachte ich, ich könnte Sie vielleicht mit einem spontanen Besuch überzeugen.“

Wir standen uns an meiner Haustür gegenüber und ich versuchte immer noch, mich zu entscheiden, ob ich ihn hereinbitten sollte. Ich atmete tief durch und antwortete: „Wie ich Ihnen bereits sagte, Mr. Graves, ist mein Ehemann Police Captain. Jegliche Erwähnung meiner früheren Arbeit als Privatermittlerin wird ihm Hohn und Spott einbringen, vielleicht sogar seine ganze Karriere gefährden.“

„Wie denn das, Mrs. Sullivan?“, fragte er.

„Könnten sich seine Gegner nicht über ihn lustig machen, weil seine Ehefrau Privatdetektivin ist? Würden Sie nicht behaupten, er hätte meine Hilfe gebraucht, um seine Fälle aufzuklären?“

„Dann werden wir in dem Artikel deutlich machen, dass Sie die Arbeit mit Ihrer Hochzeit aufgaben und Ihr Polizist zu Hause nie über seine Fälle gesprochen hat. Und denken Sie nur daran, wie viel Gutes ein solcher Artikel bewirken kann, Mrs. Sullivan. Er würde jungen Frauen zeigen, dass sich eine Frau in der Welt der Männer behaupten kann. Nicht nur behaupten, sondern erfolgreich sein kann. Nellie Bly hat junge Frauen angespornt, als sie ihnen zeigte, was eine Frau erreichen kann. Sie ist um die Welt gereist, nicht wahr? Sie hat sämtliche Regeln und Konventionen gebrochen. Und Sie können diese Vision jetzt untermauern.“

Ich lachte nervös. „Ich kann Ihnen versichern, dass ich keine Nelly Bly bin. Ich hatte lediglich moderate Erfolge als Privatdetektivin.“

„Sie sind zu bescheiden“, sagte Mr. Graves. „Ihre Freundin, Miss Goldfarb, hat mir erzählt, dass Sie sich Mördern und tödlichen Gefahren gestellt haben.“

„Wenn Frauen meine Geschichte lesen, würden mich die meisten für leichtsinnig und unbesonnen halten. Was in einigen Situationen auch zutraf.“

„Ich merke, dass Sie nur versuchen, mich hinzuhalten, Mrs. Sullivan. Ich sagte Ihnen etwas – ich mache Ihnen einen Vorschlag: Lassen Sie sich von mir interviewen. Dann schreibe ich meinen Artikel und überlasse Ihnen das letzte Wort dazu, ob er veröffentlicht werden soll. Dazu können Sie doch gewiss nicht nein sagen.“ Als ich dennoch zögerte, fügte er hinzu: „Für die Verbesserung der Lage der Frauen auf der ganzen Welt.“

„Nun gut“, sagte ich, immer noch zögerlich. „Ich schätze, das ist nur fair. Dann kommen Sie herein. Wir werden uns in der Küche unterhalten müssen, da im Augenblick sonst nirgendwo im Haus ein Feuer brennt.“

Wir gingen durch in die Küche und ich bot ihm eine Tasse Kaffee an. Er war ein talentierter Interviewer und ich glaube, ich erzählte ihm mehr, als ich vorgehabt hatte. Wir schlossen gerade mit der Geschichte der beiden Waisenkinder ab, die ich an Weihnachten auf der Straße gefunden hatte, als die Haustür aufflog und Bridie hereingerannt kam. „Molly, ich habe eine Eins in Englisch“, rief sie, während sie den Flur herunterkam. „Mrs. Slopes sagte, es sei ein toller Aufsatz, der von großer Kreativität zeugt, und ich solle darüber nachdenken, eines Tages ans College zu gehen.“

„Das ist wundervoll, meine Liebe“, sagte ich, als sie überrascht innehielt, weil sie einen fremden Mann in der Küche entdeckte. „Das ist Mr. Graves. Er ist auch ein Autor. Er hat mich gerade interviewt.“

Mr. Graves hatte sich erhoben. „Ihre Tochter, Mrs. Sullivan?“, fragte er.

„Mein Mündel, Bridie. Ich habe einen einjährigen Sohn, der dankbarerweise gerade ein Nickerchen macht. Sonst könnten wir uns gar nicht unterhalten.“

Wie aufs Stichwort war aus dem oberen Stockwerk Schreien zu hören.“

„Ich gehe zu ihm“, sagte Bridie.

„Und ich sollte mich verabschieden.“ Mr. Graves erhob sich. „Ich werde wiederkommen, wenn ich den Artikel fertig habe, damit Sie Ihr Urteil fällen können. Doch ich hoffe natürlich inständig, dass Sie der Veröffentlichung zustimmen werden. Für den Fortschritt der Frauen.“

Ich lachte. „Sie müssen Ire sein, Mr. Graves. Sie beherrschen auf jeden Fall die Schmeichelei.“

Er lachte ebenfalls, während ich ihn durch den Flur begleitete. Als ich die Haustür öffnete, sah ich überrascht, dass dort jemand stand, die Hand zum Klopfen erhoben.

„Mrs. Endicott!“, rief ich. Mein erster Gedanke war, dass mein Haus in keinem Zustand war, um eine Besucherin ihres Status’ zu empfangen. Wir hatten uns doch verabschiedet, ohne einen Termin für unser Mittagessen auszumachen. „Ich dachte, wir hätten noch keinen Tag für Ihren Besuch vereinbart, und ich fürchte …“, hob ich an. Doch dann sah ich, dass ihre Hand auf ihrem Busen lag und sie schwer atmete, als wäre sie gesprintet. „Was ist los?“, fragte ich.

„Ich habe ihn gesehen“, keuchte sie. Mir kam kurz der Gedanke, sie könnte etwas verwirrt sein und ich hätte mich mit einer instabilen Frau eingelassen. „Er war es, da bin ich mir sicher.“

Ich legte ihre eine Hand auf den Arm, da sie immer noch nach Luft schnappte. „Beruhigen Sie sich bitte“, sagte ich, „und kommen Sie herein. Ich habe gerade Kaffee gemacht.“

„Ich verabschiede mich dann, Mrs. Sullivan“, sagte Mr. Graves. „Ich werde Sie in den nächsten Tagen kontaktieren, sobald der Artikel fertig ist.“

„Ja. Dann auf Wiedersehen“, sagte ich, barscher als beabsichtigt.

Er setzte seinen Hut auf, tippte sich daran und lief den Patchin Place hinunter.

„Ist Ihr Ehemann zurückgekehrt?“, fragte sie.

„Nein, das war ein Reporter, der für eine Zeitschrift einen Artikel über mich schreiben möchte“, sagte ich. „Kommen Sie nur herein.“

„Sie führen wirklich ein interessantes Leben.“ Sie folgte mir den Flur hinunter und nahm die Tasse entgegen, die ich ihr anbot. Sie trank mehrere Schlucke, ehe sie den Blick hob.

„Es tut mir leid. Ich will gar nicht wissen, was Sie denken müssen“, sagte sie. „Ich bin den ganzen Weg vom Broadway gerannt.“

„Sie sahen einen Mann, der Ihnen Angst einjagte?“, fragte ich.

Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, ich habe Wilbur gesehen; meinen Ehemann.“

„Hier in der Stadt?“

Erneut schüttelte sie den Kopf. „Nein. In Kalifornien.“

In dem Moment hielt ich sie tatsächlich für geistig verwirrt, bis sie hinzufügte: „Ich war im Lichtspieltheater, wie ich Ihnen sagte. Sie zeigten Bilder aus San Francisco und da war er. Mein Wilbur. In San Francisco. Höchstpersönlich.“

„Aber das muss doch eine angenehme Überraschung gewesen sein, oder? Ihren Ehemann zu sehen.“

„Mrs. Sullivan“, sagte sie bestimmte. „Soweit ich weiß, haben die Geschäfte meines Ehemannes ihn noch nie an die Westküste geführt. Ich rechne damit, dass er in London oder Charleston ist, South Carolina oder sogar Havanna. Aber nicht in San Francisco.“

„Vielleicht haben Sie sich auch getäuscht“, sagte ich. „Die Qualität der Bilder ist nicht so hoch. Möglicherweise sah nur jemand Ihrem Ehemann ähnlich.“

Sie streckte eine Hand aus und nahm meinen Arm. „Kommen Sie mit“, sagte sie. „Um halb fünf gibt es eine weitere Vorstellung. Begleiten Sie mich, dann zeige ich Ihnen, dass ich nicht verrückt werde.“

Ich warf einen Blick über den Tisch. Bridie hatte Liam aus dem Kinderbett geholt und ihn in seinen Stuhl gesetzt, um ihn mit Marmeladenbrot zu füttern. „Ich muss für die Kinder Abendessen machen …“, hob ich an.

„Wir müssen uns nicht die ganze Vorstellung ansehen“, sagte sie. „Es geht nur um einen kurzen Abschnitt.“

„Darf ich mitkommen?“, fragte Bridie plötzlich. „Ich habe noch nie bewegte Bilder gesehen.“

„Ich schätze, ich könnte Liam für eine Weile bei Miss Walcott lassen“, sagte ich.

Mrs. Endicott packte meine Hand. „Oh, vielen Dank. Ich muss sichergehen, dass ich mich nicht irre.“

Ich brachte Liam auf die andere Straßenseite zu seinen liebevollen Tanten, und wir machten uns auf den Weg. Bridie war ganz aufgeregt und zerrte mich beinahe voran.

„So viele Mädchen in der Schule haben schon bewegte Bilder gesehen“, sagte sie. „Eine von Ihnen war sogar in New Jersey, in Mr. Edisons Studio, und hat gesehen, wie er bewegte Bilder macht. Es war aufregend, sagte sie. Leute, die einander jagten, und Polizisten, die in ihre Pfeifen bliesen.“

Ich lächelte angesichts ihres lebhaften kleinen Gesichts. Sie konnte endlich als ganz normales Mädchen leben, mit Schule und Freundinnen.

Wir erreichten das Lichtspielhaus am Broadway, in dem die Filme gezeigt wurden.

Die neusten Innovationen in der Technologie bewegter Bilder

hieß es auf einem Poster.

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