Ein höflicher Mörder - Christiane Baumann - E-Book

Ein höflicher Mörder E-Book

Christiane Baumann

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Beschreibung

Ich bin Kriminalkommissarin Corinne Fee, 33 Jahre alt und Single. Nach einem persönlichen Schicksalsschlag führte mich mein Weg 2012 von Neuruppin nach Berlin. Dort suchte die Kripo fieberhaft nach einem entführten Baby. Das Kind blieb nicht das einzige Entführungsopfer. Auf einem Autobahnparkplatz nördlich von Berlin wurde die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Sie war nackt in ein blaues Laken gehüllt. Wie befürchtet, wurden weitere Vermisste tot aufgefunden. Aber eigentlich war ich an einem Fall dran, der seit zwanzig Jahren ungelöst war: der Mord an Daniela Hahn, einer fünfzehnjährigen Schülerin. Privat tat sich auch einiges. Bevor ich zum ersten Mal das Berliner Polizeipräsidium betrat, konnte ich nicht ahnen, wer mir im Büro gegenüber sitzen würde.

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Impressum

Christiane Baumann

Ein höflicher Mörder

Corinne Fee ermittelt

ISBN 978-3-96521-546-7 (E-Book)

ISBN 978-3-96521-545-0 (Buch)

Foto und Gestaltung Titelseite: Susanne Schiebler

Foto der Autorin: Olaf Scherer

Lektorat: Dr. Volkhard Peter

Ich danke Ira und Jan fürs Probelesen und ihre hilfreichen Hinweise.

Alle handelnden Personen und ihre Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Manche Örtlichkeiten und Gegebenheiten sind im Buch anders als in der Wirklichkeit.

Jemand sagte über mich: ich würde jung sterben. Wir haben 2012, und ich bin 33.

Jemand sagte zu mir: ich würde was Besonderes werden. Ich bin Polizistin geworden.

Jemand sagte, ich würde eine große Familie haben. Vor sieben Monaten habe ich mein ungeborenes Kind verloren.

22. November, Sonntag

Kneipe am Helmholtzplatz, Prenzlauer Berg, gegen 22. 30 Uhr

Vielleicht war es auch etwas später, als ich am Tresen meine zwei Bier zahlte und ein großer hagerer Mann in schwarzer Jeans und abgeschabter dunkelbrauner Lederjacke plötzlich neben mir stand. Er bestellte ein Pils für sich und, ohne zu fragen, eins für mich.

Damit fing es an, mein Leben in Berlin.

Normalerweise meide ich Kneipenbekanntschaften, aber dieser Kerl zog mich irgendwie an. Er wirkte leidend, wie nach schwerer Krankheit. Die schwarzen Haare waren grau durchsetzt, er trug sie aus der Stirn gestrichen und lang bis in den Nacken. Der Mund hing schief im unrasierten Gesicht. Der kleine Finger seiner linken Hand stand ungewöhnlich weit ab. Im Nachhinein würde ich behaupten, allein wegen dieses komischen Fingers sein Bier getrunken zu haben.

Seine Augen waren braun, und in ihnen hockte eine tiefe Trauer. Grund genug, das Weite zu suchen. Doch ich blieb. Möglich, dass mich der krumme Finger da schon verhext hatte.

Ich schätzte den Typen auf Mitte vierzig. Ich finde ältere Männer ganz gut, allerdings müssen sie Energie ausstrahlen, damit man sich was Spannendes vorstellen kann. Bei ihm war es fifty-fifty. Ab und zu schaute er zwar zu mir, aber über seine Lippen kam kein Wort. So beschlich mich das Gefühl, dass ihm meine Gesellschaft eigentlich egal sei. Deshalb leerte ich das Glas zügig, nickte ihm zu und machte mich auf die Socken. Er legte einen Schein auf den Tresen und folgte mir.

Ich heiße Corinne Fee und bin in Neuruppin zu Hause. Ich mag die Stadt, meinen Job bei der Kripo dort und die meisten meiner Kollegen. Mein Leben war in Ordnung, bis zu dem Tag vor sieben Monaten, als ich mein Baby verlor. Es fällt mir bis heute schwer, darüber zu reden. Nach dem ersten Schock, nach Auszeit und Kur sah ich mich Tag für Tag den mitleidigen Blicken der Kolleginnen und Kollegen ausgesetzt. Eine Gelegenheit, dem aus dem Wege zu gehen, bot sich mir bei einer Weiterbildung Ende September, wo ich Arno Hofmann kennenlernte, einen leitenden Ermittler aus Berlin. Ich fragte ihn eines Abends in einer gemütlichen Runde einfach, ob ich eine begrenzte Zeit bei ihm arbeiten könnte. Er wollte es sich überlegen. Vor einer Woche kam sein Okay, und mein Chef in Neuruppin war einverstanden.

Ich war fest entschlossen, allem, was ich in Berlin erleben, jedem, dem ich begegnen würde, eine positive Seite abzugewinnen. Auch der Hinterhofbude meiner Kusine und Freundin Fanny im Prenzlauer Berg, die sie mir überließ, denn sie hatte gerade für ein Jahr Arbeit in einem Verlag bei Baden-Baden ergattert. Die Wohnung bestand aus einem größeren Zimmer, zugleich Wohn- und Schlafraum, plus kleiner Küche und Bad. Kein Vergleich mit meinem modernen geräumigen Zuhause in Neuruppin mit Blick auf den See. Trotzdem war ich mit dieser Lösung sehr zufrieden, zumal ich Fanny nur die Nebenkosten zahlen musste.

Der Unbekannte hielt sich konsequent zwei, drei Schritte hinter mir. Spielte er Bodyguard, oder hatte er Böses im Sinn? Mein Gefühl sprach für Aufpasser. So oder so, ich machte mir weiter keine Sorgen, denn ich würde mich auch gegen einen Kerl verteidigen können, der mich um fast einen Kopf überragte. Ab und zu liefen Leute an uns vorbei; im Notfall Helfer oder zumindest Zeugen.

Ein bisschen vorsichtig war ich dann doch, lauschte nach hinten, ob der Abstand etwa gleich blieb. Als wir uns meiner Hausnummer näherten, stellte ich mich dem Verfolger in den Weg. Er hatte seine Hände in den Jackentaschen und trat direkt auf mich zu.

„Was soll das?“, fragte ich.

Er atmete hörbar aus. „Du solltest nachts nicht allein unterwegs sein. Das ist alles. Hattest du Angst meinetwegen? Entschuldige.“ Seine Stimme war tief und irgendwie kratzig, wie ungeölt.

„Ich kann selbst auf mich aufpassen.“

„Hat sich schon manche überschätzt.“ Er verzog seinen Mund, der sich dadurch wieder eigenartig schief stellte und mir außerordentlich gefiel; er war breit und die Lippen mehr als nur ein Strich.

„Ich bin Edgar. Kann ich eventuell mit zu dir?“

„Wozu? Um mich weiter zu beschützen?“

„Vielleicht, vielleicht aber auch keine gute Idee. Ich geh mal lieber.“ Der Ankündigung folgten allerdings keine Taten. Er stand vor mir, wie zur Begutachtung freigegeben. Das machte er sicher nicht zum ersten Mal.

Nimm die Situation positiv, Corinne. Diesem Vorsatz wollte ich wenigstens am ersten Abend in Berlin folgen. Also sah ich diesem Edgar fest in die traurigen Augen, drehte mich wortlos um und schloss die Haustür auf. Seine Schritte hallten hinter mir durchs Treppenhaus und die Stufen hoch. Die Wohnungstür ließ ich gleich für ihn offen. Ich hatte zwar nicht die leiseste Ahnung, wen ich mir auf den Hals lud. Doch wozu war man Polizistin? Ich fühlte mich für alles gerüstet.

Raumerstraße, Prenzlauer Berg, kurz vor Mitternacht

Es passierte, was ich mir seit Wochen wünschte: Ich hatte Sex. Den ersten Sex nach meiner Fehlgeburt. Und glücklicherweise keine hastige schnelle Nummer. Doch bis es soweit war, dauerte es. Der Mann, der sich Edgar nannte, zog die abgewetzte Lederjacke aus und fläzte sich in den Ohrensessel, den Fanny von ihrer Oma geerbt hatte. Ich sorgte für mattes Licht, spendierte meinen irischen Whiskey und hockte mich auf die Kante des Doppelbettes, das ich am Morgen frisch bezogen hatte. Ich hätte mich an den Tisch setzen können, aber das war mir zu förmlich und unbequem.

Fanny hatte ihren persönlichen Kram weitgehend weggeräumt. Meine Klamotten und Wäsche fanden Platz im Schrank. Deshalb war es recht ordentlich. Edgar muss gedacht haben, dass ich eine penible Frau bin – wenn er zu diesem Zeitpunkt überhaupt an sowas gedacht hat. Endlich fragte er nach meinem Namen.

Ich nannte den meiner Freundin: „Fanny.“ Der stand schließlich draußen neben der Klingel Fanny Kaiser. Ich war noch unschlüssig, ob ich meinen dazusetzen sollte.

„Bist du oft in dieser Kneipe?“

„Nein. Du?“

Edgar gab einen unklaren Laut von sich, der das Eine oder Andere bedeuten konnte, zuletzt eher einem Seufzen oder Stöhnen ähnelte. Ich wartete, ob doch noch eine verständliche Antwort folgte; aber nein. „Was bist du von Beruf?“, hielt ich den Gesprächsfaden am Leben.

„Lehrer.“

Hielt der mich für blöd? „Welche Fächer?“

„Mathe.“

„Und sonst?“

„Ich bin Experte in Mathe.“

„Acht mal sieben?“

„Sechsundfünfzig.“ Das kam prompt.

„Du kannst also rechnen. Was fängst du damit an, außer Schüler zu nerven?“

„Zu nerven ist meine Hauptbeschäftigung. Und womit verdienst du deine Schrippen?“

„Rate.“

Nach einigen Sekunden sagte er: „Krankenschwester.“

Ich grinste vor mich hin. „Falsch. Zweiter Versuch.“

„Was kriege ich, wenn ich richtig liege?“

„Einen Drink.“

„Hm. Ich habe es mit einer Whiskeytrinkerin zu tun. Warte. Du bist irgendwie sozial tätig …“

„Oh la la, es wird heiß“, fiel ich ihm ins Wort.

„Fanny, du bist wirklich … war nett mit dir.“ Er stellte sein leeres Glas auf den Boden und wand sich aus dem Sessel. „Wird Zeit für mich.“

Inzwischen war ich ziemlich betrunken und hatte Lust auf diesen Mann, der nicht schön, aber interessant war und das gewisse Etwas hatte. Das letzte Mal war einfach zu lange her, und ich wollte wieder einen Anfang finden zu einem Leben mit Sex. Alles, was mich zu einer Frau macht, schrie geradezu danach. Aber ich habe noch eine Devise und die lautet: Wenn ein Typ gehen will, soll er.

Ich schwankte beim Aufstehen. Edgar hielt sich während der wenigen Schritte zur Wohnungstür dicht hinter mir, bereit, mich jederzeit aufzufangen. Als ich die Türklinke fasste, drehte ich mich zu ihm um und sagte zu meiner eigenen Verwunderung: „Bitte sehr.“ Was, zum Kuckuck, meinte ich damit?

Edgar beugte sich zu mir runter, sein unrasiertes Gesicht nah an meinem, ich konnte ihn riechen, herb und gut, und fasste ihn irgendwo an. „Du bist mir zu dünn.“

Edgar war es egal, ob ich ihn zu dünn fand. Er drückte mich gegen die Wand und presste seine Lippen auf meine. Rückzug war längst unmöglich. Wenn einer von uns noch Bedenken hatte, lösten sie sich blitzartig auf. Wir fielen übereinander her, und meine sexlose Zeit war vorüber.

Ungefähr zur selben Zeit irgendwo in oder um Berlin

Schon wieder diese Leier: Die Neue behauptet in einem fort, ein Baby entführt zu haben. Es sei in einer Kammer in ihrer Wohnung und sie allein wisse, dass es da drin sei. Und deshalb könne nur sie dem Kind die Windeln wechseln und zu essen und zu trinken geben. Sie müsse es dringend füttern, sonst würde es qualvoll verhungern und verdursten. Wenn ich sie weiter gefangen hielte, solle ich wenigstens die Polizei informieren. Wenn ich deswegen Angst hätte, solle ich anonym anrufen, dann würde mir nichts geschehen.

Dieser Babyklau – hab irgendwo drüber gelesen. Ausgerechnet die gesuchte Entführerin sollte ich mir geschnappt haben? Das wäre ja ein Riesen-Scheiß. Nee, nee. Ich glaube ihr kein Wort. Aber diese irre Geschichte zu nutzen, um frei zu kommen, ist ein toller Einfall. Alle Achtung. Fantasie hat sie. Mal sehen, ob sie auch talentiert ist und kann, worauf es mir ankommt. Was mich allerdings echt überraschen würde. Das wäre wie Weihnachten und Ostern zusammen.

Sie habe das Kind geklaut, weil sie plötzlich ein übermächtiger Wunsch nach einem Baby überfiel. Dieser Wunsch hätte sie beherrscht, und sie hätte gehandelt wie ferngesteuert, wie in Trance. Nun würde ihr alles so leid tun, und sie würde es ja so gerne rückgängig machen. Jetzt läge das Schicksal des Babys in meiner Verantwortung … ob ich kein Herz hätte … bla, bla, bla. Sie ist raffiniert, will mir eine Schuld einreden. Da hört der Spaß auf, meine Schöne. Muss ich dir leider den Mund zukleben. Du quatschst mir zu viel. Das ist eine meiner Regeln: nur reden, wenn ich dich was frage. Will ich was von einem geklauten Baby wissen? Na, also.

Wird sowieso Zeit für mich. Ich muss los. Wir sehen uns morgen Abend. Ich freue mich drauf. Zu wissen, dass du hier auf mich wartest, erleichtert mir, den Tag zu ertragen.

Hab keine Angst, wenn du allein bist. Ich lasse alle Jalousien runter und schließe die Türen sorgfältig ab. Hierher verirrt sich kein Mensch. Da kannst du sicher sein.

23. November, Montag

LKA 11, 8:00 Uhr

Auf dem Schild neben der Bürotür stand KHK Kunze. Bevor ich anklopfte, prüfte ich mein Aussehen mit Hilfe eines Taschenspiegels und fand mich halbwegs okay. Die Spuren der langen Nacht hatte ich einigermaßen mit Make-up bekämpfen können. Gewöhnlich verzichte ich wegen des Berufs darauf, mich zu schminken. Pur wirke ich ein wenig naiv und um Jahre jünger als ich bin. Das ist manchmal ein Vorteil, weil es Leute dazu verleitet, mich zu unterschätzen. Meine Haare brauchen kein Extra-Styling, sie sind blond und gerade sportlich kurz. Ich bin noch unentschieden, ob ich sie mir wieder wachsen lasse. So lang, dass ich mir einen Pferdeschwanz binden kann wie früher.

Ich wartete, hereingerufen zu werden. Weil es still blieb, drückte ich die Klinke hinunter und öffnete die Tür einen Spalt. Zuerst sah ich einen leeren Schreibtisch. Ich schob die Tür weiter auf, und dann erlebte ich einen dieser Augenblicke, von denen man in der Rückschau meint, sie nie zu vergessen: an einem zweiten Schreibtisch saß niemand anderes als Edgar, mit dem ich im Bett gelegen hatte! Ich war total baff und sprachlos.

Edgar starrte mich ungläubig an, als wäre ich ein Geist. Wenn es weiterer Beweise bedurft hätte, dass er wirklich der Liebhaber der letzten Nacht war, waren sie leicht zu entdecken: der extrem abstehende kleine Finger, der schief stehende Mund und die am Kleiderständer hängende abgewetzte Lederjacke.

Edgar fasste sich zuerst. „Fanny? Du? Wie kommst du hier rein?“

Ich fand meine Spucke wieder. „Durch die Tür. Und du? Ist heute schulfrei, und du hilfst bei der Kripo aus?“

Er verzog keine Miene, stand auf und rückte mir auf die Pelle, als müsse er sich vergewissern, dass ich keine Fata Morgana war. Mich erfassten widerstreitende Gefühle: Freude und Ärger. Freude über dieses unerwartete Wiedersehen und ein Nachklang der tiefen Lust, die ich durch ihn empfunden hatte. Auf der anderen Seite Verärgerung über seine barsche Art und die gestrige Lügerei. Von wegen Mathelehrer! Und hieß er überhaupt Edgar?

Der vermeintliche KHK Kunze stand immer noch auf der Leitung. „Schnüffelst du mir etwa nach? Was soll das?!“

„Spinnst du! Ich und dir nachlaufen? Träum weiter! Ich bin Corinne Fee und will meinen Dienst antreten. Ist mit Chef Hofmann abgesprochen. Und du? Bist du KHK Kunze?“

Edgar öffnete und schloss wortlos seinen Mund, drehte sich um und verließ fluchtartig das Zimmer.

Puh, das war mal eine Begrüßung. Alles hätte ich mir vorstellen können, aber niemals, dass wir Kollegen sein könnten, die zudem auch noch ein Büro teilen sollten. Ratlos, wie ich mit der Situation umgehen sollte, setzte ich mich erst mal an den Schreibtisch mit der leeren Arbeitsplatte; der war ja wohl meiner. Der berufliche Edgar war ein ganz anderer als der, mit dem ich geschlafen hatte. Ich hätte mir keinen besseren Lover wünschen können: Edgar war zärtlich und leidenschaftlich, und ich war total hin und weg von dem Sex mit ihm. Und ich war sicher, dass er ähnlich empfunden hatte. Wieso nun dieser unfreundliche Empfang?

Edgar war zurück, nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, verschränkte seine Arme vor der Brust und sah mich ausdruckslos an.

„Also Corinne Fee, ja? Wieso warst du in einer Wohnung, die auf Fanny Kaiser läuft?“

„Fanny ist meine Kusine und hält sich zurzeit beruflich in Baden-Württemberg auf. Hat alles seine Ordnung.“

„Hm. Willst du trotz der vergangenen Nacht bleiben?“

„Will ich.“

„Du könntest eventuell in ein anderes Büro.“

„Wieso? Ich finde es hier ganz gemütlich.“ War arg übertrieben. Das Zimmer war eine Zumutung: kahle graue Wände, eine Leuchtröhre an der Decke, zwei sich gegenüberstehende Schreibtische der älteren Generation, ein Kleiderständer, ein niedriger Aktenschrank. Alles in allem: Ich war in einer Abstellkammer. Wenigstens hatte sie Fenster.

„Soviel ich weiß, sind es drei Monate?“, vergewisserte sich Edgar.

„Genau, drei Monate. Hast du ein Problem damit?“

Sein Mund stellte sich noch schiefer als im Normalzustand. Jetzt hatte er was Überhebliches an sich. Ist eine meiner Schwächen, dass ich auch auf Kerle stehe, die eine gewisse Arroganz ausstrahlen.

Edgar schwieg und fixierte mich. Ein stilles Kräftemessen Auge in Auge. Paradoxerweise fiel es mir leicht, seinem Blick stand zu halten.

Nach einem Weilchen seufzte er auf diese unnachahmliche Art, die ebenso ein leises Stöhnen sein konnte, und gab auf. „Fanny … äh Corinne. Reden wir mal Klartext. Die Situation ist etwas ungewöhnlich. Wenn ich gewusst hätte, dass wir Kollegen sind, wäre ich nie mit zu dir. Und du hättest das möglicherweise auch nie gewollt. Wie dem auch sei. Nun ist es passiert und nicht mehr zu ändern. Ist ja wohl klar, dass die Sache unter uns bleibt.“

„Logisch.“

Er knetete den abstehenden Finger. „Bist du in Arnos SOKO ‚Baby‘?“

„Ja. Und du?“

„Ich nicht.“

Gott sei Dank, dachte ich spontan. Wir konnten uns aus dem Weg gehen, falls es mit uns unerträglich werden sollte. Mein Telefon klingelte: Lagebesprechung.

Im Konferenzraum hatte sich eine ansehnliche Truppe versammelt; ich ergatterte einen der letzten freien Stühle in der hintersten Reihe. Vorn stand Arno Hofmann und hob eine Hand als Zeichen, dass er anfangen wollte. Wie ich es von der Weiterbildung her kannte, trug er Anzug und Krawatte. Arno ist ausgesprochen athletisch gebaut, und für einen Mann Ende vierzig hat er eine super Haut. Deshalb sieht man ihm sein Alter kaum an. Sein Haar ist immer noch schwarz. Ich schätze mal, viele Frauen würden auf ihn fliegen.

Damals mochten wir uns auf den ersten Blick. Und vielleicht war das der Grund, warum zwischen uns nichts lief. Oder diese Schnepfe von Kollegin war dran schuld, die mich keine fünf Minuten mit Arno allein ließ. Als hätte sie von seiner Ehefrau den Auftrag, ihn vor der weiblichen Konkurrenz abzuschirmen. Ich hätte Arno schon gern geküsst, damals.

Heute dachte ich an die Küsse von Edgar. Sie hatten mich überwältigt, die ganze Nacht war schön für mich gewesen, wie eine Erlösung. Hört sich etwas übertrieben an, war aber so. Am Morgen, als ich allein im Bett aufwachte, hätte ich was für eine Wiederholung gegeben. Inzwischen hatte ich meine Zweifel. Konnte Edgar ernsthaft annehmen, ich hätte ihm nachspioniert? Konnte man derart eingebildet sein? Und wenn ich so verrückt gewesen wäre, wie hätte ich das anstellen sollen? Schließlich war er fortgegangen, während ich noch schlief. Wie hätte ich in Berlin einen Edgar finden sollen ohne Nachnamen oder Telefonnummer? Allein anhand seines krummen Fingers?

Ich war überrascht, meinen Namen zu hören. Arno stellte mich vor: wer ich war, woher ich kam, Dienstgrad Oberkommissarin. „Corinne Fee wird die SOKO unterstützen.“

Einige Kollegen musterten mich kurz ohne besonderes Interesse. Ich setzte mich wieder, und ohne weitere Umschweife skizzierte Arno den Stand.

Lena, drei Monate alt, war am Donnerstag, dem 19. November 2012, gegen 18 Uhr im Shopping-Center am Potsdamer Platz aus dem Kinderwagen verschwunden. Ihre Mutter war – nach eigenen Angaben – lediglich zwei Minuten in einem Schuhgeschäft gewesen. Sie wollte fix nachfragen, ob es ihre Wunschschuhe aus dem Schaufenster auch in ihrer Größe gäbe. Eine Lösegeldforderung war bisher ausgeblieben, und Arno rechnete nicht mehr damit. Die Presse beschäftigte sich intensiv mit der Entführung, und im Internet wurde ebenso nach dem Baby gesucht. Zum Glück war es gesund und benötigte keine besondere medizinische Betreuung.

Die Ermittlungen der SOKO steckten in einer Sackgasse; es fehlte eine heiße Spur. „Wir gehen weiterhin davon aus, dass wir es mit einer Täterin zu tun haben. Entweder eine Frau im gebärfähigen Alter, die keine Kinder kriegen kann oder zeitnah eins verloren hat, oder eine geistesgestörte Frau beliebigen Alters“, sagte Arno Hofmann. Bei Berliner Frauen, die in den letzten Wochen und Monaten ein Baby verloren hatten, begannen Überprüfungen. Mit aller nötigen Umsicht und Sensibilität. Eventuell sollte das Raster auf Brandenburg ausgeweitet werden.

Arno wählte seine Worte angemessen. Ich nahm sie ihm trotzdem übel. Er sprach über eine Frau, die ihr Kind verloren hatte. Über eine wie mich! Ich senkte meinen Blick, weil ich befürchtete, man würde mir meine Betroffenheit anmerken. War natürlich Unsinn; keiner in der Runde achtete auf mich.

Die Skepsis der Freunde und Kollegen in Neuruppin kam mir in den Sinn. Die meisten hatten meine Berlin-Idee eher abgelehnt. Es war aber ihr Mitleid, das mich wegtrieb. Alle wussten über mich Bescheid, und ich hasse es, wenn alle über mich Bescheid wissen. In Berlin kennen nur Arno, Fanny und ihre Eltern, also Tante und Onkel von mir, mein privates Unglück.

„Corinne Fee zu mir!“, schallte Arnos Stimme durch den Sitzungsraum, der sich zügig leerte. Die Kollegen strebten zum Ausgang, ich gegen den Strom nach vorn. Ein junger Mann mit störrischem rötlich-blondem Haar fiel mir auf. Ich ihm wohl auch, denn er taxierte mich neugierig.

Arno begrüßte mich freundlich und hielt meine Hand länger fest als nötig. „Schön, dass du da bist, Corinne. Bist du gut untergekommen?“

„Ja, danke, in der Wohnung meiner Kusine. Was ist meine Aufgabe?“

„Eine Zeugin ranschaffen, sie heißt Franziska Rausch. Zweiundzwanzig, Single, kinderlos. Ich schicke dir ein Foto aufs Handy.“ Die Frau wirkte sehr weiblich, hatte langes braunes Haar, grüne Augen und einen makellosen Teint.

Meinen ersten Auftrag hatte ich mir aufregender vorgestellt. „Warum übernimmt das keine Streife?“

„Hat sie, ergebnislos. Das Handy von Frau Rausch ist aus, und sie ist weder auf Arbeit noch zu Hause. Die Zeugin war im Shopping-Center zur fraglichen Zeit. Wir vernehmen alle Zeugen erneut, beginnen von vorn. Treibe die Rausch schleunigst auf.“

„Wer aus ihrem Umfeld hatte zuletzt Kontakt mit ihr?“

„Das sollst du herausfinden.“

„Hat sie ein Auto?“

„Nein.“

„Okay. Und wenn ich Unterstützung brauche?“

„Kriegst du sie.“

„Vom Kollegen Kunze? Der sitzt in meinem Büro.“

Arno korrigierte mich umgehend: „Das ist sein Büro, Corinne. Edgar Kunze hat eine andere Aufgabe und ist, ja er ist …“, er suchte nach einem passenden Wort, „angespannt, ja. Wird vorübergehen.“

„Was meinst du damit?“

Jemand rief nach Arno. Schon im Gehen, warnte mich mein Chef: „Lass den Kunze in Ruhe!“

Wie gestern war Edgar schwarz angezogen, wodurch er besonders düster wirkte. Er versuchte demonstrativ, mich zu ignorieren, wühlte in seinen Papieren, wobei ab und zu ein Blatt oder eine Akte auf dem Boden landete. Er donnerte das Teil dann wütend auf den Schreibtisch zurück. Trotz seiner zur Schau gestellten schlechten Laune war ich mir irgendwie sicher: wenn wir vergaßen, dass wir Kollegen waren und jetzt von hier weggehen könnten, wir würden uns ins Bett legen, und es würde werden wie letzte Nacht. Unnütze Träumerei, Arbeit war angesagt.

Zunächst organisierte ich das Passwort für den Computer, einen Ausweis sowie Waffe. Dann telefonierte ich Franziskas Kontakte durch, sofern sie mir bekannt waren. Franziska Rausch arbeitete in einem Orthopädie-Geschäft, und ihre Chefin berichtete, dass Franziska sich am Freitag krank gemeldet hätte; heute, am Montag, fehle sie unentschuldigt. Ein ungewöhnliches Verhalten für Franziska. Auch die Eltern der Gesuchten konnten mir am Telefon keinen Hinweis geben, wo sich ihre Tochter aktuell aufhalten könnte. Sie hatten seit zwei Wochen nicht mehr miteinander gesprochen. Ich fragte sie nach Franziskas Freundinnen und erhielt einige Namen, auch den von ihrem letzten Freund.

Zwischendurch probierte ich ein paarmal, Franziska am Handy zu erreichen, zwecklos, ihr Telefon blieb ausgeschaltet.

Außerdem fragte ich in Krankenhäusern nach, ob eine weibliche Person eingeliefert worden war, auf die Alter und Beschreibung der Gesuchten zutraf. Konnte sein, sie hatte nach einem Unfall vergessen, wer sie war. Ich beendete das Herumtelefonieren und schaute dem Regen zu, der gegen die Fensterscheiben prasselte. Draußen war es dunkel, als wäre es bereits Abend. Hoffentlich war das miese Wetter kein böses Omen, und es passierte, wovor ich mich am meisten fürchtete bei dieser Ermittlung: Das Baby wurde gefunden und war tot! Schon beim bloßen Gedanken daran wurde mir flau im Magen.

Da half nur Konzentration auf die nächsten Schritte: Heute in der Frühe hatten die Streifenkollegen Franziska Rausch nicht in ihrer Wohnung angetroffen. Vielleicht war sie inzwischen zurückgekehrt. Das wollte ich überprüfen. Ein kleines Problem ließ mich zögern: mein mächtiger Respekt vor dem Autofahren in einer Großstadt wie Berlin. Öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, war für mich zu umständlich. Und Arno gleich am ersten Tag mit einer Taxi-Quittung zu kommen, war keine Option.

Edgar war bestimmt ein routinierter Autofahrer und kannte sich im Berliner Chaos gut aus. Zwar wollte Arno, dass ich ihn in Ruhe ließ, doch warum eigentlich? „Bist du im Stress?“

„Du sagst es“, knurrte er mit gesenktem Kopf.

„Interessanter Fall?“

„Zeugin bleibt verschwunden?“

Notgedrungen hatte er meine Telefonate mit angehört und sie netterweise unkommentiert gelassen.

„Die Rausch ist unauffindbar. Schon beunruhigend.“

„Bei ‚plötzlich unauffindbar‘ ist man öfter mal tot. Im Ernst. Ich würde mal direkt zur Wohnung der Zeugin hin.“

Schlaumeier. „Die ist in der Wigandstaler Straße. Welcher Stadtbezirk ist das?“

„Es gibt Navis.“

Sinnlos, weiter um den heißen Brei herumzureden. Ich ging die Sache direkt an: „Kannst du mich begleiten?“

Edgar lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme, und sein schiefer Mund grinste mich an. „Begleiten? Soll ich wieder raten? Ich soll Chauffeur für dich spielen, richtig?“

Ich stellte mich neben seinen Schreibtisch und lächelte ihn an. Er musterte mich von oben nach unten oder umgekehrt und hatte sich entschieden.

Wigandstaler Straße, Pankow, 11:10 Uhr

Im strömenden Regen rannten wir vom Auto zu einem Viergeschosser aus späten DDR-Zeiten. Bereits die wenigen Meter reichten, dass wir ordentlich durchnässt waren. Wir klingelten wahllos, bis jemand öffnete, und mussten vier Treppen steigen, weil für diesen Bautyp kein Fahrstuhl vorgesehen war. Oben angekommen, war Edgar Kunze etwas außer Puste. Er schüttelte den Regen aus seinem Haar, lehnte sich an eine Wand und tat gelangweilt. Ich fühlte mich von ihm beobachtet und wünschte, er wäre im Auto geblieben.

Auf der Etage gab es rechts und links je eine Wohnung. In der von Franziska Rausch rührte sich trotz mehrmaligem Klingeln nichts; aus der gegenüberliegenden Wohnung drang Babygeschrei. Seit meiner Fehlgeburt vermeide ich möglichst, mit Kleinkindern konfrontiert zu werden. Klar, meine private Befindlichkeit hat im Job nichts verloren. Und vor Edgar wollte ich keine Schwäche zeigen. So drückte ich ohne Zögern die Klingel unter dem Schildchen ‚Hinrichs‘. Eine zierliche dunkelhaarige Frau öffnete; sie war sichtlich abgespannt und müde. Sie musterte uns eingehend, und ihr Blick ging zu unseren regentriefenden Schuhen.

Ich stellte uns vor, sie bat darum, dass wir die Schuhe gründlich abstreiften, dann wurden wir hereingelassen. Vom Flur fiel man fast ins Wohnzimmer, und dort krabbelte der kleine Krawallmacher auf dem Bodenbelag herum.

Ich hielt Abstand zur Mutter, die das Kind auf den Arm nahm, um es mit Schaukeln zu beruhigen. „Er weint so oft.“ Sie brachte den Jungen ins Nebenzimmer. Ohne Mutter an seiner Seite schrie er umso lauter.

Unter diesen Umständen kam ich gleich zum Punkt: ob sie wisse, wo ihre Nachbarin Frau Rausch wäre. Frau Hinrichs hatte keine Ahnung.

„Aber Sie reden schon mal miteinander?“

„Ja.“

„Hat Frau Rausch sich mit Ihnen über die Baby-Entführung vom Potsdamer Platz unterhalten?“

„Nein.“

„Auch nicht darüber, dass sie eine Zeugin in diesem Fall ist?“

„Kein Wort. Hoffentlich ist Franzi nichts zugestoßen.“

„Was soll ihr denn passiert sein?“ Auf einmal machte Edgar den Mund auf; die Fahrt über hatte er geschwiegen.

Frau Hinrichs schaute uns besorgt an. „Na, wenn die Polizei sie sucht …“

Und dann stellte ich plötzlich eine Frage, die ich am liebsten umgehend wieder zurückgeholt hätte: „Hatte Franziska eine Fehlgeburt in letzter Zeit?“ Was redete ich für einen Mist! Ein prüfender Blick zu Edgar, der zuckte jedoch mit keiner Wimper. Fand es offenbar normal, dass Corinne Fee sich aus heiterem Himmel nach einer Fehlgeburt bei der Zeugin erkundigte.

Dafür spiegelte sich Erstaunen auf Frau Hinrichs Gesicht. „Franziska war schwanger?“

„Möglich wär‘s. Sie war doch mit Jens Meiser zusammen, richtig?“

„Das ist längst vorbei.“ Frau Hinrichs wurde ungeduldig. „Ich muss zu meinem Kind.“

„Tauschen Sie sich mit Frau Rausch über private Dinge aus?“

„Wie Babypläne?“, schob Edgar nach.

„Nein. So eng ist das mit uns nicht“, wehrte sie ab, „ich habe ja Familie, und Franziska ist seit Wochen Single. Ich glaube, sie ist ganz gern für sich.“

Von der Dienststelle erhielt ich auf Nachfrage die Auskunft, dass die Eheleute Hinrichs einen sieben Monate alten Sohn hatten und nicht aktenkundig waren.

„Die Hinrichs sind sauber“, informierte ich Edgar.

Er startete den Motor. „Wohin?“

„Arbeitsstelle des Ex-Freundes Jens Meiser. Web-Designer, Hackescher Markt.“

Wieder schwiegen wir. Edgar wurde mir zunehmend fremd. Der Verliebtheitsschleier, der noch von unserer Nacht um mich schwebte, löste sich endgültig auf. Schade, ich wäre gern länger verliebt gewesen.

„Hältst du die Rausch für die Entführerin?“, versuchte ich, ein Gespräch zu beginnen.

„Habe ich das behauptet?“

„Deine Frage nach Babyplänen zielte in diese Richtung.“

„Und deine nach einer Fehlgeburt. Was war falsch an den Fragen?“

Verflixt, er hatte recht. Franziska konnte ein Kind verloren haben oder keine bekommen. War das überprüft worden? „Laut Chef Hofmann suchen wir eine Zeugin und keine Täterin.“

„Wir? Ist Arnos Fall und dein Ding, die Rausch zu finden. Ich bin hier nur der Fahrer.“

Wir näherten uns dem Stadtzentrum. Es regnete immer noch. Eine nasse Haarsträhne klebte an Edgars Stirn, und er sah dadurch weniger streng aus. Sein Frust über mein Auftauchen in seinem Büro hatte sich scheinbar etwas gelegt. Er fuhr zügig, unbeeindruckt vom wachsenden Verkehr. Diese Kaltschnäuzigkeit bewunderte ich im Stillen. An seiner Stelle wäre ich hinterm Steuer längst in Panik geraten.

Hackesche Höfe, Mitte, 12:30 Uhr

Dauerte eine Weile, bis wir in der Nähe einen Parkplatz ergattern konnten. Wenn ich zu DDR-Zeiten in den Hackeschen Höfen war, reichten allein die Kacheln an den Wänden, um mich zu begeistern. Heute ist viel mehr los: coole Geschäfte in einem coolen Ambiente. Aber die vielen Touristen stören mich.

Edgar ging zielstrebig zum Eingang des Software-Unternehmens. Tür ohne Klinke, Telefonanlage. Jens Meiser, der Ex-Freund der Gesuchten, war ein schmal gebauter junger Mann mit Halbglatze und Brille. Er war mir aus unerfindlichen Gründen vom ersten Blick an unsympathisch. Er führte uns in einen fensterlosen Pausenraum. Ich legte meine nasse Jacke ab und setzte mich ihm gegenüber, während Edgar sein Lederteil anbehielt und hinter meinem Rücken hin und her wanderte.

Jens Meiser hockte auf der vordersten Kante eines Stuhls und suchte einen geeigneten Platz für seine Hände auf den Oberschenkeln.

Ich stellte mich ahnungslos: „Franziska Rausch ist Ihre Freundin?“

Er korrigierte mich umgehend: „Eine Ex-Freundin, bitte.“

„Wo ist sie?“

„Ich habe keinen blassen Schimmer. Wir sind seit Monaten kein Paar mehr.“

Edgars Stimme tönte vom anderen Ende des Raumes herüber. „Warum?“

Ich war leicht verstimmt, die Befragung war mein Job.

Meiser antwortete bereitwillig. „Ich habe mich von Franziska getrennt. Aus vielerlei Gründen. Vor allem, weil Franzi mich zunehmend genervt hat. Sie hatte diese ewigen Stimmungswechsel – himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt. Das ging …“

„… Ihnen auf die Nerven, ja. Warum reden Sie in der Vergangenheitsform von Frau Rausch?“ Edgar stand jetzt direkt hinter meinem Sessel.

„Hey, ich, ich, war ein Versehen“, stotterte Meiser, „sie ist für mich eben definitiv Vergangenheit.“ Er stand halb auf und setzte sich wieder. „Warum suchen Sie Franziska überhaupt?“

Edgar trat buchstäblich aus meinem Schatten und übernahm die Befragung. „Weil wir Fragen an Frau Rausch haben. Wann haben Sie sie das letzte Mal getroffen?“

Meiser begann, seine Hände gegeneinander zu pressen, als würde er zwischen ihnen etwas zerreiben wollen. Seine Augen flatterten unruhig hinter den Brillengläsern. Es kostete ihn offenbar Überwindung, Edgar zu antworten: „Franziska war am Samstagabend kurz bei mir.“

„Aha. Was wollte sie von Ihnen?“

„Reden. Franzi war auch höchstens zwanzig Minuten da, noch vor elf ist sie gegangen. Danach habe ich keinen Ton mehr von ihr gehört.“

„Sie treffen sich am Abend, obwohl Sie nicht mehr zusammen sind?“

„Na ja, Franzi stand einfach vor meiner Tür. Was hätte ich tun sollen? Mich verleugnen? Wir sind befreundet geblieben.“

„Worüber haben Sie geredet?“

Jens Meiser zuckte wortlos mit den Schultern und rieb sich die Hände rot. „Bloß unwichtiges Zeug. Ich sag doch, sie ist auch gleich wieder weg.“

Ich beugte mich näher zu ihm. „War das wirklich alles, Herr Meiser?“

Jens Meiser lächelte mich auf eine Art an, die wahrscheinlich anzüglich wirken sollte. Der Versuch ging daneben. „Na ja, ist sicher belanglos für Sie, aber ich dachte hinterher, Franzi war bei mir, weil sie sich mit mir versöhnen wollte.“

„Ach!“ Ich tat erstaunt. „Haben Sie miteinander geschlafen?“

„Äh, nein, wieso?“ Er fummelte an der Brille rum, als müsse er sie auf der Nase festhalten.

„Nun, wenn sich Frau Rausch wieder mit Ihnen versöhnen wollte. Da hätte sie eventuell …?“

„Nee, nee, war eben nur ein halbherziger Versuch.“

„Haben Sie eine neue Freundin?“

„Nein.“

„Hat Franziska einen neuen Freund?“

„Keine Ahnung. Bitte, gehen Sie. Ich muss an meinen Arbeitsplatz, sonst kriege ich Ärger mit dem Chef.“

Ich reichte Meiser meine Karte. „Wenn Frau Rausch sich bei Ihnen melden sollte, informieren Sie uns bitte umgehend.“

„Ja, und tun Sie das bei mir, wenn Sie Franzi finden“, bat er.

Edgar ließ sich noch einmal vernehmen: „Hat Ihre Ex-Freundin Ihnen gegenüber einen Kinderwunsch geäußert?“

Meiser sprang erschrocken auf. „Ein Kind? Niemals. Ich will keine Kinder. Überhaupt nie. Franzi wusste das.“

Auf dem Weg zum Auto grinste Edgar mich entspannt an, zum ersten und letzten Mal an diesem Tag. „Hübsche Frage, die nach dem Sex mit der Ex. Alle Achtung.“

„Da ist der Kerl richtig ins Schleudern geraten. Vermute mal, irgendetwas ist am Samstag geschehen, was er uns verschwiegen hat.“

„Falls die beiden miteinander geschlafen haben, war die Rausch danach so deprimiert, dass sie getürmt ist.“

Das war hoffentlich keine Anspielung auf unsere Nacht. Edgar war schließlich auch irgendwann abgehauen, als ich eingeschlafen war.

„Ich fand den Meiser ziemlich nervös, Edgar. Weiß aber keinen Grund dafür.“

„Manch einer wird nervös, wenn er nur das Wort Polizei hört.“

„Vielleicht weiß er doch, wo sie ist.“

„Er hat uns erzählt, dass Frau Rausch bei ihm war. Das hätte er nicht tun müssen.“

„Als ich ihn am Telefon befragte, hat er dazu kein Wort gesagt.“

„Deshalb stehen wir ja in echt vor ihm, um seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.“

„Du glaubst ihm also. Aber wenn man jemanden zurück haben will, wie Meiser es von Franziska behauptet, gibt man da nach zwanzig Minuten auf?“

„Kollegin hat Erfahrung.“ Im nächsten Moment wurde Edgar ernst. „Wohin? Zu Franziskas Eltern?“

LKA 11, Arno Hofmanns Büro, gegen 16 Uhr

Die Befragungen führten dazu, dass wir Franziskas Familie und ihre Freunde tief verunsicherten. Franziskas Eltern gaben sofort eine Vermisstenanzeige auf.

Arno saß vor seinem Laptop. Im Gegensatz zu seinem morgendlichen Auftreten wirkte er erschöpft. Auf seinen Wangen sprießten Bartstoppeln, das Jackett hing über dem Stuhl, die Krawatte war gelockert, das Hemd zerknittert. Er sah mich forschend an. „Corinne? Hast du Ergebnisse?“

„Negativ. Die Rausch ist wie vom Erdboden verschluckt.“

Er klatschte enttäuscht mit einer Hand auf die Schreibtischplatte. „Kein einziger Hinweis, wo sie sein könnte? Familie, Freunde, Job?“

„Alles abgeklappert. Ihr Ex Jens Meiser sagte aus, dass Frau Rausch am Samstagabend für ungefähr zwanzig Minuten bis kurz vor elf bei ihm war. Angeblich, um sich mit ihm zu versöhnen. Danach verliert sich ihre Spur. Was alles Mögliche bedeuten kann. Den Meiser habe ich überprüft, kein Eintrag im System. Wir brauchen die Handy-Daten von Franziska.“

„Kriegst du.“

Mit düsterer Miene starrte Arno vor sich hin und vergaß offenbar, dass ich noch anwesend war. „Die Rausch hat sich als Zeugin gemeldet und erschien glaubwürdig“, murmelte er vor sich hin, „sollten wir uns in dieser Frau geirrt haben?“

Oh je, war Franziska für Arno auf einmal mehr als eine bloße Zeugin?

„Dann sollten wir herausfinden, ob Franziska einen Abbruch hatte“, sagte ich.

„Äh? Ja, mach das. Du bleibst dran, Corinne. Und zu niemandem ein Wort über diese … diese Spekulation. Ich brauche erst Indizien. Klar?“

„Aber dass sie verschwunden ist, ist ein Indiz.“

„Und wo ist das Kind? Niemand kann mit dem Baby irgendwo durch die Stadt fahren oder untertauchen. Ganz Berlin sucht nach diesem Kind.“ Er wechselte abrupt das Thema. „Übrigens, Corinne. Ich hatte dich gebeten, Kollegen Kunze in Ruhe zu lassen. Wieso spielt er für dich Taxi?“

Da hatte wohl jemand beim Chef gepetzt. „Er kennt sich einfach besser aus in der Stadt.“

„Erstaunlich, dass du Edgar überreden konntest.“

„Die Fahrerei hat der Kollege fast von sich aus angeboten.“

„Darauf kannst du stolz sein. Zu deiner Information, Edgar Kunze hat einige schlimme Monate hinter sich. Er hat auch ohne dich Probleme genug, also, bringe ihn nicht in zusätzliche Schwierigkeiten. Keine zweite Aktion dieser Art!“

„Heute früh war der Kollege angespannt, jetzt hat er Probleme. Worum geht‘s genau?“

„Du machst deine Arbeit und er seine, verstanden?“

Das Chef-Telefon klingelte, und ich nutzte den Moment, um zu verschwinden.

In Franziskas Wohngegend praktizierten ein Frauenarzt und eine -ärztin. Der Arzt hatte bereits für den Tag geschlossen; die Sprechstundenhilfe bei der zweiten Praxis verweigerte jede Auskunft, ob Frau Rausch bei ihnen Patientin sei. Daraus schloss ich, dass dem so war. Also brauchte ich von Arno eine richterliche Verfügung für die Akteneinsicht, doch er war unerreichbar.

„Pressekonferenz. Die Journalistenmeute will gefüttert werden“, bemerkte Edgar lapidar.

Kurz nach fünf haute er ab. Ich war beinahe erleichtert, als er ging. Ich fand das lange Schweigen schwierig. Wir saßen uns gegenüber und bemühten uns, aneinander vorbei zu sehen. Sein Redekonto für den Tag war wahrscheinlich am Vormittag bei den Befragungen völlig leergeräumt worden. Sein Computer blieb ausgeschaltet; das Telefon stumm. Kein Kollege schaute seinetwegen ins Zimmer, und er suchte keinen Kontakt zu irgendjemandem. Er war isoliert. Was wusste ich sonst noch von ihm? Er war ein angespannterMann mit Problemen, laut Arno. Und ja, er bevorzugte offenbar schwarze Klamotten. Dazu kamen seine Maulfaulheit und gelegentliche Hochnäsigkeit. Und natürlich unsere Nacht – eine erregende Erinnerung für mich. Aber was bedeuteten ein paar intime Stunden? Bei Lichte besehen relativ wenig. Ich nahm mir vor, die Angelegenheit abzuhaken. War auch besser für unser Büroklima.

Ich nutzte Edgars frühen Feierabend für einen neugierigen Blick auf seinen Schreibtisch. Kein Foto von einer Frau oder einem Kind. Dafür ein Durcheinander von Vernehmungsprotokollen in einem Tötungsdelikt an einer fünfzehnjährigen Schülerin vor zwanzig Jahren, sie hieß Daniela Hahn. Und ich entdeckte eine Brille. Setzte Edgar die meinetwegen nicht auf?

Plötzlich ging die Tür auf, und herein schneite der Kollege mit den auffallend rötlich-blonden Haaren aus der Frühsitzung. Ich schätzte ihn jünger als mich. Er war fast genauso groß wie Edgar, hatte aber wesentlich mehr auf den Rippen.

„Michael Schlesinger“, stellte er sich vor, „alle sagen nur Schlesinger zu mir.“

„Corinne Fee.“ Ich fühlte mich beim Herumspionieren ertappt und drückte mich an ihm vorbei zurück auf meine Seite des Büros.

„Edgar schon weg?“, fragte er.

„Vor zehn Minuten.“

„Und? Wie war der erste Tag? Soweit alles okay?“

„Okay wäre es, wenn die Zeugin Rausch endlich auftauchen würde. Gibt es wenigstens was Neues zum Baby?“

Er verneinte und fuhr sich mit einer Hand durchs störrische Haar. Süß, wie verlegen der war. Seine Neugier hatte ihn hergetrieben, und nun war er ratlos, wie weiter. „Kennen Sie Edgar Kunze näher?“

„Wie man’s nimmt.“

„Er ist schon ziemlich angespannt“, wiederholte ich Arnos Worte.

„Kein Wunder.“

„Was ist vorgefallen?“

Schlesinger schwieg.

Ich bohrte weiter. „Wieso arbeitet Kollege Kunze allein, statt in der SOKO zu sein?“

Schlesinger schenkte mir ein unbeholfenes Lächeln. „Fragen Sie ihn selbst. Wenn ich über Edgar quatsche, wäre es vorbei mit der Freundschaft.“

Ich nickte verständnisvoll. „Ein schöner Name … Michael. Was dagegen, wenn wir uns duzen?“

„Nee.“ Er grinste breit. „Corinne ist auch schön. Können ja mal zusammen ein Feierabendbier trinken. Wie wär‘s?“

„Gern. Erst muss ich die Zeugin finden. Und Edgar Kunze will niemand in eurem Team haben?“

„Das ist kompliziert. Ich muss los.“

Schnell verstellte ich ihm den Weg zur Tür. „Entschuldige, wenn ich drauf rumreite. Ich bin mit Edgar Kunze in einem Büro, sozusagen Auge in Auge, den ganzen Tag lang. Ich muss eine Ahnung haben, was mit ihm los ist. Gab’s einen Trauerfall in seiner Familie?“

Michael zeigte sich betroffen. „Das hast du von jemand anderen“, bat er hastig und schloss die Tür hinter sich.

Ein Trauerfall. Ich wollte mich sofort bei Arno beschweren, dass er von ominösen Problemen redete, statt mich konkret über Edgars Situation aufzuklären. Doch dann überlegte ich es mir anders und schluckte den aufkommenden Ärger hinunter. Immerhin wusste ich jetzt, warum Edgar schwarz trug. Er musste den Verlust eines ihm lieben Menschen verkraften. Wollte ihn deshalb niemand in der SOKO haben, aus lauter Rücksichtnahme? Aber mussten sie ihn in dieses kahle Büro abschieben?

Zum x-ten Mal ging ich die gestrige Nacht durch. War Edgar in der Kneipe gewesen, um seinen Schmerz mit Alkohol zu betäuben? Hatte er ein Abenteuer gesucht, um zu vergessen? Waren wir deswegen im Bett gelandet?

Toll, Corinne, wirklich toll! Da hast du endlich mal wieder Sex, und es muss ausgerechnet mit einem trauernden Kollegen sein. Gut gemacht!

24. November, Dienstag

LKA 11, 8:00 Uhr

Edgar trug einen dunkelgrauen Pullover, ansonsten schwarze Jeans wie gestern. In einer Hand hielt er einen Plastebecher, von dem ein fader Kaffeegeruch aufstieg, mit der anderen schob er seinen Kram zusammen, um den Becher auf dem Schreibtisch abstellen zu können. „Morgen. Ist deine Zeugin aufgetaucht?“

„Leider nein. Guten Morgen, Edgar.“

„Tja, die einfachen Sachen sind oft die schwierigsten“, orakelte er, bevor er auf seinem Stuhl in eine bequeme Lage rutschte. Er streckte seine Beine lang unter den Schreibtisch, lehnte den Kopf an die Stuhllehne und schloss die Augen. Ich betrachtete sein Gesicht: es war deutlich unharmonisch, und vielleicht fand ich es deshalb anziehend.

Ich hatte gestern auf dem Heimweg, in der vergangenen Nacht und auf der Herfahrt am Morgen gegrübelt, ob ich Edgar auf seinen Trauerfall ansprechen sollte und mich dagegen entschieden. Wir kannten uns einen Tag. Zu wenig Zeit, um miteinander über sehr persönliche Dinge zu reden, wie den Tod eines nahen Angehörigen. Es gab auch einen egoistischen Grund: Edgar könnte wieder denken, ich schnüffelte ihm hinterher und mir eventuell seinen Dienst als Chauffeur aufkündigen. Das konnte ich nicht riskieren. Edgar, der jetzt so friedlich über seinem Schreibtisch hing, war für mich ein Rätsel. Schade, dass es anfing, kompliziert zu werden.

„Du verpasst deine Frühsitzung“, brummte er, ohne die Augen zu öffnen.

Im Konferenzraum setzte ich mich in die letzte Reihe. Vorn überragte Schlesinger alle anderen. Die Ergebnisse der verschiedenen Teams wurden dargestellt, Schlussfolgerungen gezogen. Im Wesentlichen war der Stand wie gestern, nur schlechter, weil eine wichtige Zeugin verschwunden blieb, obwohl mit Hochdruck nach ihr gefahndet wurde. Ein Durchsuchungsbeschluss für Franziska Rauschs Wohnung war beantragt. Den Beschluss für eine Akteneinsicht bei Franziskas Frauenärztin drückte Arno mir in die Hand.

Im Büro hatte Edgar inzwischen den Kopf auf die Unterarme gelegt und die wiederum auf den Schreibtisch. Ich rief meine privaten Mails auf: lediglich eine Nachricht aus Neuruppin. Kollegen wünschten Erfolg bei den Ermittlungen. Ja, den konnten wir gebrauchen. Wo, verdammt, steckte diese Franziska?

Zwei Dinge konnte ich erledigen, während Edgar schlief oder so tat als ob. Franziskas Frauenärztin konnte ich zu einer Auskunft bewegen: Franziska war nicht schwanger und hatte auch keinen Abbruch.

Vom Telefonanbieter hatte ich endlich Franziskas Daten: Seit 23 Uhr 14 am Samstag war das Handy aus. Wenn stimmte, dass Franziska kurz vor dreiundzwanzig Uhr vom Meiser weg war, musste sie ihre Wohnung fast erreicht haben, als sie das Handy ausschaltete. Meiser wohnte in der Thulestraße. Von dort zu sich brauchte Franziska zu Fuß und bei normalem Tempo etwas mehr als zwanzig Minuten. Wieso sollte sie ihr Handy ausgeschaltet haben, bevor sie ihre Wohnung erreichte? Das war unlogisch.

Laut schnaufend richtete Edgar sich auf und trank den kalt gewordenen Kaffee. Dabei sah er mich fragend an, dass ich das Gefühl hatte, ihm von meinen Aktivitäten berichten zu müssen. „Und Hotels, Krankenhäuser habe ich gestern auch abtelefoniert. Ach ja, und die Fluglinien … nix.“

In der nächsten Sekunde erschrak ich von einem lauten Knall. Von Edgar. Schlug der mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, als wolle er ihn verprügeln.

Gleich darauf war er auf den Beinen, zog seine Lederjacke über und schnappte sich den Autoschlüssel. „Auf geht’s. Wird höchste Zeit!“

Ich war über mich verwundert, denn ich lief ohne Widerspruch hinter ihm her.

Wigandstaler Straße, Pankow, 10:05 Uhr

Aus der Hinrichs-Wohnung dröhnte ein Staubsauger. Bei Franziska Rausch blieb trotz Klingelns alles still. Edgar lauschte an ihrer Tür. „Hörst du das? Ich denke, da drinnen braucht jemand dringend unsere Hilfe.“

Eine Sekunde verging, bis ich begriff. „Eindeutig Gefahr in Verzug. Vermutlich liegt Franziska verletzt in der Küche.“

„Wieso in der Küche?“

„Oder sie ist in der Dusche ausgerutscht.“

„Wir sollten uns auf was einigen.“

„Dusche“, wiederholte ich.

Er fischte Werkzeug aus einer Innentasche seiner Lederjacke. In dem Moment fiel mir ein, dass ich wegen unseres eiligen Aufbruchs den Durchsuchungsbeschluss vergessen hatte. Der musste längst vorliegen. Wieso einbrechen, wenn man legal rein durfte? Aber den Chef jetzt mit der Nase drauf stoßen, dass Edgar wieder unerlaubt mit mir unterwegs war? Ich ließ den Dingen ihren Lauf.

Edgar öffnete das Schloss in Sekundenschnelle. In der Rausch-Wohnung war niemand, auch keine Leiche. Wir zogen Handschuhe über und inspizierten die Räume: zwei Zimmer, Bad, Küche, dazu ein schmaler Balkon mit Aussicht auf eine Kleingartenanlage. Einen Hinweis, wo die Zeugin abgeblieben sein könnte, entdeckten wir nirgends. Auf der Couch ein Laptop, passwortgeschützt. Kein Handy.

Insgesamt war es bei Franziska auffallend aufgeräumt. Selbst die Küche war bis aufs letzte Krümelchen gesäubert; der Mülleimer geleert. Hatte die Frau einen Putzfimmel?

Auf der Fensterbank in der Küche stand eine dünnblättrige Grünpflanze. Die tiefere Erde im Blumentopf war feucht. „Ist kürzlich gegossen worden“, meinte ich zu Edgar, der sich im Türrahmen postierte und mich gelangweilt musterte.

„Ziemlich clean hier“, bemerkte er.

„Möglicherweise hat Franziska einen Putzfimmel, oder jemand anderes macht das für sie.“

„Hast du das recherchiert?“

„Nein, ich meinte nur.“

Edgar schaute sich erneut in der Küche um. Der leere Mülleimer schien es ihm besonders angetan zu haben, denn er schnüffelte sogar daran.

„Gehen wir?“, fragte ich.

„Warte! Überleg mal. Die Rausch hat die Bude geputzt wie verrückt, die Pflanzen gegossen, den Mülleimer geleert und ausgewaschen. Und das alles vermutlich am Samstag, bevor sie zum Meiser ist. Das bedeutet doch was, oder?“

„Keine Ahnung. Was denkst du?“

„Wenn stimmt, dass Franziska den Meiser wieder bezirzen wollte und er sie hat abblitzen lassen, dann wäre es doch wahrscheinlich, dass sie nach ihrem Misserfolg sofort ihre beste Freundin anruft, um Trost zu suchen, oder?“

„Übst du dich in Frauenpsychologie? Kann schon sein, dass sie lieber für sich sein wollte.“

„Würdest du dich auch so verhalten?“

„Das spielt jetzt keine Rolle. Edgar, willst du auf irgendwas hinaus?“

Er blickte mich direkt an. „Wäschst du deinen Mülleimer aus, bevor du zu einem Kerl gehst?“

Im Auto rutschte Edgar tief in den Sitz, und ich befürchtete, er wolle ein zweites Nickerchen halten. Aber er trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad und breitete seine Gedanken aus: „Nehmen wir mal an, dass die Rausch tatsächlich Samstagabend beim Meiser war. Nachdem sie von ihm weg ist, verschwindet sie quasi spurlos. Keiner hat sie mehr gesehen oder gesprochen. Ihr Ex ist demnach ihr letzter Kontakt.“ Wieder dieser direkte Blick, der mir in Mark und Bein fuhr: „Ich habe eine Theorie. Es war umgekehrt: In Wahrheit wollte Meiserdie Rausch zurück. Und weil sie kein Interesse zeigte, hält er sie irgendwo fest, vermutlich in seiner Wohnung. Wir sollten zu ihm.“

Dass Franziska lieber Single war und blieb als mit dem eher unattraktiven Meiser zusammen zu sein, konnte ich gut nachvollziehen. Aber dass er sie deswegen gefangen halten sollte, fand ich abwegig; eine Entführung traute ich ihm einfach nicht zu. „Ist eine schwache Theorie, Edgar.“

„Find ich auch.“ Er hörte auf, das Lenkrad zu bearbeiten. „Fahren wir.“

Diesmal war ich es, die zögerte. „Nein, warte.“ War die überaus saubere Bude kein weiteres Indiz dafür, dass mit der Rausch etwas nicht stimmte? Arnos vager Verdacht, dass Franziska mehr sein könnte als eine vermisste Zeugin, schien mir erhärtet. Es drängte mich, Edgar davon zu erzählen. Aber wie, ohne Arnos Anweisung zu ignorieren? Ich hoffte auf eine Idee und fing an, herumzueiern.

„Dir ist doch auch aufgefallen, wie klinisch rein es bei Franziska ist, und deshalb sollten wir vielleicht …“

„Nimmst du oft Unbekannte nachts mit auf die Bude?“

Ich war ziemlich verblüfft, dass er jetzt damit kam. „Und du?“

Er zeigte ein dünnes Lächeln. „Blöde Frage von mir, was?“

„Genau.“

„Also, was wolltest du mir gerade sagen, Corinne?“

„Ach, nur so. Mir ist gerade eingefallen, dass Franziska bei einem unbekannten Mann sein könnte.“

Ein breites Grinsen folgte, bevor er ernst wurde. „Möglich wär‘s. Aber eine Freundin von ihr würde den kennen, oder?“

„Es gibt auch bei Frauen Geschichten, von denen wirklich niemand weiß.“

Er schaute wie abwesend an mir vorbei, als würde er nebenbei über was anderes nachdenken. Plötzlich war er hellwach. „Der Mülleimer. Wenn du Müll wegschaffst, legst du garantiert umgehend eine neue Tüte in den Eimer, richtig?“

Ich nickte.

„Mir fällt das Fehlen der Mülltüte erst auf, wenn ich den nächsten Abfall in den Eimer schmeißen will …“

Typisch Mann, dachte ich. „Der Mülleimer?“

„Nein, der Staubsauger! Hast du bei der Rausch einen Staubsauger gesehen?“

Hatte ich?

Er beugte sich halb zu mir rüber: „Ein letzter Versuch, ja?“ Schwungvoll hievte er sich aus dem Auto und stapfte vor mir her zurück zum Wohnhaus.

Als Franziskas Nachbarin Frau Hinrichs ihre Wohnungstür öffnete, schob Edgar sie sacht beiseite, ohne unser erneutes Erscheinen zu erklären, und bedeutete uns, still zu sein. Wir standen zu dritt schweigend nebeneinander im Flur und warteten … ja, worauf?

Nach einer gefühlten Ewigkeit wandte Edgar sich an die Nachbarin: „Wo ist Ihr Staubsauger?“

Absurd, dachte ich.

Frau Hinrichs schaute Edgar erstaunt an. „Im Wohnzimmer. Ich will nachher saugen, wenn mein Sohn wach ist.“

„Wo bewahren Sie den Staubsauger gewöhnlich auf?“

„In einer Ecke im Schlafzimmer, den brauche ich ja ständig. Wegen dem Kind muss der Teppich …“

„Ja, ja, schon gut. Und wo lagern Sie die Babywindeln, Toilettenpapier, Konserven, Putzmittel, Winterstiefel, die Weihnachtskugeln und anderen Kram?“

„In der Kammer, wo sonst.“

„Eine Kammer im Keller?“

„Nein, hier in der Wohnung. Warum stellen Sie diese komischen Fragen?“

„Wo ist die Kammer!“, wiederholte ich streng.

„Ihr Kollege steht direkt davor.“ Frau Hinrichs drängelte sich an Edgar vorbei und betätigte einen winzigen Hebel in der Flurwand. Eine stark gemusterte Tapete war schuld, dass er nicht so einfach zu entdecken war.

„Hier ist die Tür, wir haben sie übertapeziert …“

Im Nu waren wir in der Rausch-Wohnung und klopften im Flur die linke Wand ab. Die war zwar weniger auffallend tapeziert als bei der Nachbarin, trotzdem entdeckten wir keinen Hebel, und die Wand klang keineswegs hohl.