4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €
Manche Leute bringen zu einer Party Geschenke mit – andere Gift. Die Jubiläumsfeier zum 10-jährigen Bestehen des „Café Criminale“ endet in einer Katastrophe, als der bekannte Journalist Kilian Jung auf der Bühne tot zusammenbricht. Für Cafébesitzerin und Vintage-Liebhaberin Kea Klaasen ist schnell klar: Das war kein Unfall! Mit ihrer 17-jährigen Tochter Beke an der Seite beginnt Kea, die Geheimnisse der Cafébesucher zu entwirren. Jeder scheint etwas zu verbergen und die Mutter-Tochter-Detektivarbeit bringt immer mehr Ungereimtheiten ans Licht. Doch die beiden haben nicht nur den Mordfall zu lösen – sie müssen auch ein Minischwein namens „Schnitzel“ aufspüren, das plötzlich spurlos verschwunden ist. Ein gemütlicher Krimi voller ironischer Dialoge, der Sie in seinen Bann ziehen wird. Perfekt für Leserinnen, die „Gilmore Girls“ und „Miss Fishers mysteriöse Mordfälle“ lieben!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Kea Klaasens 2. Fall
Für kostenlose Geschichten, unterhaltsame Schreibtischupdates und Informationen zu neuen Romanen, abonniere kostenlos Valeries „Möwenpost“:
https://www.valerienordmann.com/newsletter
Originalausgabe, 1. Auflage
Copyright © 2024 by Valerie Nordmann
Herausgegeben von Annika Bühnemann, c/o vom Schreiben leben, Edisonstr. 63, Haus A, 1. OG, 12459 Berlin
Buchsatz: Annika Bühnemann
Cover-/Umschlaggestaltung: Buchgewand Coverdesign (buch-gewand.de) unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: Vuang, jupiter8, Africa Studio, Zerbor, mpix-foto, paul; depositphotos.com: Ensuper
ISBN E-Book: 9783759240934
ISBN Taschenbuch: 9783759240354
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Erlaubnis durch die Autorin.
1. Was heißt »Fahr zur Hölle« auf Französisch?
2. Diese verdammte Pfanne
3. Die Geburt des Café Criminale
4. Taika
5. Eine Leiche im Café
6. Columbo in Tjadesiel
7. Sechster Sinn und schlechte Laune
8. Gib mir Tiernamen
9. Schnitzeljagd
10. Ritter in der Not
11. Der Brief
12. Der Überfall
13. Der Mörder ist immer der Gärtner
14. Der moralische Kompass
15. In Kilians Wohnung
16. Sie haben drei neue Nachrichten
17. In Ursels Kiosk
18. In »Greta’s Blumenboutique«
19. Nur eine Unterhaltung
20. Keine Spur von Schnitzel
21. Mama macht das schon
22. Der Eingang nach Narnia
23. Tjadesiels Schattenseiten
24. Im Tjadeschlösschen
25. Geheimnis Nummer eins
26. Ein Freitag im Oktober
27. Frostschutzmittel
28. Was ist Liebe?
29. Der geheimnisvolle Zeitungsartikel
30. Pläne schmieden
31. Schnitzel zum Abendbrot
32. Erwischt
33. Geheimnis Nummer zwei
34. Sherlock und Dr. Watson
35. Der frühe Vogel fängt den Wurm
36. Sönke Renken
37. Auf zu Clara
38. Im Tjadesieler Tageblatt
39. Recherche
40. Im Restaurant »Hafenkante«
41. Geheimnis Nummer drei
42. Telefonat mit Clara
43. Überraschung am Hafen
44. Erholung zu Hause
45. CSI Tjadesiel
46. Das Leben ist ungerecht
47. Im Bunker mit Sönke
48. Ausquetschen ohne Gegenleistung
49. Ein Foto auf dem Handy
50. Stress mit Seiner Majestät
51. Mord statt Bandprobe
52. Mamas Unfall
53. Neue Erkenntnisse
54. Einsturzgefährdet
55. Am Ende des Tunnels
56. Das letzte Geheimnis
57. Die Wahrheit
58. Freitag
Rezept: Karottensuppe mit Ingwer
Danksagung
Darf’s ein bisschen Meer sein?
Ich betrachte die festlich geschmückte Fassade des »Café Criminale« und ein unangenehmes Kribbeln in mir signalisiert Unheil. Meine sensiblen Sinne sind so zuverlässig wie die eines Trüffelschweins.
Bitte nicht heute. Ich habe mir solche Mühe mit dem Fest gegeben. Rein faktisch sehe ich keinen Anhaltspunkt, mir Sorgen zu machen: Die Papiergirlanden in französischen Farben tanzen ihren eigenen Cancan im Küstenwind, die helfenden Hände im Café sind euphorisch bei der Arbeit, die Sonne scheint und niemand ist krank geworden. Gut, meine Arme schmerzen und morgen wird mein Nacken weh tun, aber das ist es wert. Ich sollte mich einfach entspannen. Wahrscheinlich ist das nur die Aufregung.
»Sag nicht, du feierst deinen Abschied.« Eine Hand legt sich freundschaftlich auf meine Schulter.
Ich sehe nach rechts und blicke in das verschmitzte Gesicht von Kilian Jung, dem Chefredakteur des »Tjadesieler Tageblatts«, der einen Artikel über unser Jubiläum schreibt.
»Wieso Abschied?«
»Nachdem du neulich den Mord am Valentinstag aufgeklärt hast, bin ich davon ausgegangen, dass du ab jetzt ausschließlich Privatdetektivin bist.«
Ich lache. »Na klar, weil ich ein einziges Mal Glück hatte, schmeiß ich mein Lebenswerk hin und fange was völlig Neues an. Hast du nicht gehört, dass sie eine Netflix-Show daraus machen wollen?«
»Ich würde es dir zutrauen. Tjadesiels eigene Miss Marple, nur ohne Falten und Häkel-deckchen.«
»Erst einmal möchte ich mein Jubiläum feiern.« Dabei deute ich auf die tanzenden Girlanden, die sich noch mehr zu freuen scheinen als ich. »Danke, dass du meine großartigen Dekorationskünste für die Nachwelt dokumentierst.«
Er hält seine Spiegelreflexkamera hoch. »Stets zu Diensten, Miss Marple. Wo eine spannende Geschichte wartet, bin ich nicht weit.«
Wie wahr. Kilian ist es gewesen, der mehrere große Artikel über den Valentinstagsfall geschrieben und überregional veröffentlicht hat. Sogar ein bekannter Fernsehsender kam, um mich zu interviewen. Sehr zum Missfallen von Kriminalhauptkommissar Julian Seiler, der bei der bundesweiten Ausstrahlung nicht gut wegkam. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Schade eigentlich. Ich hätte ihn gerne in meinem Leben.
Meinem Café hat der Mordfall zu noch größerer Popularität verholfen. Schon zuvor ist es kaum möglich gewesen, dem Andrang gerecht zu werden. Wenn es so weitergeht, muss ich wohl doch mehr Personal einstellen.
Kilian macht ein Foto der viktorianisch angehauchten Fassade mit den Girlanden, Luftballons und der riesigen Zehn, die ich in einem halsbrecherischen Akt, auf einer Leiter balancierend, über der Eingangstür aufgehängt habe. Wenn mich mein Personal auf der Leiter mit den Absatzschuhen erwischt hätte, wäre ich vermutlich von Menschen in weißen Kitteln abgeholt worden.
»Wir machen mal ein Foto vor dem Gebäude.« Obwohl Kilian auf den ersten Blick enthusiastisch wirkt wie eh und je, entgeht mir nicht sein nervöses Gebaren. Er wirkt gehetzt. Dabei müsste ich es doch sein, die heute aufgeregt ist.
Gehorsam bringe ich mich in Pose. Der Wind spielt mit meinem Seidenschal und lässt ihn vor meinem Gesicht auf und ab tanzen. Ich ordne meinen Bob, der sich willenlos den Windböen hingibt. »Vielleicht sollten wir lieber reingehen«, rufe ich Kilian zu.
Er macht ein letztes Foto und reckt den Daumen in die Luft.
Als ich mich zur Eingangstür umdrehe, kommt mir meine Tochter Beke entgegen. Sie hat ihre braunen Locken hochgebunden und trägt ein olivgrünes Shirt, dessen Ärmel sie aufgekrempelt hat. Um ihren Hals baumelt eine Kette, die ihr erster Freund ihr vor Kurzem geschenkt hat, weil sie das silberne Armband von ihm verloren hat. Die Augen hinter ihrer schwarzen Brille blitzen voller Wut. »Halte mich fest, sonst bringe ich ihn um!«
Kaum hat sie den Satz ausgesprochen, kommt noch jemand nach draußen gestürmt: Es ist Antoine, unser Koch. Eigentlich heißt er Anton, aber seit er in Frankreich gearbeitet hat, will er allen weismachen, dass er Franzose ist. »Kea!« Er wirft die Hände gen Himmel. »Diese femme folle treibt misch in den Wahnsinn!«. Dann bestraft er meine Tochter mit einem bösen Blick.
»Er!«, widerspricht Beke vehement und lautstark. »Er treibt mich in den Wahnsinn!«
»Wunderbar, dann könnt ihr ja im Irrenhaus weiter streiten«, sage ich lapidar.
Antoine bleibt wie angewurzelt stehen, als er Kilian entdeckt. »Was macht der denn ’ier?« Wenn Blicke töten könnten, hätten wir definitiv einen neuen Mordfall.
Kilian setzt ein breites Lächeln auf. »Ich wollte sicherstellen, dass hier ein roter Teppich liegt und alle Scheinwerfer auf dich zeigen. Du liebst doch dramatische Auftritte, Anton.«
»Je m’appelle Antoine«, presst mein Koch zwischen den Zähnen hervor. Er wendet sich an mich. »Solange dieser Abschaum ’ier ist, sage isch kein Wort mehr.«
»Fantastisch, das ging ja einfach.« Ich scheuche die Streithähne zurück ins Innere des Cafés und bedeute Kilian, mitzukommen.
Wir gehen durch die Eingangstür, die in den etwa zwei Schritte langen Windfang führt. Statt für eine zweite Tür, habe ich mich für einen dicken, bordeauxroten Theatervorhang entschieden. Wer hindurchschreitet, betritt einen magischen Ort. Der rote Teppich auf dem Boden verstärkt das Gefühl.
Und damit beginnt die Reise in die Zeit des Charleston, der Jazzmusik und der glamourösen Feste. Nur vage höre ich hinter mir die keifenden Streithähne.
Die meisten neuen Gäste sehen sich erstaunt um, wenn sie zum ersten Mal durch den Vorhang kommen, weil sie nicht erwartet haben, mitten in »Der große Gatsby« zu landen. Die untere Etage ist unterteilt in einen Lesebereich auf der rechten Seite, wo eine Fensterfront den Blick auf die Seitenstraße freigibt, und den Barbereich, der insbesondere am Abend exzessiv genutzt wird. Außerdem habe ich auf der linken Seite einen Bereich eingerichtet, wo kleine Kinder sich mit diversen Spielsachen ablenken, während ihre Eltern in Ruhe mehr als einen Halbsatz miteinander austauschen können. Das nahegelegene Krankenhaus und der Hebammenverband haben das Criminale deshalb schon oft als »bestes Still-Café in Tjadesiel und umzu« weiterempfohlen, was mich äußerst glücklich macht.
Beeindruckt sind meine Gäste auch von der riesigen weißen Marmortreppe, die am Ende des roten Teppichs auf die Galerie führt. Dort sind weitere Tische und Sitzgelegenheiten, die einen voyeuristischen Blick ins Erdgeschoss bieten.
»Kea! ’örst du mir gar nischt zu?« Antoine scheint für die Schönheit meines Cafés gerade keinen Sinn zu haben. Eine dicke Ader ist auf seiner Stirn hervorgetreten. Er lässt Kilian nicht aus den Augen.
»Kann mich mal jemand aufklären?«, bitte ich.
»Dieser Kerl ist eine wandelnde Verleumdung!«, ruft Antoine empört.
»Wenigstens fake ich keinen Akzent.«
»Er kann nischt einmal eine Bouillabaisse von einer Vichyssoise unterscheiden.«
»Ich auch nicht«, murmelt Beke, die die Kissen auf der Fensterbank aufschüttelt, auf die man sich setzen und nach draußen blicken kann.
Kilian gibt sich unbeeindruckt. »Ich rieche einen Aufschneider sieben Meilen gegen den Wind. Es ist meine Aufgabe als Journalist, die Wahrheit ans Licht zu holen.«
»Und was für eine Wahrheit soll das sein?«, fährt Antoine ihn an. »Dass in meinem Ausweis ›Anton‹ steht?« Er baut sich vor ihm auf, bis sein Gesicht nur wenige Zentimeter von Kilians entfernt ist. Die beiden Männer sind ungefähr gleich groß, aber Antoine wirkt mit seinen funkelnden dunklen Augen um einiges bedrohlicher. Seine Kochkleidung erinnert mich an eine Uniform. »Oder dass dir mein Essen nischt schmeckt?« Der Testosteronspiegel in Antoines Körper scheint zu brodeln.
Kilian zieht eine Augenbraue hoch und sein linker Mundwinkel zuckt. »Dein Essen könnte mir nicht egaler sein. Die Wahrheit ist, dass du ›Anton Müller‹ den Rücken gekehrt hast, weil er verbrannte Erde in Frankreich hinterlassen hat. Soll ich Kea sagen, was ich weiß?«
»Untersteh disch.« Wenn die Stimmung vorher unterkühlt war, herrscht jetzt Eiszeit. Ich muss dazwischengehen, ehe es eine Prügelei gibt. »Okay, danke! Antoine, in deine Ecke!« Mit ausgestreckten Armen quetsche ich mich zwischen die Männer und schiebe sie auseinander. »Kilian, sitz! Diskutiert das bitte in eurer Freizeit aus. Wir haben heute einen wichtigen Termin. Ich schätze Antoine als Mensch genauso wie als Koch und verbitte mir, dass ihr beide hier Staub aufwirbelt. Heute geht es nur um das Café, in Ordnung?«
Kilian nickt mit einem diabolischen Lächeln.
Auch Antoine gibt keine Widerworte, aber versucht offenbar telepathisch, Kilian umzubringen. Er tritt ein paar Schritte zurück. »Isch ’abe zu tun.« Dann lässt er uns alle stehen und eilt in Richtung Küche.
»Das war unnötig«, sage ich zu Kilian mit vorwurfsvoller Stimme.
»Er hat mich provoziert.«
Ich vergrabe das Gesicht einen Moment in meinen Händen. »Mann, Kilian, gib Antoine seine Schaufel zurück und hör auf, mit Sand zu werfen!«
»Er hat angefangen.«
»Hat er nicht. Solange du deine Füße in mein Café setzt, bitte ich dich, Antoine mit Respekt zu behandeln, sonst engagiere ich lieber jemand anderen für die Fotos. Bestimmt würde deine Kollegin Clara Böhm sich über meinen Anruf freuen.«
Kilian presst die Lippen aufeinander, als wolle er die Worte aus seinem Kopf daran hindern, den Mund zu verlassen. »Wie wäre es, wenn ich euch bei der Vorbereitung fotografiere und ihr mich überhaupt nicht bemerkt?«
»Die beste Idee des Tages«, antworte ich verkniffen. Ich wusste doch, dass etwas in der Luft liegt. Streit bereitet mir Bauchschmerzen, ganz besonders an einem so bedeutungsvollen Tag. Es fällt mir unheimlich schwer, mich auf meine eigenen Gefühle zu konzentrieren und nicht in der Stimmung der anderen zu baden.
Ich atme tief durch und höre in mich hinein. Mein Körper bebt. Eine befreundete Therapeutin hat mir empfohlen, die Emotionen zu benennen, um sie einzuordnen. »Wut. Verletzung. Mangelnde Wertschätzung. Unverständnis.« Einmal tief einatmen. Es ist okay, das alles gehen zu lassen. Dann stelle ich mir vor, dass diese Gefühle mit dem nächsten langen Atemzug aus meinem Körper verschwinden. Tatsächlich fühle ich mich schon etwas besser, aber ganz verschwunden ist die Schwere leider nicht.
»Meine Güte, sind die alle gut drauf.« Beke schüttelt den Kopf.
»Bitte jetzt nicht noch mehr Probleme«, jammere ich.
»Keine Sorge. Ich wollte mit dir nur besprechen, was noch zu erledigen ist.«
Hoffentlich lenkt mich das ab. Den ganzen Tag über habe ich schon das Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren wird oder ich eine wichtige Sache vergessen habe.
Kilian hat sich derweil von uns entfernt und macht einige Fotos des Innenraums und der Tischdeko. Irina, meine Angestellte und rechte Hand, kommt mit einem leeren Tablett die Treppe herunter, lächelt uns an und macht sich in die gleiche Richtung davon wie Antoine.
Beke zählt ihre offenen Aufgaben an den Fingern ab. »Ich will oben und unten staubsaugen, mit dem DJ telefonieren und die Studis daran erinnern, dass sie heute Abend eingeteilt sind. Nicht, dass wir wieder ohne Personal dastehen. Danach geh ich die Welt retten.«
»Mach das. Dann haben wir Irina und Antoine in der Küche und euch vier im Service … aber das wird nicht reichen. Wollten nicht sechs Aushilfen kommen?«
Ein ohrenbetäubendes Scheppern lässt mich zusammenzucken. Hemingway, Irinas französische Bulldogge, kläfft erschrocken hinter dem Tresen.
Es kommt aus der Küche.
In Windeseile rennen Beke, Kilian und ich den langen Flur entlang. Antoines Gebrüll hört man bis in den Eingangsbereich. Als ich die Küche betrete, empfängt mich das Chaos: Eine ganze Ladung Garnelen liegt auf dem Boden neben einer riesigen Pfanne und mittendrin hält Irina sich fluchend die Hand. Antoine schimpft auf Französisch vor sich hin.
»Was ist passiert?«, fragen Beke und ich gleichzeitig.
»Diese blöde Pfanne!«, ruft Irina verärgert.
Hemingway trottet in die Küche. »Raus hier«, sage ich streng, schiebe ihn zurück in den Flur und schließe die Tür. »Antoine, warum hast du nicht aufgepasst?«
Er zieht eine Augenbraue hoch. »Isch bin kein Babysitter.«
»Geht schon«, sagt Irina tapfer und streicht sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Ihre Hand sieht übel verbrannt aus. Sie kneift die weit auseinanderliegenden Augen zusammen.
Ich schüttele den Kopf. »Du musst das sofort kühlen und dann fährt Kilian dich ins Krankenhaus.«
Kilian, der wie eine Fliege an der Wand alles beobachtet, schüttelt vehement den Kopf. »Das geht nicht. Ich kann dir nicht sagen, warum nicht, aber glaube mir: Es geht nicht.«
Verdammt. Was kann bitte wichtiger sein, als jemandem in Not zu helfen? »Dann eben Antoine.«
Er reißt die Augen auf. »Isch?«
Ich sehe ihn flehend an. »Beke darf noch nicht fahren und ich muss mich jetzt um einen Ersatz kümmern. Bitte, Antoine. Ich kann mich doch immer auf dich verlassen.«
Mein Koch kreuzt abwehrend die Arme vor der Brust. »Und isch muss Essen für eine ganze Armee vorbereiten.«
Ich sehe ein, dass er zeitliche Probleme mit der Vorbereitung bekäme, wenn er jetzt wegfahren würde. Aber Irina kann so nicht selbst fahren. Ich jammere innerlich, dass nun auch noch eine Taxifahrt auf meine ellenlange To-do-Liste kommt.
Irina pustet auf ihre Hand, die so zart ist, dass ich mich wieder einmal frage, wie sie damit beim Abräumen mehrere Teller gleichzeitig tragen kann. »Ich kann dich jetzt nicht im Stich lassen mit den ganzen Jubiläumsvorbereitungen, Kea.« Sie versucht aufzustehen, was ohne zweite Hand schwierig für sie ist. »Es wird schon … argh.«.
Beke hilft ihr auf.
Antoine fängt an, die Garnelen aufzusammeln. »Andere Menschen treten ins Fettnäpfchen, aber Madame fällt mit dem Kopf zuerst in die Fritteuse … kreative Motorik, muss isch schon sagen.«
»Das hilft uns jetzt nicht weiter«, sage ich. Während Beke Irina stützt und sie zusammen zum Waschbecken humpeln, gehe ich im Kopf die Leute durch, die spontan für die gute Seele des Hauses einspringen könnten. Ganz Tjadesiel wird heute Abend hier versammelt sein, allen voran die »High Society« sowie Vertretungen aus Kunst, Kultur, Wirtschaft und Politik. Wenn ich da jemandem den Hut aufsetze, der keine Ahnung hat, wird es ein großes Durcheinander geben. Am liebsten würde ich es selbst übernehmen, aber ich kann nicht gleichzeitig mit den Gästen sprechen und alles im Hintergrund organisieren. Mit etwas Glück kann Irina wenigstens die Leute anleiten.
Kilian hat sich bedeckt gehalten, obwohl ich glaube, dass er von der armen Irina Fotos gemacht hat. »Für meine Geschichte über dein Café ist das eine erschreckend gute Story«, sagt er langsam, »aber es tut mir echt leid für dich, Kea. Und für dich natürlich auch, Irina!«
Irina dreht sich mit einem schmerzverzerrten Lächeln zu ihm um. »Mir geht’s gut!«
Ich ziehe Kilian in eine Ecke, um Antoines Jammerei zu entgehen. »Kennst du jemanden, der Erfahrungen in der Küche hat?«
Er überlegt. »Frank Rosin, Nelson Müller, Steffen Henssler, Lafer und Lichter. Ist das ein Test?«
»Wenn du ihre Nummern hast, immer her damit.«
»Spaß beiseite. Ich weiß, dass Taika Sutnari Köchin ist.«
Ich überlege angestrengt. Der Name kommt mir vage bekannt vor. »Wer ist das?«
»Ich habe mal ein Porträt über sie geschrieben. Ihr Vater kommt aus Thailand, ihre Mutter von hier. Sie wurde hier in der ›Dünenperle‹ zur Köchin ausgebildet, hat jung geheiratet, aber ihr Mann ist kurz darauf verstorben. Vor zwei Jahren hat sie sich selbstständig gemacht als Wildkräuter- und Heilpflanzenpädagogin. Sie ist ein bisschen verrückt. Du wirst sie mögen.«
Ich habe zwar keine Ahnung, was für ein Beruf das sein soll, aber mangels Alternativen gebe ich nach. »Kannst du sie anrufen und fragen, ob sie herkommen kann?«
Kilian hat bereits das Handy in der Hand und nickt. »Ich würde dir ja selbst gern helfen, aber dann kannst du den Laden auch gleich dichtmachen.« Er hält sich das Telefon ans Ohr. »Wäre noch Zeit für ein kleines Interview?«
»Ist das dein Ernst? Du kannst Irina nicht fahren, aber ein Interview klappt?« Was sind denn das für Prioritäten? Kilian hat zwar den Ruf, seine Arbeit über alles zu stellen, aber gilt das auch für notleidende Menschen? »Gegenvorschlag: Wir beide bringen Irina ins Krankenhaus. Dann kann Antoine kochen, ich gebe dir im Auto das Interview und für Irina ist auch gesorgt. Zum Dank kriege ich dann die Titelseite.«
Kilian kaut auf seiner Lippe herum. »Wenn es sein muss, dann fahren wir eben zusammen. Das mit der Titelseite wird aber leider nichts. Du warst noch nicht zu Hause, oder?«
»Doch, heute Morgen, bevor ich hergekommen bin. Wieso?« Seltsame Frage.
Er beugt sich herunter und kommt mir dabei so nahe, dass ich sein Aftershave riechen kann. »Ich bin da an etwas Großes geraten.« Dann richtet er sich wieder auf. »Taika?« Offenbar hat sie am anderen Ende abgenommen und er verlässt die Küche.
»Komm, Irina. Beke, kümmerst du dich um Hemingway?«
Beke nickt und verspricht, auf alles gut aufzupassen.
Verzweifelt starre ich auf dem Weg nach draußen die viel zu lange Aufgabenliste auf meinem Handy an. Zwar haben wir noch gute sieben Stunden bis zur Eröffnungsrede, aber ohne Irina droht das Fest ein Desaster zu werden. Sie behält stets den Überblick über alles, was zu tun ist und arbeitet schnell, effektiv und gründlich. Ich würde ihr mein Leben anvertrauen.
Von dieser Taika hingegen weiß ich gar nichts.
»Wirst sehen, zur Feier bin ich wieder da«, verspricht Irina.
»Hoffentlich.« Ich verabschiede mich von Beke und Antoine, die uns nachgekommen sind, und wir verlassen das Café.
Kilian geht vor dem Eingang auf und ab. »Alles klar, danke. Ciao!« Er wendet sich an mich. »Taika kann in einer Stunde herkommen. Sie hat vorgeschlagen, dass wir Hendrik und Gunnar fragen, ob ihnen noch Freiwillige einfallen.«
»Danke. Bis dahin sollten wir wieder hier sein. Kilian, können wir deinen Wagen nehmen? Ich habe einen Zweisitzer.«
»Ich bin mit Öffis hier.«
Irina zieht mit der gesunden Hand einen Schlüsselbund aus der Hosentasche. »Wir können meinen nehmen.«
»Gut, ich hole nur noch meine Kamera und die Tasche.« Kilian sprintet wieder ins Café und kommt vollbepackt wieder heraus.
Wir folgen Irina in die Parallelstraße und quetschen uns in ihren knallgrünen Opel Mokka. Lautlos fahren wir los.
Kaum habe ich mich in den Verkehr eingefädelt, hält Kilian mir auf dem Beifahrersitz sein Handy wie ein Mikrofon hin. »Es dauert auch nicht lange. Ist es okay, wenn ich das Gespräch aufzeichne?«
»Fragst du mich gleich, wo ich gestern Abend zwischen vier und fünf gewesen bin? Ohne meinen Anwalt sage ich nichts.«
Kilian lässt sich nicht beirren. »Dann los. Wie kam es vor zehn Jahren dazu, dass du das ›Café Criminale‹ eröffnet hast?«
Eine Flut aufwühlender Erinnerungen schwappt durch meinen Körper. Eigentlich möchte ich nicht daran denken.
Ich atme einmal tief durch und versuche, das Chaos in meinem Kopf zu ordnen, ohne den Verkehr außer Acht zu lassen. »Vielleicht sage ich erst einmal etwas zur Ausgangslage. Ich bin ja hier aufgewachsen und kenne Tjadesiel in- und auswendig. Mit siebzehn wurde ich Mutter und stand vor der Herausforderung, ganz schnell erwachsen werden zu müssen – was mir, glaube ich, nicht wirklich gelungen ist.«
»Erwachsen werden zu wollen, ist ohnehin die dümmste Idee, die man als Kind hat«, wirft Irina ein.
Ich stimme ihr zu. »Als Kind dachte ich, dass ich als Erwachsene immer alles im Griff hätte.«
Kilian schmunzelt. »Das Einzige, was ich mal im Griff habe, ist ein Bierglas.«
Ich gluckse. »Naiverweise habe ich früher gedacht, dass ich eines Tages – so mit dreißig – richtig erwachsen wäre. Heute bin ich vierunddreißig und glaube, dass sich da nicht mehr viel tun wird.«
Zustimmendes Gemurmel.
»Anfangs habe ich noch bei meinem Onkel und meiner Tante gewohnt, aber mit achtzehn bin ich in meine erste eigene Wohnung gezogen.«
»Wieso nicht bei deinen Eltern?«
»Ach …« Dunkle Gedanken ziehen wie giftige Rauchschwaden durch meinen Kopf. Mit einem Kopfschütteln lösen sie sich auf. »Darüber möchte ich jetzt nicht sprechen.«
»Ich wittere eine gute Story.«
»Ihr Vater hat sie rausgeworfen, als er das von der Schwangerschaft erfahren hat«, erzählt Irina.
»So wie ich dich gleich, wenn du nicht ruhig bist«, sage ich giftig. »Es hat nichts mit dem Café zu tun und ich will das nicht in der Zeitung lesen.«
Im Augenwinkel sehe ich, dass Kilian mich aufgeregt fixiert. »Ich liebe Familiendramen.«
So eine kleine Zecke. »Heute steht das Café im Fokus.«
»Ich komme auf das Drama zurück.«
»Jedenfalls habe ich durch die Unterstützung meiner Tante und meines Onkels mein Abi gemacht. Gut, ich musste in die Nachprüfung und ich glaube, meine Tante hat mit dem Direktor geschlafen, damit sie mich bestehen ließen, aber egal.«
Kilian dreht sich vielsagend zu Irina um. »Ich sag mal lieber nichts. Bin voll durchgerasselt.«
»Und trotzdem ist etwas aus dir geworden«, muntert Irina ihn auf.
»Das sehen meine Eltern anders.«
An einer Kreuzung biege ich links ab. »Mit neunzehn habe ich dann zwei Semester BWL studiert, weil mir nichts anderes einfiel. Mein Vater meinte, er könnte ja mal bei seinem Chef nachhaken, ob ich dort einsteigen könnte. Aber dann hätte ich mich auch gleich aufhängen können. Nö, ich habe das Studium abgebrochen und bin lieber mit Beke um die Welt gereist.« Nun grinse ich breit, weil mein Gehirn mit so vielen befriedigenden, friedlichen Erinnerungen geschwemmt wird, dass ich ein paar Sekunden lang kaum klar denken kann. Fast ist mir, als könnte ich wieder den warmen Sand von Costa Rica auf meiner Haut spüren oder in das klare Wasser vor der Küste Neuseelands tauchen.
»No offense, aber wir wissen ja alle, dass du irgendwie irre bist«, sagt Kilian.
»Irre mutig«, präzisiert Irina. »Na gut, und ein bisschen verrückt.«
»Was passierte dann?«
Ich folge einer langgezogenen Kurve und steuere auf das Krankenhaus zu. »Mit vierundzwanzig kam ich wieder her und überlegte, was ich mit meinem Leben machen wollte. Beke wurde schulpflichtig, also mussten wir irgendwo sesshaft werden, was ich keine Sekunde lang bereue.«
Kilian klammert sich am Haltegriff über seinem Seitenfenster fest, als ich schwungvoll auf den Parkplatz fahre. »Also back to the roots?«
»Back to Tjadesiel City«, bestätige ich. »Wie man vielleicht merkt, habe ich zu meinem Vater keinen guten Kontakt, aber die Bindung zu meiner Tante und meinem Onkel ist sehr eng, also bin ich in ihre Nähe gezogen.«
»Und deine Mutter?«
»Ist bei meiner Geburt gestorben.«
»Oh.« Kilian wirkt ernsthaft betroffen. »Das habe ich irgendwie verdrängt. Entschuldige.«
Ich suche nach einem Parkplatz und hänge kurz meinen Gedanken nach. Da ich meine Mutter nie kennengelernt habe, hält sich die Trauer in Grenzen, aber das werde ich jemandem von der Zeitung nicht auf die Nase binden. Schade, dass ich keine Ahnung habe, was für ein Mensch sie gewesen ist. Oft stelle ich mir vor, dass sie stolz darauf ist, was ich mit meinem Leben mache. Ob sie auch so abenteuerlustig war wie ich? Mein Vater weigert sich leider, über sie zu sprechen.
»Wie du weißt, liebe ich alles, was mit Rätseln zu tun hat: Krimis, Puzzle, Kreuzworträtsel, Escape Rooms und so weiter.« Ich parke den Opel vorbildlich ein. »Dann gab die Vorbesitzerin ihr Café auf und ich witterte meine Chance: Es entstand der Traum, ein Krimi-Café zu eröffnen. Ein Café, das den Charme der Zwanzigerjahre besitzt und in dem man sich vorkommt, als könnten jederzeit Sherlock Holmes, Miss Marple und Hercule Poirot durch die Tür kommen.«
»Was ich übrigens mega feiere«, wirft Irina ein. »Ich liebe dieses Ambiente. Du hast echt ein Schmuckstück aus dem Kuddelmuddel gemacht.«
»Mir war gleich klar, dass ich viele Krimidinner-Abende veranstalten wollte. Und es musste unbedingt eine große Leseecke geben.« Ich denke an die Regale im Café mit ihren Dutzenden Romanen und Ratgebern. »Außerdem habe ich darauf geachtet, dass sich insbesondere junge Eltern bei mir aufhalten können, denn das hat mir als Mutter gefehlt. Im Ausland gab es familienfreundliche Cafés mit Spielecken und Kinderbüchern, das habe ich importiert. Wir sind ja als Gesellschaft nicht gerade für unsere Kinderfreundlichkeit berühmt.«
Irina nickt. »Wenn ein Kind in Deutschland lacht, möchte man es dafür verhaften.«
»Und genau deswegen wollte ich es anders machen. So, wir sind da.«
»Danke für deine Hilfe«, sagt Irina. »Ich bin in Nullkommanichts wieder da.« Wir steigen aus.
»Das will ich hoffen, wir brauchen dich als Koordinatorin. Melde dich, wenn wir dich wieder abholen sollen. Oder soll ich dich noch reinbringen? Nicht, dass du dich jetzt noch überfahren lässt oder in ein Baustellenloch fällst, wie in einem Comic.«
Irina lächelt. »Schon gut, rock du mal jetzt die Vorbereitungen. Bis nachher.«
Ich umarme meine Freundin und wir sehen ihr nach, wie sie durch die blaugerahmten Schiebetüren des gelben Komplexes schlendert, als sei sie auf einem Sonntagsspaziergang.
Kilian dreht sich um. Er ist noch immer im Interviewmodus. »Gibt es etwas, das du bereust, wenn du auf die vergangenen Jahre zurückblickst?«
In meinem Bauch bildet sich ein harter Klumpen. Die Erinnerungen an Strand und Meer sind wie weggewischt. »Diese Frage habe ich mir in den letzten Wochen auch oft gestellt.« Ich kann kaum glauben, wie gnadenlos ich in diesen zehn Jahren gearbeitet habe und wie ich das alles schaffen konnte. Seit der Eröffnung war ich fast jede freie Minute im Café. Nachdem ich Beke ins Bett gebracht habe, habe ich bis spät in die Nacht in unserem Büro zu Hause gesessen und nicht nur über der Buchhaltung gebrütet, sondern etliche virtuelle Kurse besucht. Ich habe Menschen eingestellt und musste ihnen kündigen. Kaum jemand hat mich in meinen Zwanzigern ernst genommen.
Die größten Bauchschmerzen habe ich aber wegen Beke. Schon in der ersten Klasse ist sie jeden Tag bis um drei Uhr in der Schule geblieben, wurde dann von meiner Tante Heike abgeholt und ich habe sie oft erst zum Abendbrot gesehen. Das war eine riesige Umstellung im Gegensatz zu der Zeit unserer Weltreise, wo wir jeden Tag zusammen waren. Wenn Beke im Café war, konnte ich mich nie richtig auf meine Arbeit konzentrieren. Aber ohne sie fehlte mir etwas. Noch heute fühle ich mich unvollständig, wenn wir uns länger als ein paar Stunden nicht sehen. Ich will gar nicht daran denken, dass sie eines Tages ausziehen könnte.
»Tja«, antworte ich nach ein paar Sekunden. »Ich hätte gerne mehr Zeit mit meiner Tochter verbracht.« Wir kommen wieder am Opel an und steigen ein.
»Würdest du das Café noch einmal so eröffnen, wenn du die Wahl hättest?«
Ich nicke und starte den Motor. »Das Konzept liebe ich noch immer. Was ich besonders schön finde, ist, dass die Gäste zu uns kommen, weil sie sich so wohlfühlen. Natürlich haben wir sehr gutes Essen und hervorragenden Service, aber mir scheint, die Leute wertschätzen vor allem, dass jeder Gast von uns als besonders wertvoll und liebenswürdig angesehen wird. Wir verschenken gerne Liebe.« Ich grinse.
Kilian schaltet die Handyaufnahme aus. »Sehr gut, der letzte Satz wird die Überschrift.« Er blickt auf seine Armbanduhr. »Ich habe leider wirklich Zeitdruck heute. Kannst du mich am Bahnhof rauslassen? Von dort komme ich schneller nach Hause.«
»Logo.«
Ich lasse Kilian ein paar Minuten später auf dem Parkplatz an unserem Mini-Bahnhof raus. Er schultert die Kamera und seine klobige Umhängetasche und winkt zum Abschied. »Vergiss nicht, deine Post zu checken«, ruft er noch und ist weg.
Ich hatte kaum Zeit, ihn richtig zu verabschieden. Warum soll ich meine Post checken? Was hat er so Wichtiges vor? Gedankenverloren fahre ich die wenigen Minuten bis in Tjadesiels Innenstadt, in deren Fußgängerzone mein Café liegt. Der Opel darf auf einem nahegelegenen Parkplatz verschnaufen. Als ich ins Café komme, begrüßt mich Rockmusik. Beke tanzt mit einem Lappen in der Hand um die Tische. Ein kurzer Blick zur Uhr verrät mir, dass Taika in Kürze eintreffen wird. Ich ahne nicht, dass mir ihr Anblick die Sprache verschlagen wird.
Jemand klopft an die abgeschlossene Glastür. Ich gehe durch den Vorhang in den kleinen Windfang und kann eine Frau durch die Scheibe sehen. Ihr dunkler Teint und die Form ihrer Augen weisen auf ihre thailändische Herkunft hin. Sie ist ein paar Zentimeter größer als ich und hat so lange tiefschwarze Haare, dass sie sich daraufsetzen kann. Ihr wallendes Kleid ist in verschiedenen Grüntönen gehalten und mit Palmenblättern bedruckt. Ich öffne ihr und weiß gar nicht, wo ich zuerst hingucken soll. Sie sieht aus wie eine Naturgöttin.
Und sie ist barfuß.
»Du musst Taika sein«, sage ich und halte ihr die Hand hin, die sie freundlich schüttelt. Wir müssen ungefähr gleich alt sein, vielleicht ist Taika sogar noch zwei, drei Jahre jünger als ich.
»Und du bist Herculette Poirot. Ich habe in der Zeitung von dir gelesen.«
»Das war echt abenteuerlich. Komm rein.«
Wir treten durch den Vorhang und bleiben im Speiseraum stehen. Beke stellt Kerzen auf die Tische, zu denen unsere Haus-und-Hof-Floristin Greta später Blumengestecke beisteuern wird. Sie blickt auf und winkt. »Hi, ich bin Beke, Keas Tochter.« Ihr Blick huscht zu den nackten Füßen, aber sie sagt nichts.
»Taika. Schön, dich kennenzulernen.«
»Warst du schon mal bei uns?«, frage ich sie.
Taika nickt. »Ich habe mit Freunden schon ein paar Mal an euren Krimidinner-Abenden teilgenommen. Die sind echt Weltklasse. Vor allem das Vintage-Ambiente hier, das gibt dem Ganzen nochmal ein ganz anderes Flair.«
»Danke. Ich bin so froh, dass du uns aushilfst. Kilian sagte, du hast Erfahrung in der Küche?«
»Japp, ich wurde in einer Küche geboren, aufgezogen und entjungfert.«
»Beste Voraussetzung.«
»Meine Mutter hat in einem familiengeführten Hotel gearbeitet, als sie mit meinem Vater in Thailand gelebt hat. Sie war sozusagen das Mädchen für alles und ich habe von klein auf mitgemacht. Wie lautet der Plan?«
»Unsere gute Fee Irina ist leider kurzfristig ausgefallen und ich bin mir nicht sicher, wie einsatzfähig sie heute Abend sein wird. Antoine, unser Koch, hat sich ein paar raffinierte Dinge für heute Abend überlegt und es wäre deine Aufgabe, die ganzen kopflosen Hühner zu koordinieren, die heute als Servicekräfte helfen. Wir starten mit einer Suppe am Tisch und anschließend gibt es ein Buffet. Kleiner Spoiler: Ich habe die Theatergruppe eingeweiht und gebeten, mit den Gästen ein Krimidinner zu spielen.«
Taika klatscht begeistert in die Hände. »Oh, wirklich? Ich liebe es!«
Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Ja, ich glaube, das wird ziemlich cool. Die Servicekräfte sollen sich in erster Linie darum kümmern, dass jeder mit Getränken versorgt ist, die Teller abräumen und natürlich abkassieren, wenn jemand gehen will. Ihr werdet heute Abend, so Gott will, mit fünf Leuten im Service arbeiten. Beke wird helfen. Merle, Geertje und Tebbe sind unsere Aushilfen. Tebbe muss man ab und zu etwas motivieren.«
»Soll ich ihm die Karten legen und seinen Tod voraussagen, wenn er sich nicht sputet?«
»Ich weiß nicht, ob das reicht.«
»Für härtere Fälle habe ich auch ein Gewehr.«
Nun nicke ich gespielt ernst. »Ich sehe, wir verstehen uns. Hast du auch …«, ich deute auf ihre Füße, »… Schuhe mit?«
Taika lacht. »In meinem Beutel. Keine Sorge, wenn es sein muss, passe ich mich an. Aber ich laufe so oft wie möglich barfuß. Gerade in der Natur. Es gibt nichts Schöneres als das Gefühl von Moos an den Fußsohlen.«
»Soweit ich mich erinnere, sind vor der Tür nur Steine, Beton und als Kick mal eine Glasscherbe.«
In dieser Sekunde klingelt mein Handy. Eine jammernde Irina meldet sich. »Bitte bring mich nicht um!«
»Kommt darauf an, was du angestellt hast«, antworte ich.
»Ich muss für heute Abend absagen«, sagt sie kleinlaut. »Und auch für die nächsten Tage.«
»Wegen deiner Hand? Aber du kannst doch zum Organisieren herkommen, oder?«
»Könnte ich, wenn ich mir nicht eben meinen Fuß verstaucht hätte.«
Ich schlage mir mit der flachen Hand an die Stirn. »Hast du vor, aus Symmetriegründen auch noch die andere Hand und den anderen Fuß zu verletzen?«
»Zurzeit nicht, aber der Tag ist noch lang.«
»Na gut«, sage ich seufzend. »Dann hole ich dich ab und bringe dich nach Hause.«
»Nicht nötig, ich bin schon zu Hause. Hab meinen Nachbarn hier getroffen, der hat mich mitgenommen. Aber könntest du Hemingway nachher vorbeibringen?«
Ich verspreche es ihr und wir legen auf. »Ach, so ein verdammter Mist. Taika, kannst du die Karten des Lebens nochmal mischen und mir andere Probleme geben?«
»Hab leider heute die ›Fünf Kelche‹, den ›Turm‹ und den ›Nervenzusammenbruch‹ gezogen, tut mir leid.«
Ich massiere meine Schläfen. »Irina fällt leider heute und die nächsten Tage komplett aus. Gut, also: Taika, du übernimmst die Koordination der Servicekräfte. Beke unterstützt dich dabei. Antoine, du bereitest den Rest vor, der noch gemacht werden muss. Brauchst du noch Unterstützung in der Küche?«
Er nickt. »Zwei Leute wären gut.«
»Na klar, warum nicht gleich ein ganzes Heer? Ich habe noch fünftausend Mann in der Abstellkammer.«
Er klopft mir aufmunternd auf die Schulter. »Die nehme isch.«
»Taika kann dir sicherlich zur Hand gehen und ich frage Gunnar mal, ob er noch mehr Leute kennt, die helfen können. Wir schaffen das schon.«
Mein Anruf bei Seiner Majestät verläuft leider ins Leere. »Tut mir leid, Kea, ich kann dir nicht helfen«, sagt König Gunnar. »Hast du schon in der Dorf-App gefragt?«
»Noch nicht. Aber wir wissen beide, dass die App für sowas ein Witz ist. Ich muss jemanden direkt ansprechen können, sonst fühlt sich niemand verantwortlich.«
»Aber, aber! Tjadesiel ist doch bekannt für seine Hilfsbereitschaft.«
»Na ja«, sage ich. »Eigentlich eher für seine Windmühle.«
»Hendrik hilft sicher. Und Annemarie kann man doch auch immer fragen.«
»Und wie ist es mit dir?«
»Ich?«, wiederholt seine Majestät irritiert. »Ich … kann nicht.«
»Warum nicht? Annemarie ist nett, aber bei meinem Glück heute erleidet sie mit ihren achtzig Jahren bei der Arbeit einen Herzstillstand.«
»Ich wünschte, es gäbe mehr, das ich tun kann.«
Mit langsam hochkochender Wut knibbele ich von einem Kissen Flusen ab. »Gut, dann eben nicht. Aber wundere dich nicht, wenn ich nachher in meiner Ansprache erwähne, dass unser allseits geliebter Bürgermeister Bürgerinnen in Not qualvoll leiden lässt.«
»Ich rufe Hendrik an, ob er vorbeikommt.«
»Danke.« Wir legen auf und ich schicke einen Hilferuf in die App, über die sich ein Großteil des virtuellen Dorflebens organisiert. Während ich dem Dorf Zeit gebe, darauf zu reagieren, zeige ich Taika das Café. Mit wachsamen Augen folgt sie meinen Beschreibungen, nickt, stellt Nachfragen und macht sich Notizen in einem kleinen Buch. Ich habe das Gefühl, dass sie ihre Sache gut machen wird.
Glücklicherweise melden sich neben Hendrik Vogel auch noch Greta Brandt, die Dorffloristin, und Annemarie Schröder, die besagte Seniorin, zum Aushelfen. Zusammen mit meinen drei studentischen Hilfskräften sollte das für heute Abend ausreichen. Ein paar Telefonate später lasse ich mich mit knurrendem Magen auf einen der Barhocker fallen und atme erleichtert auf. Das Fest kann beginnen.
Der Himmel über Tjadesiel färbt sich sanft rosa und hätte eine großartige Inspiration für ein Gemälde von William Turner dargeboten. Der DJ, den ich aus Platzgründen in die Leseecke gelotst habe, begrüßt meine Gäste mit französischer Lounge-Musik. Die rhythmischen Klänge machen gute Laune. Gläser klirren, Menschen lachen und das allgemeine Gemurmel verschmilzt mit der heiseren Stimme der Sängerin aus den Lautsprecherboxen. Antoine hat wundervolle Canapés kreiert. Ich rieche Entenbrust, Orangensoße, Schnittlauch, Lachs und Zitrone. Obwohl ich gerne mit Menschen rede, strengen mich Abende wie diese an, da auf mich mehr Eindrücke ungefiltert einprasseln als auf andere. Ich höre die Musik lauter, rieche das Essen stärker und nehme die Stimmung der Menschen um mich herum intensiver wahr, als es beispielsweise bei Beke der Fall ist. Heute Nacht werde ich vermutlich noch lange aufgewühlt im Bett liegen, bis ich innerlich ruhig genug bin, um schlafen zu können.
»Ah, die Frau des Abends!« Bürgermeister Gunnar kommt lächelnd auf mich zu.
»Wo?«, frage ich und sehe mich um.
»Kea, Queen of Comedy.« In seiner fleischigen Hand hält er eine Sektflöte, die vermutlich Angst hat, zerbrochen zu werden.
»Schöne Alliteration. Es ist mir eine Ehre, dass Ihr uns mit Eurer Anwesenheit erfreut, Majestät.« Ich knickse.
Der Bürgermeister ignoriert meine Ansprache wie immer. »Wie macht sich Hendrik?«
»Äußerst vorbildlich, wie eh und je«, antworte ich und wir beobachten, wie Hendrik das leere Weinglas einer Dame entgegennimmt. Er ist Mitte dreißig, hat Segelohren, die durch seine blonden Haare lugen, und sieht aus, wie ich mir immer einen Aristokratensohn vorgestellt habe. Ein klassischer Justus. Seit seine Eltern vor drei Jahren bei einem Unfall gestorben sind, ist er der alleinige Verwalter des Tjadeschlösschens. Jeder weiß, dass er seinen Job im Büro des Bürgermeisters nicht bräuchte, weil er allein durch das Familienvermögen gut leben könnte, aber Hendrik und seine Familie tragen seit jeher ein »Wir dienen dem Volk« auf der Stirn.
»Wie ich dich kenne, hast du für heute einige Überraschungen auf Lager.«
»Ich dachte mir, dass ich nackt aus einer Torte springe. Alternativ hätte ich noch eine Musical-Nummer über mein jämmerliches Leben in petto.«
»Ich glaube dir jedes Wort.«
Jemand tippt mir auf die Schulter. Ich drehe mich um und blicke Clara Böhm ins Gesicht. »Clara!« Wir umarmen uns. »Wie schmecken die Canapés?«
»Bis gleich«, flüstert Gunnar mir zu und mischt sich unter die Menge.
»Vorzüglich«, antwortet Clara und reckt den Daumen in die Luft. »Antoine hat sich selbst übertroffen. Ich hoffe, es war okay, dass ich kurz ausgeholfen habe, als Beke zur Toilette musste.«
»Wir sind über jede Hilfe froh. Der Laden platzt aus allen Nähten.«
Clara Maria Böhm ist eine aufstrebende Journalistin, die ich sehr bewundere. Ihre Eltern, ein Buchdrucker und eine Verkäuferin, haben ihre ganze Hoffnung und alle Ersparnisse in Claras Ausbildung investiert, wie sie mir im Rahmen eines Krimidinners einmal anvertraut hat. Sie sieht zu Kilian hinüber, der am anderen Ende des Cafés mit der High Society von Tjadesiel spricht und sich offenbar köstlich amüsiert. Ihre Lippen werden zu einem Strich. Sie rückt ihre Brille zurecht und sieht demonstrativ woanders hin. »Wird Zeit, dass ich bissiger werde.«
»Willst du als Schutzhund anfangen?«
»Ich will endlich mal Artikel schreiben, die auch gelesen werden. Den über heute hätte ich gerne gemacht.«
Das kann ich sehr gut verstehen. Es muss frustrierend sein, wenn man das Gefühl hat, der eigene Vorgesetzte würde gegen einen arbeiten. »Wer entscheidet sowas?«
»Der selbsternannte Zeitungsgott«, antwortet Clara verkniffen. Wie immer hat sie ihre blonden Haare zu einem strengen Zopf gebunden. Sie sieht umwerfend gut aus. Ich frage mich, ob das in ihrem Beruf hilfreich oder eher hinderlich ist. Nicht nur einmal hat sie sich in der Vergangenheit darüber beklagt, von ihren Mitmenschen nicht ernst genommen zu werden.
»Nächstes Mal frage ich dich direkt, okay?«, biete ich an. »Jetzt such dir einen schönen Platz, an dem du gute Fotos machen kannst, vielleicht kannst du so das Regime untergraben und eine innere Revolution starten. Ich schwing mich jetzt hinter das Mikro.«
Clara nickt, sieht aber ziemlich niedergeschlagen aus, und trottet langsam in Richtung des Tisches, an dem sie mit Greta und Kilian sitzen wird.
Greta ist Tjadesiels beste Floristin und hat wundervolle Gestecke gezaubert. Glücklicherweise hat sie sich bereit erklärt, uns im Service zu unterstützen. Ich sehe gerade noch ihre flammend roten Haare im Flur in Richtung Küche verschwinden.
Es sind so viele Menschen da, dass ich kaum bis zu dem kleinen Bühnenbereich vordringe, von wo aus ich die Feier eröffnen will. Ich sehe Okko und Milena, die Spielzeugladenbesitzer mit dem bissigen Hund, unsere Postbotin, den Bäcker, den mürrischen Kneipier Andersen, die Buchhändlerin, die Verkäuferin aus meinem liebsten Schuhgeschäft, die Inhaberin des Brautmodengeschäfts, etliche Sportlerinnen und Sportler des hiesigen Vereins, die Delegation des Kleintierzuchtvereins, die Schauspielerinnen und Schauspieler unseres Theaters, die ihrem großen Auftritt heute entgegenfiebern. Es ist so eng, dass man sich nur Schulter an Schulter zwischen den Tischen bewegen kann.
Nur eine Person habe ich bisher nicht entdeckt und ich muss zu meiner Verwunderung feststellen, dass mir das mehr ausmacht, als es sollte. Andererseits ist Hauptkommissar Julian Seiler keiner von uns und hat vielleicht nicht einmal von dem Jubiläum erfahren. Wahrscheinlich liegt er mit einer Packung Chips auf der Couch und sieht sich heimlich eine Staffel »Bridgerton« an, was er niemandem gegenüber offen zugeben würde. Obwohl ich es nicht wahrhaben will, muss ich mir in diesem Moment eingestehen, dass ich ihn vermisse.
Neben der Bühne sitzt die hiesige High Society aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Natürlich sitzt auch König Gunnar dort. Ich begrüße die Damen und Herren und lasse mir vom DJ ein Mikrofon geben.
»Liebe Gäste!« Meine Stimme dröhnt durch das Café und schlagartig verstummen die Gespräche. »Ich heiße Sie und euch herzlich willkommen und möchte Ihnen danken, dass Sie Ihre wertvolle Zeit investieren, um mit mir das zehnjährige Bestehen des Café Criminale zu feiern.«
Applaus brandet auf. »Mein Lieblingscafé!«, ruft jemand.
Ich lache auf. »Wir beginnen den Abend mit einer Suppe am Platz.« Den Namen muss ich vom Spickzettel ablesen, den Antoine mir zugesteckt hat. »Es handelt sich um eine Soupe à la carotte et au gingembre, eine Karottensuppe mit Ingwer. Anschließend hören wir eröffnende Worte unseres Bürgermeisters und anderer Menschen, die ich trotz Morddrohungen nicht davon abhalten konnte, Reden vorzubereiten. Danach dürfen Sie sich nach Herzenslust am Buffet bedienen. Aber nun: Guten Appetit!«
Der DJ legt sanfte Instrumentalmusik auf, die sich mit dem wieder anschwellenden Gemurmel mischt. Nacheinander bringen Beke, Taika, Hendrik, Greta und die studentischen Aushilfen die heißen Teller an die Tische. Perfektes Timing von Taika. Sogleich erfüllt der Duft nach Karottensuppe den Raum. Ich setze mich an den Platz, an dem auch König Gunnar, der millionenschwere Bauunternehmer Michael Gruber, seine dritte Frau Salomé, die Kinderärztin und die Pastorin mit ihrer Frau sitzen – wobei Michael Gruber nicht auf seinem Platz ist.
»Umwerfendes Ambiente«, lobt Frau Gruber, die ungefähr fünfundzwanzig Jahre jünger sein muss als ihr Mann. Die anderen am Tisch stimmen dem zu. »Ich fahre morgen zu meiner Schwester nach Sylt. Normalerweise habe ich dann wenig zu erzählen von hier. Ich meine, Tjadesiel ist ja nicht gerade Mailand.« Sie lacht über ihre Aussage. »Aber jetzt kann ich ihr zumindest sagen, dass ihr Mateika eine Konkurrenz auf der Liste meiner liebsten Cafés bekommen hat.«
Die Kinderärztin lehnt sich in meine Richtung. »Was du aus dem Laden hier gemacht hast, ist eine Meisterleistung.«
Ich lächle und bedanke mich. Auch ohne die lieben Worte meiner Mitmenschen bin ich unheimlich stolz auf mein Café, aber es tut gut, zu wissen, dass auch meine Gäste sich rundum wohlfühlen. Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet ich, die als Kind von allen herumgestoßen wurde und ihre Familie enttäuscht hat, mal eine Anlaufstelle für andere sein würde. Das zeigt mal wieder, dass die Familiengeschichte nicht unbedingt vorgeben muss, wie das eigene Leben verläuft.
Die Suppe schmeckt vorzüglich und es dauert gute zwanzig Minuten, bis alle sich von ihren Resten trennen können. Anschließend hält Gunnar eine wortreiche Rede, in der er es irgendwie schafft, sich selbst mehr in den Mittelpunkt zu stellen als das Café. Trotzdem klatschen die Leute – wir kennen eben unseren König und lieben ihn, wie er ist.
»Vielen Dank, eure Hoheit«, sage ich in den Applaus hinein. Mit den Augen suche ich nach Clara, um sie zu einem Platz in der Nähe der Bühne zu dirigieren, damit sie bessere Fotos machen kann. Leider kann ich sie nirgends im Getümmel entdecken. Ein Vertreter der Handelskammer schafft es, eine Viertelstunde lang über rein gar nichts zu reden, sodass ich immer müder werde.
»Nun hören wir noch den Vorsitzenden der Tjadesieler Interessenvertretung lokaler Unternehmer, Herrn Michael Gruber«, kündige ich nach einer Ewigkeit an. Würde mich nicht wundern, wenn der Hauptgang schon wieder kalt ist. Der Stuhl, auf dem Michael Gruber eigentlich sitzen soll, ist noch immer leer. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Taika steht neben der Treppe und deutet auf den Flur, der auch zu den Toiletten führt. In dieser Sekunde taucht Michael auf. Er sieht auf den Boden, knöpft sein Anzugjackett zu und streicht sich die graumelierten Haare glatt. Dann bemerkt er, wie viele Menschen ihn ansehen, setzt ein Lächeln auf, das vermutlich charismatisch wirken soll, und bahnt sich seinen Weg zur Bühne.
»’tschuldige«, sagt er zu mir, ehe er das Mikrofon von mir entgegennimmt. »Ich musste noch schnell wo hin.«
»Ich dachte, du wärst getürmt.«
»Doch nicht, wenn ich so gutes Essen bekomme.« Er hält sich das Mikrofon an den Mund und begrüßt meine Gäste.
Ich verlasse die Bühne und laufe fast in Beke hinein, die hinter Michael hergelaufen ist. Sie grinst mich an. »Ich liebe langweilige Reden. Bin ich zu spät?«
»Ich habe dir einen Platz in der ersten Reihe freigehalten.«
Michael kann uns glücklicherweise nicht hören. Selbst aus der letzten Reihe kann man nicht umhin, zu sehen, wie reich dieser Mann ist. Als Kennerin entgehen mir keine Details: der maßgeschneiderte Anzug, die Seidenkrawatte und natürlich eine Uhr im Wert eines Kleinwagens. Ich könnte schwören, dass er regelmäßige Gesichtsbehandlungen bekommt. Von seiner dritten Frau weiß ich, dass ihnen gleich drei Ferienhäuser in Südfrankreich gehören.
»Wenn man, wie unsere Kea, seit zehn Jahren mit Herzblut, Energie und Verstand ein Unternehmen führt, dann muss man sich zwangsläufig auch mit dem Scheitern auseinandersetzen. Mit Fehlentscheidungen. Mit Verlusten und Enttäuschungen.«
Beke stupst mich an. »Er weiß wirklich, wie man motiviert.«
Ich grinse.
»Aber Kea hat sich niemals entmutigen lassen und ist bis zum heutigen Tag ihrer Vision treu geblieben«, fährt Michael fort. In den nächsten zwei Minuten spricht er über Kampfgeist, Durchhaltevermögen, Innovation und Kreativität – alles Begriffe, mit denen ich mich gerne identifizieren lasse. Unter Applaus verlässt Michael Gruber wenige Momente später die Bühne. Langsam flaut die Stimmung ab und es wird Zeit für das Buffet.
»Kea, darf ich?«, ruft Kilian durch den Raum. Kreidebleich kommt er auf mich zu. Schweißtropfen stehen ihm auf der Stirn. »Es ist wichtig.«
Ein weiterer Redebeitrag ist eigentlich nicht geplant. Die Gäste werden unruhig. Alles in mir möchte Kilian freundlich absagen und mit guter Musik zum Buffet übergehen, bevor ich mit allen eine Überraschungsrunde »Krimidinner« spiele. Aber irgendetwas in seinem Gesicht lässt mich zögern. Ich weiß nicht, ob es seine Blässe ist, der flehende Blick oder die Dringlichkeit in seiner Stimme.
Ich nicke. »Hier.«
Er nimmt das Mikrofon und betritt die Bühne. »Liebe Tjadesieler.« Seine Stimme ist heiser. Kilians sonst so kecker Gesichtsausdruck verrät nichts als Panik.
Irgendetwas stimmt hier nicht.
»Beke?« Ich sehe mich um und spüre sogleich ihre Hand an meinem Arm. »Hol ihm ein Glas Wasser, ja?«
»Er sieht aus, als hätte er einen Geist gesehen.« Sie drückt meine Hand und verschwindet.
»Oder als würde er sich gleich übergeben.«
»Ich hatte nicht vor, heute Abend darüber zu sprechen«, sagt Kilian in diesem Moment. Meine Gäste hören gespannt zu. Er greift sich an seinen Hemdkragen und versucht vergeblich, ihn zu lockern. »Aber Sie kennen mich: Ich habe mein Leben dem Aufdecken von Wahrheiten gewidmet, die andere lieber begraben lassen wollen.« Sein Gesicht ist schweißnass.
Ich nehme wahr, dass die Ärztin und die Pastorin zu flüstern anfangen.
Kilian klammert sich an das Mikrofon. »In Tjadesiel gibt es Geheimnisse von erschütternder Brisanz und ich habe wohl eines der größten aufgedeckt. Man will mich zum Schweigen bringen, hat mir gedroht und … ich …« Er legt eine Hand auf seinen Bauch. Ihm scheint speiübel zu sein. »Ich muss euch … sagen …« Kilian krümmt sich ruckartig nach vorne und sackt auf seine Knie.
»Kilian!« Ich kann mich nicht bewegen, obwohl ich auf die Bühne stürzen will.
Seine Augen rollen nach hinten und mit einem hässlichen Stöhnen bricht er zusammen.
Die Kinderärztin stürzt zu ihm. »Kea! Ruf einen Rettungswagen!«
Die Hintergrundmusik erstirbt. Gunnar ist genauso bleich wie der zuckende Kilian. Der Blick des Königs fliegt zu mir. »Ist das ein Scherz?«, formuliert er mit den Lippen.
Ich schüttele den Kopf und wähle den Notruf.
Jemand schreit.
Menschen springen auf. Die Ärztin beginnt mit einer Herzdruckmassage. Alle reden durcheinander.
»Ist er tot?«, fragt eine junge Frau schluchzend und eine andere nimmt sie in den Arm. Das Gemurmel wird immer lauter.
Der Uhr nach vergehen nur wenige Minuten, aber sie fühlen sich an wie die längsten Stunden meines Lebens. Mit erschütterter Miene dreht sich die Ärztin um. Draußen fahren kurze Zeit später mit Blaulicht ein Rettungswagen und ein Notarzt vor. Wie in Watte gepackt reagiere ich nur noch automatisch. Beobachte die Wiederbelebungsversuche.
Höre – neben dem Rauschen in meinen Ohren – wie der Notarzt etwas von »keine Hoffnung mehr« sagt.
Und breche in Tränen aus.
»Liebe Gäste!« Meine zittrige Stimme hallt durch den Raum. »Wir haben einen Notfall und ich muss Ihnen leider sagen, dass das Jubiläumsfest abgesagt ist. Bitte bleiben Sie dennoch hier; die Polizei wird jeden Moment eintreffen und möchte uns sicherlich gerne Fragen stellen.«
Der Notarzt nimmt mich zur Seite und schüttelt den Kopf. »Wir konnten nichts mehr für ihn tun. Sieht nach einem Kreislaufkollaps mit Herzstillstand aus, aber Genaueres wird die Obduktion klären. Mein Beileid.« Mein tauber Körper fühlt sich an, als hätte man ihn in eine dicke Wolldecke eingerollt, durch die alle Geräusche nur als unverständliche Laute dringen.
Beke nimmt mich in den Arm. Ich drücke sie fest an mich. »Wir müssen uns um die Gäste kümmern. Was können wir tun, um sie abzulenken?«
In ihren Augen herrscht die gleiche Ratlosigkeit, die ich auch in mir fühle. »Müssen wir wirklich hierbleiben? Es ist nicht gerade angenehm, neben einer Leiche zu sitzen.«
»Du hast recht, aber ich wüsste nicht, wohin die Leute gehen sollen. Räumt bitte die Teller ab und sorgt dafür, dass alle etwas zu trinken haben.«
»Wann kommt die Polizei?«
Ich zucke mit den Schultern. »Sie müsste jeden Moment da sein.« Kaum habe ich diesen Satz ausgesprochen, betreten zwei alte Bekannte das Café. Kriminalhauptkommissar Julian Seiler sieht noch immer verboten gut aus. Endlich ein freundlicher Anblick bei all dem Unglück. Hinter ihm blickt sich der junge Kommissar Feldhagen um. Ich mache die beiden winkend auf mich aufmerksam.
»Wie kommt es, dass wir uns immer nur an Tatorten treffen?«, fragt mich der Hauptkommissar mit einem neugierigen Unterton.
»Ich mag es gerne aufregend.« Ein schwaches Lächeln huscht über meine Lippen. »Eine Runde Scrabble wäre mir auch lieber gewesen.«
» Was ist passiert?« Julian Seiler hat ein Notizbuch in der Hand, was ich sehr sympathisch finde. Hat etwas von »Columbo«.
In wenigen Worten berichte ich, was vorgefallen ist. »Eigentlich war nicht geplant, dass Kilian eine Rede hält. Es war ihm sehr wichtig, über ein Geheimnis zu sprechen, das er herausgefunden hat. Er kam aber nicht mehr dazu, es zu lüften. Sein Gesicht war sehr blass und er schien Bauchschmerzen zu haben; zumindest hat er sich einige Male an den Bauch gefasst. Vielleicht war ihm auch schlecht. Es könnte ein Kreislaufkollaps mit Herzstillstand gewesen sein, hat der Notarzt gesagt.«
Wir blicken auf den toten Körper, der auf der Bühne liegt. Jemand hat eine weiße Decke über ihm ausgebreitet, was die Spurensicherung sicher fuchsteufelswild machen wird.
Taika, Hendrik, Tebbe und Geertje sind dabei, die Fläche optisch mit Tischdecken abzuschirmen.
»In Ordnung, mit dem spreche ich gleich«, sagt Seiler.
»Alle Gäste sind hiergeblieben, falls sie Fragen beantworten sollen«, erkläre ich. »Oder kann ich sie nach Hause schicken?«
Seiler schüttelt den Kopf. »Ich würde tatsächlich gerne mit ihnen reden.«
Nun drängt sich auch Kommissar Feldhagen zu uns. »Wissen Sie, ob Kilian Feinde hatte? Es erscheint mir komisch, dass er ausgerechnet dann stirbt, wenn er ein Geheimnis offenbaren möchte.«
Beke nickt. »Selbst Kilians Zimmerpflanzen haben sich gegen ihn verschworen, wenn man den Gerüchten glaubt.«
Der junge Beamte sieht meine Tochter überrascht an, als würde er erst jetzt sehen, dass sie neben mir steht. Seine Augen bekommen einen Schimmer, der mir wohlbekannt ist. Ob seine Wangen wirklich rosa anlaufen, kann ich bei dem schummrigen Licht nicht gut erkennen, aber er wirkt auf einmal noch nervöser als sonst.
»Ich glaube, Sie kennen meine Tochter Beke bisher nicht.