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Dieser Sammelband vereint die ersten drei Fälle der beliebten Cosy-Crime-Reihe "Morde mit Meerblick": - Eine Leiche zum Valentinstag – Romantik liegt in der Luft… und eine Leiche auf dem Esstisch. - Eine Leiche im Café – Ausgerechnet während des Jubiläums des "Café Criminale" stirbt jemand auf der Bühne. - Eine Leiche zum Fest – Vom Himmel hoch, da kommt was her – und zwar ein toter Weihnachtsmann. Als Bonus: - Süßes, Saures und ein Mord – Ein Halloween-Kurzkrimi mit Gänsehaut und Vampirzähnen. Witzig, warmherzig und mit norddeutscher Schnauze – dieser Sammelband ist das perfekte Verbrechen für alle, die Krimis ohne Kettensägen, dafür mit Charakter lieben. Wenn du "Miss Fishers mysteriöse Mordfälle" magst, wirst du diese Bände lieben!
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Originalausgabe, 1. Auflage
Copyright © 2025 by Valerie Nordmann
Herausgegeben von Annika Bühnemann, c/o vom Schreiben leben, Edisonstr. 63, Haus A, 1. OG, 12459 Berlin
Buchsatz: Annika Bühnemann
Lektorate: Michaela Diesch, Anna Franzke
Cover-/Umschlaggestaltung: Annika Bühnemann unter Verwendung von Grafiken von Esther Zacharias (Getty Images), Elena Photo und Midjourney (Giftflaschen-Grafik). Schriftzug und Design von buchgewand.de
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Erlaubnis durch die Autorin.
Nicht authorisierte Uploads werden zur Anzeige gebracht.
Vorwort
Eine Leiche am Valentinstag
Eine Leiche im Café
Eine Leiche zum Fest
Süßes, Saures und ein Mord
Nachruf. Äh, Nachwort:
Liebe Leserin, lieber Leser,
dieses Buch ist mehr als eine Sammlung von Mordfällen.
Es ist ein Stück meines Lebens.
Jede dieser Geschichten entstand irgendwo zwischen Alltag und Zweifel, zwischen Kinderlachen und Kaffeeflecken auf der Tastatur. Ich habe sie nachts geschrieben, wenn andere schliefen, oder morgens, bevor meine Kinder wach wurden. Ich habe an ihnen gefeilt, an mir gezweifelt, über meine eigenen Witze gelacht – und gehofft, dass sie irgendwann genau dich erreichen.
Da ich anderen gerne auf den Zahn fühle, hätte ich wohl Zahnärztin werden sollen – dann hätte ich zumindest finanziell ein besseres Polster.
Denn leider werden insbesondere E-Books zigfach illegal im Internet verbreitet, gelesen und weitergegeben (was übrigens strafbar ist).
Und ich – eine Einzelperson, die auf die Einnahmen aus ihren Büchern angewiesen ist – gehe leer aus.
Aber du bist anders.
Du liest diese Zeilen mit Neugier (und vielleicht einem Kaffee oder Tee in der Hand). Und das bedeutet mir mehr, als du dir vorstellen kannst.
Mit deinem Kauf hilfst du, dass Kea, Beke und all die anderen Figuren weiterleben dürfen – und nicht irgendwann im Nirvana verschwinden, weil ihre Erschafferin es sich schlicht nicht mehr leisten kann, Geschichten zu schreiben.
Du hilfst mir, dass ich schreiben darf.
Dass diese Geschichten weiterexistieren.
Dass meine Botschaft – „Du bist weder zu viel, noch zu wenig“ – genau die Menschen erreicht, die sie hören müssen.
Danke.
Von Herzen.
Deine
Valerie Nordmann
PS: Ich habe einen sehr beliebten Newsletter, die „Möwenpost“. Dort teile ich nicht nur meinen Weg, sondern lasse dich auch über Figuren, Orte, Titel etc. abstimmen. So entstand beispielsweise die Geschichte, die du als Letztes in diesem Buch lesen kannst. Trage dich ein! Hier geht es zur Möwenpost.
Mit einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel bereitet sie sich auf einen Abend vor, der alles andere als gewöhnlich werden soll. Sie zieht die tiefroten Lippen nach und wirft sich einen Kuss zu. Auf ihrem Handy läuft »You can leave your hat on«. Sie tänzelt von einem Bein auf das andere, während sie sich ein paar Mal durch die Haare fährt. Wie hat sie diesem Abend entgegengefiebert! Das Haus ist erfüllt vom Geruch des Hähnchens, von Klößen und Rotkohl, und im Wohnzimmer wartet ein besonderer Mann auf sie. Für das heutige Aufeinandertreffen hat sie sich neue Unterwäsche gekauft, die zwar etwas ungemütlich ist, aber ihre Brüste in eine perfekte Form bringt. Das straffe Gummi, das die halterlosen Strümpfe an ihrem Platz hält, schmiegt sich eng an ihre Haut.
Summend denkt sie an die ganzen Singles, die heute, am Valentinstag, einsam zu Hause sind. An diejenigen, die sich einfach nur eine Umarmung wünschen oder die sich nach einem Kompliment sehnen. Die so viel auf sich nehmen, um einen Lieblingsmenschen in ihr Leben zu ziehen, und am Ende doch wieder allein sind.
Laura tritt einen Schritt zurück und betrachtet sich erneut im Badezimmerspiegel. Ihre Korkenzieherlocken fallen engelsgleich über die Schultern. Das schwarze Minikleid schmeichelt ihrem Körper. Es war eine ganz schöne Verrenkung, den Reißverschluss ohne fremde Hilfe zu schließen. Bei dem Gedanken, wie sie sich fast den Arm ausgekugelt hat, um überhaupt den Verschluss greifen zu können, kichert sie. Was tut man nicht alles für einen außergewöhnlichen Abend.
Ein letzter prüfender Blick. Sie ist zufrieden. Für eine Zweiunddreißigjährige muss sie sich wahrlich nicht verstecken. Sie stellt die Musik aus und verlässt das Badezimmer im ersten Stock.
Von unten dringt kein Laut nach oben. Selbst das Hähnchen riecht man dank der guten Dämmung kaum. Laura schwebt auf ihren mörderischen High Heels die Treppe herunter. Mit jeder Stufe hört sie die Musik aus dem Esszimmer deutlicher. Sie kann sich nicht erinnern, dass sie die Anlage überhaupt eingeschaltet hat. Vielleicht möchte Valentin sie zum Tanzen auffordern – aber noch vor dem Essen? Sie hat andere Pläne. Ihr Magen knurrt. Das ist sicher die Aufregung. Betont langsam betritt sie das Wohnzimmer.
Und stolpert zwei Schritte zurück. Das Handy fällt scheppernd zu Boden.
Ihre Hände zittern unwillkürlich und es fühlt sich so an, als sei ihr Körper plötzlich taub geworden. Sie will weggucken, aber ihre Augen verharren auf dem Esstisch.
Valentins Oberkörper liegt regungslos auf dem Tisch.
Ein Messer ragt aus seinem Rücken.
Ein Messer, das sie nur allzu gut kennt. Damit hätte sie gleich das Hähnchen schneiden wollen. Seine Augen sind weit aufgerissen, als hätte er sich erschrocken. Blutflecken sind auf dem Teppich.
In diesem Moment bläht sich der Vorhang vor der Terrassentür auf.
Lauras Herzschlag setzt für einen Augenblick aus.
Diese Tür war definitiv geschlossen, bevor sie hochgegangen ist.
»Du bist eine außergewöhnliche Frau.« Alexanders tiefe Stimme kribbelt wohlig in meinem Bauch.
»Gut erkannt.«
Wir sitzen auf der Couch, pappsatt und angetrunken. Ich will ihn stundenlang betrachten. Es sollte verboten werden, so gut auszusehen – das hält die Mitmenschen vom klaren Denken ab. Eigentlich hatten wir uns einen Film ansehen wollen, aber ich kann meine Augen nicht von ihm abwenden. Und Alexander scheint es genauso zu gehen.
Seine Hand streichelt meine Finger, gleitet über den Unterarm und landet in meinem Nacken. Sachte beugt er sich vor und fährt mit seinen Lippen die Strecke nach. Die Küsse explodieren wie ein Feuerwerk auf meiner Haut. Quälend langsam erforscht er jeden Zentimeter an mir.
»Ich glaube, das wird der schönste Valentinstag, den ich je gefeiert habe«, raunt er mir zwischen zwei Küssen zu.
»Eigentlich bin ich kein Fan von diesen künstlich aufgeputschten Festen«, antworte ich leise mit geschlossenen Augen. »Du weißt schon: Alles eine Erfindung der Blumenindustrie. Danke übrigens für die Rosen.«
»Immer wieder gern.«
»Dafür hätte man auch fünf Wochen Urlaub auf den Malediven machen können.« Ich lasse meine Hände über seine stoppeligen Wangen gleiten und küsse ihn schmetterlingssanft. Er schmeckt nach mehr. »Wenn der Valentinstag bedeutet, dass ich mich mit jemandem wie dir treffen kann, sehe ich aber großzügig über meine Abneigung gegenüber kitschigem Romantikgeschnulze hinweg.«
»Zu gnädig.« Seine Lippen gleiten sanft über meine Schultern. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal mit der Schulfreundin meiner kleinen Schwester treffe.«
»Und ich hätte nie gedacht, dass ich mich nicht an den Bruder einer Freundin erinnern kann. Wobei ich zu meiner Verteidigung sagen muss, dass ich mit Laura seit der fünften Klasse keinen Kontakt mehr hatte. Und damals fand ich Jungs noch ziemlich ekelig.«
»Zum Glück hat sich das geändert.« Seine Finger gleiten lautlos über meinen Nacken. »Eigentlich schade, dass ich so selten in Tjadesiel bin. Vielleicht hätten wir uns dann schon früher getroffen.«
»Die Welt des Drogenhandels braucht dich eben.«
»So, so, das denkst du über Pharmavertreter?«
Ich zucke mit den Schultern. »Hör nicht auf mich, ich rede meistens Unsinn.«
Nun muss er lachen. »Trotzdem: Meine Oma wohnt hier. Ich sollte sie öfter besuchen.« Alexanders Lippen nähern sich meinen.
»Wer ist deine Oma?« Ich erinnere mich an kaum etwas über diese Familie.
Kurz presst er den Mund zusammen, als müsse er überlegen, ob er sich mit mir unterhalten oder mich küssen will. »Sie lebt in dieser Seniorenresidenz am Leuchtturm. Käthe von Steiner heißt sie.«
Ich lächle breit. »Die alte Käthe?« Käthe ist ein Urgestein der Kleinstadt. Seit ein paar Jahren, besonders seit dem Tod ihres Mannes, ist sie jedoch immer weniger zurechnungsfähig geworden.
»Und was ist mit dir?« Nun lehnt sich Alexander zurück und greift nach seinem Weinglas. »Dein Café ist ja bis über die Stadtgrenzen hinaus bekannt.«
»Ich könnte jetzt bescheiden tun, aber das ist nicht so meine Art.«
»War bestimmt viel Arbeit, dir einen solchen Ruf aufzubauen.«
Das ist wahrer, als er denkt. »Ständige Überstunden sind eine gute Ausrede, um meinem launischen Teenager aus dem Weg zu gehen.«
»Ach, stimmt, deine Tochter. Die ist wirklich schon siebzehn?«
Auch ich genehmige mir einen großzügigen Schluck und nicke dann. »Ich war so alt wie sie, als ich sie bekommen habe. Anfangs habe ich noch bei meinem Onkel und meiner Tante gewohnt, wo ich aufgewachsen bin, aber mit achtzehn habe ich uns eine eigene Wohnung gesucht.« Ich erspare ihm lieber die Details meiner Familiengeschichte, um ihn nicht zu vergraulen.
»Ich hätte dir damals gerne Unterschlupf geboten.« Alexander lehnt sich zu mir und gibt mir einen langen Kuss, der nach Rotwein schmeckt. Ich verzichte auf den Einwand, dass er sich mit meiner Morgenübelkeit und schroffen Art vermutlich keinen Gefallen getan hätte. Stattdessen schiebe ich die Erinnerungen an damals einfach weg. Ich bin nicht mehr siebzehn, sondern vierunddreißig. Meine Tochter ist – natürlich – bei ihrem Freund und darf ausnahmsweise sogar dort übernachten, was ich ihr eigentlich bis zur Hochzeitsnacht verbieten wollte.
Aus gutem Grund, wie ihre Existenz beweist.
Aber Beke ist sehr viel vernünftiger als ich und ich kann ihr vertrauen. Sie macht das schon.
Wenn ich an die Zeit damals denke, werde ich schnell traurig und wütend wegen all der Dinge, die vorgefallen sind, und darauf habe ich jetzt gar keine Lust.
Im Gegenteil. Ich habe Lust auf etwas ganz anderes.
Mit langsamen Bewegungen ziehe ich Alexander auf mich, schlinge ein Bein um seinen Rücken und lasse mich von ihm liebkosen. Die weichen Klänge meiner liebsten Josephine-Baker-Playlist durchdringen mich ebenso wie das Verlangen danach, Alexander das blaue Seidenstickerhemd vom Körper zu reißen. Ob er auf seinen Reisen nach Indien auch etwas gelernt hat, das uns beiden jetzt nutzen kann?
Er hat gerade meinen BH geöffnet, als sein Handy klingelt.
Abgelenkt wirft er einen Blick auf das Display. Mitten in der Bewegung hält er inne. »Da muss ich ran«, sagt er, steigt geistesabwesend von mir herunter und tippt auf den grünen Telefonhörer. »Laura?«
Ich warte ein paar Sekunden ab, um einschätzen zu können, ob ich mich anziehen oder warten soll.
Er hört zu. Mit jeder Sekunde, in der ihm die hysterische Frauenstimme am anderen Ende etwas erzählt, versteinert sich sein Blick mehr. »Was? Das … das kann ich nicht glauben. Wann? Wo? … Ich komme sofort.« Er legt auf und lässt sich neben mich sinken. Gerade noch lag ein selbstbewusster, stattlicher Mann auf mir, aber der verblasst mit jedem Atemzug. Die Nachricht muss dramatisch sein. Alexander sieht aus wie eine Leiche und starrt auf sein Handy. Ich lasse ihm die Zeit, die er braucht, um ohne Aufforderung zu berichten, was los ist. »Meine … meine Schwester.« Er schluckt, als wolle er eine schmerzhafte Wahrheit verdauen. »Ihr Valentinsdate ist ermordet worden.«
Blogbeitrag von Laura auf »Liebe geht durch den Magen« vom 5. Oktober:
Liebe Leserin, ich muss dir etwas sehr Trauriges mitteilen: Abbo und ich haben uns getrennt. Es bricht mir das Herz, diese Zeilen zu schreiben, und ich möchte dich (und alle, die das hier lesen) bitten, unsere Privatsphäre zu respektieren und davon abzusehen, mir Nachfragen zu stellen.
Der Schritt hat sich schon länger angebahnt. Wie viele Nächte habe ich wachgelegen und darum gerungen, dass uns eine andere Lösung einfällt!
Wenn du meinem Blog oder meinen Kanälen in den sozialen Netzwerken folgst, weißt du, wie holprig meine Reise in diese Ehe war.
Ich habe »Liebe geht durch den Magen« gegründet, als ich Single war. Eigentlich wollte ich meine liebsten Rezepte teilen und dir aus meinem Leben als Köchin erzählen, aber immer wieder drängte mich eine innere Stimme dazu, auch meine »Liebesreise« zu dokumentieren. Viele Monate, ja, Jahre lang habe ich mir gewünscht, die Candlelight-Dinner nicht mehr für andere auszurichten, sondern selbst am Tisch zu sitzen und jemandem zuzuprosten.
Es gab zwar gelegentlich interessante Männer, gerade im Internet, aber wie du vielleicht weißt, bin ich da konservativ: Ich wollte erobert werden. Ich wollte, dass Amors Pfeil mich überraschend trifft. Ich wollte Liebe auf den ersten Blick.
Abbo und ich haben uns bei einem Kochwettbewerb kennengelernt und er hat sich – getreu meinem Blognamen – durch den Magen in mein Herz gekocht. Er war der erste Mensch in meinem Leben, dem ich mich vollkommen öffnen konnte.
Wir haben ziemlich schnell geheiratet und ich dachte, dass es nichts geben würde, was uns je trennen kann.
Doch es kam anders.
Jetzt sitze ich hier allein in meiner Küche und blättere durch mein Kochbuch. Fast alle Rezepte sind auf mindestens zwei Personen ausgelegt.
Mir kommen die Tränen. Ich habe mich schon lange nicht mehr so einsam gefühlt wie heute.
Aber eine hoffnungslose Romantikerin wie ich gibt nicht auf: Ich glaube tief in mir, dass der richtige Seelenverwandte da draußen auf mich wartet.
Da Alexander mehr getrunken hat als ich, fahre ich uns hin. Schon von Weitem erleuchtet das Blaulicht der Polizei das umgebaute Bauernhaus wie in einem Low-Budget-Film. Im Fernsehen stehen oft viele Polizeiwagen und Vans der Spurensicherung bei Tatorten, aber ich sehe nur einen blau-weißen Volkswagen, der quer vor dem Scheunentor parkt und unfreiwillig Disco-Feelings in mir weckt.
Alexander hastet aus dem Auto, ehe ich angehalten habe, und sprintet zum Haus. Ich folge ihm mit sicherem Abstand und hoffe, in der Dunkelheit nicht versehentlich in eine Pfütze oder gar in Schlamm zu treten – das verträgt sich schlecht mit dem Samtstoff meiner Mary Janes. Als ich ihn erreiche, wird gerade die Tür geöffnet und eine tränenüberströmte Frau fällt ihm in den Arm. »Oh, Alex! Es ist schrecklich! Ich war kurz oben, kam runter … und dann … sehe ich ihn …«
Ich erkenne Laura wieder. Aus dem Mädchen mit den hüftlangen Haaren und den etwas zu großen Vorderzähnen ist eine ansehnliche Frau geworden.
Alexander hält sie fest im Arm und raunt ihr etwas ins Ohr. Nach ein paar Sekunden lockert er seinen Griff und deutet zu mir. »Kea war so nett, mich herzufahren. Erinnerst du dich noch an sie? Ihr wart zusammen in der Grundschule.«
Lauras Augen weiten sich. »Kea Klaasen! Natürlich! Wir haben uns ja schon seit … über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Es … es tut mir so leid … Ich wusste nicht, dass ihr ein Date habt.« Ihr enges Kleid aus schwarzer Spitze sieht verführerisch aus, auch wenn hier und da Fäden zu sehen sind, die auf schlechte Qualität hinweisen.
»Schon okay. Es gibt doch nichts Schöneres als einen Mord zum Kennenlernen.«
Laura starrt mich an, den Tränen wieder nahe. Sie hält sich zitternd eine Hand vor den Mund.
»Entschuldige«, schiebe ich hinterher. Meine eigene Todesursache wird eines Tages sicherlich »Sarkasmus im falschen Moment« sein.
Aus dem Inneren des Hauses höre ich eine Männerstimme rufen.
»Kommt rein«, sagt Laura und geht voran. »Er lag einfach auf dem Tisch. Die Terrassentür war offen, dabei bin ich mir absolut sicher, dass sie geschlossen war, bevor ich hochgegangen bin.«
Gerade, als wir den Flur betreten, kommt uns ein sehr junger Polizist entgegen. »Niemand betritt den Tatort.«
Alexander streckt ihm seine Hand hin. »Alexander von Steiner. Meine Schwester hat mich angerufen und hergebeten.«
»Kriminalkommissar Feldhagen«, stellt sich der Bubi mit der Ernsthaftigkeit eines Superhelden vor, der gerade seinen Erzfeind konfrontiert. Er mustert mich. »Sind Sie die Anwältin?«
Der Gedanke gefällt mir. »Nur, wenn das ein Codename für ›zufällig anwesende Schaulustige‹ ist. Ich habe Herrn von Steiner hergefahren.« Wie immer, wenn ich an einem neuen Ort bin, sauge ich alle Details auf. Vor den beiden Fenstern auf der linken Seite hängen altbackene Spitzengardinen. Das Licht ist schummrig, sodass mir die Porzellanfiguren auf dem Beistelltisch erst spät auffallen. Auf der fensterlosen Seite hängen drei große Bilder. Jedes davon zeigt einen Kuschelteddy, der dem Betrachter ein überdimensional großes Herz schenkt. Etwas zu kitschig für meinen Geschmack … aber kitschig scheint das Motto des Abends zu sein. Eine rote Herzgirlande hängt über dem Eingang zum Esszimmer, die farblich überraschend gut mit dem Flatterband harmoniert, das den Zugang verbietet.
Der Kommissar belehrt uns gerade darüber, dass wir am Tatort nichts zu suchen hätten, als eine tiefe Stimme aus dem Esszimmer dröhnt.
»Levi!«
Der der junge Kommissar mit dem nackten Gesicht und den blonden Haaren zuckt zusammen.
Hinter ihm taucht ein deutlich älterer Polizist auf, den ich auf Anfang vierzig schätze. Bei seinem Anblick wird mein Mund trocken.
Das ist meine Liga.
Um von so jemandem verhaftet zu werden, wäre sogar ein Mord legitim.
Er hat braune Haare und dunkle Augen, die mich ansehen, als könnten sie meine Gedanken lesen. Der graue Mantel, den er trägt, verleiht ihm eine elegante Erscheinung. Mit etwa vierzig Jahren würde er auch vom Alter her optimal zu mir passen. Ich fühle mich, hätte ich einen Einhorncocktail getrunken: leicht beschwipst und irgendwie verzaubert.
Wütend bleibt er stehen und mustert Alexander und mich. Zuerst wendet er sich an seinen Kollegen. »Habe ich nicht gesagt, dass niemand den Tatort betritt?«
Ich habe Mitleid mit dem jungen Mann. »Wir wollten gerade gehen. Frau von Steiner hat ihren Bruder angerufen und um seelischen Beistand gebeten.«
»Und Sie sind?«, fragt er hörbar skeptisch.
Ich gebe ihm lächelnd die Hand. »Kea Klaasen, die Inhaberin des Café Criminale. Ich habe Herrn von Steiner hergefahren.«
Auch Alexander begrüßt ihn mit einem Handschlag.
Nun fühlt sich der Polizist offenbar genötigt, ebenfalls für Klarheit zu sorgen. »Ich bin Kriminalhauptkommissar Julian Seiler. Das Café kenne ich. Sie machen doch immer diese Krimidinner.«
»Krimifall und Krabbencocktail in einem Atemzug«, bestätige ich. »Die perfekte Kombination.«
»Schön, Sie kennenzulernen – aber das hier ist ein Tatort, kein Museum, das man beliebig betreten kann. Verlassen Sie bitte das Grundstück, damit Sie keine Spuren zerstören.«
Ich recke den Kopf, um einen Blick auf den Esszimmertisch zu erhaschen, auf dem der Tote liegt. Sein Oberkörper ist vornübergekippt, was aussieht, als wäre er beim Essen eingeschlafen – wenn da nicht der schwarze Schaft eines Küchenmessers aus seinem Rücken ragen würde. Ungefähr hundert Helium-Luftballons in Herzform hängen unter der Decke. Ein großer Tisch steht im Raum, der mit einem weißen Leinentuch geschmückt ist. Darauf stehen silberne Kerzenständer mit roten Kerzen und mindestens ein Dutzend pinkfarbene Rosen in Porzellanväschen. Vor lauter Herzen, Blumen und Deko sieht man kaum das Geschirr.
Es ist eine groteske Szene. Wo sich zwei Verliebte romantische Dinge ins Ohr flüstern sollten, hört man nun den einen von ihnen nicht einmal mehr atmen. Schreckliche Bilder aus der Vergangenheit wollen sich aufdrängen. Blitzartig zucken sie vor meinem inneren Auge auf. Eine Leiche. Mein Zusammenbruch. Das Polizeiaufgebot. Die ständige Frage nach dem Warum. Spätestens seit diesem Vorfall habe ich mein Vertrauen in gute Polizeiarbeit nahezu vollständig verloren.
»Was ist denn eigentlich passiert?«, fragt Alexander und holt mich mit seiner Samtstimme zurück ins Hier und Jetzt.
Kommissar Seiler presst genervt die Lippen aufeinander. »Wenn wir das schon wüssten, wären wir nicht mehr hier.«
Laura schluchzt. »Valentin und ich wollten über ein gemeinsames Projekt sprechen. Alles war perfekt vorbereitet. Ich war im Badezimmer, um mich frisch zu machen, Valentin war unten und … als ich wiederkam …« Sie schafft es nicht, den Satz zu beenden.
Valentinstag lief nicht gut für Valentin. Mir liegen auch Fragen auf der Zunge, zum Beispiel, wie lange sie im Bad gewesen sein muss, damit das passieren kann, aber Laura bricht in erneutes Weinen aus. Sie rennt den Flur weiter nach hinten, vermutlich in einen Raum mit Taschentüchern. Kommissar Seiler nickt seinem jüngeren Kollegen zu, der Laura folgt. Ich frage mich, ob sie Angst haben, dass sie fliehen könnte. Alexander wiederum scheint der Polizei nicht zu trauen und geht Kommissar Feldhagen hinterher.
»Ich bin schon weg«, verspreche ich Kommissar Seiler. »Sie können mich gar nicht sehen.«
Gerade, als er etwas erwidern will, schaltet sich sein Funkgerät ein und ein für mich unverständlicher Funkspruch lässt ihn innehalten. »Ich komme raus«, sagt er ins Gerät. »Sie kommen mit«, befiehlt er mir und rauscht dann in Richtung Haustür.
»Wo Sie hingehen, da will auch ich hingehen«, murmele ich und rufe den Geschwistern zu, dass ich mich verabschieden muss.
»Warte!«, ruft Laura. Sie kommt mir entgegen, die Augen rotgerändert und mit einem Taschentuch in der Hand. »So hatte ich mir unser Wiedersehen eigentlich nicht vorgestellt.«
»Ich hätte auch eher gedacht, dass wir uns bei einem Latte Macchiato im Café treffen und über unsere alten Lehrkräfte herziehen. Weißt du noch, wie unserem Sportlehrer mal die Hose heruntergerutscht ist?« Vielleicht muntert sie die Erinnerung etwas auf.
Tatsächlich huscht ein Lächeln über Lauras Gesicht. »Beste Sportstunde ever.«
»Gut, dass Alexander da ist, damit du nicht die Nacht in einem Mörderhaus verbringen musst. Du kannst sicher bei ihm übernachten.«
»Frau von Steiner wird mit uns kommen«, sagt Kommissar Feldhagen. »Es herrscht dringender Tatverdacht.«
Lauras Augen weiten sich. Sie reißt den Kopf herum und starrt den Polizisten an. »Tatverdacht? Gegen mich? Das ist ja, als ob Sie einem Goldfisch die Schuld am Schmelzen der Polkappen geben! Haben Sie mir nicht zugehört? Ich war das nicht!«
Alexander legt beschwichtigend eine Hand auf Lauras Arm. »Schon gut, ich kümmere mich darum. Zuerst einmal werden wir einen Anwalt anrufen. Das ist sicher nicht rechtens.«
»Ich befürchte, ich muss jetzt wirklich gehen, sonst wirft der andere Polizist mich eigenhändig raus. Alexander, soll ich dich irgendwo hinbringen?«
»Schon okay, ich bleibe erst einmal bei Laura.« Er nimmt mich in den Arm. »Ich rufe dich an.«
»Darauf bestehe ich auch.«
»Ist es okay, wenn ich mein Auto bis morgen bei dir stehen lasse?«
»Nein, das lasse ich sofort abschleppen.« Ich lächle ihm zu, damit er versteht, dass ich das nicht ernst meine. Er wäre nicht der Erste, dem ich meine Ironie erklären muss.
»Ich kann das alles einfach nicht glauben«, flüstert er. »Diese Bilder werde ich nie wieder los.«
Fast hätte ich ihm laut zugestimmt, denn er hat Recht: Man wird diese Bilder nicht los. Ich sehe heute noch die Leiche meines besten Freundes vor mir. »Wenn es etwas gibt, was ich für dich oder deine Schwester tun kann, ruf mich gerne an. Außer du brauchst Hilfe beim Umzug, dann bin ich leider gerade nicht da.« Zum Abschied hebe ich die Hand und gehe dann in Richtung Haustür. Tatsächlich ist jetzt die Spurensicherung am Werk. Männer und Frauen in weißen Maleranzügen schleppen schwarze Koffer und Gerätschaften ins Esszimmer. Glücklicherweise ist Kommissar Seiler zu abgelenkt, um mir einen weiteren bösen Blick zuwerfen zu können, obwohl es ein bisschen schade ist, dass ich dadurch nicht noch einmal in seine dunklen Augen sehen kann.
Ich ziehe meine Handschuhe an, als ein Weißgekleideter an mir vorbei will. Der Flur ist ziemlich eng und ich presse mich in die Jacken an der Garderobe, aber trotzdem stoßen wir leicht zusammen. Der Mann nuschelt irgendetwas und geht weiter. An seinem Schuh klebt ein Papierstück. Nach zwei Schritten fällt es auf den Webteppich und ich stecke es ein. Unglaublich, was diese Spurensicherungsmenschen für eine Unordnung veranstalten. An der Haustür entdecke ich noch ein paar Erdklumpen, die ich einzeln aufsammele.
»Frau Klaasen?« Kommissar Seiler steckt seinen Kopf zur Tür herein.
»Bin schon da«, sage ich und zeige ihm meine Hand. »Nicht, dass sich das festtritt.« Ich werfe die Krümel draußen auf den Schotterplatz, auf dem noch immer der Polizeiwagen steht, jetzt jedoch ohne Blaulicht.
»Schönen Abend für Sie«, sagt Kommissar Seiler und lächelt für den Bruchteil einer Sekunde, was ausreicht, um mir weiche Knie zu machen.
Mit klopfendem Herzen fahre ich los. Dieser Kommissar sieht aus, als hätte er ein Superheldentraining absolviert. Aber nein, ich habe den Männern abgeschworen. Mein Liebesleben ist eher eine Kurzgeschichtensammlung, kein Liebesroman. Ganz sicher mache ich nie wieder den Fehler, mein Herz an jemand anderen als meine Tochter zu verschenken. Ein attraktives Aussehen und ein charmantes Lächeln reichen nicht aus, um mich wieder ins Chaos zu stürzen. Mit der nächsten Kurve schlage ich mir den Polizisten aus dem Kopf.
Zu Hause leere ich routiniert meine Manteltaschen, wobei mir der Zettel wieder in die Hand fällt. Er sieht aus wie abgerissen, als hätte jemand spontan etwas aufschreiben wollen und nur ein zu großes Blatt gefunden. Langsam falte ich ihn auseinander. In ordentlicher Handschrift steht dort: »Ich weiß es«.
Völlig außer Atem knie ich über dem leblosen Körper. Mir ist übel. Als ich aufsehe, steht mein Vater vor mir. »Weg von ihm«, murmelt er drohend.
»Kea, komm her!«, ruft jemand hinter mir. Ich drehe mich um und sehe Onkel Rainer. Er reicht mir eine Pistole. »Zwischen die Augen«, sagt er.
»Was soll das?«, empört sich mein Vater, als ich auf ihn ziele. »Waffe runter, Kind, sofort!«
Der Revolver in meiner Hand zittert so stark wie meine Knie.
»Drück ab«, flüstert mein Onkel. »Er hat es verdient.«
Stöhnend wache ich auf, bevor ein Schuss fällt. Ein paar Sekunden lang glaube ich, dass ich tatsächlich wieder eine Waffe in der Hand halte, aber dann komme ich zu mir. Die verrückten Albträume werden mich wohl für immer jagen.
Ich stehe missmutig auf und gehe zur Toilette. Da es schon Viertel nach sechs ist, bleibe ich wach und gönne mir eine heiße Dusche, die alle Träume und Erinnerungen wegwäscht.
Um halb acht schreibe ich ein paar Zeilen mit Beke hin und her.
Ich: Hier ist der Weckdienst für Beke Klaasen. Bitte vergessen Sie nicht, heute zur Schule zu gehen.
Beke: Wieso bist du schon wach? Du hattest doch ein Date.
Ich: Sowas kann auch nur jemand fragen, der noch nie gearbeitet hat. Muss dir nachher unbedingt von meinem Abend erzählen.
Beke: Aber bitte nichts Ekliges.
Ich: *Herz-Symbol*
Beim Frühstück, das bei mir nur aus einem Milchkaffee besteht, betrachte ich noch einmal den Zettel – natürlich ohne Fingerabdrücke zu hinterlassen. Ich dachte wirklich, es sei Müll, dabei ist es jetzt ziemlich offensichtlich: dieses Ding ist ein Beweisstück. Mit Blick auf die Notiz hole ich mein Handy wieder hervor und rufe meinen Onkel an. Er weiß hoffentlich, was zu tun ist.
Dreimal klingelt es. »Hallo?«
»Hey, hier ist Kea. Guten Morgen.«
»Morgen, meine Liebe! Wenn du so früh morgens anrufst, gibt es ein Problem.«
Ich trinke einen Schluck und betrachte das Papier. »Was würdest du machen, wenn du von einem Kapitalverbrechen wüsstest, das dich aber im Grunde nichts angeht? Würdest du alles der Polizei überlassen oder selbst ermitteln?«
Onkel Rainer schweigt ein paar Sekunden lang. »Spannende Frage für den Start in den Tag. Lass uns doch anschließend ein Heilmittel für Krebs entwickeln.«
Ich erkläre ihm in wenigen Sätzen den Hintergrund. »Ich kenne Laura von früher, aber wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen, dass ich eigentlich nichts mehr mit ihr zu tun habe. Das Vernünftigste wäre wohl, mich rauszuhalten.«
»Und du bist die Vernunft in Person, wie wir wissen.«
»Ja, jeder weiß das.«
»Geht es hier um diese Laura oder um einen persönlichen Rachefeldzug gegen die Polizei?«
Ich seufze. »Keine Ahnung. Ich sehe einfach immer wieder Timo vor mir. Wenn es damals jemanden gegeben hätte, der auf eigene Faust ermittelt hätte, wäre vielleicht alles aufgeklärt worden.«
»Du weißt ja, dass ich immer auf deiner Seite bin«, antwortet Onkel Rainer mit sanfter Stimme, »und wenn es die Möglichkeit gibt, sich für Gerechtigkeit einzusetzen, kannst du auch immer auf mich zählen. Aber mir scheint, dass es in diesem Fall um etwas Persönliches geht, das nichts mit diesem Valentin zu tun hat. Fahr zur Polizei, gib diesen komischen Zettel ab und lass sie die Ermittlungen führen.«
Rainer hat Recht. »Ich hatte irgendwie gehofft, dass du sagst, ich solle mich in einen Trenchcoat werfen und die neue Sherlock Holmes werden.«
»Wir sind hier nicht in einem Roman.«
Widerstrebend gebe ich mir selbst gegenüber zu, dass ich erwachsen handeln sollte. »In Ordnung. Danke für deine Zeit. Ich geh dann zur Arbeit. Liebe Grüße an Heike.«
»Richte ich aus. Halt die Ohren steif, Kea.« Er legt auf.
Will ich Laura nur helfen, weil uns damals niemand geholfen hat? Ich hätte mir so sehr jemanden gewünscht, der auf mehr Details geachtet hätte. Jemanden mit Einfühlungsvermögen und einem sechsten Sinn.
Aber was vergangen ist, ist vergangen. Mir gehört nur der Augenblick. Sicherlich ist es besser, wenn ich nicht von mir auf andere schließe. »Oder was sagst du dazu?«, frage ich unseren Kater Goethe, der mir um die Beine streift.
Er miaut.
»Du hast ja Recht. Ich überlasse den Fall der Polizei.« Schwungvoll stehe ich auf, schlüpfe in den dunkelgrünen Mantel mit kuscheligem Kunstfellkragen und wähle eine Cloche aus farblich passendem Filz. Den Lippenstift ziehe ich mit Bedacht nach, damit alles perfekt aussieht, und gegen kurz vor acht sitze ich im Auto.
Zwei Stunden später stehe ich im Café Criminale und starre, bewaffnet mit einem Kännchen heißer Milch in der einen und einem frischen Espresso in der anderen Hand, auf mein Tablet. Eine dynamische Barista erklärt mir, wie ich es schaffe, ein Herzmuster aus Milchschaum in den Kaffee zu gießen. Cappuccino schmeckt so viel besser, wenn er ästhetisch angerichtet ist, aber es ist schwieriger als gedacht, kleine Kunstwerke in die Tasse zu zaubern. Ich schwenke das Kännchen, setze an, gieße die Milch hinein und ziehe den Milchstrahl am Ende durch den Schaum – doch mein Herz sieht eher aus wie ein lachender Kartoffelsack.
Die Hälfte der Plätze ist belegt. Ich habe heute einige meiner Stammgäste bedient, hauptsächlich ältere Menschen oder junge Eltern, die sich zum Kaffeeklatsch verabredet haben. Als Beke noch ein Säugling war, bin ich oft mit ihr im Bibliothekscafé gewesen, wo es Kaffee aus Automaten gegeben hat. Ich hätte es mir nicht leisten können, jeden Tag in einem Café zu verbringen. Eine kinderfreundliche Ecke war mir deshalb schon bei der Gründung vor zehn Jahren ein Anliegen. Eine Spielzeugkiste, ein Regal voller Kinderbücher und eine Malecke können wahre Wunder bewirken, wenn man mit seinen Freundinnen mehr als einen Satz wechseln möchte.
Obwohl ich dem Valentinstag nichts abgewinnen kann, habe ich mich von meiner Angestellten Irina, von Beke und unserem Bürgermeister, König Gunnar, überreden lassen, das Café entsprechend zu dekorieren. Natürlich bleibe ich dabei dem Vintage-Stil treu, den das Kaffeehaus auszeichnet. Alle Tische zieren heute Decken in sattem Altrosa. Zu Rosen konnte ich mich wirklich nicht durchringen, aber auf den Tischen stehen rosafarbene Tulpen und Kerzen. Jeder Gast bekommt ein Schokoladenherz, sobald er am Platz sitzt. Irina hat eine Herzgirlande im gesamten Innenraum aufgehängt, die mich sehr an die von Laura erinnert. Vor der Treppe, die auf die Galerie führt, steht eine Säule, auf der normalerweise unser Gästebuch ausliegt. In dieser Woche habe ich das Buch »Schreiben Sie mir oder ich sterbe« ausgelegt, aufgeschlagen beim Brief von Katharina der Großen an Fürst Grigori Potemkin.
Irina hat sich sogar eine eigene Kaffee-Valentinstagkreation ausgedacht, die sie »Rosa Liebe« genannt hat: Ein Espresso, in den sie Schokoladensoße und Himbeersirup mischt. Aufgegossen mit Milchschaum und angerichtet mit etwas Kakaopulver und sanften Linien aus Himbeersirup, wird das zum echten Hingucker und schmeckt besser als erwartet.
Wie an jedem Donnerstag, treffen sich auch die Frauen aus dem Seniorensport bei mir, um ihre abgestrampelten Kalorien mit einem Stück Butterkuchen wieder aufzufüllen. Der tänzelnde Akkordeonklang eines französischen Liebesliedes gleitet durch den Raum und mischt sich mit den leisen Gesprächsfetzen der Gäste. Irina, die gute Seele meines Cafés, bringt neue Muffins mit Herzchenstreuseln aus der Küche. Hemingway, ihre französische Bulldogge, schlummert zufrieden in seinem Körbchen unter dem Verkaufstresen und bekommt von der Herzenarmada nichts mit. Dabei ist es gerade er, der von den Gästen am ausgiebigsten liebkost wird.
Meine Brust schwillt einen Moment voller Stolz an, als ich die Szene auf mich wirken lasse. Meine Vision vor nunmehr zehn Jahren war, ein Stück Frankreich der Zwanzigerjahre an die Nordsee zu holen und den »Fischköppen« – zu denen ich mich auch zähle – zu zeigen, dass Gemütlichkeit, Heimatliebe und Stil sich nicht ausschließen, sondern ergänzen. Selbst wenn ich als überzeugter Single gezwungen werde, alles ins Zeichen der Liebe zu stellen, behalte ich die Eleganz bei, die ich so an den Goldenen Zwanzigern liebe.
Die schmiedeeiserne Türglocke bimmelt leise. Seine Majestät, König Gunnar, beehrt uns mit seiner Präsenz. Er bleibt im Eingangsbereich stehen und sieht sich hektisch um. Als er mich entdeckt, reißt er die Arme nach oben und stolpert auf mich zu. »Kea! Liebe Kea!«
Gunnar sieht aus, wie ich mir den Weihnachtsmann mit Ende 40 vorstelle: füllig, freundlich, mit üppigem Schnäuzer und buschigen, graumelierten Augenbrauen. Vor ein paar Monaten habe ich ein Bild von Georges Clemenceau gesehen, dem französischen Ministerpräsidenten von 1920. Daraufhin habe ich mit Beke zusammen die Theorie aufgestellt, dass Gunnars Vorfahren mit ihm verwandt sein müssen, denn die beiden gleichen sich bis auf die Haarspitzen – jedenfalls äußerlich.
»Eure Majestät«, erwidere ich lächelnd. »Wie kann ich Euch heute dienlich sein?«
»Ich brauche deine Hilfe. Tjadesiel braucht deine Hilfe!«
»Im Grunde braucht die ganze Welt meine Hilfe«, ergänze ich bescheiden. »Wo brennt der Schuh?«
Er wirkt eine Sekunde lang irritiert, dann lacht er. »Du wieder mit deinen Witzen. Wir wollen einen Weltrekord aufstellen: Tjadesiel schreibt den längsten Liebesbrief des Planeten!«
Meine hochgezogenen Augenbrauen sind offenbar nicht die Reaktion, die er sich gewünscht hat. »Bevor du weiterredest, Gunnar, wollte ich nur kurz sagen, dass mich das nicht interessiert.«
Gunnar gestikuliert und ignoriert meine Spitze. »Stell dir doch mal vor, was das für Publicity in die Stadt bringt! Alle Zeitungen in der Region werden darüber berichten. Es werden Touristen kommen, um den Brief zu sehen – oder sogar, um selbst einen zu schreiben.« Er zeichnet mit den Händen ein imaginatives Banner in die Luft. »›Tjadesiel, die romantischste Stadt an der Nordsee‹! Das würde dir auch helfen, Kea. Das Café wäre immer voll!«
Ich sehe mich um. Mittlerweile sind wir zu etwa achtzig Prozent ausgelastet.
Er scheint meine Gedanken lesen zu können. »Publicity ist trotzdem immer gut«, beharrt er. »Wir müssen im Gespräch bleiben. Werbung machen. Marketing. Social Media. Alles!«
»Warum nicht gleich eine Live-Übertragung aus einem Hubschrauber?« Ich werde ungeduldig. »Was genau möchtest du von mir, Gunnar?«
»Die Regeln sind einfach: Es werden alle Zettel gezählt, auf denen ein Liebesbrief oder ein Liebesgedicht verzeichnet ist. Dafür werden DIN A4-Seiten genommen, pro Brief nur eine Seite.«
»Wie unfair«, entgegne ich. »Ich allein könnte dir schon einen dreiseitigen Liebesbrief mit Lobeshymnen schreiben.«
Das scheint ihm zu schmeicheln. »Jeder soll den Brief gut leserlich mit seinem Namen unterzeichnen und das Datum dazuschreiben.«
»Und wo ist der Haken?«
»Haken? Ja, nun … also.« Wieder zögert er.
»Spuck’s aus.«
»Okay, also: Wir haben nur bis Samstag Zeit. Feendensiel hat uns herausgefordert.«
Ich stöhne in gespielter Verzweiflung auf. Es ist immer das Gleiche mit dem angekratzten Ehrgefühl des Patriarchats. »Du meinst, Ole Hansen hat dich herausgefordert.« Der Bürgermeister unseres Nachbardorfes, mit dem uns eine lang gehegte und weitervererbte Feindschaft verbindet, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Gunnar bei jeder Gelegenheit zu zeigen, dass Feendensiel besser ist als unser Tjadesiel.
Was natürlich nicht stimmt.
»Ist das eine spontane Idee bei einem Bier zu viel gewesen oder weihst du mich auf den letzten Drücker ein, damit es spannender wird?«
Unsicher lächelt Gunnar, weil er vermutlich nicht einordnen kann, ob ich ihn zwischen den Zeilen kritisieren will. »Es ist schon ein bisschen spontan. Umso mehr vertraue ich auf die große Motivation und das Engagement unseres Dorfes.«
»Und wie hoch ist denn der aktuelle Rekord?«
Der Bürgermeister sieht sich plötzlich interessiert die Decke an.
»Gunnar?«
Er räuspert sich. »Also genau genommen … gibt es … diesen Rekord so noch nicht. Der längsteBrief ist dreiundzwanzig Kilometer lang.«
Ich versuche, schnell im Kopf zu überschlagen, wie viele Personen wie viele Zettel beschreiben müssen, um das hinzubekommen, lande aber bei einer unmöglichen Summe. »Wie lange hat das bitte gedauert, das alles zu schreiben?«
Gunnar steckt die Fäuste in die Hosentaschen. »Aznmn.«
»Wie bitte?«
Er räuspert sich wieder und tänzelt von einem Fuß auf den anderen, als wäre der Boden zu heiß. »Achtzehn Monate.«
Ich kann nicht anders als laut zu lachen. »Entschuldige«, pruste ich, als ich in Gunnars verärgertes Gesicht sehe, »aber ich dachte, du hättest achtzehn Monate gesagt.«
»Es handelt sich bei uns um einen neuen Rekord, also vergiss die Zahlen wieder. Jedenfalls will Feendensiel am Samstag den längsten Liebesbrief der Welt geschrieben haben und wir werden sie besiegen.«
»Und du möchtest mich lieb und nett fragen, ob ich dabei helfen kann.«
»Es ist deine heilige Pflicht«, korrigiert mich Gunnar mit ernster Stimme.
Ich schlage mir an die Brust und neige ehrerbietend den Kopf. »Du hast Recht. Sollte ich dich durch mein Leben oder meinen Tod schützen können, werde ich es tun. Du hast mein Schwert.«
»Ähm.« Gunnar kratzt sich am Hinterkopf. »Danke.«
»Gibt es auch einen Empfänger?«
Er nickt. » Der Adressat ist die Menschheit.«
Ein Liebesbrief an die Menschheit. Na klar. »Tiefstapeln war noch nie mein Ding.«
»Jeder eine Seite«, wiederholt er. »Der Brief mit den meisten Seiten gewinnt. Kümmerst du dich darum?«
Ich seufze. Warum kann ich nie nein sagen, wenn es um Aktionen in meinem Herzensdorf geht? »In Ordnung.« Vielleicht lenkt mich das von diesem Mord ab. »Aber jetzt muss ich wirklich arbeiten.« Mit diesen Worten reiche ich unserem Bürgermeister einen Herzkeks.
Ich beobachte, wie Gunnar sich eine Tageszeitung aus dem extra dafür bereitgestellten Zeitschriftenständer nimmt und sich an den Bartresen setzt.
Eine sehr niedergeschlagen wirkende Frau betritt das Café.
»Sie sehen aus, als könnten Sie einen Kaffee gebrauchen, bei dem König Artus höchstpersönlich erscheinen muss, um den Löffel aus der Tasse zu ziehen«, begrüße ich sie. »Oder vielleicht Ecstasy? Ich habe da einen Dealer im Hinterhof.«
Sie sieht mich fragend an.
»War nur ein Scherz.«
Ihr steigen Tränen in die Augen. Die Frau ist sehr dünn, fast mager. Ihre blonden Haare sind zu einem Zopf gebunden. Die Designerbrille ist vom Nieselregen voller Tropfen. »Ich suche Kea Klaasen.«
»Ich stehe vor Ihnen.«
»Oh.« Die Frau lächelt kurz. »Herr Seiler von der Polizei hat mich an Sie verwiesen. Ich bin Levke Ahlers.«
Ich merke, wie ich skeptisch die Augenbrauen zusammenziehe. »Aha?« Was habe ich getan, damit dieser Kommissar jemanden nach mir schickt?
»Die Polizei hat mir die Nachricht … von … meinem Mann überbracht.«
Mein Herz wird schwer. Valentins Frau!
Ihre Unterlippe zittert. »Und am Ende unserer Unterredung habe ich gefragt, wohin ich mich wenden soll wegen psychischer Unterstützung.«
Ich warte ab. Unmöglich, dass dieser Kommissar ausgerechnet mich dafür empfohlen hat.
»Herr Seiler hat mir geraten, eine Traumatherapie zu machen, aber man wartet ja Monate darauf, einen Platz zu bekommen. Ihm fiel dann ein, dass Sie ein besonderes Café haben, in dem man wieder Kraft tanken kann und er sagte, ich könne hier mal vorbeischauen. Zu Hause halte ich es einfach nicht aus.«
Ich frage mich, ob Kommissar Seiler schon selbst hier Gast war. Er wäre mir sicher aufgefallen. »Das Café Criminale ist für alle Fälle der richtige Ort. Sehen Sie das Regal dort?« Ich deute auf ein hohes Holzregal zu meiner linken Seite, in dem Unmengen an Büchern stehen. »Dort finden Sie in der oberen Hälfte Ratgeber zu allen Lebenslagen: Liebeskummer, finanzielle Schwierigkeiten, Familienprobleme, Persönlichkeitsentwicklung, Sinnsuche, Spiritualität und so weiter. In der unteren Hälfte sind Romane, die Ihnen helfen können, mit den aktuellen Schwierigkeiten umzugehen. Wenn Sie mir sagen, was Sie suchen, finde ich für Sie eine passende Buchmedizin.«
Levke Ahlers wirkt erleichtert. »Ich wollte eigentlich nicht herkommen, um ehrlich zu sein. Es kommt mir falsch vor, mich in ein Café zu setzen, wenn ich gerade meinen Mann verloren habe.«
Ich nicke verständnisvoll. »Und gleichzeitig drehen Sie durch, wenn Sie zu Hause sind und jeder Winkel an ihn erinnert.«
»Genau.«
»Das mit der Traumatherapie würde ich auf jeden Fall so schnell wie möglich angehen, aber Bücher können wenigstens für ein paar Stunden den Schmerz lindern.« Ich gehe mit ihr zum Regal. »Lesen Sie lieber Romane oder Ratgeber?«
»Romane.«
Mit suchendem Blick huschen meine Augen über die Buchrücken, bis ich an zwei Büchern hängen bleibe und ihr beide in die Hand gebe.
»Und wenn Sie dann noch einen Latte Macchiato hätten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
»Bringe ich Ihnen gerne. Den normalen oder möchten Sie eine Variante mit Schokolade und Himbeeren versuchen?«
»Der Normale reicht, danke.« Sie sieht sich um und geht dann in eine der Ecken, in denen man am wenigsten gesehen wird. Es zerreißt mich innerlich, diese Witwe unter der Herzchengirlande zu sehen. Ausgerechnet am Nachbartisch hält ein jugendliches Pärchen Händchen und küsst sich fast ununterbrochen.
Auf meinem Weg zur Theke merke ich, dass Gunnar gegangen ist. Seltsame Ideen hat dieser Mann, und immer fällt ihm eine neue Verrücktheit ein. Vergangenes Jahr hat er die Kinder der siebten und achten Klasse zum Valentinstag genötigt, auf dem Marktplatz Liebesäpfel zu verteilen. Die Vorstellung eines kilometerlangen Liebesbriefes finde ich ganz nett. Während der Espresso dampfend ins Glas läuft, überlege ich, wie ich möglichst viele Tjadesieler dazu animieren kann, der Menschheit einen Liebesbrief zu schreiben. Ich muss unbedingt Beke mit ins Boot holen.
Und ich bringe Herrn Seiler später den gefundenen Zettel, der unberührt in meiner Manteltasche liegt. Vielleicht schaffe ich es ja sogar, mehr über den Fall zu erfahren. Für Laura wünsche ich mir, dass dieser Kommissar kompetenter ist als sein Vorgänger vor fast achtzehn Jahren.
»Bitte sehr«, sage ich, als ich der Witwe ihr Getränk bringe. »Und ein bisschen Schokolade gibt es noch dazu.« Ich reiche ihr ein kleines Schokoherz. »Wie finden Sie das Buch?«
»Es fängt schon richtig gut an, danke. Hoffentlich lenkt mich das ein bisschen ab. Ich habe, ehrlich gesagt, ganz schön Bammel vor dem, was alles auf mich zukommt.«
»Darf ich?« Ich deute auf den freien Platz neben ihr.
Sie nickt und ich setze mich. Wenn meine Gäste Kummer haben, habe ich immer ein offenes Ohr. »Es ist kein Wunder, wenn Sie sich gerade irgendwie verloren fühlen. Vielleicht ist das noch der Schock. Wie fühlen Sie sich?«
Levke starrt auf das aufgeschlagene Buch. »Taub. Als wäre ich in Watte gewickelt.«
»Was brauchen Sie gerade?«
Sie sieht mir in die Augen. »Das hat mich schon lange niemand mehr gefragt.« Es vergehen einige Sekunden, in denen sie über die Antwort nachdenkt. »Ich möchte einfach mit jemandem reden, der mich nicht gleich mit Beileidsbekundungen überschüttet oder selbst so traurig ist, dass ich das Gefühl habe, ihn trösten zu müssen. Wissen Sie, normalerweise schreibe ich mir alles von der Seele. Ich habe Dutzende Tagebücher zu Hause, die schon so mit Tränen getränkt sind, dass sie eigentlich wellige Seiten haben müssten. Aber heute habe ich keine Worte gefunden. Ich bin wie eingefroren.«
»Wie gut, dass Sie heißen Kaffee haben«, sage ich lächelnd. »Hat Kommissar Seiler Ihnen gesagt, dass ich gestern am Tatort war?«
Sie sieht mich überrascht an. »Nein.«
»Ich habe den Bruder der Hausbesitzerin hingefahren, nachdem es passiert ist.«
Levke Ahlers putzt ihre Brille und setzt sie wieder auf. Ihr Gesichtsausdruck hat sich verändert. Es wirkt jetzt eher so, als würde sie ein geschäftliches Meeting mit mir haben. »Sie haben ihn gesehen? Valentin meine ich.«
Ich nicke.
Levke schüttelt den Kopf. »Wie konnte sie das nur tun?«
»Wer konnte was tun?«
»Na, es ist doch offensichtlich, dass diese Frau ihn umgebracht hat. Diese Laura von Dingsbums, bei der er gefunden wurde. Es ist in ihrem Esszimmer passiert, das sagt doch alles.«
»Ach ja?«
»Ich sehe vielleicht blöd aus, aber ich kann eins und eins zusammenzählen. Ist doch klar, was da lief.«
»Wenn ich das richtig mitbekommen habe, dann gibt Frau von Steiner an, zum Todeszeitpunkt im Badezimmer gewesen zu sein. Und die Terrassentür zum Esszimmer stand offen, als sie wiederkam. Es scheint möglich gewesen zu sein, dass jemand unbefugt eingedrungen ist.«
Skeptisch zieht Levke Ahlers eine Augenbraue hoch und trinkt einen Schluck. »Hat sie Zeugen, die das bestätigen können? Ich denke nicht. Wahrscheinlich gab es irgendein Problem zwischen den beiden und sie ist durchgedreht. Vielleicht war es wegen mir?«
Mit derart vorschnellen Rückschlüssen bin ich vorsichtiger. »Als was hat Ihr Mann gearbeitet? Könnte es ein Geschäftsessen gewesen sein?«
»Wir sind Beziehungscoaches. Wir helfen dabei, die Liebe des Lebens zu finden und zu halten. Ironisch, nicht wahr? Wo wir es anscheinend selbst nicht hinbekommen haben.«
»Ich bin die Letzte, die sich ein Urteil darüber erlauben würde. Ich bin mit sechzehn schwanger geworden und weiß nicht, wer der Vater ist, also … bei Beziehungsfragen bin ich raus. Wie war Valentin so als Mensch?«
Ich habe erwartet, dass sich Levkes Gesichtsmuskeln beim Gedanken an ihren Mann etwas entspannen würden und ich damit wieder mehr Vertrauen gewinnen könnte, aber stattdessen presst sie die Kiefer aufeinander. »Er war …« Sie zögert, als würde sie abwägen, ob sie ehrlich sein darf. »… ehrgeizig. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann wollte er es unter allen Umständen durchsetzen. Als Coach ist er … ich meine, war er deshalb so erfolgreich, weil er unseren Kundinnen und Kunden knallhart gesagt hat, woran sie arbeiten müssen. So viele Coaches fassen einen mit Samthandschuhen an und stehen wie Cheerleader am Spielfeldrand, ohne wirklich etwas beizutragen. Bei Valentin war das anders. Er hat die Leute um sich herum zu Höchstleistungen angetrieben.«
»Also quasi ein Reinhold Messner der Selbstfindung.«
»Wie?«
»Er bringt dich auf den Gipfel, auch wenn du unterwegs ein paar Zehen verlierst.«
Nun lächelt Levke Ahlers. »Das beschreibt es tatsächlich sehr gut.«
»Aber …« Ich weiß nicht genau, wie ich den Satz formulieren soll, ohne ihr zu nahezutreten. »Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen sich Empathie von ihrem Coach wünschen.«
Levke hält meinen Blickkontakt. »Natürlich«, sagt sie in einem Tonfall, der deutlich nüchterner klingt als vorher. »Als Coach darf man jedoch nicht den Fehler machen und sich auf die Seite der Kundin oder des Kunden schlagen. Ich bin nicht Ihre Freundin, wenn Sie in meiner Beratung sind. Freundinnen stimmen in das Leid mit ein und bestärken die eigene Meinung – das macht eine gute Freundin aus, oder? Ein Coach stellt jedoch auch unbequeme Fragen und hinterfragt die Meinung der Kundin.«
Das leuchtet mir ein, obwohl ich noch nie darüber nachgedacht habe. »Hatte Ihr Mann ansonsten Feinde?«
Levke Ahlers zögert. »Sie klingen wie die Polizei.«
Ich lächle sie entschuldigend an und hebe abwehrend die Hände. »Tut mir leid, ich versuche nur, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Könnte es nicht sein, dass ihm jemand aufgelauert hat?«
»Ich will ja auch wissen, was passiert ist. Wahrscheinlich hat jeder Mensch, der in der Öffentlichkeit steht, irgendwelche Feinde.« Sie scheint sich die Frage noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. »Einer, der mir einfällt, ist Harm Janssen. Valentin hat ihn länger gecoacht, aber die Beziehung ging dennoch in die Brüche und Herr Janssen hat Valentin dafür verantwortlich gemacht.«
Das klingt nach einer Möglichkeit. »Die Pflicht ruft leider«, sage ich und deute auf den Thekenbereich, wo bereits jemand darauf wartet, bezahlen zu können. »Lesen Sie in Ruhe weiter. Wenn Sie möchten, können Sie sich den Roman auch ausleihen. Er ist wirklich gut.«
»Ich glaube, das werde ich tatsächlich tun. Sagen Sie, wäre es in Ordnung, wenn wir Nummern austauschen? Das Gespräch hat mir gut getan.«
Ich überlege kurz. Ob der Kommissar wohl etwas dagegen hätte? Aber was soll schon passieren? Vielleicht bekomme ich ja sogar wichtige Informationen, die ich an Mr. Sexy weitergeben kann. »Sehr gerne.«
Levke Ahlers gibt mir ihr Handy und ich tippe meine Nummer ein.
Sie speichert meinen Eintrag. »Ich schicke Ihnen eine Nachricht, dann haben Sie meine Nummer auch.«
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
Levke lächelt gequält. »Klären Sie diesen Mord auf.«
»Ich sehe, was sich tun lässt.«
Um die Mittagszeit kommt Beke ins Café, da mal wieder die letzten beiden Schulstunden ausfallen. Wir teilen uns einen Teller Bruschetta und bestellen anschließend Krabbensuppe bei Antoine, unserem Koch. Eigentlich heißt er Anton, aber seit er in Frankreich gearbeitet hat, pflegt er einen französischen Akzent und lässt jeden glauben, dass er ein waschechter Franzose sei.
»Schöne Deko«, meint Beke und deutet auf die Herzgirlande und Tischdeko. »Man könnte fast meinen, dass du den Valentinstag magst.«
»Du hast mich dazu überredet, schon vergessen? Wie war dein Date?«
»Ist es noch ein Date, wenn man schon zusammen ist?«
»Eine Date Night. Sagt man doch so, oder? Also ich und meine freshen Homies sagen sowas, wenn wir auf Lock chillen.«
Beke rollt hinter ihrer schwarzen Brille mit den Augen. »Lass das, du bist peinlich.«
»Es heißt ›cringe‹, Kind. Lernst du denn gar nichts Anständiges in der Schule?«
Meine Tochter hat die ellenbogenlangen, braunen Haare zu einem seitlichen Zopf geflochten, der ihr lose über die Schulter fällt. Die Ärmel ihrer Lederjacke sind hochgeschoben und geben den Blick auf ihre zahlreichen Armbänder frei, wovon mindestens die Hälfte Festival-Einlassbänder sind. Aus ihr ist in den letzten zwei Jahren eine junge Frau geworden und ich weiß noch nicht, wie ich das finde. Einerseits bin ich dankbar dafür, dass ich mittlerweile einen Großteil meiner persönlichen Freiheit wieder habe. Andererseits vermisse ich die Zeiten, in denen sie noch so viel abhängiger von mir war.
»Zuerst war Bandprobe. Hast du schon reingehört? Ich habe dir zwei neue Lieder geschickt.«
Ich nicke. »Selbstverständlich. Habt ihr etwas an den Texten verändert? Es klingt anders als sonst.«
Beke lächelt schüchtern. »›Why don’t you leave‹ ist von mir.«
»Wow, echt? Das hat mir richtig gut gefallen!« Eine Welle von Stolz und Liebe strömt durch meinen Körper.
»Danach sind wir alle essen gewesen und Felix und ich waren im Kino. Das war es im Grunde.«
Das Kino in Tjadesiel hat nur einen Saal und ist seit Jahrzehnten nicht renoviert worden. Geführt wird es von einem schrulligen Ehepaar, das für mich bereits als Kind steinalt war. Natürlich weiß ich, dass Bekes Abend nicht im Kino geendet hat, aber ich gehe nicht näher darauf ein. »Mein Abend war ereignisreicher.«
»Ich will es lieber nicht wissen.« Sie denkt vermutlich, ich wolle ihr von Alexanders Liebesqualitäten erzählen.
»Ich sag’s dir trotzdem.«
»Das ist übergriffig und bestimmt nicht jugendfrei.«
»Ich war bei einem Mord.« Meine Stimme ist nun leiser, weil ich nicht will, dass Levke Ahlers am Ende des Raums hört, wie wir über ihre Situation sprechen.
Beke reißt die Augen auf. »Was?«
»Ich war nicht live dabei, keine Angst. Ich hatte ein Date, wie du weißt, und seine Schwester rief an, weil in ihrem Esszimmer jemand erstochen wurde.«
»Uff. Krass.« Beke vergisst, ihre Krabbensuppe zu essen. »Wer war es?«
»Keine Ahnung. Gerade sitzt die Ehefrau des Opfers hier im Café; aber drehe dich jetzt bitte nicht um. Der Tote war ein Beziehungscoach.«
Beke hängt an meinen Lippen. Die Liebe zu Kriminalfällen habe ich ihr definitiv vererbt. »War es ein Coachingtermin?«
Ich warte ein paar Sekunden, ehe ich antworte. »Das weiß ich noch nicht, aber ich kann es mir kaum vorstellen. Ich habe den Tisch gesehen: Da standen Kerzen, die Gastgeberin hat gekocht, überall war Valentinstagsdeko … sah für mich sehr nach Romantik aus. Außerdem trug sie hohe Schuhe und ein schwarzes Minikleid. Würdest du das zu einem harmlosen Coaching anziehen?«
»Nur, wenn ich den Coach rumkriegen will.«
»Eben.«
»Ob seine Frau das weiß? Stell dir mal vor, dein Mann wird ermordet und du findest heraus, dass er eine Affäre hatte.«
Ich kratze die letzten Tropfen der Krabbensuppe vom Teller. »Ich glaube, sie hat es tatsächlich erst von der Polizei erfahren. Wenn sie es doch schon vorher gewusst hat, wäre das andererseits ein Tatmotiv.«
Beke überlegt. »Du meinst, seine Ehefrau könnte die Affäre herausgefunden haben, ist ihrem Mann nachgefahren und hat ihn ermordet? Klingt nach einer schlechten RTL-Serie.«
»Das ist ein Pleonasmus.«
»Gesundheit.«
»Du hast doch Deutsch als Leistungsfach. Müsst ihr keine Stilmittel auswendig lernen?«
Beke ignoriert meinen Einwurf. »Hätte die Ehefrau dann nicht eher die Liebhaberin umgebracht? Oder sich eine Situation ausgesucht, in der sie ihren Mann ohne Zeugen erledigen kann?«
»Guter Punkt. Vielleicht wollte sie den Verdacht auf die Liebhaberin lenken? Oder sie ist einfach ausgerastet und hat den Terminator gemacht. Warte mal kurz hier.« Ich stehe auf und gehe in den Bereich, der nur dem Personal vorbehalten ist. Dort ziehe ich meine Satinhandschuhe an und nehme den Zettel aus der Manteltasche. So unauffällig wie möglich suche ich wieder Beke auf. »Das hier habe ich beim Tatort gefunden. Nicht anfassen.« Ich lege den Zettel zwischen uns. »Ich bringe ihn später zur Polizei, versprochen«, sage ich und weiche ihrem vorwurfsvollen Blick aus.
»Bitte sag mir, dass ich mich verhört habe. Mama, spinnst du?«
Ich hebe abwehrend die Hände hoch. »Ich schwöre, ich habe den Zettel gefunden und erst später realisiert, dass das ein Beweisstück sein könnte.«
»Du hättest ihn sofort abgeben müssen.«
»Mache ich doch auch. Jetzt schau es dir doch mal an.«
Beke schüttelt den Kopf, liest dann aber doch, was auf dem Zettel steht. »Ich weiß es. Hm. Könnte die Ehefrau das geschrieben haben? Aber warum sollte sie das tun?«
»Fragen über Fragen. Es könnte auch die Liebhaberin gewesen sein. Vielleicht war sie in ihn verliebt, aber er wollte seine Frau nicht für sie verlassen. Eskalation am Valentinstag. Sie behauptet zwar, die Terrassentür hätte offen gestanden, aber beweisen kann sie es natürlich nicht.«
»Sieht nicht gut aus für sie.«
Ich schüttele den Kopf. »Nein … aber andererseits frage ich mich, warum sie es so offensichtlich hätte machen sollen. In dieser Konstellation ist doch klar, dass der Verdacht sofort auf sie fällt. Da stimmt etwas nicht.«
Beke schiebt den leeren Teller ein Stück von sich weg und tupft sich mit einer Serviette den Mund ab. »Außer, sie kann glaubhaft versichern, dass jemand bei ihr eingestiegen ist. Wie sieht es mit Fingerabdrücken aus?«
»Keine Ahnung.«
Meine Tochter tippt auf ihrem Handy herum. »Wie heißt denn diese … Beziehungscoachingpraxis? Vielleicht finde ich etwas heraus.«
»Der Mann hieß Valentin und seine Frau Levke Ahlers. Willst du mich zur Polizei begleiten?«
Beke entscheidet sich dagegen. »Ich muss unbedingt Bio lernen, wir schreiben am Dienstag ’ne Klausur.«
»Und du hast Angst, nur 14 Punkte zu bekommen.«
»Ach, du willst schon gehen?«
Ich lache. »Zu Hause müsste noch ein eingeschweißtes Escape-Room-Spiel rumliegen. Wollen wir das heute entjungfern?«
Beke grinst. »Ich frage mich, ob andere Mütter auch so mit ihren Kindern sprechen.«
»Glaubst du, dass wir überhaupt noch Gäste hätten, wenn sie wüssten, wie wir reden, wenn niemand zuhört?«
Sie rückt von der Eckbank herunter und schultert ihren Rucksack. Sanft drückt sie mir einen Kuss auf die Wange. »Nein.«
»Ich liebe dich«, sage ich lächelnd.
»Ich weiß.«
Wieder einmal erwische ich mich bei dem Gedanken, wie verdammt unvernünftig ich im Gegensatz zu ihr war, als ich ihre Mutter wurde. Kaum ist Beke aus der Tür, fällt mir ein, dass ich mit ihr über den Rekordversuch sprechen wollte. Mist. Dann muss das warten, bis ich sie wiedersehe.
Ich organisiere einen großen Stapel Papier und lege einen Kugelschreiber dazu. Beides platziere ich mitsamt einer Kurzbeschreibung neben dem Liebesbriefe-Buch.
Wollen wir doch mal sehen, ob wir einen Rekord aufstellen können.
»Liebe Gäste, wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte?« Tatsächlich verstummen nach und nach die Gespräche. Hier und da plappert noch ein Kleinkind. Auch Levke Ahlers sieht interessiert auf. »Tjadesiel braucht unsere Hilfe. Unser Nachbarort Feendensiel hat uns am Valentinstag herausgefordert und behauptet, dass wir es nicht schaffen würden, den längsten Liebesbrief der Welt zu schreiben. Aber da kennen sie uns schlecht! Man mag uns ja für mundfaul halten, aber wir sind keine gefühllosen Wesen. Im Gegenteil! Ich lege auf jeden Tisch Papier und Stifte und möchte Sie bitten, einen Liebesbrief an die Menschheit zu schreiben. Bitte unterzeichnen Sie den Brief leserlich mit Namen und Datum, damit es zählt. Danke! Zeigen wir unserem Nachbardorf, dass auf Tjadesiel immer Verlass ist!«
Tjadesiel hat nur eine klitzekleine Polizeistation, die chronisch unterbesetzt ist. Bei größeren Delikten – und natürlich bei Kapitalverbrechen – rückt die Polizei aus Neustadt an, um den Fall zu lösen. Jeder hier weiß, dass die dortige Wache ebenfalls überfordert ist, auch wenn Menschen wie Kriminalhauptkommissar Julian Seiler das sicherlich nicht zugeben würden.
Ich parke am Straßenrand und ziehe im Rückspiegel meinen roten Lippenstift nach. Dann rücke ich meinen Glockenhut zurecht, sodass er passend sitzt. Nichts ist nerviger als ein Hut, der sich anfühlt, als würde das erstbeste Lüftchen ihn vom Kopf pusten. Obwohl ich den Hut und den dazu passenden Vintage-Mantel schon vor fünf Jahren gekauft habe, sieht er noch immer aus wie neu und ich bekomme ständig Komplimente dafür. Niemand würde mir glauben, dass ich vor ein paar Jahren absolut unfähig war, mich modisch zu kleiden.
Ich betrete das unscheinbare Backsteingebäude und treffe direkt auf den jungen Kriminalkommissar Feldhagen, der sich gerade einen Kaffee an einem Automaten zieht. »Moin, Herr Kommissar. Wissen Sie, dass Sie mit diesem ekeligen Gesöff ein Verbrechen an Ihren Geschmacksnerven verüben?«
Er blickt auf. »Oh, Sie sind’s!« Seine Augen ruhen ein paar Sekunden auf meinem Hut und Mantel. Dann sieht er auf seine Plörre. »Glauben Sie mir, ich würde auch lieber etwas Besseres trinken, aber die Maschine in der Küche funktioniert gerade nicht.«
Ich lächle mütterlich. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich Ihnen etwas aus meinem Café mitgebracht.« Obwohl der Kerl nur ein paar Jahre jünger ist als ich, habe ich das dringende Bedürfnis, ihn unter meinen Fittichen zu verstecken, damit die böse Welt ihm nichts anhaben kann. Mutig von ihm, Polizist zu werden. Zu gern wüsste ich, was ihn dazu gebracht hat. »Ist der Chef zu sprechen?«
Kommissar Feldhagen zögert. »Herr Seiler? Ich sehe, was ich tun kann. Wie war noch gleich Ihr Name?«
»Kea Klaasen.«
Dieser junge Mann würde einen passablen Rezeptionisten einer Hotelkette abgeben. Mit spitzen Fingern nimmt er seinen Kaffeebecher und verschwindet durch eine Milchglastür. Es wird still.
Ich habe mir immer vorgestellt, dass in Polizeistationen ständig das Telefon klingelt und jeder geschäftig an seinem Schreibtisch arbeitet, aber hier scheint das Leben in einem anderen Rhythmus zu schlagen – genau wie in Tjadesiel. Der Empfangsbereich der kleinen Polizeistation sieht aus, als hätte jemand in den 70ern beschlossen, dass Funktionalität und Charme nicht zusammengehören dürfen. Während ich warte, studiere ich die überquellende Pinnwand an der linken Raumseite. Die Hinweise und Notizen sind so alt, dass noch Faxnummern für Hinweise abgedruckt sind. Daneben verdurstet ein trauriger Ficus.
Nach ein paar Augenblicken erscheint Kommissar Feldhagen wieder und fordert mich auf, ihm zu folgen, was ich gehorsam tue. »Darf ich fragen, wie alt Sie sind, Herr Kommissar?«, frage ich beiläufig.
»Vierundzwanzig.«
Zehn Jahre jünger als ich. »Ziemlich jung für jemanden von der Mordkommission.«
»Oh … ähm …« Er reibt sich den Nacken. »Nun, ich habe auch erst vor Kurzem mein Studium beendet und hospitiere nun.«
»Ich finde, Sie machen das großartig«, sage ich aufmunternd und kann sehen, wie sehr ihn das kleine Kompliment ermutigt. Dann klopfe ich an die Tür, deren Schild mir bereitwillig preisgibt, dass hier »Kriminalhauptkommissar Julian Seiler« residiert. Ohne abzuwarten, trete ich ein. »Moin.«
Julian Seiler sitzt an einem Schreibtisch in einem Raum, der kaum größer als eine Gefängniszelle ist. Im Gegensatz zu meinem eigenen Büro, ist es hier aufgeräumt und fast schon steril. Der Schreibtisch beherbergt einen Monitor, eine Tastatur und eine Maus. Das war es. Die Wände sind bis auf einen Landschaftskalender kahl. Der Stuhl, auf dem Julian Seiler sitzt, hat die besten Jahre schon lange hinter sich und knarzt bei jeder Bewegung so dramatisch, dass er jeden Moment zusammenzubrechen droht. »Frau Klaasen vom Café Criminale.« Er sollte sich wirklich selbst dafür verhaften, mir ein so bezauberndes Lächeln zu schenken.
Ich setze mich ihm gegenüber, wobei sich der grüne Mantel teilt und den Blick auf mein Knie freigibt. Zufrieden registriere ich, dass er das zur Kenntnis genommen hat. »Woher kennen Sie mein Soulsaver-Prinzip?«, frage ich überrumpelnd.
»Wie bitte?«
»In meinem Café kann man nicht nur etwas essen oder trinken und Krimidinner erleben, sondern seine Seele baumeln und sich stärken lassen. Sie haben Frau Ahlers zu mir geschickt.«
Nun nickt er wissend. »Ja, meine … also, jemand hat mir davon erzählt. Dass Sie sogar Seelen retten, ist mir neu.«
»Jeder hat so seine Talente.«
Er grinst verschmitzt. »Und was möchten Sie von mir? Meine Seele ist wohlauf.«
»Freut mich zu hören. Vielleicht habe ich etwas, das Sie interessieren könnte. Ich möchte dafür nur ein paar Informationen.«
»Sie sind echt unverfroren. Ein Glück für Sie, dass ich gerade gute Laune habe.«
Fast wundere ich mich, dass er mich nicht gleich hinauswirft. »Beim Hinausgehen gestern ist mir etwas aufgefallen, das auf dem Boden lag. Zuerst dachte ich, es sei Müll.«
Er unterdrückt ein Seufzen. »Und was möchten Sie wissen?« Wir wissen beide, dass er mich einfach zwingen könnte, das Beweisstück auszuhändigen. Umso spannender, dass er sich auf mein Spiel einlässt.
»Den Stand der Ermittlungen.«
»Warum?«