Mörder in der Grube - Erwin Kohl - E-Book
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Mörder in der Grube E-Book

Erwin Kohl

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Beschreibung

Ein fesselnder Krimi, der die Bergbaugeschichte vom Niederrhein lebendig werden lässt. Mattes Buschmann liegt tot am Ende seiner Kellertreppe. Ein reiner Routinefall, wer sollte schon einen sterbenskranken Rentner ermorden? Doch Detektiv und Dauercamper Lukas Born findet schnell heraus, dass der ehemalige Bergmann so manchen Dreck am Stecken hatte. Die Spur führt ihn in das Zechenmilieu der siebziger Jahre – in eine Welt, in der echte Kumpel das Leder vor dem Arsch und das Herz auf der Zunge trugen. Und zu einem toten Steiger, der drei Tage später wieder quicklebendig durch den Stollen rauscht ...

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Erwin Kohl wurde 1961 in Alpen am Niederrhein geboren und hat diese herrliche Tiefebene seither nicht verlassen. Als freier Journalist schreibt er für die Rheinische Post und die NRZ/WAZ. Grundlage seiner Geschichten sind zumeist reale Begebenheiten; die Soziologie der Niederrheiner und ihre vielschichtigen Charaktere bilden den Hintergrund.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: stock.adobe.com/Stefan

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-096-9

Niederrhein Krimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

Das Steigerlied

Glück auf, Glück auf! Der Steiger kommt,und er hat sein helles Licht bei der Nacht,und er hat sein helles Licht bei der Nachtschon angezündt, schon angezündt.

Hat’s angezündt, ’s wirft seinen Schein,und damit so fahren wir bei der Nacht,und damit so fahren wir bei der Nachtins Bergwerk ein, ins Bergwerk ein.

Ins Bergwerk ein, wo die Bergleut sein,die da graben das Silber und das Gold bei der Nacht,die da graben das Silber und das Gold bei der Nachtaus Felsgestein, aus Felsgestein.

Der eine gräbt das Silber, der andere gräbt das Gold.Und dem schwarzbraunen Mägdelein bei der Nacht,und dem schwarzbraunen Mägdelein bei der Nacht,dem sein sie hold, dem sein sie hold.

Ade, ade! Herzliebste mein!Und da drunten in dem tiefen, finstren Schacht bei der Nacht,und da drunten in dem tiefen, finstren Schacht bei der Nacht,da denk ich dein, da denk ich dein.

Und kehr ich heim zur Liebsten mein,dann erschallet des Bergmanns Gruß bei der Nacht,dann erschallet des Bergmanns Gruß bei der Nacht:Glück auf, Glück auf! Glück auf, Glück auf!

Wir Bergleut sein kreuzbrave Leut,denn wir tragen das Leder vor dem Arsch bei der Nacht,denn wir tragen das Leder vor dem Arsch bei der Nachtund saufen Schnaps und saufen Schnaps!

1

Montag, 5. Juni, 11.15 Uhr

Mit einem kräftigen Zug schmeiße ich den Viertaktmotor an. Eine dicke Rauchwolke verdunkelt kurz darauf Happy Eiland.

Der Mäher gammelte zehn Jahre lang in Kuschels Schuppen vor sich hin, weil der Motor festsaß. Wollte ihn immer mal fertig machen, unser Platzwart. Beim letzten Sommerfest habe ich ihm das Teil für ein großes Pils abgeschwatzt und direkt zur Parzelle von Katja durchgeschoben. Die Motorradmechanikerin aus meiner Happy-Eiland-SoKo hatte nur einen knappen Sonntagnachmittag benötigt, um den Rasenmäher wieder zum Leben zu erwecken.

»Qualmt ein bisschen. Der Ventilsitz ist ausgeleiert, musst du öfter mal Öl nachkippen«, gab Katja mir mit auf den Weg.

»Macht nichts«, antwortete ich. Seitdem kippe ich bei jeder zweiten Tankfüllung einen Liter Motoröl nach. Die Hälfte davon steht jetzt in Form einer schwarzen Wolke auf der Nachbarparzelle und hat den Kopf von Hermann-Josef verschluckt, der daraufhin einen theatralischen Hustenanfall einleitet.

»Lukas! So geht das nicht weiter. Leg dir endlich einen Elektromäher zu! Ist außerdem verboten.« Er deutet mit verächtlicher Miene auf mein Arbeitsgerät. »Ich sag nur Landesimmissionsschutzgesetz. Mir ist es ja egal, aber das kann richtig teuer werden.«

Boah, gehst du mir auf die Nüsse, denke ich und wimmele den pensionierten Sachbearbeiter des Finanzamtes Düsseldorf-Nord mit einem beiläufigen »Ich denke drüber nach« ab. Nachbarn kann man sich nicht aussuchen. Aber muss es ausgerechnet ein Hermann-Josef sein? Ein Mensch, der Vorschriften aller Art und insbesondere deren korrekte Einhaltung zum Inhalt seines von Langeweile geprägten Daseins auserkoren hat?

Habe ich eigentlich mal erwähnt, dass mir Leute, die eine Buchsbaumhecke rund um ihre Parzelle pflanzen, weil die Platzordnung eine Einfriedung derselben vorsieht, suspekt sind? Und dass Buchsbaumhecken, insbesondere frisch gepflanzte, zwar jeden Tag gegossen werden müssen, dass diese Bewässerung aber keinesfalls durch einen Rüden wie Manolo geschehen darf?

Habe ich nicht, weil ist mir noch nie untergekommen, so was.

»Schon … hast … Freitag«, dringt es abgehackt durch den Motorenlärm. Ich drücke den Gaszug nach vorne, der Motor stirbt ab, und Linda gerät in mein Blickfeld.

»Ich sagte, du hast doch erst letzten Freitag den Rasen gemäht? Was ist mit dir los? Ich meine, letztes Jahr wuchsen hier Disteln und Gänseblümchen, und es war dir egal.« Mit einer ausladenden Geste über das satte Grün verleiht sie ihrer Frage Nachdruck, ohne eine Antwort abzuwarten. »Hilfst du mir bitte, den Einkauf reinzutragen, ich muss gleich zur Schicht.«

Während der sieben Märsche vom Kofferraum zum Abstellraum wird mir schmerzhaft bewusst, wie recht meine Linda hat. Ich bin auf dem besten Weg, mich zu dem zu entwickeln, der ich nie sein wollte. Den Begriff »Rasenmähen« hätte ich vor einem halben Jahr noch googeln müssen. Vor einer Woche habe ich mich über den kleinen Teich hergemacht, den unsere Vorbesitzer uns überlassen haben und dessen Inhalt nur aus einer mattschwarzen, jeglichen Durchblick verhindernden Pampe bestand. Nachdem ich drei Kubikmeter Schlamm und abgestorbene Pflanzenreste rausgeholt habe, weiß ich, dass wir stolze Besitzer von einem Dutzend Goldfischen sind. Und es sollte noch schlimmer kommen: Am Samstag erwischte ich mich dabei, wie ich Emma wusch. Zum ersten Mal in neun Jahren. Ich meine, sie hätte mich verwundert angesehen.

Würde ein Seelenklempner in mich hineinsehen, ihm würde sich nichts weiter als eine abgrundtiefe, völlig sinnfreie Leere offenbaren. So viel ist mal klar: Ich brauche dringend einen Job, bevor ich anfange, mit dem Rasenmäher auf der Suche nach Beschäftigung über Happy Eiland zu tingeln. Der Weg zu meinem Briefkasten auf der Rückseite von Lissys Bistro ist bereits knöcheltief ausgelatscht. Dabei bestand die Ausbeute der letzten drei Monate aus ein paar Hundert Werbeprospekten, viel zu vielen Rechnungen und der Erkenntnis, dass der Postbote nur einmal am Tag kommt, egal wie oft ich nachsehe.

Dabei habe ich meiner Tätigkeit endlich einen professionellen Anstrich gegeben. An Lissys Bistro deutet ein Messingschild auf meinen Aufgabenbereich hin. Einen Eintrag im Branchenverzeichnis habe ich ebenso veranlasst. Und die Krönung des Ganzen: Bastian hat mir eine Internetseite gebaut. Nicht nur das, mein Sohn bewirbt sie auch pausenlos in den sozialen Netzwerken.

»Anrufe und Mails werden sofort auf dein Handy weitergeleitet, du verpasst nichts«, versprach mein Filius. Seitdem habe ich Tag und Nacht eine Hand am Handy. Und weil man ja nie weiß, suche ich noch hin und wieder auf meinem Laptop nach einer eingegangenen Mail. Zu jeder vollen Stunde etwa. Wenn ich nicht gerade den Rasen mähe.

Oder Emma mit dem Schwamm verwöhne.

»Ich muss dann mal, wir essen, wenn ich wiederkomme.« Linda haucht mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und streift an mir vorbei zum Auto.

Zwölf Uhr, Zeit für einen Blick in mein elektronisches Postfach.

Und siehe da, man muss nur ordentlich jammern, dann passiert auch was. Ich will den Rechner gerade hochfahren, da summt es in der Hose. Ich klappe den Rechner zu, ziehe das Smartphone aus der Gesäßtasche und erkenne eine kleine »1« über dem Symbol für mein Mailprogramm. Von der Hoffnung getrieben, es möge nicht wieder eine dieser nervtötenden Spamnachrichten sein, öffne ich den Posteingang.

»Nachforschungen erbeten!« Die Betreffzeile sorgt augenblicklich dafür, dass mein Körper schaufelweise Dopamin produziert und es bis in die letzte Zelle verteilt.

»Nachforschungen erbeten!« Es klingt wie ein Sommer auf Jamaika, all-inclusive. Wie ein 5:0-Sieg der Borussia gegen die Bayern oder ein Erstattungsbescheid vom Finanzamt. Ich öffne die Mail einer gewissen Andrea Buschmann und möchte einen Jubelschrei ausstoßen, der dazu in der Lage ist, die Wände der Wohnwagen und Mobilheime auf Happy Eiland erzittern zu lassen.

»Sehr geehrter Herr Born! Ich würde Sie gerne mit Nachforschungen zum Tod meines Vaters beauftragen.«

Die letzten Worte torkeln noch irgendwo durch meinen Verstand, da habe ich die angegebene Rufnummer schon gewählt. Andrea Buschmann meldet sich nach dem dritten Freizeichen.

»Mein Vater ist vorgestern tödlich verunglückt. Er ist die Kellertreppe hinuntergestürzt. Hat sich das Genick gebrochen. Aber das kann nicht sein.« Sie schießt die Sätze nach einer knappen Begrüßung wie eine Salve in mein Ohr. »Können Sie mir helfen? Bitte, Herr Born, die Polizei glaubt uns nicht.«

Oha. Hatte ich vor wenigen Sekunden noch die leichte Befürchtung, mit den Ermittlungen zu einem Handtaschendiebstahl beauftragt zu werden, schießen mir die Glückshormone inzwischen förmlich aus den Ohren. Aber – oberstes Privatdetektiv-Gebot – immer professionell bleiben.

»Puh, das kommt jetzt etwas plötzlich. Da müsste ich erst mal nachsehen, ob ich auf die Schnelle einen Termin für Sie freischaufeln kann.«

Ich klappe den Laptop wieder auf, klimpere vernehmlich auf der Tastatur herum und nehme das Gespräch wieder auf. »Morgen früh um zehn wäre tatsächlich noch was frei, Frau …«

»Buschmann. Wo treffen wir uns?«

In Ermangelung eines Büros, ganz so weit ist die Professionalität dann doch noch nicht, schlage ich ihr ein Treffen bei Lissy vor. Morgens um zehn haben auch die letzten Camper ihre Brötchen abgeholt, und man ist relativ ungestört. Meine neue Klientin sagt spontan zu. Ich gebe ihr die Adresse durch und lege, von einem gewissen Tatendrang begleitet, auf.

Mit dem Lied über die Elf vom Niederrhein auf den Lippen mähe ich den Rasen weiter.

2

Dienstag, 6. Juni, 8.15 Uhr

»Warst du heute Morgen schon bei Jo?« Linda sieht mich misstrauisch an, während sie die Kaffeetasse abstellt. Meinen Ex-Nachbarn trifft man nur sehr selten ohne einen kapitalen Joint zwischen den Lippen. Ich gebe zu, in der Vergangenheit schon einmal seine Gastfreundschaft diesbezüglich genossen zu haben. Ein Mal, ich schwöre.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Normalerweise singst du den Eiern kein Liedchen vor, während sie kochen. Außerdem grinst du die ganze Zeit wie ein Honigkuchenpferd.«

Ich erzähle ihr von dem bevorstehenden Treffen mit meiner neuen Klientin. Aus dem Todesfall mache ich erst mal einen Unfall mit Versicherungsanspruch. Meine Linda ist in Sachen Mord etwas … sensibel. Wobei, steht ja auch noch nicht fest.

»Na, dann dürfen die Gänseblümchen sich ja freuen.«

Nach dem Frühstück will Linda ihre Mutter besuchen. Vor einem halben Jahr war der Punkt erreicht, an dem sie und ihr Vater die demenzkranke Frau nicht mehr pflegen konnten. Seitdem lebt sie in einem Seniorenstift in Xanten. Ihre Tochter und ihren Mann erkennt sie inzwischen nur noch an guten Tagen.

Bis zum vereinbarten Termin ist es noch über eine Stunde. Ich stecke einen kleinen Block und einen Bleistift ein, pfeife einmal kurz und mache mich mit Manolo auf eine mittelgroße Runde durch den Uedemer Hochwald. Oben an der Reichswaldstraße angekommen, beschließe ich, auf die übliche Runde über den Wanderparkplatz an der Labbecker Straße zu verzichten und umzukehren. Hätte ich wohl locker geschafft, wenn da nicht diese Unruhe an meinen Nerven knabbern würde.

Gegen halb zehn erreiche ich Lissys Bistro und nehme in einem der bequemen Sessel an der rechten Seite des Außenbereichs Platz. Die Sonne kriecht über dem Happy-Eiland-Teich in den Himmel, um den Menschen schon bald die Schweißperlen auf die Stirn zu treiben. Zweiunddreißig Grad hat sie sich dafür vorgenommen. Bis es so weit ist, legt sie einen langen Schatten über den leeren Biergarten.

Als Lissy auf mich zukommt, fällt mir auf, keinen Gedanken an die Bewirtung meiner Klientin verschwendet zu haben, denn das Bistro ist nach der Brötchenausgabe um zehn geschlossen.

»Kein Problem, ich muss noch das Schaschlik für heute Abend zubereiten. Ich komme zwischendurch mal zu euch.«

Sie ist ein Engel, die Lissy. Und macht das beste Schaschlik am Niederrhein. Leider nur auf Vorbestellung, was ich meistens verpenne.

Um zehn Minuten vor dem vereinbarten Termin erscheint eine Frau um die vierzig und sieht sich auffällig um. Ihr kastanienrotes Haar legt sich in langen Locken über die Schultern. Ich winke sie zu mir an den Tisch. Andrea Buschmann trägt eine schwarze Bluse zu einer anthrazitfarbenen Hose und einen leicht verunsicherten Gesichtsausdruck.

»Herr Born?« Ich nicke und deute auf den Sessel gegenüber.

Sie hängt ein kleines Handtäschchen über die Stuhllehne und räuspert sich dezent.

»Ich habe keine Erfahrung mit einem Privatdetektiv …«, beginnt sie zögerlich. Ich nenne ihr vorsorglich meinen Tagessatz, sie nickt.

»Ich habe mit meinem Bruder besprochen, dass wir diese Kosten von unserem Erbe abziehen. Wir müssen wissen, wie mein Vater … ich meine …« Sie wischt sich eine Träne aus dem linken Augenwinkel.

»Hat Ihr Vater allein gelebt?«

»Ja, in einem kleinen Zechenhäuschen in der Georgstraße in Kamp-Lintfort. Meine Mutter ist vor vier Jahren gestorben.«

»Frau Buschmann, Sie sagten mir am Telefon, Ihr Vater sei die Treppe hinabgestürzt. Das hört sich für mich nach einem Unfall an.«

»Das hat die Kommissarin auch gesagt«, ihre Stimme gewinnt plötzlich an Kraft, »die heißt übrigens auch Born.«

»Ich kenne die Dame.« Wenn ich jetzt sage, dass es sich um meine getrennt lebende Gattin handelt, laufe ich Gefahr, für befangen gehalten zu werden. Und von da an ist es nur ein kleiner Schritt zum Rasenmäher.

»Wer hat Ihren Vater gefunden?«

Sie will zur Antwort ansetzen, da kommt Lissy an unseren Tisch. Wir bestellen Kaffee.

»Ich besuche ihn jeden Tag, um nach dem Rechten zu sehen. So auch am letzten Samstag. Es war kurz nach Mittag, gegen ein Uhr, glaube ich. Wir haben am Morgen noch miteinander telefoniert.«

Hört man immer wieder. Wenn Menschen mit dem plötzlichen Tod eines Angehörigen oder Freundes konfrontiert werden, suchen sie nach einer Erklärung, nach einem Anker, an dem sie ihre Trauer festmachen können, der das Unfassbare unvermeidlich erscheinen lässt.

»Warum zweifeln Sie daran, dass es ein Unfall war?«

Ihre Augen sind glasig, ihr Blick ist leer. Manolo geht zu ihr und junkert. Geistesabwesend streift ihre Hand über seinen Kopf.

»Da ist so einiges. Mir war schon an der Haustür klar, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich habe meinem Vater hundertmal gesagt, dass er abschließen soll, weil schon so viel passiert ist in der Siedlung. Er hat immer nur gelacht und gesagt: ›Einen alten Mann klaut keiner.‹ Er hat die Haustür immer nur ins Schloss geworfen. Am Samstag war sie abgeschlossen, und das gleich zweifach.«

»Wie alt war Ihr Vater?«

Auf der Stirn meines Gegenübers bilden sich kleine Falten.

»Sechsundsechzig, aber geistig noch voll auf der Höhe, falls Sie darauf anspielen«, antwortet sie empört.

Ich hebe abwehrend die Hände.

»Das will ich nicht, ich trage erst mal nur Fakten zusammen. Können Sie ausschließen, dass Ihr Vater sich Ihren Rat doch noch zu Herzen genommen hatte? Vielleicht hat Ihr Bruder ihm das Gleiche gesagt und er …«

»Hat er, aber das hat meinen Vater nicht interessiert. Er konnte sehr stur sein. Bis in den Tod«, fügt sie leise, fast geheimnisvoll an.

Ich verstehe nicht, was sie damit sagen will. Bis sie fortfährt.

»Mein Vater hatte Lungenkrebs. Anfangs hatte er den Kampf gegen die Krankheit noch aufgenommen. Aber als die Ärzte ihm eine Chemotherapie empfahlen, hat er aufgegeben. Meine Mutter ist an Krebs gestorben. Die Chemo war eine einzige Quälerei für sie, gebracht hat sie nichts mehr. Wir haben auf ihn eingeredet, ihn angefleht, es trotzdem zu versuchen. Alles vergebens. Hat doch eh keinen Zweck, hat er gesagt. Dadurch wurde es natürlich immer schlimmer. Vor vier Wochen habe ich ihn zumindest noch mal überreden können, mit mir zum Lungenarzt zu fahren. Aber da war es schon zu spät. Drei bis sechs Monate gab er ihm noch. Wer bringt denn einen Todgeweihten um, verdammt noch mal?« Tränen fließen über ihre Wangen. Sie tupft sie mit einem Papiertaschentuch ab.

Diese Frage müsste in der Tat gestellt werden. Ob ich das machen werde, erscheint mir zunehmend ungewisser. Denn die Tatsache, dass die Haustür an diesem Tag verrammelt war, kann allenfalls in einem größeren Kontext relevant werden. Ich hoffe inständig, dass ihre weiteren Hinweise von mehr Gewicht sind. Sie nimmt einen Schluck Kaffee, die Tasse wackelt leicht.

»Sie sagten, da wäre so einiges, das Sie zweifeln lässt.« Ich sehe sie auffordernd an. Sie schnäuzt in ihr Taschentuch, richtet sich auf und starrt mich verschwörerisch an.

»Mein Vater ist seit Jahren nicht mehr im Keller gewesen. Er litt an Polyneuropathie, einer Nervenkrankheit. Es kam vor, dass er plötzlich kein Gefühl mehr im rechten Unterschenkel hatte. Treppensteigen war kaum noch möglich, schon gar nicht diese steile Stiege mit ihren alten Holzstufen. Mein Bruder und ich haben die Vorräte, die dort gelagert waren, und den Gefrierschrank schon vor Jahren im Erdgeschoss untergebracht. Es gab für ihn also keinen Grund mehr, in den Keller zu gehen.«

Nach allem, was meine neue Klientin mir bisher erzählt hat, muss es sehr wohl einen Grund gegeben haben. Manche Leute lagern ihre Erinnerungen im Keller. Fotoalben, alte Briefe, Dinge, die man gedanklich aus dem Alltag verbannt hat. Den Tod vor Augen, wollte ihr Vater in einem sentimentalen Augenblick vielleicht noch einmal auf sein Leben zurückblicken.

»Möglicherweise befand sich etwas im Keller, dem Sie und Ihr Bruder keine Aufmerksamkeit geschenkt haben. Vielleicht etwas, das dort schon viele Jahre liegt?«

Die innere Unruhe ist ihr anzumerken. Mit Daumen und Zeigefinger massiert sie ihr linkes Ohrläppchen. Ihr Gesicht wirkt farblos, die Augen schwer. Langsam dreht sie den Kopf hin und her.

»Da liegen nur alte Aktenordner mit Lohnabrechnungen und Dokumenten aus seiner Zeit bei der Zeche. Er wollte nicht, dass wir sie wegwerfen. ›Fressen doch kein Brot da unten‹, sagte er. Ansonsten jede Menge Zinnkrüge, die hat er mal gesammelt. Zinnkrüge.« Sie lächelt gequält.

»Hm … fehlt irgendwas davon?«, frage ich ohne jeden Hintergedanken, einfach nur so. Und um das Gespräch in Gang zu halten. Oft ist es so, dass Klienten im Vorfeld abwägen, was wichtig sein könnte und was nicht. Im Gegensatz zu ihnen reicht es mir jedoch nicht, an der Oberfläche zu schwimmen, ich muss abtauchen, Hinweise finden, die im Verborgenen liegen und auf den ersten Blick völlig nebensächlich erscheinen. Wenn ein Gespräch im Fluss bleibt, findet diese Abwägung nicht mehr statt, und es kommt vor, dass ein solcher Hinweis unbewusst fällt. Aktenordner beispielsweise, die jahrzehntelang im Keller Staub ansammeln, sind völlig uninteressant. Fehlt aber mittendrin einer, muss das einen Grund haben.

»Das weiß ich nicht.«

»Sie haben nicht nachgesehen?«

Andrea Buschmann schnaubt. Dann senkt sie den Blick und schüttelt verständnislos den Kopf.

»Mein Gott, mein Vater lag dort unten. Ich … ich kann da nicht vorbeigehen, wo er gelegen hat. An der Wand ist noch sein Blut …« Sie bricht in Tränen aus. Ich gebe ihr Zeit. Nach einer halben Minute trocknet sie ihre Tränen ab und schaut mich ungläubig an.

»Was reden Sie da überhaupt? Mein Vater war tot. Wie hätte er noch etwas mitnehmen sollen?«

Menschen neigen dazu, das Offensichtliche als einzig mögliche Wahrheit anzunehmen. Ihr Vater ist bei dem Versuch ums Leben gekommen, etwas in den Keller zu bringen oder von dort zu holen. So scheint es. Dabei ist es durchaus möglich, dass der Mann erst beim zweiten oder dritten Gang in den Keller gestürzt ist. Ich verkneife es mir, meine Klientin dahin gehend zu belehren. Bringt nichts, weil: Sie hat ja nicht nachgesehen.

»Entschuldigen Sie, Frau Buschmann. Ich bin darum bemüht, eine Erklärung für den Tod Ihres Vaters zu finden, und dabei möchte ich nichts außer Acht lassen. Eine Frage habe ich noch: Wer hatte außer Ihnen und Ihrem Bruder einen Schlüssel zum Haus Ihres Vaters?«

Ihre Nerven haben sich inzwischen wieder halbwegs beruhigt. Sie nimmt einen Schluck Kaffee, bevor sie antwortet.

»Nur mein Vater. Zwei sogar. Eigentlich …«

Herrje, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.

»Er hat laufend einen verbummelt. Ich habe ihm bestimmt schon fünfmal einen Schlüssel nachmachen lassen. Vor drei Wochen gerade erst. Der hing am Schlüsselbord neben der Haustür. Aber den hat er auch schon wieder verschludert.«

Oder auch nicht.

»Ich würde mich gerne im Haus Ihres Vaters umsehen.«

Sie zieht wortlos einen Schlüsselbund aus der Handtasche, friemelt einen Schlüssel aus dem Ring und reicht ihn mir. Ich verspreche ihr zum Abschied tägliche Berichterstattung.

3

Dienstag, 6. Juni, 11.10 Uhr

Manolo ist zu seiner üblichen Inspektionsrunde über den Platz aufgebrochen. Hermann-Josef ist damit beschäftigt, mit der Gartenschere einen Rosenstrauch in Form zu schneiden, den er letzten Samstag erst eingepflanzt hat. Ich hole den Autoschlüssel aus dem Haus und mache mich auf den Weg. Kurz hinter Kuschels frisch gestrichenem Holzhaus kommt Uwe mir entgegen. Als der Journalist mich sieht, setzt er ein süffisantes Grinsen auf.

»Erzähl!«, fordert er mich auf.

Ich sehe ihn nur fragend an.

»Na, von deinem neuen Auftrag.«

»Was hat Lissy denn sonst noch gesagt?«

»Nix Lissy, ich kam vorhin von einem Termin, da habe ich dich dort mit ’ner rothaarigen Lady sitzen sehen. Hab noch gegrüßt, aber du hingst der so an den Lippen.«

»Ihr Vater ist die Treppe runtergefallen, tot.«

»Und das Töchterchen meint, er ist gefallen worden?«

»So ist es.«

»Soll ich die SoKo zusammentrommeln?«

»Ich sehe mir das erst mal an.«

Die Happy-Eiland-SoKo war mir in der Vergangenheit bei einigen Fällen behilflich. Das Problem ist nur: Katja, Rosi, Leni, Bernd, Eddy und Uwe schießen schnell mal übers Ziel hinaus. Ich habe manchmal fast den Eindruck, sie gieren dem nächsten Mordfall entgegen. Ehrlich gesagt wäre es mir am liebsten, auf ihre Dienste verzichten zu können. Wenn es sich aber tatsächlich um einen Mordfall handelt, bin ich auf sie angewiesen. Im Polizeidienst stand uns ein großes Team zur Seite. Als Privatdetektiv muss ich mich allein um die Umfeldermittlung, um Zeugenbefragungen und Hintergrundinformationen kümmern, und das ist nicht zu schaffen.

Der Schattenplatz, auf den ich Emma gestern Nachmittag abgestellt hatte, ist um diese Tageszeit ein Platz an der Sonne und die Fahrgastzelle eine mobile Sauna. Ich reiße alle Türen auf und kurbele die Fenster runter. Der verblasste Zeiger des kleinen Plastikthermometers am Armaturenbrett hängt schlaff in der rechten Ecke, knapp hinter der Fünfzig-Grad-Markierung. Ich lasse einige Minuten den spärlichen Wind durch den Wagen kriechen und steige ein.

Damit Emma sich mal wieder den Ruß von den Kolben blasen kann, nehme ich die Autobahn. Kaum runter, gelange ich über die Franzstraße vorbei an den örtlichen Fußballvereinen Fichte und DJK an die Kreuzung Georgstraße. Ich wollte auf das Navi verzichten und biege prompt falsch ab. Drehen, zurück, und schon stehe ich vor dem alten Zechenhaus mit den vier Eingängen. Matthias Buschmann hat sich damals für das Haus mit dem größeren Eckgrundstück entschieden. Ich setze Emma auf die schmale Garagenauffahrt, lasse die Seitenscheiben, wo sie sind, und gehe zur Haustür.

Aus dem Briefkasten hängt traurig der Prospekt eines Getränkehandels. Den Schlüssel im Schloss frage ich mich, weshalb meine Klientin immer noch zweimal abschließt. Wenige Zentimeter neben der geöffneten Tür fällt mein Blick auf ein Schlüsselbrett in Sichthöhe mit dem eingebrannten Schriftzug »Glück auf«. Damit Einbrecher sofort wissen, wohin sie greifen müssen, sind die Schlüssel mit verschiedenfarbigen Anhängern versehen, auf denen »Garage«, »Schuppen« und »Briefkasten« steht, nur »Haustür« fehlt. Ich sehe mich um. An der Wand zum Obergeschoss verläuft die Schiene eines Treppenliftes, dessen Sitz sich seltsamerweise oben befindet. Macht nichts, stelle ich beim Betreten des ersten Zimmers fest. Auf maximal zehn Quadratmetern sind ein Kleiderschrank, ein Bett und ein kleiner Nachttisch untergebracht. Schräg gegenüber geht es in die kaum größere Küche. Ich wundere mich über die Ordnung: Nichts steht oder liegt herum, alles ist picobello blank. Dasselbe in dem kleinen Wohnzimmer. Meine Klientin scheint erst mal Hausputz gemacht zu haben, bevor sie mich besuchte. Eines steht mal fest: Egal wie sich die Sachlage entwickelt, die Kriminaltechnik braucht hier nicht mehr anzutanzen.

Okay, dann mal ab in den Keller. Auf der zweiten Stufe kann ich mich im letzten Augenblick am Handlauf festhalten, bevor ich dasselbe Schicksal erleide. Im schummerigen Licht der verstaubten Lampe offenbaren sich Stufen, die diese Bezeichnung längst nicht mehr verdienen. Nur wenig tiefer als die Hälfte meiner Schuhsohlen sind sie in der Mitte nach vorne hin so weit abgewetzt, dass man den Kellerboden leicht in einem Rutsch erreichen könnte. Mir kommen erste zarte Zweifel an meiner Mission. Der Keller ist in der damals üblichen Gewölbebauweise angelegt mit einer Deckenhöhe von circa einem Meter sechzig an den tiefen Stellen. Alles, wirklich alles hier unten ist von einer gleichmäßigen Staubschicht bedeckt. Unterbrochen nur von Fußabdrücken ohne Profil, wie sie Kriminaltechniker mit Überziehern an den Schuhen hinterlassen. Es reicht ein kurzer Blick auf die Regale mit den Akten und die auf einem Sideboard in mehreren Reihen postierten Zinnkrüge, um zu wissen, dass hier jahrelang niemand mehr gewesen ist. Ich lasse meine Stablampe, die ich einer Eingebung folgend mitgenommen habe, über den Boden hinter mir wandern. Auf dem staubigen, irgendwann mal dunkelgrau gestrichenen Beton sind meine Spuren sichtbar wie auf Neuschnee. Erst in einem kleinen Bereich eineinhalb Meter neben der Treppe tauchen weitere Fußspuren auf. Matthias Buschmann ist tatsächlich länger nicht mehr im Keller gewesen.

Ich gehe zurück in den kleinen Flur, in den die Kellertreppe mündet. An die Stelle, wo man Buschmanns Leiche gefunden hat. Mein Bauchgefühl meldet sich. Irgendetwas stimmt hier nicht, ich kann es förmlich riechen. Nur was? Langsam drehe ich mich um die eigene Achse, taste dabei mit der Lampe Fußboden und Wände ab, finde getrocknetes Blut vor meinen Füßen und einen untertassengroßen Fleck davon an den unteren beiden Ziegelreihen gegenüber der Treppe. Finde den Fehler, Born!, schreit mich meine innere Stimme an.

Ich gehe vorsichtig zwei Schritte zurück, sehe mir den Fundort genauer an. Plötzlich dämmert es. Da, wo der Tote gelegen haben muss, sind keine Fußabdrücke erkennbar. Die feine Staubschicht, die den Rest des Kellerbodens bedeckt, fehlt hier. Sieht aus, als hätte jemand feucht durchgewischt. Ich lasse den Lichtkegel die Treppe hinaufgleiten. Und wieder runter, ganz langsam. Die Stufen sind allesamt blitzeblank. Ich bücke mich, sehe mir das genauer an. Der Staub, der dort vor wenigen Tagen mit Sicherheit noch gelegen hat, befindet sich in schmalen Streifen an den seitlichen Rändern der Stufen. Dazwischen winzige Schlieren, Kalkspuren von getrocknetem Wasser. Mit einer Hand am Geländer gehe ich nach oben und wähle die Nummer meiner Klientin. Wieder meldet sie sich nach dem dritten Klingelton.

»Frau Buschmann, haben Sie die Kellertreppe geputzt?«

»Wie bitte? Nein, ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht im Keller gewesen bin.«

Bleibt Möglichkeit zwei, die KTU. Ich habe zwar nie erlebt, dass Kriminaltechniker einen Tatort auch nur annähernd aufgeräumt, geschweige denn besenrein verlassen hätten, aber vielleicht gibt es ja eine neue Verordnung, die ich noch nicht kenne. Ich werde Wim bei Gelegenheit fragen.

Im schmalen Flur erschrecke ich. In der Milchglasscheibe der Haustür zeichnet sich ein mannshoher, dunkler Schatten ab. Eine Hand legt sich auf die Scheibe. Jemand versucht hineinzusehen. Ich reiße mit einem Ruck die Tür auf. Vor mir steht ein Baum mit Armen und Beinen. Die Krone besteht aus fünf Millimeter langen Haarstoppeln. Tief in einem Gesicht, auf dem sich vermutlich noch nie eine Lachfalte abgezeichnet hat, liegen eiskalte Augen, die mich argwöhnisch mustern.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»KHK Lehmann, Kripo Lintfort. Was machen Sie hier?«

»Lukas Born, Privatdetektiv. Ich bin von Frau Buschmann …«

»Ein Schnüffler, aha.« Lehmann schiebt mich zur Seite und geht an mir vorbei. Ohne weitere Worte zu verlieren, öffnet er die Schlafzimmertür, wirft einen kurzen Blick hinein, lässt sie offen und geht weiter in die Küche. Ich folge ihm wie ein Dackel seinem Herrchen.

Wir sind inzwischen im Wohnzimmer, Lehmann steht vor der monströsen Schrankwand, zieht eine Schublade auf und stöbert darin. Wird mir langsam zu bunt, das Ganze.

»Ich kann mich täuschen, aber braucht es dafür nicht eigentlich eine Durchsuchungsanordnung?«

Ups, falsche Frage. Lehmann dreht sich langsam um, baut seine ein Meter sechsundneunzig raumgreifend vor mir auf und sieht mir verächtlich in die Augen.

»Ich habe angeklopft, ich wurde reingebeten und darf mich umschauen. Sehen Sie das etwa anders?« Eine Augenbraue hebt sich bedrohlich. Ich habe keinen Bock auf Stress und stimme ihm zu. Allein schon deshalb, weil unsere Arbeitsweisen sich in gewisser Weise ähneln. Vor allem jedoch, weil ich wissen möchte, warum die Kripo hier auftaucht.

»Die Krefelder haben die Ermittlungen eingestellt, hörte ich.«

Kurzes Schnaufen der Sorte »diese Stümper«, dann öffnet Lehmann die nächste Schublade. Der Hinweis auf die Krefelder oder wahlweise Duisburger Kollegen kommt nicht gut an in der Provinz. Kleinere Delikte dürfen die örtlichen Kripo-Dienststellen bearbeiten, sobald es aber um Mord geht, übernehmen die »Großen«, und erfahrene Kollegen wie Lehmann dürfen ihnen zuarbeiten. Die Tatsache, dass Lehmann sich hier so ins Zeug legt, zeigt, dass er Zweifel hegt.

Ich hake vorsichtig nach: »Sind denn inzwischen Anhaltspunkte aufgetaucht, die auf eine Straftat hinweisen?«

»Laufende Ermittlung«, brummelt er in einen Bart, der die gleiche Länge hat wie sein Haupthaar. Er schiebt mich sanft zur Seite und öffnet die Kellertür. Lehmann ist nicht zum ersten Mal hier. Erkennt man daran, dass er sich mit der linken Hand am Geländer festhält. Unten angekommen, knipst er eine Taschenlampe an und verschwindet damit um die Ecke.

»Sind Sie hier durchgetrampelt?«, schallt es kurz darauf nach oben.

»Ja. Wie gesagt, bin ich mit …«

»Na prima«, fällt er mir ins Wort.

Oben schiebt mich Lehmann Richtung Küche. Er zieht einen Stuhl heran, bedeutet mir, mich zu setzen, und nimmt über Eck Platz. Ich frage mich, was das werden soll, da hat Lehmann bereits Block und Kuli in den Händen und sieht mich fragend an.

»Na los, was haben Sie herausgefunden?«

Jetzt reicht es mir endgültig.

»Laufende Ermittlung, sorry.«

Auf seiner Stirn schwillt eine Ader bedrohlich an.

»Einen Clown gefrühstückt, oder was?«, brüllt er mich an.

»Sie dürfen mich gerne vorladen, Lehmann. Dann müssen Sie eine Ermittlungsakte aufmachen. In einem Fall, den die Krefelder als Unfall abgelegt haben. Dürfte schwer werden, das zu erklären. Kommen Sie schon, wenn wir zusammenarbeiten, kann da was draus werden.«

Für einen kurzen Augenblick gerät mein Gegenüber ins Grübeln. Dann packt er Block und Kuli ein und steht schnaufend auf.

»Ich arbeite garantiert nicht mit einem Schnüffler zusammen. Sie werden von mir hören, Born.«

Sagt es und verlässt strammen Schrittes das Haus. Einen ratlosen Schnüffler zurücklassend.

Ein todkranker Rentner liegt leblos am Fuße einer Kellertreppe, die ich um ein Haar selber runtergesegelt wäre. Es gibt nicht den geringsten Hinweis auf Gewalteinwirkung. Ein häuslicher Unfall, wie er im Buche steht. Dass Lehmann hier auftaucht und Ermittlungen anstellt, kann bedeuten, dass er einen Hinweis hat, den weder ich noch Julia und ihre Leute kennen.

Apropos Julia. Ich habe meine Noch-Gattin schon lange nicht mehr besucht.

4

Dienstag, 6. Juni, 12.40 Uhr

Die Tankanzeige macht mir schmerzhaft bewusst, dass ich es versäumt habe, Wim zu besuchen. Der Kriminaltechniker, den ich aus meiner Zeit bei der Krefelder Kripo kenne, ist nicht nur mein Freund, sondern auch mein Tankwart. Emma stammt noch aus einer Zeit, in der Dieselmotoren problemlos Heizöl schluckten, ohne dass gleich sämtliche Düsen und Pumpen verstopften. An der Zapfsäule stelle ich fest, dass mein Versäumnis ziemlich kostspielig wird. Dafür bekommt Emma mal wieder den guten Diesel, kennt sie sonst nur von Weihnachten.

Als ich kurz hinter dem Autobahnkreuz Moers zu einem Überholvorgang ansetze, bilde ich mir ein, dass Emma irgendwie zufriedener vor sich hin nagelt. Agiler ist sie allerdings nicht. Knapp vor der Abfahrt Gartenstadt fädele ich ein und stehe zehn Minuten später auf dem Parkplatz der Industrie- und Handelskammer, der an das Präsidium angrenzt und immer ein freies Plätzchen bereithält.

Ich klopfe zweimal an und trete ein. Dabei stoße ich fast mit Julia zusammen, die mit einer Tasse Kaffee in der linken und einem Krückstock in der rechten Hand zum Schreibtisch humpelt.

»Knöchel verstaucht«, bemerkt sie knapp.

»Wie hast du das denn hinbekommen?«

»Ich bin eine alte Holztreppe runtergeflogen.«

Ich muss unweigerlich schmunzeln.

»Was gibt es denn da zu lachen?«

Ich hebe entschuldigend die Hände.

»Vor einer Stunde wäre ich beinahe dieselbe Treppe runtergesegelt wie du letzten Samstag.«

Tom nimmt die Hände von der Tastatur, Julia stellt die Kaffeetasse ab. Beide scheinen von einem unguten Gefühl befangen.

»Was hattest du in Buschmanns Haus zu suchen?«, will Julia wissen. Ihre Mimik verrät mir, dass sie die Antwort ahnt.

»Die Tochter hat mich mit dem Fall beauftragt«, gebe ich lapidar zurück.

»Mit dem Fall?« Meine Gattin wirkt leicht gereizt.

»Okay, ob das ein Fall wird, weiß ich noch nicht. Bislang habe ich nur ein paar … Ungereimtheiten, um es mal vorsichtig auszudrücken.«

»Und mit diesen Ungereimtheiten ziehst du der Frau jetzt das Geld aus der Tasche?«

»Umgekehrt.«

»Was meinst du damit?«

»Die Frau kam zu mir, hat mir von den Ungereimtheiten erzählt, mich gebeten, denen nachzugehen, und schiebt mir dafür das Geld in die Tasche. Wie ich hörte, wart ihr damit schnell durch.«

Julia und Tom wechseln einen kurzen Blick und üben sich im Anschluss im Synchronkopfnicken. Dann schiebt meine Noch-Gattin einen mitleidigen Blick in meine Richtung, untermalt von einem passend dazu klingenden »Ach, Lukas«.

Ihr könnt mich doch mal.

»Nee, alles gut. Ihr dürft die Nummer ruhig als Unfall in den Akten lassen. Stört mich überhaupt nicht, ehrlich. Mich würde nur interessieren, ob die KTU inzwischen feucht durchwischt, bevor sie Feierabend macht. Oder wart ihr das?«

»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, gewischt hat da jedenfalls meines Wissens niemand. Und nicht dass ich dich desillusionieren wollte, aber«, sie fischt einen Obduktionsbericht aus einem der Ablagefächer, »laut Kristina Wegmann wäre der Mann auch bei einem Sturz von der Bordsteinkante gestorben. Im Übrigen hatte er gemäß dem Bericht noch maximal vier Wochen. Buschmann saß voller Krebs, praktisch alle Organe waren befallen. Er wog nur noch achtundfünfzig Kilogramm. Und die Treppe hast du ja selber kennengelernt.« Ihre Augen wandern automatisch zum bandagierten Knöchel.

»Ihr habt ihn obduzieren lassen?«

Julia verdreht die Augen. »Du kennst doch die Regeln.«

Klar. Wenn nicht hundertprozentig sicher ist, dass niemand nachgeholfen hat, muss sie eine Obduktion veranlassen. Ihrer Reaktion entnehme ich, dass sie das für pure Geldverschwendung hält.

»Es gibt also keine Hinweise auf Gewalteinwirkung«, konstatiere ich.

Julia schüttelt den Kopf und deutet auf den Obduktionsbericht. »Keine Kampfspuren, keine Hämatome am Rücken. Einbruchsspuren konnten unsere Leute auch keine finden. Die Lintforter Kollegen haben im Umfeld ermittelt. Ergebnis: Buschmann war überaus beliebt, keine Feinde, keine Leichen im Keller, nichts.«

Das haben die in zweieinhalb Tagen herausgefunden?, will ich nachhaken, lasse es aber. Ich verkneife mir den Hinweis auf Lehmann, der allem Anschein nach ganz und gar nicht von einem Unfall überzeugt ist. Wenn Julia davon erfährt, dass Lehmann weiter Ermittlungen anstellt, würde sie ihn umgehend anrufen und fragen, ob er noch alle Latten stramm hat. Eines dürfte sicher sein: Egal was Lehmann dazu treibt, er hat es nicht nach Krefeld durchgegeben.

»Okay, dann würde ich mal sagen: Das ist jetzt mein Fall.«

»Es gibt keinen Fall«, keift Julia mich an, wohl wissend, dass sie mich damit nicht stoppen kann. »Und solltest du, wider Erwarten, irgendetwas …«

»Erfährst du das natürlich als Erste.«

Eine zweifelnde Hauptkommissarin zurücklassend, verziehe ich mich.

Während Emma, eingepfercht zwischen zwei Sattelschleppern, über die Autobahn kriecht, geistert dieser Lehmann durch meinen Kopf. Unser Treffen war nicht gerade von gegenseitiger Wertschätzung, geschweige denn Sympathie geprägt. Nicht die beste Voraussetzung für eine fruchtbare Zusammenarbeit. Nach Lage der Dinge bin ich aber darauf angewiesen. Sind wir beide.

5

Dienstag, 6. Juni, 14.55 Uhr

Jede einzelne Nervenzelle in meinem Körper rebelliert, während ich die Polizeiwache an der Wilhelmstraße betrete. Hast du das nötig?, grummelt mein innerer Schweinehund und würde am liebsten auf dem Absatz kehrtmachen. Ich beruhige mich damit, dass ich ihn nur ein wenig … anfüttern will. Die Informationen aus Krefeld helfen ihm in dem Fall nicht wirklich weiter, könnten aber für etwas mehr Respekt und, im Idealfall, für Kooperationsbereitschaft sorgen.

»Ja«, bellt es hinter der Tür als Reaktion auf mein Anklopfen.

Lehmann sitzt am Schreibtisch und starrt auf den Monitor.

»Guten Tag, Herr Lehmann.« Der Angesprochene hebt den Kopf, ist für eine Sekunde irritiert, lässt sich dann entspannt in seinen klobigen Bürostuhl gleiten, dessen Armlehnen bis aufs Metall abgewetzt sind.

»Sieh an, der Schnüffler. Haben Sie es sich anders überlegt? Ist auch besser so.« Lehmann kramt in einer Schublade und zieht einen Block hervor. Er klickt dreimal auf seinem Kugelschreiber herum, als müsste dieser erst anspringen. Ich ziehe ebenfalls einen Block hervor, dazu einen Bleistift. Lehmann sieht mich verwundert an.

»Ich denke, wir tauschen unsere Ergebnisse aus, oder?«

Lehmann sieht mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob er mir mal kurz seine Dienstpistole leihen kann.

»Sind Sie jetzt total bescheuert geworden? Ich werde mit Sicherheit keine Ermittlungsergebnisse an einen Privatschnüffler weitergeben!«

»In diesem Fall bekommen Sie auch keine Informationen von mir. Wir kochen beide weiter unser Süppchen, ohne dass es heiß wird.«

Auf Lehmanns Stirn schwillt eine Ader an.

»Wenn ich rausfinde, dass Sie Ermittlungen in«, er zögert einen winzigen Augenblick, schluckt das »M-Wort« gerade noch runter, »einem Kriminalfall behindern, nagele ich Sie fest, Born!«

»Dazu müsste es diesen Fall erst mal geben. Buschmann steckte voller Metastasen, hatte noch knappe vier Wochen zu leben, maximal. Es gab keine Kampfspuren und keine äußeren Verletzungen, die auf eine Gewalttat schließen lassen. Glauben Sie im Ernst, dass die Krefelder daraus einen Fall machen?«

Wenn Misstrauen ein Gesicht wäre, würde es so aussehen wie das von Lehmann.

»Woher wollen Sie das wissen?«

Perfekter Zeitpunkt, um ihm den Köder hinzuwerfen.

»Steht alles im Obduktionsbericht. Haben Sie den etwa nicht gelesen? Okay, Ihre Sache, ich muss dann mal. Falls Sie es sich anders überlegen.« Ich werfe ihm eine Visitenkarte rüber. Die Klinke schon in der Hand, drehe ich mich kurz um. »Für den Fall, dass Sie den Bericht der KTU ebenfalls noch nicht gelesen haben: Es ließen sich keinerlei Einbruchsspuren finden. Schönen Tag, Herr Lehmann.«

Und schnell die Tür zu, bevor er aus seiner Trance erwacht.

Ich bin dringend auf weitere Informationen angewiesen. Andrea Buschmann hat mir im Grunde genommen nur erzählt, dass sie ihren Vater gefunden hat und es einige Ungereimtheiten gibt. Das sind Anhaltspunkte, maximal, mehr nicht. Ich muss herausfinden, ob etwas ihren Vater dazu veranlasst haben könnte, die Kellertreppe hinunterzugehen.

Meine Klientin wohnt im Rheurdter Ortsteil Schaephuysen, knappe zwölf Kilometer von hier.

»Ja, ich bin zu Hause.« Sie nennt mir die Adresse. »Fahren Sie am Nachtleben von Schaephuysen vorbei, dann am Ende links in die Ahornstraße.«

Ich bin vor einigen Jahren mal durch den Dreitausend-Einwohner-Ort gefahren. Dass dieses Dorf über ein nennenswertes Nachtleben verfügt, kann ich mir nicht vorstellen. Okay, ich war am Nachmittag dort. Da ich beim besten Willen nicht weiß, wo sich dort das Szeneviertel mit seinen Bars, Clubs und Diskotheken befindet, gebe ich die Adresse in mein Navi ein.