Mord zum Frühstück - Christiane Baumann - E-Book

Mord zum Frühstück E-Book

Christiane Baumann

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Beschreibung

Mord muss nicht immer todernst sein. Liebhaber schwarzen Humors kommen hier auf ihre Kosten. Manche der 21 Krimis verführen mit einem Augenzwinkern zum Schmunzeln. Hinter anderen verbergen sich Liebesangelegenheiten. Eines ist den originellen Krimigeschichten gemeinsam: Es sind Menschen wie du und ich, die sich zu Verbrechen hinreißen lassen, und alltägliche Situationen, die in Mord und Totschlag enden. Die Ermittler sind mehr oder weniger clever, bisweilen auch die Angeschmierten.

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Christiane Baumann

Mord zum Frühstück

21 Krimis

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Batu und Elodie

Lebensabend

Die Frau vom Alexanderplatz

Die kleinen Dinge

Praxisgebühr

Die Leiche im Strandkorb

Mord zum Frühstück

Das fünfte Glas

Marinas rote Stiefel

Kurze Geschichte einer treuen Ehefrau

Der Affe

Dorotheas Geschenk

Das Ende der Lichtenberger Ethikkommission

Ein höflicher Mörder

Margits Last

und morgen war Silvester

Ohne Plan

Vertraue keinem!

Der Wunsch

Tödliche Langeweile

Süßer Abschied

Impressum neobooks

Batu und Elodie

Als Batu an jenem Donnerstagnachmittag seine Wohnungstür öffnete, stand Elodie mit einem Messer in der rechten Hand vor ihm auf dem Treppenabsatz. Das Messer bemerkte Batu sofort. Die ganze Klinge war blutig. Einzelne dicke rote Tropfen fielen auf den Boden. An ihrer Bluse klebte ebenfalls Blut.

Batu sah zu Elodies Wohnung hinüber, die Tür stand etwas offen, dahinter nur Stille. „Alles in Ordnung mit dir?“

Elodie starrte Batu wortlos an, ähnlich wie sie ihn in den vergangenen drei Jahren angestarrt hatte, wenn sie ihm zufällig begegnet war.

Trotz Elodies abweisender Art war es Batu im Laufe der Zeit gelungen, ihren Vornamen und ihr Alter zu erfahren. Er hatte sie so weit gebracht, ihn zu duzen, während er von Anfang an auf das ‚Sie‘ verzichtete. Für Batu war das normal, schließlich waren sie beide jung. Ständig hatte Batu versucht, Elodie näher zu kommen. Sie erzählte ihm, Single zu sein. Später überlegte sie es sich anders und behauptete, einen Freund zu haben, aber der wäre viel auswärts unterwegs und deshalb selten bei ihr.

Aus Elodies spärlichen Berichten und seinen eigenen Beobachtungen schloss Batu, dass es sich bei Elodies Geliebtem um einen verheirateten Mann handeln musste. Batu verabscheute ihn, ohne ihn je wirklich gesehen zu haben, weil er Elodie unglücklich machte oder weil er sie glücklich machte, je nachdem. Batu dachte allen Ernstes, der Unbekannte stünde einem von ihm erträumten Glück mit Elodie im Wege. Batu arbeitete als Koch. Er hatte Elodie des Öfteren zum Abendessen zu sich eingeladen, sie lehnte stets ab.

Als Elodie nun mit einem blutverschmierten Messer in der Hand vor ihm stand, meinte Batu zu wissen, was zu tun war. Ein Messer, an dem Blut klebte, brachte ihn keinesfalls aus der Fassung. Er war an diesen Anblick gewöhnt.

Batu bat Elodie in seine Wohnung. Diesmal würde sie seine Einladung nicht ablehnen. Sie zitterte am ganzen Körper, am heftigsten die rechte Hand mit dem blutigen Werkzeug. Batu fasste Elodie vorsichtig am Arm, nahm ihr das Messer ab und wickelte es provisorisch in ein Taschentuch. Es handelte sich um ein großes Küchenmesser mit einseitig geschliffener Klinge und einem Griff aus schwarzem Kunststoff. Ein billiges Ding.

Elodie gab dem leichten Druck von Batu nach und setzte sich auf einen gepolsterten Stuhl in seinem kleinen Wohnzimmer. Die blutige Hand, die das Messer gehalten hatte, hing jetzt schlaff herab, als gehöre sie nicht zu ihrem Körper.

„Willst du mir sagen, was passiert ist?“, fragte Batu und bemühte sich, warmherzig und mitfühlend zu klingen. Elodie dagegen sprach trotz ihres gerade überstandenen Zitteranfalls sachlich und forsch. „Ich habe Kai erstochen. Ich bin eine Mörderin. Batu, ruf die Polizei.“

Die Polizei rufen? Auf keinen Fall. In drei Tagen würde er auf Wunsch seines Vaters in die Türkei zurückkehren. Er brauchte keine Verwicklung in polizeiliche Maßnahmen. Er war bisher ohne engeren Kontakt mit der deutschen Polizei ausgekommen, und das sollte bis zu seiner Ausreise so bleiben. „Kai ist dein Liebhaber?“

Elodie nickte unmerklich.

Zufriedenheit und Erleichterung erfassten Batu. Sie hatte ihren Kerl umgebracht. Unglaublich. Die Ärmste! Er musste sich um sie kümmern und sie schützen. „Ich mache dir einen Tee“, sagte Batu und brachte das Messer in die Küche. Er hielt es unter kaltes, fließendes Wasser, trocknete es sorgfältig ab und legte es in seinen Besteckkasten. Der elektrische Wasserkocher sprudelte leise vor sich hin. Batu schaute ins Zimmer und sah Elodie völlig unbeweglich auf dem Stuhl sitzen. Er lief hinüber zu ihrer Wohnung. Dabei vermied er es, in die Blutflecken auf dem Treppenabsatz zu treten. Langsam folgte er den Blutspuren auf dem Boden. Sie führten ihn in Elodies Schlafzimmer. Auf dem Bett ein nackter, jüngerer Mann mit kurzem Haar und sorgfältig gestutztem Oberlippenbart. Natürlich ein Blonder, stellte Batu fest.

Der tote Mann lag auf dem Rücken und starrte Batu mit graublauen Augen an. Es war nichts Besonderes an Elodies Liebhaber, bis auf die Wunden in seinem Oberkörper, die sie ihm beigebracht hatte. Batu begann, die Einstiche zu zählen. Er kam bis sieben, bevor er sich besann. Er vergewisserte sich, dass niemand anderes in der Wohnung war. Im Flur entdeckte er einen Schlüsselbund, und nach einigen Fehlversuchen konnte er die Tür hinter sich abschließen.

Batu füllte ein Gläschen mit schwarzem Tee, pustete ein paar Mal auf die Flüssigkeit, um sie abzukühlen, und reichte es Elodie. Sie musterte erstaunt ihre blutverschmierte Rechte und nahm das kleine Teeglas mit der Linken. Batu holte schnell einen Waschlappen und säuberte Elodies Hand. Er entschuldigte sich für einen Moment, er habe dringend etwas zu erledigen. Die Blutflecken im Hausflur mussten verschwinden, bevor ein Nachbar sie bemerkte, eventuell stutzig wurde und übereifrig die Polizei rief.

Hastig suchte Batu die notwendigen Utensilien zusammen und wischte den Hausflur. Ihm war klar, dass die Spurensicherung der Polizei trotz all seiner Bemühungen Restspuren von Blut an dieser Stelle finden würde. Vorausgesetzt, die Kriminalbeamten verfolgten jemals die Idee, hier nach Blut zu suchen. Wie auch immer, zu diesem ungewissen Zeitpunkt würde er schon über alle Berge sein.

Zurück im Zimmer überfiel Elodie ihn mit der Frage, ob Kai wirklich tot sei.

„Ja, mausetot.“

Batu ging davon aus, dass Elodie die Nerven verlieren könnte, wenn ihr die Tat ins Bewusstsein dringen würde. Noch machte sie einen halbwegs gefassten Eindruck, zeigte keine Anzeichen von Panik. Sie forderte ihn wiederholt auf, die Polizei anzurufen. „Ich will es hinter mich bringen.“

„Denken wir gemeinsam nach, Elodie. Was willst du den Bullen sagen?“

„Wie es war, die Wahrheit. Ich habe Kai getötet. Wo ist das Messer?“

„Das Messer ist weg“, sagte Batu energisch.

„Aber, aber, ich muss doch der Polizei …“

„Du musst gar nichts. Trink deinen Tee. Elodie, bitte, wir müssen jetzt vernünftig sein.“

„Wieso ‚wir‘?“

„Du und ich.“ Batu lächelte sie an.

Elodie stöhnte laut. „Oh Gott, ich ziehe dich in die Sache mit hinein. Es tut mir leid, Batu. Ich bin ja total egoistisch.“ Sie stand auf, wollte offenbar in ihre Wohnung.

„Elodie, setz dich wieder. Ich kann dir helfen …“

„Nein, nein, nein, ich will es hinter mich bringen. Unbedingt gleich. Bitte wähle 110.“

„Gut, gut. Ich rufe an, wenn du mir alles erzählt hast. Einverstanden? Dieser Kai, ist er verheiratet?“

Elodie nickte, setzte sich und schlug ihre großen blauen Augen nieder. Ihre langen, schwarz gefärbten Wimpern bildeten einen Kontrast zu dem hellen Teint. Ihr rötlich blondes Haar fiel bis auf ihre Schultern. Es war sehr fein und nach Batus Meinung einzigartig. Es gefiel ihm, dass Elodie das Haar ohne Pony trug, so war ihr schönes Gesicht besser zu sehen. Er konnte sich kaum von diesem Anblick losreißen. „Weiß Kais Frau von eurer Beziehung?“

„Unwahrscheinlich.“

„Wie habt ihr euch verabredet?“

„Warum stellst du diese Fragen?“

„Habt ihr Mails geschrieben?“

„Nein. Kai hat ein zweites Handy, extra für mich.“ Sie schluchzte auf.

Batu war zufrieden. Das war eine relativ leichte Aufgabe. Der Tote und sein Handy mussten aus Elodies Wohnung verschwinden. Dann würde es für die Kripo schwieriger, eine Verbindung zwischen Kai und Elodie aufzuspüren. Blieb die Ehefrau, die hoffentlich ahnungslos war, mit wem ihr Mann sich ab und zu vergnügt hatte.

Batu war ein geduldiger und optimistisch denkender Mensch. Keine Frage, das Glück würde auf seiner Seite sein. „Kai muss weg. Ich übernehme das. Niemand wird je erfahren, wie und warum er verschwunden ist. Er wird sich in Luft auflösen, als hätte er nie gelebt. Vertrau mir, ich regle das.“

Elodie lachte plötzlich lauthals und zeigte dabei zwei Reihen regelmäßig gewachsener Zähne. „Wie willst du mitten in Berlin eine Leiche beseitigen? Das geht nur im Film.“

„Keine Sorge, es wird funktionieren. Du hast damit nichts zu tun. Am besten, du ruhst dich aus und“, Batu zögerte, „und später beginnst du ein völlig neues Leben, in Sicherheit und mit mir.“

Ein neues Leben? Mit Batu? Elodie dachte, sie erlebe gerade einen Albtraum. Gleich würde sie aufwachen, und alles wäre in Ordnung. Kai würde leben, und sie läge neben ihm in ihrem Bett. Doch nein! In ihren Ohren dröhnte das Knirschen, mit dem das Messer in seine Brust gedrungen war, sie sah den entsetzten Blick, fühlte immer noch den Drang in sich zuzustoßen … Das blutige Messer hatte sie zu Batu gebracht und wollte bei ihm auf die Polizisten warten, die sie als Mörderin abführen würden. Sie hatte Kai getötet, weil er unfähig war, seine Frau zu verlassen, aber auch sie, seine Geliebte. Wenn er nicht für Klarheit sorgte, sie hatte es geschafft. Ein für alle Mal. Und was schwafelte Batu da von einem neuen Leben? Sie und dieser schreckliche Mann? Viel zu klein und zu kräftig gebaut, sein Nacken wie der eines Stiers, er hatte dichtes, rabenschwarzes Haar, die Augen wie Kohlen. Elodie mochte keine Männer mit schwarzen Haaren. Alle ihre Freunde hatten blondes oder bräunliches Haar gehabt.

„Batu, ich will kein neues Leben mit dir“, widersprach Elodie heftig, „ich werde ins Gefängnis gehen.“

„Für fünfzehn Jahre? Überleg mal, Elodie. Du bist fünfundzwanzig und wirst vierzig sein, wenn du Glück hast und aus dem Knast kommst. Vierzig, Elodie! Dann ist alles vorbei, du kriegst keine Arbeit, keinen Mann, und Kinder kriegst du auch nicht mehr. Du willst doch Kinder, oder?“

„Genug. Spinnst du! Ich werde, ich werde …“ Sie verstummte. Kein Mann und keine Kinder. Keine Familie. Keine Freunde. Alle würden sich voller Abscheu von ihr abwenden. Einsam, alt und arm. „Wie willst du denn Kais Leiche verschwinden lassen?“

„Ein Cousin hilft mir. Er ist absolut vertrauenswürdig und wird keine Fragen stellen. Du wirst von Kai nie wieder etwas hören oder sehen. Niemand wird je wieder etwas von ihm hören oder sehen.“

„Das ist ja grauenvoll, Batu. Geh weg, raus aus meiner Wohnung!“

Batu legte beschwichtigend eine Hand auf ihren Arm. „Das ist meine Wohnung, Elodie. Bei dir liegt ein Toter. Bei mir nicht.“ Er versuchte, ihren Blick festzuhalten und sprach eindringlich weiter: „Am Sonntag reise ich in die Türkei, zu meiner Familie. Ich werde das Geschäft meines Vaters übernehmen, es ist ein sehr angesehenes Geschäft in der Heimatstadt meiner Familie. Geh mit mir, Elodie, als meine Frau.“

„Du redest Unsinn, Batu. Ich deine Frau?! Mir ist wirr genug im Kopf. Ich muss zu meiner Schuld stehen, verstehst du? Wenn du nicht die Polizei rufst, tu ich es eben selber.“

„Immer schön ruhig. Werde meine Frau, und du bist den Schlamassel los.“

„Vergiss es!“

„Denk nach, Elodie, ich bitte dich. Dein schönes blondes Haar wird grau im Gefängnis, deine Haut schlaff und ungepflegt, du wirst dürr vor Kummer oder fett, deine Zähne fallen aus vom schlechten Essen, und du wirst niemals ein eigenes Baby in den Armen halten.“

„Das ist unfair, Batu. Davon abgesehen, lieber gehe ich ins Gefängnis und bleibe mein Leben lang kinderlos, als deine Frau zu werden!“ Das saß. Batu knickte ein, senkte seinen Kopf und schwieg.

Elodie war wütend auf Batu. Sie als Frau eines Türken, in der Türkei und mit einem halbtürkischen Kind oder einer riesigen Kinderschar. Niemals! Andererseits … Nein, es hatte keinen Sinn. Selbst ein Wunder würde nicht helfen. Auch, wenn es Batu und seinem Cousin gelänge, Kais Leiche verschwinden zu lassen, würde Kai zu einem Vermisstenfall und ihre Beziehung irgendwie auffliegen. Dann würde ihre Wohnung durchsucht, und die Blutspuren würden sie verraten. Nach Jahren konnte jede winzigste Blutspur sichtbar gemacht werden, das hatte sie erst neulich in einem Fernsehfilm gesehen. Da konnte man schrubben wie verrückt, es nützte nichts. Die Kripo würde feststellen, dass eine Elodie Schubert wenige Tage, nachdem Kai Körner als vermisst gemeldet wurde, in die Türkei geflogen war. Es gab bestimmt ein Auslieferungsabkommen.

„Sie werden mich auch in der Türkei aufspüren“, sinnierte Elodie. Wider Willen klang sie enttäuscht.

Batu hob langsam seinen Kopf, und Elodie hielt seinem Blick stand. Was, wenn er wirklich ihre letzte Chance war, dem Gefängnis zu entfliehen? „Jetzt ist Donnerstagabend und bis Sonntag“, begann sie, „mal rein theoretisch … wir sind nicht verheiratet … die Polizei wird herausfinden, wohin ich geflogen bin …“

„Niemand wird eine Frau Özcan suchen, sie suchen im Fall des Falles eine Elodie Schubert.“

„Vielleicht. Und wie soll ich so schnell zu Frau Özcan werden, bitte schön?“

„Kein Problem, ich habe einen Cousin, der kann Papiere besorgen und organisieren, dass wir heute Abend verheiratet sind.“

„Es wird auffallen, wie plötzlich du geheiratet hast.“

„Nein, wir datieren das Hochzeitsdatum zurück, zwei Monate oder drei. Kein Problem für meinen Cousin.“

„Du hast wohl für alles einen Cousin! Das sind lauter Mitwisser, das kann nicht gut gehen.“

„Familie hilft, Familie verrät nicht, Familie ist heilig. Man muss an sein Glück glauben. Ihr Deutschen habt den Glauben verloren, deshalb habt ihr so viel Angst.“

„Ich finde dich unausstehlich.“ Elodie legte möglichst viel Verachtung in ihre Stimme, weil ihr im Moment kein weiteres Argument gegen Batus Pläne einfiel. In Gedanken sah sie sich barfuß über trockene, ausgedörrte Wege laufen, einer unbarmherzigen türkischen Sonne ausgesetzt - die Einöde wartete auf sie. „Wo genau wohnst du?“

„Weit, weit weg im Osten meines Landes. Zugegeben, es ist keine große Stadt, aber es ist eine Stadt. Wir werden ein Haus für uns haben, keine winzige Wohnung wie hier. Du hast einen Garten, wenn du willst, und du brauchst nicht arbeiten.“ Im Gegensatz zu mir, ich werde die Fleischerei meines Vaters übernehmen, dachte Batu.

„Und dafür muss ich deine Kinder kriegen“, versetzte Elodie.

Batu lächelte. „Ist denn das so schrecklich? Ich bin kein schlechter Mann.“

Oh Gott, oh Gott, flehte Elodie innerlich, Mama hilf mir, was soll ich nur tun? Wie soll ich ohne dich und Papa leben? Soll ich diesem verrückten Türken vertrauen? Wenn ich mit ihm abhaue, werde ich euch nie wieder sehen können. „Und meine Familie? Meine Eltern? Sie werden mich vermissen.“

„Man kann nicht alles haben, Elodie. Du musst dich nun entscheiden. Sonst ist es kaum zu schaffen. Ich muss dir ein Flugticket auf deinen neuen Namen besorgen. Ich habe einen Cousin, dem gehört ein Reisebüro.“

„Und in dem türkischen Nest, in dem wir leben werden, wie viele Cousins hast du dort?“

„Zwei Cousinen, eine Kosmetikerin und eine Zahnärztin, die können uns vielleicht nützlich sein“, meinte Batu vorausschauend, „und leider nur einen einzigen Cousin, aber der ist Polizeichef in unserer Stadt.“

Stunden später in der Nacht zum Freitag meldete die Ehefrau von Kai Körner ihren Mann als vermisst. Die Beamten der örtlichen Polizeidienststelle wollten sie erst abwimmeln. Sie solle ganz ruhig bleiben, ihr Mann wäre eventuell mit Kumpels versackt oder hätte eine Geliebte. Dana Körner hielt dem energisch entgegen, ihr Mann habe zwar seine kleinen Abenteuer und bildete sich ein, sie vor ihr verstecken zu können. Er sei jedoch in den zwölf Jahren ihrer Ehe nicht eine Nacht weggeblieben. Er liebe sie, sie hätten zwei Kinder zusammen und die würde er auf keinen Fall über Nacht allein lassen. Außerdem hänge sein Herz an ihrer gemeinsamen Firma, seinem Lebenswerk.

Am Freitagmorgen beschäftigte sich die Vermisstenstelle mit der Suche nach Kai Körner. Die Beamten ermittelten, dass Kai kurz vor vierzehn Uhr am Vortag den Betrieb verlassen hatte, ohne seiner Sekretärin zu sagen, wohin er ginge. Als er am späten Nachmittag eine wichtige Teambesprechung versäumte, hatte sie versucht, ihn zu erreichen, aber sein Handy war ständig ausgeschaltet. Die Polizisten machten sich ein Bild von Kai Körner. Er wurde allgemein als lebenslustig und angenehm im Umgang geschildert, seine Ehe galt als glücklich und er als liebevoller Vater. Die Firma florierte, und es gab keine finanziellen Probleme.

Das Auto von Kai Körner fand die Polizei drei Tage später auf einem Parkplatz vor einem Supermarkt. Mit Hilfe eines Fotos wurden die Angestellten des Marktes und die Anwohner der umliegenden Gegend befragt, ob sie den abgebildeten Mann kannten. Ohne Erfolg. Nach zwei Tagen erreichte die Aktion einige Nebenstraßen weiter das Haus, in dem Elodie und Batu wohnten. Einzig eine ältere Frau meinte, den Mann im Treppenhaus gesehen zu haben. Alle anderen Hausbewohner verneinten, den Gesuchten zu kennen. Die Mieter Batu Özcan und Elodie Schubert trafen die Beamten nie an.

Sie fragten auf deren Arbeitsstellen nach und erfuhren, dass Batu vor drei Monaten überraschend geheiratet hatte und am vergangenen Sonntag mit seiner Frau in die Türkei geflogen sei. Als ältester Sohn wolle oder müsse er den Betrieb seines Vaters übernehmen und werde deshalb in der Türkei bleiben. Daraufhin verlor sich vorerst das Interesse der Ermittler an Batu Özcan.

Elodie Schubert war ihrer Arbeit im Tierpark seit vergangenem Donnerstag unentschuldigt ferngeblieben. Das entsprach gar nicht ihrer Art. Die Familie und Freunde waren in heller Aufregung. Elodies Eltern meldeten ihre Tochter umgehend als vermisst.

Die Kriminalbeamten durchsuchten Elodies Wohnung. Man fand im Schlafzimmer Blutspuren einer fremden DNA und ermittelte, dass sie der DNA von Kai Körner entsprach. Die Polizisten vermuteten, dass Kai Körner in Elodies Wohnung getötet worden war. Unklar blieb, ob Elodie Täterin oder Opfer eines Verbrechens war.

Die Mutter von Elodie, Carmen Schubert, wurde gebeten, in der Wohnung ihrer Tochter nachzusehen, ob Gegenstände fehlten. Dabei wurde sie vom leitenden Ermittler begleitet. Zuerst ging Carmen Schubert zwischen Küche, Bad und den zwei Zimmern ziellos hin und her. Nach einer Weile setzte sie sich erschöpft auf einen Küchenstuhl und bat den Beamten, auch Platz zu nehmen. Carmen Schubert sagte, sie würde die Anwesenheit ihrer Tochter in der Wohnung so deutlich spüren, dass sie es kaum ertrage. Auf die Frage, ob sie einen Gegenstand vermisse, schüttelte Elodies Mutter den Kopf. Der Schmuck ihrer Tochter, insgesamt von wenig Wert, wichtige Dokumente, nichts fehle, sofern sie es beurteilen könne, sogar die teure Armbanduhr, das Weihnachtsgeschenk ihres Vaters, sei da.

Für Carmen Schubert war ungeheuerlich, was die Polizei behauptete: Ein Kai Körner, der wahrscheinliche Liebhaber ihrer Tochter, sei in deren Wohnung ermordet worden. Elodie sei tatverdächtig und vermutlich untergetaucht.

Absurd, völlig absurd, empörte Carmen sich. Plötzlich drängte sich ihr ein Gedanke auf. Elodie hatte seit Kindertagen einen hässlichen kleinen braunen, inzwischen einäugigen Teddy, den sie abgöttisch liebte und auf jede ihrer Reisen und überall hin mitschleppte. Sie würde ihn um nichts in der Welt zurücklassen. Wenn sie diesen Teddy in der Wohnung fand, war ihre Tochter gegen ihren Willen verschwunden.

Carmen sah in und unter Elodies Bett nach, hob alle Sofakissen hoch, durchwühlte die Schränke und Schubladen, Elodies Reisetasche und ihren Rucksack, zog Topfpflanzen aus Zimmerecken, guckte hinter Bücherreihen und inspizierte sogar den Kühlschrank und alle Schuhregale. Der Lieblingsteddy war unauffindbar. Das bedeutete für Carmen, ihre Tochter hatte ihn bei sich und war freiwillig fortgegangen. Aus welchen Gründen auch immer. Dass Elodie diesen Kai Körner getötet haben sollte, war für ihre Mutter nach wie vor unvorstellbar.

Am Abend dieses Tages bereitete Murat in Batus Küche ein Abendessen für seine Freundin vor. Er griff, ohne richtig hinzusehen, in den Besteckkasten, weil er ein Messer brauchte. Auch Murat arbeitete als Koch. Deshalb staunte er, als er das Messer betrachtete. So ein unprofessionelles Werkzeug, zudem mit verbogener Klinge, in den hinterlassenen Sachen seines Cousins Batu. Unmöglich! Murat schmiss das Messer in den Mülleimer.

In dieser Nacht lag der leitende Ermittler viele Stunden wach und dachte über den Fall nach, der zu einem Mord- und einem Vermisstenfall geworden war.

Am Morgen zählte der Ermittler eins und eins zusammen. Er informierte sich über den Aufenthaltsort von Batu Özcan und schickte an die örtlichen Polizeidienststellen in der Türkei die Bitte, ihm ein Foto der Ehefrau des Batu Özcan zu schicken.

Die türkische Polizei mailte es am nächsten Tag. Es zeigte eine junge, lächelnde schwarzhaarige Frau mit dunklerer Haut vor einer Wohnzimmerwand.

Der Ermittler fuhr zu Elodies Mutter. Sie war verblüfft über die Frage, ob sie auf dem Foto Elodie erkennen könne. Er gab vor, dass eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden sei.

Carmen verneinte nach einem flüchtigen Blick auf das Bild. Diese dunkelhäutige Frau mit den langen schwarzen Locken, die ihr in braune Augen hingen, sollte ihre Elodie sein? Elodie hatte blaue Augen und glattes, bis zu den Schultern reichendes blondes Haar. Ihre Haut war beinahe weiß wie Schnee, und ihre Zähne tadellos in Ordnung. Ganz anders wie bei der abgebildeten Person, die beim Lächeln eine Lücke in der oberen Zahnreihe offenbarte. Die musste mal zum Zahnarzt.

„Das ist niemals meine Elodie“, sagte Carmen.

Sie solle sich mit ihrer Antwort Zeit lassen, mahnte der Ermittler und fragte, ob er mal das Bad aufsuchen dürfe.

Carmen nutzte seine Abwesenheit. Einer Eingebung folgend, holte sie rasch eine Lupe und untersuchte die Fotografie genauer. Im nächsten Augenblick hatte Elodies Mutter das Gefühl, dass ihr Herz einen Sprung machte, als könne es sich frei in ihrem Brustkorb bewegen. Sie hatte auf dem Bild ein kleines Regal entdeckt. Und dort saß inmitten von unnützem Krimskrams Elodies einäugiger Teddy!

Der Kommissar kehrte zurück und wiederholte seine Frage: War auf dem Foto eventuell Elodie zu sehen? Carmen schüttelte energisch den Kopf.

Später in der Nacht, als sie neben ihrem Ehemann im Bett lag, flüsterte sie ihm ins Ohr: „Unsere Elodie lebt, ich bin mir vollkommen sicher.“

Lebensabend

Eine Frage ging Simon unablässig durch den Sinn: Wohin? Wohin nur? Er würde sehr bald Hilfe brauchen, nur wo und bei wem würde er sie finden?

Nachdem er die niederschmetternde Diagnose seines Hausarztes erhalten hatte, war Simon nach Hause gegangen und hatte sich in seinen Klamotten ins Bett gelegt. Er wollte am liebsten sofort sterben. Wozu auf den Tod warten?

Nach eineinhalb Stunden war er aufgestanden, weil er Hunger hatte. Komisch, dachte Simon, er hatte erwartet, dass er keinen Hunger mehr haben würde.

Am nächsten Tag ging Simon wieder zu seinem Arzt. Er wollte in ein Krankenhaus eingewiesen werden, schließlich war er schwerkrank.

Nehmen Sie regelmäßig Mahlzeiten zu sich, fragte der Arzt.

Simon bejahte.

Sehen Sie, sagte der Mediziner, so schlecht geht es Ihnen doch gar nicht.

Und er gab seinem Patienten einen guten Rat mit auf den Weg: er solle einfach weiter leben wie bisher, sich keine unnützen Gedanken machen, sondern die Zeit, die ihm blieb, sinnvoll nutzen.

Wie viel Zeit bleibt mir denn, fragte Simon.

Der Arzt meinte, einige Wochen hätte Simon sicher noch, vielleicht auch ein halbes Jahr.

Simon wartete zwei Wochen, dass irgendetwas mit ihm passierte, aber es geschah rein gar nichts. Er hatte keine Schmerzen, konnte nachts schlafen, er hatte Hunger, aß und verdaute, und Spaziergänge konnte er auch unternehmen. Manchmal traf er dabei auf Tina. Tina war eine geschiedene Nachbarin, der er einmal den Hof gemacht hatte. Auf sehr altmodische Art, mit Blumen und so. Alles vergeblich. Tina gestand einer Bekannten – und diese erzählte es einer anderen, die es wiederum Simon weitertratschte, ohne zu wissen, dass er gemeint war – Tina gestand also, dass sie keinen alten Mann wollte. Seitdem war Simon sauer auf Tina. Er war zwar Mitte siebzig, aber die Tina war ja auch schon sechzig. Was bildete die sich ein!

Obwohl er auf Tina nicht gut zu sprechen war, wechselte er mit ihr, wenn sie sich zufällig begegneten, ein paar Worte. Seine Krankheit verschwieg er. Wenn Tina weiterging, schaute Simon ihr nach. War ihm neuerdings egal, wenn es jemand bemerken sollte.

Nach einer weiteren Woche fragte Simon seinen Arzt, ob es möglich sei, dass er, also der Herr Doktor, sich mit seiner Diagnose geirrt hätte. Denn er, Simon, fühle sich immer noch nicht krank, und alle seine Körperfunktionen funktionierten wie sie sollten.

Der Arzt bedauerte, ein Irrtum sei ausgeschlossen, es sei nun mal Krebs, aber es stünde Simon selbstverständlich frei, eine zweite Meinung einzuholen.

Darüber dachte Simon einen Tag lang nach, dann ließ er es. Er wollte sein Schicksal jetzt annehmen. Nur ein Problem beschäftigte ihn: wer würde ihn unterstützen und pflegen, wenn er bettlägerig wurde?

Seine Frau war gestorben, Tina wollte ihn nicht. Der Sohn lebte mit Familie in Kanada, der Kontakt war seit langem dürftig und wenn Simon es recht bedachte, kaum vorhanden.

Wer blieb?

Niemand, stellte Simon mit Schrecken fest, und seit dieser Einsicht schlief er schlecht. Er war übermüdet und sah blass aus, der Appetit schwand.

Simon versuchte es mit einem Seniorenheim. Das war schwieriger als gedacht: seine Rente war zu klein, und das Fehlen einer Pflegestufe wurde bemängelt. Außerdem war gerade kein Platz frei.

Inzwischen fühlte Simon sich wirklich krank. Er hatte ständig diesen Druck im Bauchbereich, und es fiel ihm jeden Tag schwerer, seinen Haushalt zu führen. Wenn es in diesem Tempo weiter mit ihm bergab ging, musste er dringend eine Lösung für sich finden.

Simon saß vor dem Fernseher. Es lief ein Krimi. Als im Film ein Verdächtiger ins Untersuchungsgefängnis gebracht wurde, durchzuckte Simon plötzlich ein Gedanke. Natürlich! Wieso war ihm das nicht früher eingefallen? Es gab einen sicheren Ort in dieser Welt, wo man sich von Staats wegen um ihn kümmern musste, wenn er sich erst einmal dort befand. Doch wie reinkommen?

Am nächsten Abend zog Simon sich seinen Wintermantel an, setzte eine Mütze auf, band sich einen dicken Wollschal um den Hals und stiefelte los. Mit der Straßenbahn fuhr er in gut vierzig Minuten zum Alexanderplatz, dort wechselte er in die S-Bahn bis Savigny-Platz.

Ziellos streifte Simon umher und geriet in eine lange dunkle Straße. Er begann zu schwitzen, lockerte den Schal, zog die Handschuhe aus und öffnete die obersten Knöpfe seines Mantels. Dieser milde Winter war ein Graus, ein ewiges Hin und Her mit den Temperaturen.

Der Nächste, auf den ich treffe, der ist es, sagte Simon sich. Den Nächsten würde er mit dem Messer angreifen und vielleicht sogar töten. Er hatte auch überlegt, ob es reichen würde, der Polizei seine Mordabsicht kundzutun, um ins Gefängnis gesperrt zu werden. Simon hatte diese Variante verworfen. Wenn er Pech hatte, würde man ihn eventuell in die Psychiatrie einweisen. Aber in die Klapsmühle wollte er auf keinen Fall, er wollte ins Gefängnis. Ein Mord war immer noch der schnellste Weg, um da rein zu kommen.

Damit die Kripo ihn als Täter ermitteln konnte, wollte Simon bei seinem Opfer ein benutztes Taschentuch von sich hinterlassen. Seine DNA - was brauchte die Kripo mehr? Dass er für eine solche Identifizierung auch in der Datenbank der Kripo erfasst sein musste, wusste Simon nicht.

Ein wahrscheinlich betrunkenes junges Mädchen torkelte an Simon vorüber. Zu jung, dachte er erleichtert. Ihm wurde ein wenig schwindlig. Er musste auch aufs Klo, und der Druck im Bauch wurde unerträglich. Der Nächste musste es sein.

In den Nachrichten am folgenden Tag wurde gemeldet, dass ein 53jähriger Mann in der Nähe des Savigny-Platzes mit einem Messer attackiert und an den Verletzungen im Krankenhaus gestorben sei. Eine Mordkommission hatte die Ermittlungen aufgenommen; vom Täter fehlte jede Spur.

Simon verfolgte seit den frühen Morgenstunden gebannt die Nachrichten im Radio. Sein Taschentuch war in den Meldungen unerwähnt geblieben. War es etwa übersehen worden? Oder handelte es sich um eine Finte der Polizei, dieses mögliche Beweisstück geheim zu halten?

Simon war versucht, sich bei der Kripo zu outen. Minutenlang lief er in seiner Wohnung mit dem Telefon in der Hand herum, aber er konnte sich nicht zu einem Anruf durchringen. Vor allem, weil ihm das Reden schwer fiel. Er machte ja kaum noch den Mund auf, seit er seine Arztbesuche aufgegeben hatte. Mit Tina wechselte er lediglich ein ‚hallo‘. War kürzer als ‚guten Tag‘. Und bei den Kassiererinnen des Supermarktes reichte ein Kopfnicken.

Ein zweites Mal fuhr Simon am späten Abend mit der Straßenbahn ins Zentrum. In der Nähe des Alexanderplatzes streifte er abwechselnd schwitzend oder frierend auf der Suche nach einer stillen Ecke und einem möglichen Opfer durch die Straßen.

Simon stach von hinten auf eine ältere Frau ein, die eine schwere Tasche schleppte. Irgendwie erinnerte sie ihn an Tina. Das Taschentuch bei seinem Opfer zu platzieren, vergaß er.

Trotzdem packte er Zuhause sofort einen Rucksack mit allem, was er für das Gefängnis für notwendig hielt. Simon wartete die ganze Nacht, dass Polizisten an seiner Tür klingeln würden. Gegen Morgen schlief er im Sessel ein und wachte am späten Nachmittag mit starken Rückenschmerzen auf. Außerdem spürte er ein unangenehmes Kratzen im Hals, und er merkte noch etwas später, dass er fiebrig war. Simon wollte eine heiße Zitrone trinken, hatte aber keine im Haus.

Er schleppte sich mit schweren Beinen zum Supermarkt. Auf dem Rückweg traf er Tina. Sie ging grußlos an ihm vorüber, was Simon ärgerte. Wie gewöhnlich schaute er ihr hinterher, und da schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, Tina als nächstes zu töten, wenn die Polizei nicht bei ihm aufkreuzen würde.

Simon legte sich mit Schüttelfrost ins Bett. Er hustete, auch die heiße Zitrone brachte keine Linderung. Er verbrachte eine schlaflose Nacht und einen unruhigen Tag. Abends fühlte er sich besser.

Simon zog Mantel, seine festen Schuhe und Mütze an. Er verzichtete auf die Straßenbahnfahrt zum Alex und blieb in seiner Wohngegend, einem ehemaligen DDR-Neubaugebiet. Er wollte keine großen Umstände mehr machen. Er würde einfach Tina töten. Die streifte um diese Zeit immer hier rum. Doch heute Abend hatte Simon kein Glück. Er sah Tina nirgends. Dafür wurde er schnell müde.

Ein Hustenanfall zwang Simon stehen zu bleiben. Er gab seinen halbherzigen Plan auf und beschloss, sich morgen früh der Polizei zu stellen. Das Warten sollte ein Ende haben. Er brauchte ein warmes Bett und pflegende Hände, die sich um ihn kümmerten. Das hatte er sich redlich verdient. Simon schlug mit zittrigen Beinen und heißem Kopf den Weg zu seiner Wohnung ein. Er achtete auf niemandem. Plötzlich ein Schlag auf seinen Rücken. Simon strauchelte, konnte sich im letzten Moment abfangen.

Hey Alter, hörte Simon eine quiekende Stimme, her mit deiner Kohle, los!

Ein dünnes, überaus bewegliches Kerlchen stand vor ihm, in Jogginghose, übergroßer Trainingsjacke, Käppi auf dem Kopf und Kaugummi im Mund.

Gut, gut, sagte Simon ruhig, kannst du haben, ich brauche das Geld nicht mehr.

Handy, forderte der nach dem Empfang der Geldbörse.

Ja, ja, Handy.

Was‘n das für’n geiles Teil, eh! Der Junge lachte und befummelte Simons Handy, das ungefähr 15 Jahre alt war, aber immer noch ausreichend funktionierte.

Simon wandte sich ab. Er hatte nun alles hergegeben, was er an Wertvollem bei sich trug. Das Messer in seiner Manteltasche konnte der junge Angreifer nicht vermuten.

Der zog ihn am Ärmel und forderte Simons Uhr.

Simon überlegte kurz. Nach seiner Kenntnis war es erlaubt, im Gefängnis eine Armbanduhr zu tragen.

Meine Uhr brauche ich, sagte er.

Uhr her! Der Dieb drohte ihm mit der Faust.

Leg dich nicht mit mir an, Bursche!, warnte Simon ihn.

Der lachte übermütig.

Simon machte einen Ausfallschritt, zog gleichzeitig das Messer raus und stach zu. Das kostete ihn seine letzte Kraft.

Er würdigte sein Opfer, das sich zu seinen Füßen krümmte, keines Blickes und wankte davon. Nach wenigen Metern musste er vor Erschöpfung stehenbleiben, er rang nach Luft. Auf der Stirn kalte Schweißperlen. Doch er kehrte noch einmal zurück, sein Portemonnaie und Handy holen.

Erst als Simon seinen Wohnblock erreichte, fiel ihm auf, dass er sich wirklich dumm verhielt. Sein Handy würde die Polizei mit Sicherheit endlich zu ihm führen. Er fühlte sich zu kraftlos, um noch einmal umzukehren. Simon warf das Handy in Richtung des Jungen, soweit und gut er konnte.

Als Polizisten zwei Tage später bei Simon klingelten, wurde ihnen nicht geöffnet. Nach Rücksprache mit ihrem Vorgesetzten riefen die Polizisten den Schlüsseldienst. Sie fanden Simon in seinem Bett vor und dachten zuerst, er würde schlafen.

Der Rechtsmediziner stellte fest, dass Simon an den Folgen einer unbehandelten Lungenentzündung gestorben war.

Das Messer, mit dem Simon drei Menschen getötet hatte, um ins Gefängnis zu kommen, lag auf seinem Nachttisch.

Weil sein Sohn in Kanada sich weigerte, für die Beerdigung seines Vaters aufzukommen und weil keine anderen Verwandten ermittelt werden konnten, organisierte die Hausverwaltung Simons Begräbnis. Der Termin wurde seinen Nachbarn bekanntgegeben. Niemand ging hin, auch Tina nicht.

Die Frau vom Alexanderplatz

Am Sonntagabend in einer Kneipe in Marzahn

Janine Wunderlich starrte unentwegt zu einem etwas behäbig wirkenden, älteren Mann hinüber, von dem sie annahm, dass er ihr leiblicher Vater war. Der Mann hieß Hans Sonntag und saß allein in der gegenüberliegenden Ecke der Kneipe. Wenn die Tür aufschwang, schaute er jedes Mal interessiert auf. War der neue Gast ein Mann, wandte Hans Sonntag sich enttäuscht ab und nahm einen kräftigen Zug von seinem Bier.

Janine schloss aus diesem Verhalten, dass Hans Sonntag auf eine Frau wartete. Ein Ehebrecher war er ja, ihr frisch entdeckter Vater, zumindest in seinen jungen Jahren. Vielleicht hatte er nie mit dem Fremdgehen aufgehört. Obwohl, wenn sie sich ausrechnete, wie alt der inzwischen war … der sollte noch aktiv sein? Schwer vorstellbar.

Komisch, über Eberhard, den Mann, den ihre Mutter ihr 27 Jahre lang als Vater präsentierte, hatte sie sich nie solche Gedanken gemacht. Eberhard, ihr Vater! Von wegen! Seit drei Wochen konnte sie sich endlich dieses unbestimmte, unsichere Gefühl erklären, dass sie ihm gegenüber oft empfand. Seit sie Zuhause zufällig eine Unterhaltung zwischen ihrer Mutter und deren engster Freundin Melanie mitgekriegt hatte.

Die beiden hatten mehr Rotwein getrunken als gut für sie war und angefangen, von alten Zeiten zu schwärmen. Und da war Janines Mutter die Wahrheit über ihre Schwangerschaft herausgerutscht und wer in Wirklichkeit der Vater ihrer einzigen Tochter war.

Es waren zwar nur wenige Sätze gewesen, die Janine hinter der Wohnzimmertür belauschen konnte, aber sie reichten ihr aus. Denn sie hatte geahnt, dass Eberhard nicht ihr Vater sein konnte. Es gab keine Gemeinsamkeiten, keine äußerlichen Merkmale, keine Interessen, keine Vorlieben, keine Fähigkeiten. Einfach nichts! Sie konnte kaum drei Sätze mit ihm reden, ohne dass sie in Streit gerieten. Einen plausiblen Grund für ihre Abneigung gegen Eberhard zu wissen, war daher eine Erlösung für Janine.

Gerade überlegte sie, ob sie Hans Sonntag an diesem Abend mit ihrer Existenz überraschen sollte, als eine Frau die Kneipe betrat. Sie wirkte trotz grauer Haare jung. Ihre Hände steckten in viel zu großen Taschen eines überlangen beigefarbenen Mantels, den sie langsam um sich herum schwenkte, während sie sich im Raum orientierte. Hans Sonntag war aufgesprungen und winkte ihr unbeholfen zu. Die Frau ging mit merkwürdig steifen Schritten zu ihm. Beide begrüßten sich mit einem flüchtigen Händedruck, und danach verschwanden ihre Hände wieder in den riesigen Manteltaschen.

Wurde sie etwa Zeugin eines Dates, fragte Janine sich. Eher nein, dafür war die Szene zu förmlich abgelaufen. Ein Getränk lehnte die Dame ab. Dem Geplauder von Hans Sonntag schenkte sie kaum Beachtung und drehte sich oft nach den anderen Gästen um.

Janine folgte ihrem Blick. Nur wenige Leute waren anwesend, zwei, drei Paare unterschiedlichen Alters, einige Männer, die ihr Bier an der Theke tranken. Dann noch ein dürrer Großvatertyp mit Glatze und Bart. Der musste den Hans Sonntag kennen, denn er hatte ihn vertraut begrüßt. Trotzdem hatte Hans Sonntag ihm verwehrt, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Nun stierte der Abgewiesene am Nebentisch grimmig vor sich hin und soff mehrere Schnäpse hintereinander.

Und es gab einen jüngeren Kerl mit Dreitagebart und Brille. Es war Janine nicht entgangen, dass er versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch Janine wollte nicht durch einen Flirt abgelenkt werden. Sie wollte sich ganz auf den alten Mann konzentrieren, der wahrscheinlich ihr leiblicher Vater war. Sie hoffte, die Frau im weiten Mantel würde schnell wieder verschwinden.

Janine trank ihr Glas leer, und der beflissene Wirt brachte ihr sofort ein weiteres Viertelchen Roten. Sie musste aufpassen, einigermaßen nüchtern zu bleiben, denn morgen hatte sie Frühschicht. Restalkohol war bei ihrem Job, Straßenbahnfahrerin, absolut verboten.

Jetzt schob Hans Sonntag der Unbekannten einen prall gefüllten Umschlag zu, den sie einsteckte, ohne den Inhalt zu prüfen. Gleich darauf begab sich die Dame zur Toilette.

Die Mantelfrau lief nicht nur steif herum, die hinkte ja regelrecht! Dass ihr Vater sich mit einem Hinkebein verabredete, enttäuschte Janine.

Hans Sonntag lehnte sich zurück und wirkte auf Janine zufrieden, auch ein wenig erschöpft. Das war’s, dachte sie. Deshalb war er hier, wegen dieses Umschlages. Was mochte da drin gewesen sein? Geld?

Janine schaute auf ihre Uhr, erst halb zehn. Der junge Typ prostete ihr zu. Sie übersah es geflissentlich. Wenig später ging er zur Toilette und der dürre Großvatertyp hinterher.

Als die Hinkende zurückkam, blieb sie bei Hans Sonntag stehen. Er erhob sich, und beide reichten sich erneut die Hand. Dann verließ die Frau die Kneipe, ohne jemanden anzusehen, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben.

Komisch, dachte Janine, sie hat ihn abserviert, obwohl sie vermutlich Geld von ihm erhalten hat. Und wie ein Blitz traf Janine eine neue Idee, was sich vor ihren Augen abgespielt haben könnte. Hatte ihr Erzeuger etwa eine Prostituierte bezahlt?

Am Montagmorgen im Polizeipräsidium

Pia Jäger, Hauptkommissarin in der Mordkommission, bot Janine an, für sie ein Frühstück zu besorgen. Janine lehnte ab. Sie würde sowieso keinen Bissen herunter kriegen. Der gewaltsame Tod ihres vermutlichen Vaters lag ihr schwer im Magen. Die Kommissarin hatte ihr mitgeteilt, dass Hans Sonntag gestern Abend nach dem Kneipenbesuch auf dem Nachhauseweg erschlagen worden war. Mit einem Pflasterstein. Janine war erschüttert. Wie plötzlich sich alles änderte. Gestern noch hatte sie sich stundenlang alles Mögliche über sein Leben zusammen gesponnen … und nun? Keine Chance mehr für irgendetwas. Hans Sonntag würde nie erfahren, dass es sie, Janine, gab.

„Sie sehen sehr blass aus, Frau Wunderlich, kippen Sie mir ja nicht aus den Latschen. Ja? Okay? Gut.“ Pia Jäger fragte Janine, ob sie Hans Sonntag kannte.

„Wie kommen Sie darauf?“

„Ich bin die Kommissarin, und Sie sind eine wichtige Zeugin für mich. Ich stelle die Fragen, und Sie antworten. Das ist die Rollenverteilung, klar?“

„Hans Sonntag war mir fremd“, antwortete Janine. Das war ja auch die Wahrheit.

„Sie haben ihn also gestern Abend das erste Mal gesehen?“

„Ja.“

„Sind Sie oft in dieser Kneipe?“

„Nein, ich war vorher nie dort.“

„Und warum ausgerechnet gestern?“

„Warum nicht?“, fragte Janine schnippisch zurück, doch dann fand sie das zickig. Eigentlich war ihr die Kommissarin sympathisch, auch, weil sie fast im selben Alter war wie sie. Janine lenkte ein: „Gestern, da überfiel mich ein dringendes Bedürfnis, ich musste zur Toilette, bin rein und hängen geblieben.“

„Glaube ich Ihnen das mal. Wir haben die meisten Kneipengäste von gestern identifizieren können. Mit Raphael Schramm habe ich auch schon gesprochen.“ Pia Jäger achtete darauf, ob Janine bei der Erwähnung dieses Namens auffällig reagierte, aber nein. „Den Herrn Schramm lernten Sie gestern Abend kennen, Frau Wunderlich?“

„Stimmt. Er hat mich zur Straßenbahn gebracht. Das war alles.“

„Bleiben wir bei Ihnen. Der Kneipenwirt und andere Gäste haben ausgesagt, dass Sie den Herrn Sonntag auffallend intensiv beobachtet haben. Warum, Frau Wunderlich?“

Wozu der Kommissarin von ihrer Vater-Idee berichten? Davon, dass sie als Hobbydetektivin unterwegs gewesen war, um herauszufinden, wer Hans Sonntag war und wie er lebte? Wozu das beichten? Es hatte nichts mit seinem Tod zu tun. Es würde nur eine unnütze Fragerei folgen, und sie käme heute sehr viel später zur Arbeit. Janine stritt ab, sich besonders für Hans Sonntag interessiert zu haben. Das wäre totaler Quatsch. „Wieso sagen die anderen das“, empörte sie sich, „ich beobachte generell gern. Womit hätte ich mir sonst die Zeit vertreiben sollen, allein in einer Kneipe?“

„Ist Ihnen denn Besonderes aufgefallen, gestern Abend? Ich möchte natürlich vor allem wissen, was am Tisch von Hans Sonntag geschah. Falls etwas geschah.“

Es war ärgerlich, dass sie so gar keine Ahnung hatte, was Raphael der Kommissarin erzählt hatte. Von der steifen Manteldame hatte er höchstwahrscheinlich berichtet, und es würde auffallen, wenn sie es unterließ. „Na ja, an eine komische Frau erinnere ich mich gut“, begann Janine, „sie saß kurze Zeit am Tisch von dem Sonntag. Sie trug einen langen weiten Mantel, und ihre Hände, die hat sie immer in den Taschen versteckt.“

„Können Sie diese Person genauer beschreiben?“

„Sie hinkte stark. Fiel extrem auf, als sie zur Toilette ist.“ Aha, dachte die Kommissarin, jetzt kam Janine Wunderlich zu dieser Gehbehinderten, von der ihr auch andere Kneipengäste berichtet hatten. „Und außer der Tatsache, dass die Frau hinkte, wie sah sie aus?“

„Vornehm“, sagte Janine.

„Wie denn vornehm? Wie meinen Sie das?“

„Herrje, ich muss zur Arbeit. Meine Schicht! Kriege ich vielleicht einen Entschuldigungszettel von Ihnen?"

„Nein, auf keinen Fall. Außerdem haben Sie Ihren Kollegen Bescheid gesagt, dass und warum Sie sich verspäten. Frau Wunderlich, beruhigen Sie sich. Je eher Sie mir alles erzählen, umso früher können Sie zur Arbeit. Denken Sie nach, bitte. Die Hinkende, war sie klein oder groß, dick oder dünn?“

„Einigermaßen groß war sie, dünn eher nicht. Sie hatte diesen langen Mantel an, der bis zu den Waden reichte. Der war ihr viel zu weit.“ Janine fiel ein, dass die Hinkende sich in dem voluminösen Mantel verstecken wollte. Ja, klar, wenn man ein Krüppel war …

„Und diese komisch hinkende Dame war mit Hans Sonntag verabredet?“, fragte Pia Jäger.

„Nehme ich an. Er gab ihr diesen Briefumschlag, und dann haute sie ziemlich schnell ab. Steif und vornehm.“

Pia Jäger horchte auf. Von der Übergabe eines Umschlags hatten weder die anderen Kneipengäste noch der Wirt erzählt. „Welchen Umschlag?“

„Ein dicker Briefumschlag.“ Sollte sie der Kommissarin von ihrer Vermutung, Hans Sonntag hätte sich mit einer Prostituierten getroffen, erzählen? Andererseits, seit wann arbeiteten Krüppel als Huren?

„Was könnte in diesem Umschlag gewesen sein?“, fragte Pia Jäger.

„Woher soll ich das wissen. Vielleicht Knete?“

Die Kommissarin nickte gedankenverloren. Janine fühlte sich für einen Augenblick besser; sie hatte die Polizei auf eine Spur gebracht. Die Hinkende und Geld. Hörte sich doch plausibel an, oder?

Am Montagabend auf dem Alex

„Wie war‘s bei der Polizei?“, wollte Raphael von Janine wissen.

„Total entspannt.“

Beide liefen nebeneinander über den Alexanderplatz. Im Gegensatz zu gestern, als beim Warten auf die Straßenbahn kein Blatt zwischen ihre Körper gepasst hatte, achteten sie auf einen kleinen Abstand zwischen sich. Es war dunkel, der Wind stark, Menschen hasteten an ihnen vorbei. Ab und zu stieg Janine Bratwurstdunst in die Nase, sie hatte Hunger, behielt es aber für sich.

„Ich habe dich nie zuvor in meiner Kneipe gesehen“, meinte Raphael, „warum warst du gestern dort?“

Die blödsinnige Antwort, die Janine am Morgen der Kommissarin auf die gleiche Frage gegeben hatte, wollte sie nicht wiederholen. Zur Wahrheit - dass sie ihrem vermeintlichen leiblichen Vater hinterher geschnüffelt hatte - konnte sie sich auch nicht durchringen. Drohte nur Ärger, falls Raphael dies der Kommissarin weiter tratschen würde.

Janine blieb stehen, boxte aus Spaß gegen Raphaels Oberkörper. „Du hast der Polizei meine Handynummer gegeben. Musste das sein? Ohne dich wären die nie auf mich gekommen!“

„Hey!“ Raphael tat, als müsse er sich vor ihr schützen. Wie ein Boxer tänzelte er vor ihr hin und her. „Was ist Schlimmes dran?“

Janine hörte mit den spielerischen Schlägen auf: „Hast du eine Ahnung. Mein Schlaf ist mir heilig, da ist es schon schlimm, wenn mich die Kripo früh um fünf aus dem Bett holt. Das alles nur, weil du über mich gequatscht hast.“

„Mich haben sie vor dir geholt, schon um halb fünf. Meinen Namen hat der Kneipenwirt den Bullen genannt. Dich hätten die auch ohne mich gefunden.“

„Wer weiß. Jetzt suchen sie diese Hinkende im weiten Mantel. Kanntest du die?“

„Nein, hatte ja nur Augen für dich.“ Raphael zog Janine eng an sich. Sie spürte ein angenehmes Kribbeln im Bauch wie gestern Abend, als sie auf die Straßenbahn warteten und knutschten. Schön wäre es, sich endlich mal wieder zu verlieben. Aber konnte sie Raphael trauen? „Was hast du denn gemacht, nachdem ich weg bin?“, fragte Janine, „ich habe für die Tatzeit ein Alibi durch meinen Kollegen, den Straßenbahnfahrer, und wie ist das mit dir?“

Am Dienstagmorgen im Polizeipräsidium

„Sie haben kein Alibi, Herr Schramm“, sagte Kommissarin Pia Jäger. „Sie haben Janine Wunderlich zur Straßenbahnhaltestelle gebracht. So weit okay. Danach sieht es flau für Sie aus.“

„Wieso? Ich bin nach Hause. Schlafen.“

„Leider allein“, meinte Pia Jäger lächelnd, „kein Zeuge beziehungsweise keine Zeugin. Doch lassen wir das für einen Moment beiseite. Herr Schramm, ist Ihnen zu Hans Sonntag noch etwas eingefallen?“

„Habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß.“

„Manchmal erinnert man sich erst später richtig. Könnte ja sein, Sie haben in der Kneipe doch irgendetwas bemerkt, das uns weiterhelfen könnte.“

Wieso hackte sie auf diesem Punkt herum, die Kripotante, fragte Raphael sich verunsichert. Konnte sie wissen, dass er im Toilettenvorraum ein Handygespräch der hinkenden Alten unfreiwillig mitanhören musste, in dem das Zauberwort ‚Geld‘ eine große Rolle gespielt hatte? Dreißigtausend Euro hatte der Sonntag ihr geschenkt. Das musste man sich mal vorstellen! Dreißigtausend!

Raphael schwante, dass er unter Tatverdacht stehen könnte, wenn er seine Beobachtung preisgab. Tatmotiv: Geldgier! Deshalb wiegelte er ab: „Ich kann nur wiederholen, dass ich Ihnen alles gesagt habe.“

„Haben Sie gesehen, dass Hans Sonntag dieser hinkenden Frau, wollen wir sie mal so nennen, dass er ihr einen Briefumschlag gegeben hat?“

„Nein. Hatte Besseres zu tun, als ständig den Alten anzustarren.“

„Sie haben ausgesagt, nachdem diese Hinkende gegangen war, kam eine jüngere Frau zu Hans Sonntag. Schildern Sie bitte noch einmal, wie dieses Treffen ablief.“

Raphael atmete innerlich auf. Er war runter vom Glatteis. „Das war ungefähr eine halbe Stunde später. Die Jüngere hat den Sonntag umarmt und er sie. Sie tranken ein Bier zusammen. Dann ist sie weg.“

„Sie sind ein guter Beobachter“, lobte Pia Jäger ihn. „Was passierte weiter?“

„Nichts weiter. Habe bezahlt und bin Janine nach.“

„Erhielt diese jüngere Frau eventuell einen Umschlag von Hans Sonntag?“

„Keine Ahnung.“

Mehr war Raphael Schramm nicht zu entlocken. Er kratzte sich häufig am Kinn, und seine Stimme klang unecht. Deshalb war die Kommissarin überzeugt, dass er etwas verheimlichte.

Am Dienstagmittag im Polizeipräsidium

Janine bestätigte Raphaels Aussage. Nach der Hinkenden hätte eine andere Frau bei Hans Sonntag gesessen, eine junge, dickliche.

„Warum haben Sie das bei der ersten Befragung verschwiegen?“, forschte Pia Jäger nach.

„Woher soll ich wissen, was für Sie wichtig ist?“

„Frau Wunderlich, spielen Sie nicht die Unbedarfte. Sie haben durchaus mitgekriegt, dass Hans Sonntag noch Kontakt mit einer jüngeren Frau hatte. Schließlich haben Sie ihn den ganzen Abend über beobachtet. Dafür gibt es Zeugen. Sie machen sich verdächtig, wenn Sie Fakten unterschlagen. Warum waren Sie in dieser Kneipe, weit weg von Ihrer Wohnung? Und binden Sie mir nicht wieder den Bären auf, Sie wollten dort zur Toilette gehen.“