Mordstreffer - Barbara Edelmann - E-Book

Mordstreffer E-Book

Barbara Edelmann

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Beschreibung

»Mordstreffer«: Ein bayerischer Krimi voller Spannung, Humor und dörflicher Geheimnisse Das idyllische Legau wird von einem schockierenden Verbrechen erschüttert: Jäger Andreas Auer wurde im Wald von einem Wilderer erschossen – so zumindest die Theorie. Doch Sissi Sommer und Klaus Vollmer vom K1 in Memmingen trauen dem Braten nicht. War das Opfer wirklich ein so vorbildlicher Ehemann, engagiertes Vereinsmitglied und mit jedem gut Freund? Während sie ein Netz aus Lügen und halb garen Alibis entwirren, wird klar: Hinter der Fassade der Dorfidylle verbirgt sich weit mehr, als sie erwartet hatten. Barbara Edelmanns »Mordstreffer« ist ein fesselnder Regionalkrimi mit viel Lokalkolorit, überraschenden Wendungen und einer Prise bayerischem Humor. Der 10. Fall des eingespielten Ermittlerduos Sommer und Vollmer bietet spannenden Lesegenuss für gemütliche Stunden auf der Gartenbank oder entspannte Wochenenden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 440

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Barbara Edelmann ist in Mindelheim geboren und aufgewachsen. Seit Jahrzehnten lebt sie glücklich und zufrieden im Allgäu. Ihre Erfahrungen und Beobachtungen verarbeitet sie in ihren Allgäu-Krimis. Außerdem liebt sie Rothenburg ob der Tauber und widmet der Stadt ihre zweite Krimireihe.

 

 

 

 

 

 

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

 

© Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

www.emons-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Cavan Images/Dreet Production

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept

von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Julia Lorenzer

E-Book-Erstellung: Geethik Technologies Pvt Ltd

Printed in Europe 2025

ISBN 978-3-98707-326-7

Allgäu Krimi

Originalausgabe

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen

insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß

§ 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

 

 

Dieses Buch widme ich dem schönen Dorf Erkheimund der Gemeinde Daxberg, die mich und meinen Mann vor nunmehr elf Jahren so freundlich aufgenommen haben.Danke.

1

Die Vormittagssonne stand an diesem herrlichen Junitag hoch am wolkenlosen blauen Himmel, der sich über das sommerliche Unterallgäu spannte, und beschien blühende gelbe Rapsfelder, sich in einer leichten Brise wiegenden Weizen und saftige grüne Weiden mit grasenden Kühen, einsame Landstraßen, auf die sich selten ein Motorrad verirrte, und die zu jeder Tageszeit kühlen Kiesbänke am Rand der Iller, die sich dunkelgrün schimmernd auf ihrem Weg durch das Flussbett wälzte.

Nur wenige Kilometer entfernt von Legau, in einem Waldstück zwischen Kaltbronn und Maria Steinbach, verwünschte gerade eine auffällig gekleidete Frau eine hartnäckige Wurzel und fluchte dabei wie ein Bierkutscher. Aber es war niemand in der Nähe, der sie hätte hören können.

»Zefix!« Ungeduldig zerrte Susanne Epple an ihrem Nordic-Walking-Stock, dessen Spitze sich in den Ausläufern eines hervorstehenden Baumstumpfs verfangen hatte. Sie zog so heftig daran, dass die Wurzel irgendwann nachgab und Susanne mit dem Hintern voraus auf dem kühlen Waldboden landete.

»Aua!«, jammerte sie aufgebracht, rappelte sich hoch und versuchte zu erkennen, ob ihre nagelneuen knallrosa Leggings einen Fleck oder einen Riss aufwiesen. Böse Zungen hätten behauptet, dass ihre Rückseite genügend gepolstert war, um jegliche Blessuren auszuschließen. Aber sämtliche Legauer Tratschtanten, die hinter ihrem Rücken tuschelten, der einzige Weg, Susanne von null auf hundert zu bringen, sei, wenn man sie auf eine Waage stellte, waren im Moment anderweitig beschäftigt.

»Des hätt mich so geärgert, wenn die hin gewesen wäre.« Erleichtert atmete sie auf. Ihre Hose saß immer noch wie angegossen und hatte nichts abbekommen.

Missmutig blinzelte sie nach oben, wo sich zwischen beinahe schwarz wirkenden Fichtenwipfeln die ersten mittäglichen Sonnenstrahlen ihren Weg auf den moosbewachsenen Waldboden neben dem schmalen Trampelpfad bahnten, auf dem sie ihre tägliche Trainingsrunde absolvierte.

»Bald wird’s da herinnen fast so warm sein wie draußen, da hätt ich genauso gut auf der Straße bleiben können«, ärgerte sie sich. »Ich bin viel zu spät dran, bloß wegen der doofen Dobler.«

Um sie herum herrschte sogar um diese Uhrzeit, wo es auf Mittag zuging, geheimnisvolles Schweigen, das nur gelegentlich vom entfernten Brummen eines Traktors unterbrochen wurde. Ab und zu raschelte etwas durchs Unterholz und verschwand, verscheucht von Susannes lauter Stimme, umgehend wieder.

»Mist, ich komm zu spät heim«, schalt sie sich selbst. »Gut, dass ich wenigstens fertig gekocht hab. Da wird er wieder rumjammern, der Bernd, weil er ja jeden Tag Fleisch will, aber kaltsaure Nudeln sind auch ein Essen, ob’s ihm passt oder net.«

Prüfend hob sie den Stock und inspizierte ihn ausgiebig. »Alles heil«, brummte sie zufrieden. »Qualität lohnt sich halt immer.«

Der Grund, warum die gut proportionierte Susanne, eine hübsche Frau von vierzig Jahren, mit einem weißen Frotteeband über der Stirn, das ihre schulterlangen aschblonden Locken nur notdürftig bändigte, an diesem Donnerstag durch den Kaltbronner Wald stapfte und auf Gott, die Welt und vor allem auf Erna Dobler sauer war, war ein gigantisches Stück Marzipantorte, das sie vor einer knappen Stunde beim Bäcker Freytag auf einem der bequemen Stühle vor dem Laden unter einem großen Sonnenschirm genüsslich verzehrt hatte. Immerhin war Erna Dobler die Brieftaube des Ortes, wusste alles über jeden und hatte mit geheimnisvollem Augenzwinkern angedeutet, es gebe Neuigkeiten über den Hofmann Rainer und seine Frau.

Tratsch schmeckte normalerweise am besten mit Eierlikör, einem guten Roten oder etwas Süßem, aber da es erst halb elf gewesen war, hatte Susanne die Torte bestellt. Ihr blieb keine andere Wahl, denn sonst hätte Erna Dobler überall herumerzählt, dass sie saufen würde wie ein Loch, und das am helllichten Vormittag.

Als sie ihr Stück Torte bis zum letzten Krümel aufgegessen und aus Erna Dobler sämtlichen verfügbaren Klatsch herausgelockt hatte, hatte sie es bereits bereut – nicht die Gerüchte, sondern die Kalorien. Denn sie war auf Diät.

Erstens hatte sie zusammen mit ihrem Gatten seit langer Zeit wieder einen Urlaub gebucht, zweitens hatte sie seit Neuestem einen Account bei Instagram, und drittens hatte sie sich letzte Woche einen elegant geschnittenen schwarzen Badeanzug geleistet, der so eng am Körper anlag, dass er wie aufgemalt wirkte. Nur zu weit nach vorne beugen durfte Susanne sich nicht, wenn sie ihn trug, denn er war mindestens eine Nummer zu klein, eher zwei. Die Ausführung mit der benötigten Körbchengröße hatte die exklusive kleine Boutique in Memmingen, in der sie so gern einkaufte, leider nicht vorrätig gehabt. Also hatte sie kurzerhand beschlossen, sich in den neuen Badeanzug zu hungern, eine Diät erfunden, die ihr zusagte, weil sie ihr nicht allzu viel abverlangte, und begonnen, nur genau so viel Sport zu treiben, dass es sie nicht anstrengte. Sie wollte ja schließlich auch noch leben.

»Ich hab schon wieder Hunger«, verkündete sie grantig einem herabhängenden Ast, der ihr den Weg versperrte, und schob ihn unwillig beiseite. »Ich versteh gar net, wo diese Torte hin ist. Alle Kalorien rauschen durch mich durch wie ein Mann in einem Fass die Niagarafälle.«

Der Ast antwortete nicht, trotzdem klagte sie ihm ihr Leid. »Immer blöd daherschwätzen, des kann er, der Bernd. Ich hab doch einen ganz anderen Stoffwechsel als er.« Susannes Mann, ein baumlanger, zaundürrer Mittvierziger, konnte sehr zum Leidwesen seiner Frau in sich hineinstopfen, was und so viel er wollte, nahm aber ums Verrecken nicht zu. Das brachte sie regelmäßig zur Weißglut.

»Wenn du abnehmen willst, Schatzi, musst du dich ein bisschen bewegen, nicht bloß weniger essen«, hatte er tatsächlich vor zwei Tagen zu behaupten gewagt. »Und was ist denn des für ein Ding?« Damit war Susannes neueste Errungenschaft gemeint, die sie unbedingt für ihre angestrebte Karriere als Influencerin brauchte. Zwar war sie vor Kurzem vierzig geworden, aber ein Teil von ihr weigerte sich, da mitzumachen, und blieb lieber in der Pubertät.

»Ein Ringlicht ist des«, hatte sie ihren Mann belehrt. »Des braucht man fürs Internet, wenn man Videos von sich selber aufnimmt. Ich schau viel besser aus, wenn ich davorsitze. Da sieht man fast keine Falten.«

Misstrauisch hatte Bernd das Ding betrachtet, nach dem Preis gefragt, tief geseufzt und war wieder verschwunden. Und dabei hatte sie ihm das neue Mikrofon noch gar nicht gezeigt.

Wegen genau dieser Seufzer hasste ihn Susanne gelegentlich mit jeder Faser ihres Herzens, aber das dauerte immer nur bis zum nächsten Bussi, denn der Bernd war eigentlich ein Netter.

Er liebte jedes Gramm an seiner Frau, aber egal, wie oft er das beteuerte, sie glaubte ihm kein Wort. Seitdem sie sich bei Instagram angemeldet hatte, erst recht nicht mehr, denn diese glitzernde Internet-Welt bestand anscheinend hauptsächlich aus höchstens fünfundzwanzigjährigen bildhübschen Frauen mit Kleidergröße vierunddreißig, Schmollmund und perfekten Zähnen. Das setzte Susanne ein bisschen unter Druck, denn sie war fünfzehn Jahre älter, hatte einen leichten Überbiss, ihre wahre Kleidergröße kannte nur das FBI, und einen Schmollmund brachte sie nicht mal zustande, wenn sie sich anstrengte. Schmollen konnte sie aber gut.

Nach den ersten hundert Likes für ihre Postings war sie jedoch überzeugt davon gewesen, zur Influencerin berufen zu sein. Da draußen existierten offenbar Leute, die mochten, was sie ins Netz hochlud; je verrückter es war, umso besser. Dieses Gefühl gefiel ihr außerordentlich gut, sie wollte unbedingt mehr davon. Und seit sie vor einigen Wochen ihre selbst erfundene innovative Diät vorgestellt hatte, wuchs ihre Followerschaft jeden Tag ein bisschen mehr.

Da würden sich die Damen vom Gartenbauverein noch umschauen, wenn sie erst mal berühmt war. Aber Susanne hatte schnell gelernt, dass man seine Internet-Gefolgschaft bei der Stange halten und ständig neue Inhalte präsentieren musste, sonst verflüssigte sie sich wie geschmolzene Butter in der Pfanne.

Genau aus diesem Grund warf sie sich seit einer Woche in Schale, lief einfach los und filmte sich selbst dabei, wie sie verschwitzt vor dem Alpenpanorama triumphierend ihre Nordic-Walking-Stöcke in den Himmel reckte. Die arme Susanne ahnte nicht, dass halb Legau ihr nur auf Instagram folgte, um sich leichter über sie amüsieren zu können – sie war nämlich noch neu im Geschäft und freute sich jeden Tag, wenn sie den Computer einschaltete und die vielen Herzchen unter ihren Postings registrierte, die sie angeblich für ihre innovativen Diätvorschläge erhielt. Wenn es so weiterging, könnte sie bald ein Buch schreiben, dachte sie. Es würde ein Hit werden. Davon war sie überzeugt.

Jetzt allerdings wollte sie nur noch schleunigst nach Hause, denn sie hatte einen Riesenhunger. Durch eine schmale Lücke zwischen den dichten Fichten konnte sie eine kleine Lichtung erkennen. »Endlich. Da bin ich aber wirklich weit gelaufen, des langt für heute«, lobte sie sich selbst. »Jetzt mach ich bloß noch ein schönes Foto und geh wieder heim.«

Sie zupfte ihr Oberteil zurecht und überlegte sich eine Pose für ihr Selfie, bei der ihre Ohrhörer gut zur Geltung kommen würden. Immerhin waren die Dinger nagelneu, genau wie ihr restliches Outfit, von den körperbetonten rosa Leggings über das moosgrüne Oberteil bis hin zur überdimensionierten Sonnenbrille und der frischen Dauerwelle vom Friseur Reisacher.

In diesem Moment knurrte ihr Magen so laut, dass sie zusammenzuckte. »Sei ruhig. Wenn mir daheim sind, gibt’s ein paar gebratene Eidotter mit Senf«, versprach sie ihm und sah sich nach einem Baum um, der ihre natürliche Schönheit unterstreichen würde. Ihre zweihundertsechsunddreißig Follower da draußen warteten auf Neuigkeiten. Und ohne Fotos war man nichts im Netz.

»Der passt. Da hab ich ein bissle Gegenlicht, des sieht schön geheimnisvoll aus!« Entschlossen tappte sie zu einer schlanken Fichte am Rand der Lichtung. Sie legte die beiden Stöcke sachte ins Gras, lehnte sich so lasziv und gleichzeitig sportlich wie möglich an den Baum und zückte ihr Smartphone, das sie am ausgestreckten Arm über sich hielt. Dabei lächelte sie in die Kamera. Ohne Schmollmund.

»Mist, der Hochsitz vom Auer ist im Bild, des macht mir meine ganze Komposition kaputt«, ärgerte sie sich, als auf dem Display hinter ihrem strahlenden Gesicht ein primitiv zusammengezimmertes Gestell ihre Aufmerksamkeit erregte. »Ich sollte mich ein bissle anders hinstellen.« Sie machte einen Schritt nach links, während sie weiter unverwandt in die Handykamera blinzelte, als sie etwas entdeckte, das ihr unechtes Lächeln ausknipste, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.

Erschrocken ließ sie das Smartphone sinken und drehte sich um. Dann kniff sie angestrengt die Augen zusammen und arbeitete sich Schritt für Schritt aus dem Wald hinaus auf die Umrisse zu, die sie eben auf dem Display ihres Handys gesehen hatte, bis sie beinahe darüber stolperte.

Vor ihr im feuchten Gras, genau neben dem Hochsitz, lag mit ausgestreckten Armen ein Mann in Jagdkleidung, neben sich ein Hut und ein Gewehr. In Höhe seines Schlüsselbeins hatte sich ein großer Blutfleck auf dem dunkelgrünen Stoff ausgebreitet. Seine Augen waren halb geöffnet, als würde er dösen.

Susanne tat, was die meisten Menschen in dieser Situation tun würden: Sie stieß einen markerschütternden Schrei aus, drehte sich um und rannte durch den Wald, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Der Mann mit dem blutigen Hemd blieb liegen und rührte sich nicht.

2

»Noch mal danke für die Einladung, Onkel Andi. Aber ich bin kein großer Fan von Hasenbraten, obwohl deine Haushälterin hervorragend kocht. Ohnehin müsste ich dringend nach Hause. Und außerdem ist es erst elf Uhr. Seit wann isst du so früh?«

Sissi Sommer, die hübsche Kommissarin vom K1 in Memmingen, tupfte sich mit einer blütenweißen Leinenserviette den Mund ab und spuckte verstohlen etwas in den gestärkten Stoff. Sie war eine attraktive, wohlproportionierte Brünette mit wachen braunen Augen und langem dunklen Haar, das ihr locker über die Schultern fiel. Obwohl sie auf die vierzig zuging, wirkte sie in ihrer kurzärmeligen maisgelben Bluse und der weißen Jeans keinen Tag älter als dreißig.

»Ich habe nicht oft frei, und wir hätten uns doch am Sonntag ohnehin in der Kirche gesehen. Nun bin ich aber wirklich pappsatt.« Mit diesen Worten schob sie ihren Teller so unauffällig wie möglich ein Stückchen von sich weg.

»Als ich hörte, dass du auf dem Rückweg aus Kempten bist, dachte ich, wir könnten mal wieder zusammen plaudern, darum habe ich das Essen vorverlegt«, verteidigte sich Pfarrer Sommer und nahm einen kleinen Schluck von dem schweren Rotwein, der im Glas schimmerte. »Ich sehe meine Nichte viel zu selten, es sei denn, sie braucht mich im Rahmen ihrer Ermittlungen.« Das klang ein wenig vorwurfsvoll.

»Lieb von dir, Onkel Andi, aber du weißt selbst, wie anstrengend und zeitintensiv meine Arbeit ist.« Sissi lächelte ihren Onkel freundlich an.

Ihr Gegenüber, ein untersetzter Mann Mitte sechzig mit grauem Haarkranz über blitzenden blauen Augen in einem freundlichen Gesicht, nickte bestätigend. Seit Jahrzehnten kümmerte sich Pfarrer Sommer in der Gemeinde Legau mit viel persönlichem Einsatz um seine verirrte katholische Herde. Wenn er von der Kanzel über Hölle und Verdammnis wetterte, blieb kein Auge trocken. Seine Predigten waren über die Grenzen des Landkreises hinaus berühmt-berüchtigt und sogar dem Bischof in Augsburg zu Ohren gekommen, der nach dem dritten vergeblichen Versuch, Sommer zu einer sanfteren Tonart zu überreden, jede Hoffnung aufgegeben hatte. Diese Allgäuer waren eben ein sturer Schlag. Außerdem mochten sie ihren Pfarrer trotzdem und ließen nichts auf ihn kommen.

Sommer liebte seine störrischen Schäflein, war einem guten Roten oder einem kühlen König-Ludwig-Dunkel nicht abgeneigt und gönnte sich gelegentlich eine Zigarre, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Jetzt betrachtete er seine Nichte besorgt.

»Wann seid ihr denn das letzte Mal verreist, Sissi? Du arbeitest wirklich sehr viel, und ich kann mich nicht erinnern, dass ich in den letzten Jahren eine Urlaubskarte von dir bekommen hätte. Also, wann?«

Sissi überlegte einen Moment. »Weiß ich gar nicht mehr«, antwortete sie dann. »Aber ich wohne in einer Gegend, in der andere Urlaub machen, es ist also zum Aushalten. Onkel Andi, ich sollte jetzt wirklich los. Peter wartet mit dem Essen auf mich, und wir wollen später noch was zusammen unternehmen.«

»Hat dir das Fleisch nicht geschmeckt?«, erkundigte sich ihr Onkel, als ihm das beinahe unberührte Essen auffiel. »Ist ganz frisch.«

»Doch, natürlich.« Anstandshalber pickte Sissi ein Stück Salzkartoffel mit der Gabel auf und schob es sich in den Mund. »Wirklich frisch. Ich habe vorhin schon befürchtet, es würde gleich vom Teller hüpfen und davonhoppeln.«

»Als Kind warst du nicht so heikel«, tadelte Sommer seine Nichte.

»Da hab ich dir ja auch noch abgekauft, dass das Christkind auf weißen Flügeln ins Wohnzimmer schwebt und dass ich umgehend in die Hölle komme, wenn ich lüge, Onkel Andi.« Sissi legte ihre Gabel ab und erhob sich. »Wir sehen uns bald wieder. Sonst alles okay bei dir?«

»Selbstverständlich.« Pfarrer Sommer zwinkerte ihr mit seinen strahlend blauen Augen zu. »Ein bisschen Blutdruck, ein bisschen dies und das. Wie das halt in meinem Alter so ist. Und selbst?«

Sissi seufzte. »Du weißt, dass Peter letztes Jahr mit dem Brotbacken angefangen hat?«

»Nicht nur ich, das ganze Dorf«, bejahte ihr Onkel. »Immerhin hat er uns alle reichlich damit bedacht. Seine Kreationen waren zum Teil sehr abenteuerlich.«

»Er hat sage und schreibe siebzehn Bücher über Brot gekauft und eine Zeitschrift abonniert, die tatsächlich den Namen ›Brot‹ trägt«, erzählte ihm Sissi. »Seit Neuestem bäckt er auch noch alles Mögliche in Brotteig ein. Und ich muss es dann essen.«

»Klingt nicht so schlimm«, tröstete sie ihr Onkel. »Und Peter kocht wirklich gut. Sein Beef Wellington ist erstklassig.«

»Nicht in Sauerteig«, widersprach ihm Sissi verstimmt. »Und das ist noch nicht alles. Letzte Woche kamen drei neue Bücher mit Do-it-yourself-Tipps.«

»Ist doch vorbildlich«, wandte ihr Onkel ein.

»Denkst du?« Sissi lächelte säuerlich. »Du würdest dich wundern, was man alles fürs Selbermachen braucht. Bei uns zu Hause sieht es allmählich aus wie im Wohnmobil von Walter White aus ›Breaking Bad‹, diesem fiktiven Chemielehrer, der sein Geld mit dem Kochen von Methamphetamin verdient hat. In der Garage steht kübelweise Natron, weil mein Mann meint, das helfe gegen Bauchweh, Kalkflecken, Blähungen, schlechten Geruch und zu flachen Kuchen.«

Sommer grinste. »Mir gefällt das«, verteidigte er Sissis Mann. »In der Nachkriegszeit hat man das meiste selbst gemacht. Es gab ja so gut wie nichts.«

»Ich bin noch nicht fertig«, fiel seine Nichte ihm ins Wort. »Neulich war ich ausnahmsweise im Keller im Abstellraum, weil ich was gesucht habe. Da stehen tatsächlich drei nagelneue Schwerlastregale, von denen ich keine Ahnung hatte. Ich weiß nicht mal, wie er die allein da runtergebracht hat.«

»Auch das ist nicht verwerflich, dass er Stauraum schafft. Was hast du nur?«, wunderte sich Sommer.

»Denkste.« Sissi schnaubte. »Wir horten seit Neuestem Dosenbrot, Wurst in Dosen, Volleipulver, kanisterweise Mineralwasser, Campingkocher plus Gaskartuschen, ungefähr zehn Kilo Kerzen und einen halben Ster Klopapier. Onkel Andi, ich hab so viel davon zu Hause, ich könnte damit handeln.«

»Herrje.« Sommer staunte. »Weshalb das denn?«

»Ratschlag des Bundesamts für Katastrophenschutz, behauptet mein Mann«, antwortete Sissi grimmig. »Du weißt doch, dass Peter staatliche Verlautbarungen immer wörtlich nimmt.«

»Das habe ich aber auch gelesen«, verteidigte Pfarrer Sommer Peter. »Jeder Haushalt sollte zwei Wochen lang mit dem klarkommen, was er daheim hat, falls es einen Blackout gibt beispielsweise.«

»Mein Mann ist ein sehr umsichtiger Mensch.« Sissi seufzte. »Einer der Gründe, warum ich ihn so sehr liebe. Er sorgt gerne vor. Aber er übertreibt dabei immer. Was mach ich denn mit dem ganzen Klopapier? Und dann noch das megateure vierlagige!«

»Vielleicht bekommt ihr mal Durchfall und seid dann froh drum«, versuchte Sommer seine Nichte zu trösten. »Das wird ja nicht schlecht.«

Sie musste lachen. In diesem Moment ertönte ein Summton.

»Ist das deins?« Sommer wies auf Sissis Umhängetasche, die auf der Eckbank lag.

Hastig fischte sie ihr Smartphone aus der Tasche und meldete sich.

»Sehr gut, Chef, danke. Ich hab ja heute f…« Ihre Miene wurde mit einem Schlag ernst. »Wo? Ach du liebe Güte. Ja, ich bin tatsächlich gerade in der Nähe und mache mich umgehend auf den Weg. Ist Klaus bereits vor Ort?« Sie lauschte einen Moment.

»In Ordnung. Das war’s dann wohl mit meinem freien Tag. Wir melden uns, sobald wir was haben. Wiederhören.« Sie beendete das Gespräch, hängte sich ihre Tasche um und begab sich in Richtung Tür. »Ich muss, Onkel Andi. Danke für das Essen.«

»Scheint dir wirklich nicht geschmeckt zu haben, mein Essen«, meinte er vorwurfsvoll. »Neuer Fall?«

»Leider, Onkel Andi«, bejahte sie. »Du weißt, mehr darf ich dir nicht verraten. Und nun iss weiter. Wird ja alles kalt.« Sie winkte ihm zum Abschied und verschwand leichtfüßig durch eine große Tür aus dunkler Eiche.

Ihr Onkel lauschte dem Klang ihrer Schritte, bis sie verhallt waren, dann machte er sich wieder an seinen Hasenbraten. Er war tatsächlich beinahe kalt.

»Das ging ja schnell.« Klaus wartete neben seinem Auto auf sie, das am Waldrand geparkt war. »Zwei Kollegen von der Streife sind auf der Lichtung, zusammen mit der Frau, die ihn gefunden hat.«

»Dieses Auto«, Sissi deutete auf einen ungefähr zwanzig Meter entfernten dunkelgrauen SUV am Waldrand, hinter dem ein Streifenwagen stand. »Es gehört Andreas Auer, das sehe ich am Kennzeichen.«

»Das ist der Name des Opfers«, klärte Klaus sie auf. »Die Frau, die ihn entdeckt hat, konnte ihn identifizieren. Sie kannte ihn persönlich. Ach, ich hatte ganz vergessen – ihr kennt euch ja alle persönlich.«

Sissi zuckte kaum merklich zusammen. »Andreas?«, wiederholte sie blass. »Gestern Abend hab ich ihn noch gesehen, im Mohren, als ich mit Peter dort eingekehrt bin. Da saß er mit seiner Blase zusammen beim Essen.«

»So schnell kann’s gehen«, antwortete ihr Kollege Klaus, ein attraktiver Mann Ende dreißig. Sein volles dunkles Haar hing ihm fransig in die Stirn, und seine grünen Augen funkelten sie neugierig an. »Hast du eventuell einen Verdacht, Sissi?«

»Nein. Was soll dieser Unterton? Du klingst beinahe so, als ob du dich freust.« Eilig schwang Sissi sich aus dem Wagen und griff nach ihrer Umhängetasche.

»Spurensicherung?«, wollte sie wissen, während sie den schmalen Pfad betraten, der in den Wald führte.

»Auf dem Weg. Müsste demnächst hier sein. Was hast du denn da?« Er zeigte auf einen dunklen Fleck auf Sissis Bluse unterhalb des Kragens.

»Das ist Soße«, ärgerte sie sich. »Kriege ich sicher nie mehr raus. Es sei denn, Peter hat was in der Garage, das er für mich zusammenrühren kann zur Fleckenentfernung. Würde mich nicht im Geringsten wundern, wenn er mittlerweile dazu imstande wäre, Explosivstoffe herzustellen. Hast du sonst noch Infos für mich? Sag mal, warum siehst du eigentlich aus, als hättest du in eine Zitrone gebissen?«

»Keine Ahnung, was du meinst. Ich bin schön wie immer, wette ich.« Klaus fuhr sich mit den Fingern durch das dichte Haar. Mit seinem kantigen, gut geschnittenen Gesicht, den durchdringenden Augen und der athletischen Figur wirkte er wie eine äußerst anziehende Mischung aus Ladykiller und Traumschwiegersohn, weshalb er von vielen Männern beneidet und von den Frauen angehimmelt wurde. Es schien ihm nicht schlecht zu gefallen.

»Hör zu, Sissi«, begann er, »es sieht ganz so aus …«

»Oh mein Gott.« Sissi rollte mit den Augen. »Ich weiß schon, was jetzt kommt. Lass mich raten. Ein toter Mann im Wald mit Schusswunde. Und ein garstiger Wilderer mit Schlapphut, der ihn niedergestreckt hat.«

»Dir kann man nichts vormachen, du kennst mich.« Klaus schmunzelte. »Seit Jahren warte ich auf so eine folkloristische Einlage. Ich dachte, das wird nie was.«

Tausende von abgestorbenen Fichtennadeln knackten unter ihren Schuhen, während sie mit schnellen Schritten auf dem schmalen Pfad zum Tatort liefen.

»Mann, riecht das gut hier. Ich sollte öfter in den Wald«, seufzte Sissi.

»Dann fahr aber in einen in Norddeutschland«, warnte Klaus sie. »Hier ist die Luft schwer bleihaltig, und trifft dich keine Kugel, erwischt dich ein Wildschwein.«

»Verwöhnte Großstadtpflanze«, konterte Sissi. »Schmink dir das mit dem Wilderer ab. Ihr Städter habt total romantisierte Vorstellungen und glaubt vermutlich, die jodeln erst, jagen dann und verteilen später das Wildbret an die Armen wie eine Art Robin Hood in Lederhosen.«

»Bisher hat sich jedes Klischee über euch bewahrheitet«, sagte Klaus grimmig.

»Stimmt doch gar nicht«, widersprach ihm Sissi. »Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Ist alles okay mit Annalena?«

»Geht so«, murmelte er. »Frauen eben. Was soll ich dazu sagen?«

»Na, die Wahrheit. Möglicherweise kann ich dir helfen«, bot Sissi ihm an. »Ich bin ja selbst eine.«

»Ja natürlich, glücklich verheiratet, bäckst und kochst gern«, antwortete Klaus verdrossen. »Noch so ein Klischee.«

»Ich hab den braunen Gürtel in Karate, kann mit einer Waffe umgehen und arbeite bei der Kripo, genau wie du. Und du bist derjenige von uns beiden mit der Angst vor Spinnen«, antwortete sie. »Ach, ich verstehe.« Sie grinste in sich hinein. »Heiraten – das Zauberwort. Hätte ich beinahe überhört.«

»Es ist nur …«, begann Klaus, stockte aber mitten im Satz. »Ich komm schon klar. Landleben eben. So ist das nun mal in der Provinz. Aber es stimmt schon. Vieles, was ich über euch gehört habe, als ich noch in Berlin wohnte, war zugegebenermaßen ein wenig übertrieben.«

»Du meinst, wir tragen gar nicht den ganzen Tag Lederhosen und rollen Knödel, nachdem wir das Alphorn geblasen haben?«, kicherte Sissi. »Wie gemein von uns. Außerdem bist du freiwillig hier.«

Klaus hatte sich vor einigen Jahren von Berlin nach Memmingen versetzen lassen, weil er sich unsterblich in eine bildhübsche blonde Allgäuerin verknallt hatte, die mit einer Gruppe von Freunden die Hauptstadt besuchte. Leider hatte ihn die Dame kurz nach seinem Umzug ins Allgäu sitzen lassen, da sie sich noch nicht reif für eine feste Beziehung mit nur einem einzigen Mann fühlte, und eine Liaison mit einem untersetzten, aber sehr solventen Russen begonnen, der ihr mehr Designerschmuck schenkte, als sie sich umhängen konnte.

Da saß Klaus also nun in Memmingen mitsamt seinem Kulturschock und musste ganz allein damit fertigwerden. Der Boss hatte damals beschlossen, dass Sissi Sommer, die bodenständige Legauerin, am besten dazu geeignet wäre, Klaus unter ihre Fittiche zu nehmen. Aus der verordneten Zusammenarbeit hatte sich mittlerweile eine verlässliche Freundschaft entwickelt.

Leider hatten anfängliche kommunikative Schwierigkeiten und kulturelle Differenzen Klaus’ erste Zeit auf dem Revier überschattet, denn seine Lästereien über die provinzielle Diaspora, in der er gestrandet war, waren nicht bei allen Kollegen gleichermaßen gut angekommen, obwohl ihm die weiblichen so gut wie alles verziehen, wenn er sie nur anlächelte. Mehr als einmal war ihm von verschiedenen Seiten angeboten worden, ihm statt Maultaschen Maulschellen zu servieren, aber bisher war nie etwas passiert.

Die Männer verstanden nicht, was die Frauen an dem eitlen Draufgänger mit dem Dreitagebart fanden, und die Frauen verstanden nicht, dass die Männer es nicht verstanden. Aber Klaus kam mittlerweile mit jedem gut aus, war hilfsbereit, freundlich und zugänglich. Lediglich mit seinem Kollegen Hans Dollinger, einem gesetzten Beamten im mittleren Alter, verband ihn eine innige Privatfehde, die immer wieder aufflammte, sehr zur Belustigung aller.

Das Einzige, an dem Klaus vom ersten Tag seiner Anwesenheit in Memmingen nichts auszusetzen gehabt hatte, war das bayerische Essen. Er fraß sich durch die Speisekarten sämtlicher Biergärten im Landkreis wie ein australisches Wildfeuer und schaffte es trotzdem, seine sportliche Figur zu behalten. Keiner wusste, wie er das machte, gerade Dollinger wäre an diesem Geheimnis außerordentlich interessiert gewesen.

»Hast ja recht, Kollegin«, gab er nun widerwillig zu. »Ich bin freiwillig hier. Aber trotzdem bin ich der Meinung, jemand hätte mich vor euch warnen müssen.«

»Sissi!«, rief jemand von Weitem, als sie die Lichtung erreichten. »Endlich! Ich wart seit einer Ewigkeit.«

»Susanne Epple. Sie hat den Toten entdeckt.« Klaus wies auf die Lichtung.

Neben zwei Beamten von der Streife stand eine aschblonde Frau in Trainingsklamotten und fuchtelte wild mit den Armen, um sich bei Sissi bemerkbar zu machen.

»Was macht Susanne denn um diese Zeit hier?«, wunderte sich Sissi. »Bernd kommt jeden Mittag nach Hause, und sie kocht dann immer.« Sie winkte zurück. »Einen Moment!«, schrie sie.

»Gibt’s in diesem Kaff eigentlich irgendjemanden, mit dem du nicht per Du bist?«, wollte Klaus wissen.

»Nicht viele.« Sissi schmunzelte. »Aber die lernen mich noch kennen und duzen mich dann auch.«

»Frau Epple wollte, äh, trainieren und ist deswegen durch den Wald gelaufen«, erzählte ihr Klaus. »Wer hat ihr nur diese Klamotten verkauft? Sie sieht aus wie eine Piñata.«

»Ach ja, der Urlaub auf den Malediven.« Sissi grinste. »Und der neue Badeanzug für dreihundert Euro, den sie ihrem Mann noch nicht gebeichtet hat.«

»Dreihundert Euro? Dafür mach ich eine ganze Woche Urlaub«, jammerte Klaus. »Woher weißt du das denn?«

»Ich folge ihr auf Instagram«, flüsterte Sissi ihm zu. »Es ist wie mit Tupperware-Partys. Wer Nein sagt, macht sich unbeliebt. Das halbe Dorf folgt ihr. Sonst ist sie beleidigt. Hallo, Susanne«, rief sie der blonden Frau zu. »Wir kommen so schnell wie möglich zu dir, einen Moment noch.« Routiniert streifte sie sich genau wie Klaus Einweghandschuhe über und begab sich zu der reglosen Figur auf dem Boden. Der Tote lag direkt vor dem Ansitz auf dem Rücken. Unterhalb des linken Schlüsselbeins war das Hemd blutrot gefärbt. Neben seiner linken Hand befand sich ein Gewehr, sein moosgrüner Hut war ihm vom Kopf gerutscht. Die blicklosen Augen waren halb geöffnet.

»Unglaublich, dass ich ihn gestern noch getroffen hab. Lebendig. So ein Mist.« Sissi beugte sich zu dem Toten hinunter und berührte vorsichtig sein Handgelenk. »Kalt«, konstatierte sie. »Man geht ja normalerweise im Morgengrauen auf die Jagd, und das ist schon eine Weile her. Schau mal.« Sie zeigte auf das Hemd. »Weitere Blutspritzer am Bauch, aber kein Einschussloch. Und was ist das hier?« Sie deutete auf einen etwa handflächengroßen schwarzen Fleck auf dem Stoff. »Merkwürdig.« Sie schnupperte daran. »Ich kann den Geruch nicht identifizieren. Hatte er was dabei? Ausweis? Smartphone?«

»Da.« Klaus wies auf ein kleines Rechteck, das sich unter dem rot gefärbten Stoff der Brusttasche abzeichnete. Er fasste vorsichtig hinein und zog ein zersplittertes Handy heraus.

»Die Kugel hat es durchschlagen, wow«, staunte Sissi.

»Bei dieser Durchschlagskraft gehe ich von einem Gewehr aus.« Klaus verstaute das Handy in einer Plastiktüte. »Armer Teufel. Er war kaum älter als wir.«

»Stimmt, er war, soviel ich weiß, Anfang vierzig«, bestätigte sie. »Schau mal, diese Büchse. Wunderschön.« Sie deutete auf das Gewehr. »Ein Kipplaufstutzen. Und sogar mit Gravur.«

»Das Wort kannte ich gar nicht«, wunderte sich Klaus. »Wieder was gelernt.«

»Ich bin im Schützenverein, Kollege«, informierte ihn Sissi. »Da bekommt man einiges über Langwaffen mit. Sieht für mich nach einer Waffe aus Ferlach aus.«

»Was soll das sein?«, wunderte sich Klaus. »Der Firmenname?«

»Ein Ort in Österreich. Dort gibt es einige hochkarätige Büchsenmacher.« Vorsichtig hob sie die Waffe ein wenig hoch und prüfte, ob sich eine Patrone im Lauf befand. »Leer«, verkündete sie. »Und sie wiegt so gut wie nichts. Ein edles Stück, wirklich.« Mit einem beinahe sehnsüchtigen Blick legte sie das Gewehr sachte zurück auf den Boden. »Die Spurensicherung soll sich darum kümmern.«

»Besitzt du einen Jagdschein?«, erkundigte sich Klaus, aber sie schüttelte den Kopf.

»He! Hast du bald Zeit für mich?«, wurde ihr Gespräch von Susanne unterbrochen, die sich eben äußerst ungehalten auf den Weg zu den beiden Ermittlern machen wollte. Einer der Streifenbeamten hielt sie am Ärmel fest. Leise schimpfend blieb sie stehen und tappte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

»Nur noch eine Sekunde, meine Liebe«, bat Sissi und erntete einen ungnädigen Blick.

»Also doch ein Wilderer«, sagte Klaus triumphierend. »Ich hatte recht. Falls seine Wunde von einem Gewehrschuss stammt.«

»Wilddiebe sind nicht nur mit Gewehren, sondern auch mit Armbrust oder Pistole unterwegs«, belehrte ihn Sissi. »Und krieg endlich dein unrealistisches Bild von diesen Typen aus dem Kopf. Nette Wilderer gibt’s lediglich in der Phantasie von Schriftstellern. Schau mal, Schmauchspuren.« Sie zeigte auf die geöffnete Hand des Toten.

Dann richtete sie sich auf und nickte Seibold von der Spurensicherung zu, der soeben mit seinem Trupp die Lichtung betreten hatte und abwartend in einigem Abstand stehen geblieben war.

»Diese Dinger«, Klaus tippte mit der Fingerspitze an den Hut neben Andreas Auers Kopf. »Das ist so Almenrausch und Edelweiß. Der hier hat sogar eine Feder.«

»So laufen Jäger halt nun mal rum«, informierte ihn Sissi. »Sombreros sind bei uns nicht so gebräuchlich. Wer immer ihn erschossen hat, er konnte gut zielen.«

»Wilddieb«, beharrte Klaus.

»Hier können viele Leute gut schießen«, widersprach ihm Sissi. »Das wäre der erste bekannte Fall im Umkreis von Legau. Damit hatten wir noch nie zu tun. Und ich wohne hier bereits mein ganzes Leben lang.«

»Deswegen gibt es aber trotzdem welche«, beharrte Klaus.

»Natürlich«, stimmte sie ihm zu. »Und jedes Jahr werden es mehr. Die Zahlen explodieren förmlich. Mit Wildbret kann man gutes Geld verdienen, andere wiederum töten wegen des Nervenkitzels. Die Täter kommen aus allen Bevölkerungsschichten. Also kann es buchstäblich jeder gewesen sein.«

»Ein Ansitz, eine Lichtung, ein toter Mann, neben dem ein Gewehr liegt«, beharrte Klaus. »Nicht mal Sherlock Holmes würde mir widersprechen.«

»Möglich«, gab Sissi zu. »Aber vergiss mal deine Ganghofer-Romantik. Diese Typen laufen nicht mit Vollbart, Tirolerhut und geschwärztem Gesicht rum, die tragen Hoodies und Sturmhauben. Sie sind bestens ausgerüstet, oft besser als die Jäger selbst, mit Wärmebildkameras zum Beispiel. Oft blenden sie das Wild einfach nur mit dem Fernlicht, ballern aus dem geöffneten Autofenster drauflos, und was liegen bleibt, nehmen sie mit. Das ist widerlich und unsportlich.« Sie wirkte wütend.

»Das scheint dich ja richtig aufzuregen«, wunderte sich Klaus.

Sissi nickte bestätigend. Sie öffnete behutsam die dicke graue Lederweste, die der Tote über dem Hemd trug, und fieselte einen Geldbeutel heraus, den sie mit spitzen Fingern öffnete.

»Achtzig Euro in bar«, zählte sie auf. »Zwei Kreditkarten, Ausweis, Versicherungskarte.« Aus einem kleinen Seitenfach der Jacke zog sie drei große Patronen. »Normale Jagdmunition. Bisher nichts Auffälliges.«

Klaus deutete auf die Kniebundhose, das hellgrüne Hemd und die dunkelgraue Weste aus dickem Leder. »Sieht alles gediegen und teuer aus. Ein billiger Spaß ist die Jägerei wohl nicht.«

»Er kann … konnte sich das leisten«, antwortete sie. »Allein für so eine Büchse bekommst du schon beinahe einen Gebrauchtwagen. Ich nehme an, er war auf Schwarzwild aus, der Munition nach zu urteilen.«

»Und warum saß er nicht da oben?« Klaus zeigte auf den Ansitz.

»Keine Ahnung, aber ich finde es raus«, verkündete Sissi entschlossen. Sie wandte sich an den bärtigen grauhaarigen Mann Anfang sechzig, der mit verdrossener Miene noch immer in einigem Abstand wartete. »Guten Tag, Herr Seibold. Immer noch nicht in Pension, wie ich sehe?«

»Wenn die Leute aufhören, sich gegenseitig umzubringen, dann hör ich auf zu arbeiten, also nie«, bejahte Seibold. »Sind Sie fertig?

»Beinahe«, vertröstete ihn Sissi. »Ich schaue nur noch auf den Hochsitz. Er muss ja einen Rucksack dabeigehabt haben. Den Rest überlassen wir Ihnen. Ich bin sicher, Sie finden alles, was es zu finden gibt.«

»Auf dem Herweg haben wir Reifenspuren entdeckt, etwas entfernt von hier. Wenn man nicht aufpasst, übersieht man sie leicht.« Seibold zeigte auf den Wald. »Auf einem Forstweg. Und an einer sumpfigen Stelle ein paar Meter weiter sind Fußspuren. Seltsame Fußspuren. Sie kriegen so schnell wie möglich Bescheid.«

»Was heißt bitte ›seltsam‹?«, wollte Sissi wissen.

»Na, ungewöhnlich halt«, versuchte Seibold zu erklären. »Sieht so aus, als wäre jemand ohne Schuhe gelaufen.«

»Ach was?«, entfuhr es Klaus. »Herr Seibold, interessehalber, hatten Sie so was schon mal?« Er zeigte auf den Ansitz.

»Jede Woche«, antwortete Seibold verdrossen. »Der Mensch ist des Menschen Wolf. Oder was meinen Sie?«

»Na, einen Jäger, der von einem Wildschützen getötet wurde.«

Seibold wechselte einen irritierten Blick mit Sissi.

»Überhören Sie das«, bat ihn Sissi. »Er wünscht sich seit Jahren einen Wilderer-Fall.«

»Preußen halt.« Seibold deutete einen Vogel an. »Wir machen uns an die Arbeit.« Er drehte sich um und gab seinen Leuten ein Zeichen.

Ehe Klaus sichs versah, war Sissi auf den Hochsitz geklettert und schwenkte nun triumphierend einen kleinen Rucksack, als sie zu ihm zurückkehrte.

»Keine große Ausbeute.« Enttäuscht zog sie mehrere Gegenstände heraus. »Sitzfilz, Fernglas, Tarnnetz. Das war’s leider.«

Sie reichte Seibold, der seinen Leuten gerade Anweisungen gab, den Rucksack.

»Jetzt aber ab zu unserer Zeugin«, seufzte sie. »Mann, die ist sauer.«

»Sissi!« Susanne sah der Kommissarin ungeduldig entgegen. »Ich muss frei daheim das Essen fertig herrichten und ein paar Eier braten, sonst reicht dem Bernd seine Mittagspause net, weil er sich immer noch ein bissle hinlegen will. Gott sei Dank hab ich das meiste vorbereitet. Warum dauert das denn alles so lang? Die ham gesagt, ich soll unbedingt auf dich warten, und dann darf ich zuschauen, wie du auf allen vieren im Gras rumkriechst und dem Mann da schöne Augen machst.« Sie zeigte auf Klaus, der geschmeichelt grinste. »Da hätt ich doch locker heimgehen können.«

»Hallo, Susanne«, grüßte Sissi. »Das ist mein Kollege Klaus Vollmer. Und ja, schöne Augen hat er.« Sie lächelte. »Tut mir leid. Gleich kannst du gehen. Ich weiß, ich hätte dich nicht so lange hier herumstehen lassen sollen, aber ich muss noch etwas Wichtiges mit dir besprechen. Du hast ihn also gefunden?«

»Ja«, bestätigte Susanne gedehnt. »Ich wollt da drüben ein Selfie machen und hab am Display gesehen, dass da was rumliegt.« Sie zeigte auf eine hochgewachsene Fichte am Rand der Lichtung. »Und dann bin ich rübergegangen, ich bin beinahe über ihn gestolpert. Danach hab ich sofort bei euch angerufen. Ist denn des zu glauben? Ausgerechnet der Andreas!« Sie sah aus, als hätte sie noch nicht ganz begriffen, was vorgefallen war.

»Sehr gut gemacht«, lobte Sissi die aufgeregte Frau. »Hast du jemanden weggehen sehen oder eventuell was gehört? Ist dir vielleicht was aufgefallen? Irgendein Geräusch?«

»Nein«, sagte Susanne. »Ich hab ja immer Ohrhörer drin, wenn ich unterwegs bin. Des Laufen ist so elend langweilig.«

»Es war nicht das erste Mal, dass du hier im Wald unterwegs warst, oder?«, fragte Sissi.

»Ich lauf hier öfter, grad im Sommer«, stimmte Susanne ihr zu, »ist schön kühl zwischen den Bäumen, der Pfad ist breit genug, und es ist nicht allzu weit von daheim entfernt. Wär ich doch bloß in meiner Küche geblieben, ich blöde Kuh. Normalerweise lauf ich um neune los, aber ich hab vor dem Bäcker Freytag die Erna getroffen, die hat mich aufgehalten.« Verdrossen verzog sie das Gesicht. »Du weißt bestimmt, was ich meine.«

Sissi lächelte verständnisvoll. »Sicher hast du einen rechten Schreck gekriegt. Kommst du klar?«

»Geht so«, sagte Susanne. »Mir ist ja nix passiert, sondern dem Andreas. Oh mei, die arme Sandra. Des wird ein Schock für sie sein.« Das klang nicht ganz aufrichtig, wie Sissi aufmerksam registrierte.

»Mir tut leid, dass du das mitansehen musstest«, tröstete sie die Frau. »Und danke, dass du auf unsere Kollegen gewartet hast.«

»Eigentlich wollt ich sofort heim«, berichtete Susanne. »Bin raus aus dem Wald gerannt wie der Teufel. Aber dann ist mir eingefallen, dass ich meine Stecken an dem Baum da drüben vergessen hab. Die waren schweineteuer, also bin ich wieder zurück. Der Bernd macht mir sonst die Hölle heiß, weil sie nagelneu sind.«

»Du hast alles richtig gemacht«, lobte Sissi die aufgebrachte Frau. »Nur noch eines …«

»Letzte Woche hab ich ihn in Memmingen getroffen«, wurde sie von Susanne unterbrochen. »In der Fußgängerzone. Mit der Sandra. Des ganze Geld hilft einem nix, wenn man tot ist.«

»Wo du recht hast, hast du recht«, pflichtete Sissi ihr bei, die sich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass in Susannes Stimme eine gewisse Genugtuung mitschwang. »Hör mal, ich muss dich ersuchen, niemandem etwas zu erzählen über das, was du heute hier gesehen hast«, bat sie. »Das ist schwierig bis unmöglich, ich weiß, aber du würdest unsere Ermittlungen behindern. Verstehen wir uns?«

»Klar«, versicherte Susanne, sah ihr dabei aber nicht in die Augen. »Brauchst du net extra erwähnen. Ich guck ja ab und zu einen Krimi.«

»Wirklich?«, vergewisserte sich Sissi zweifelnd.

»Wenn ich’s doch sag!«, beteuerte Susanne und wandte sich zum Gehen. »Ciao, Sissi, ich muss echt los. Bin viel zu spät dran.«

»Nur noch einen Moment, wir sind fast fertig«, hielt Sissi sie auf. »Bitte komm heut Nachmittag aufs Revier. Melde dich beim Kollegen Hans Dollinger und gib deine Aussage zu Protokoll.«

»Wenn du meinst«, stimmte Susanne wenig begeistert zu. »Geht des net morgen? Ach, da passt’s mir ja auch net. Nächste Woche? Ich weiß eh nix. Hab ja bloß einen Spaziergang im Wald gemacht.« Als sie Sissis ernste Miene registrierte, verstummte sie.

»Weißt du, was ich noch haben möchte?« Sissi streckte fordernd die Hand aus.

»Neeeein?« Susanne tappte unruhig von einem Bein aufs andere und bemühte sich, eine ahnungslose Miene aufzusetzen.

»Na los, her damit!«, verlangte Sissi.

»Net dein Ernst«, maulte Susanne. »Ehrlich? Kennst du net das Recht am eigenen Bild?«

»Meine Liebe, ich folge dir auf Instagram, wie du weißt, und da will ich solche Fotos nicht finden müssen. Also? Wie sieht’s aus? Wo ist dein Smartphone?«

Widerstrebend fischte Susanne ihr Handy aus der umgeschnallten Bauchtasche und entsperrte es. Dann rief sie die Foto-App auf.

»Wie viele Bilder hast du gemacht?«

»Ach, net viel, höchstens zehn oder so«, gestand Susanne mürrisch. »Ich hab gedacht, ihr brauchts die für eure Ermittlungen.«

»Sie sind unglaublich zuvorkommend«, lobte Klaus sie belustigt. »Aber wir machen das selbst.«

Sissi nahm ihr das Telefon aus der Hand. »Zwei, drei, vier …«, ungläubig zählte sie die Fotos. »Fünfunddreißig? Echt?« Mit diesen Worten löschte sie sämtliche Bilder. Dann suchte sie den Papierkorb und wiederholte den Vorgang.

»Hätt net sein müssen.« Trotzig riss Susanne ihr das Smartphone aus der Hand. »Ich geh jetzt aber wirklich«, schnauzte sie Sissi an. »Die Erna hat recht, du kannst ganz schön ausgeschämt sein.«

»Richte ihr einen schönen Gruß von mir aus.« Sissi winkte ihr zum Abschied zu und wartete, bis die aufgebrachte Frau von der Lichtung verschwunden war.

»Die war ja freundlich«, schmunzelte Klaus.

»Sie ist auf Diät«, klärte Sissi ihn auf. »Im Grunde genommen ist sie das ständig. Gelegentlich macht sie zwei oder drei auf einmal. Kürzlich hat sie sogar eine erfunden. Davon muss ich dir mal erzählen. Bitte ruf den Boss kurz an und gib ihm den Sachstand durch. Ich suche derweil die Adresse der Auers. Jemand muss seine Frau Sandra informieren. Was für ein Tag. Und dabei hätte ich heute freigehabt. Erst dieser grausige Braten bei meinem Onkel und dann …« Sie verstummte.

»Und dann was?«, erkundigte sich Klaus neugierig.

»Der Hase!« Sissi schlug sich schockiert mit der flachen Hand vor die Stirn. »Das passt ja wie die Faust aufs Auge. Na warte!«

3

Mitten in der hügeligen Landschaft, zwischen Kaltbronn und Bettrichs, nur über eine schmale Straße erreichbar, beschien die Mittagssonne ein weiß gestrichenes, von fünf hohen Buchen umgebenes Gebäude. Hinter dem Haus blühten in einem üppigen Bauerngarten Rosen um die Wette, direkt daneben lag eine Streuobstwiese mit Apfel- und Birnbäumen. Am Rand des Gartens bogen sich die knorrigen moosbewachsenen Äste eines alten Pflaumenbaums unter den ersten grünen Früchten. Genau vor dem Haus, auf rissigem Asphalt, plätscherte aus einem verrosteten Rohr frisches Wasser in einen steinernen Trog.

Stille lag über dem Anwesen. Es wirkte, als wäre es verlassen. Nur aus dem Stall drangen gelegentlich Geräusche. Vor dem Haus standen zwei Autos, ein Kombi und ein mit Dreckspritzern übersäter Kleinwagen.

»Sebastian, wann kommst du endlich?« Die Stimme klang ungeduldig. Im Türrahmen erschien eine Frau Ende fünfzig. Ihr ergrauendes Haar trug sie zu einem strengen Knoten geschlungen. Energisch rieb sie ihre abgearbeiteten Hände an der rot-weiß gemusterten Kittelschürze trocken und starrte ihren Sohn wütend an. »Heut Vormittag hast gesagt, du willst dich bloß ein bissle hinlegen, bevor du die Maschinen sauber machst und abschmierst. Erst säufst du die ganze Nacht durch, und dann erledigst deine Arbeit net amal zur Hälfte. Hast noch net amal mein Auto richtig abgestellt, des steht quer vor der Haustür. Und wasch es endlich. Wie oft muss ich des noch sagen? Der Karren ist total verdreckt. Warum nimmst net deinen eigenen und machst den dreckig?«

»Ich erledige später alles, Mama«, versprach Sebastian mit gepresster Stimme und strich mit der linken Hand das weite blaue Shirt glatt, in das er eben geschlüpft war.

»Wie wär’s, wenn du dir untenrum auch was anziehst?«, schlug seine Mutter gereizt vor. »Hockt am helllichten Tag in der Unterhose rum wie Graf Koks. Warst du wieder im Alpenblick in der Disco? Du bist ja käsweiß. Dann sauf halt net so viel.«

Sebastian blieb ihr eine Antwort schuldig und schaute sich nach seiner Hose um.

»Suchst du die?« Seine Mutter bückte sich und hob eine Jeans vom Boden auf, die über und über mit Grasflecken bedeckt war. »Die steht ja von allein, die nehm ich mit. Hol dir eine andere.«

»Kannst du mir bitte eine geben, Mama?«, bat Sebastian. »Aus dem Schrank?«

»Du bist erwachsen, mach’s selber«, lehnte seine Mutter ab. »Ich bin net deine Bedienung. Und ich kann net immer alles allein erledigen. Warum hast du schon wieder ein frisches T-Shirt angezogen? Weißt du, was der Strom kostet? Und das Waschpulver? Sind mir vielleicht von und zu, dass mir dreimal am Tag die Klamotten wechseln?«

»Mama, lass mir meine Ruh«, schnauzte Sebastian seine Mutter an. »Ich hab eine kurze Nacht gehabt und komm gleich runter zu dir, dann mach ich die restliche Arbeit. Reg dich net so auf. Ist net gut für deinen Blutdruck, du hast einen ganz roten Kopf.«

»Und du einen Brummschädel. Red net so mit mir. Sogar wenn ich eine Leiter brauchen sollt, damit ich hochkomm zu dir, eine Watsche kannst du dir immer noch von deiner Mutter abholen. Dafür bist du nie zu alt. Merk dir des.« Waltraud Sauter sah sich missbilligend im Zimmer um. »Jesus, wie schaut’s denn da wieder aus?« Naserümpfend pflückte sie zwei verschmutzte Socken vom Boden auf. »Möchte bloß amal rauskriegen, woher diese ganze Dreckwäsche kommt. Dein Zeug sieht aus, als würdest im Sumpf rumkriechen. Und mir ham net amal einen Sumpf. Unsere Waschmaschine macht’s auch nimmer lang, und für eine neue ist kein Geld da. Des weißt du genau.«

»Herrgott, Sakrament!«, schrie Sebastian wütend. »Alleweil bist du bloß am Schimpfen und Jammern, Mama. Lass mir doch meine Ruhe. Ich hab schlimmes Kopfweh.«

»Beweg dich ein bissle an der frischen Luft, dann ist des in ein paar Minuten weg«, riet ihm seine Mutter mitleidlos. »Sebi, ich kann net die Arbeit auf dem Hof erledigen und dich nebenbei auch noch bedienen.« Sie baute sich vor ihm auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Treib dich weniger mit den Weibsbildern rum, dann hast auch Zeit für den Saustall hier. Ich räum dir net auf. Du bist erwachsen.«

Sebastian Sauter, ein schlanker blonder Mann Mitte dreißig mit durchdringenden blauen Augen und unrasiertem Kinn, fuhr sich durch das zerzauste Haar und gähnte. »Für mich ist es ordentlich genug«, antwortete er mürrisch. »Du bist ein richtiger Drachen.«

Hinter ihm an der Wand, über dem Bett, hing ein Poster von Sylvester Stallone in dem Film »Rambo«, daneben eines von Arnold Schwarzenegger als Terminator. Der große Flachbildfernseher am Fußende wurde teilweise von zerknitterten Boxershorts verdeckt. Auf dem zerkratzten Nachttisch quoll ein gläserner brauner Aschenbecher von Zigarettenkippen über, eine beinahe leere Flasche Cola Light mit nur halb aufgeschraubtem Deckel stand daneben. Ein zugeklapptes Notebook lag auf einem Tisch in der Ecke neben zwei umgekippten leeren Limonadendosen.

Seine Mutter wischte die Unterhose mit einer einzigen Handbewegung vom Fernseher auf den Boden und schob sie mit der Fußspitze beiseite. »Ich spar und spar, damit mir über die Runden kommen, aber für Zigaretten hast du alleweil Geld!« Sie deutete auf den Aschenbecher. »Außerdem bringt dich des noch um.«

»Hoffentlich schnell«, murmelte Sebastian aufsässig. »Dann hab ich wenigstens meine Ruh vor dir. In der Hölle ist es garantiert net so laut wie hier.«

»Immer versprichst du irgendwas«, fuhr seine Mutter ungerührt fort. »Und einhalten tust du es nie, weil alles andere wichtiger ist als ich. Von mir hast du des net. Als der Papa gestorben ist, hab ich dir vorgeschlagen, dass mir an den Moser verkaufen, der wollt ein zweites Seniorenstift aus dem Hof machen mit allen Schikanen. Aber du hast ja gebockt und irgendwas von Blut und Boden oder so einen Schmarrn erzählt. Und anstatt dass du früh ins Bett gehst, damit du am nächsten Tag den Kopf bei der Sach hast, treibst du dich nächtelang in der Wirtschaft rum. Du warst bestimmt wieder im Alpenblick, oder?« Mit Argusaugen musterte sie ihren Sohn, unter dessen Sonnenbräune eine ungesunde Blässe schimmerte.

»Das ist meine Sache, das geht dich nix an, Mama«, murrte Sebastian, der immer noch wie angenagelt auf dem Bett verharrte. »Bist nicht meine Kindsmagd. Jetzt lass mich in Ruh. Ich komm, so schnell ich kann. Je eher du verschwindest, umso eher bin ich fertig.«

Aber seine Mutter ließ nicht locker. »Am Ende noch mit der Hoff Anita, dem ordinären Flittchen?«, fuhr sie mit ihrer Suada fort. »Wenn ich des rauskriegen sollt, kannst was erleben. Die ist um einiges älter als du und hat ein Kind. Bei der bleibt keiner lang. Warum suchst du dir net ein anständiges Mädel?«

»Ja, die warten alle bloß auf mich, Mama.« Sebastian stand auf und schwankte leicht, als wäre er betrunken. »Auf einen Landwirt Mitte dreißig mit einer Mutter, der keine gut genug ist. Mit einem alten Karren, der beim nächsten Mal keinen TÜV mehr kriegt. Ja, die Weiber stehen Schlange bei mir. Außerdem arbeite ich wirklich hart, da kann ich mich ab und zu amüsieren. Die Anita ist wenigstens net wählerisch. Dir könnt ich anbringen, wen ich will. Du bist doch nie zufrieden.«

»So viel arbeitest du net. Zum Fernsehen hast du trotzdem immer Zeit«, schimpfte seine Mutter weiter. »Fernsehen und Weiber. Fast jede Nacht bist unterwegs. Und was ist des?« Misstrauisch griff sie nach der Tablettenpackung auf dem unordentlichen Nachtkästchen und hielt sie ihm vor die Nase. »Seit wann nimmst du die? Wegen einem bissle Kopfweh?«

Waltraud Sauter war niemand, der wegen ein bisschen Kopfschmerzen Tabletten schlucken würde, da sie grundsätzlich nur zum Arzt ging, wenn ihre Milz – metaphorisch gesprochen – neben ihr auf dem Sofa saß. Sie misstraute Ärzten, Polizisten, Handwerkern, der katholischen Kirche, Politikern sowieso und war damit – zumindest ihrer eigenen Ansicht nach – immer gut gefahren. Außerdem war laut Waltraud die dritthäufigste Todesursache der Arzt. Sie hatte sich ihr Leben lang an ihre Überzeugungen gehalten und würde sie nun nicht über Bord werfen.

»Also, warum die Tabletten?« Achtlos warf sie die Schachtel wieder auf den Nachttisch. »Nimm die net, es sei denn, du hast Zahnweh. Aber dann kannst zum Dr. Mannhart gehen.«

»Es ist nix. Wirklich bloß ein bissle Kopfweh, Mama. Lass mich endlich in Ruh«, bat Sebastian und riss sich zusammen, damit seine Mutter nicht sah, wie schlecht es ihm ging. »Gib mir fünf Minuten, dann bin ich da.«

»Das will ich hoffen.« Waltraud Sauter drehte sich auf dem Absatz um und verschwand. Noch in der Diele konnte man sie zetern hören.

Als die Schritte seiner Mutter im Erdgeschoss verklungen waren, drückte Sebastian vorsichtig zwei Tabletten aus der Packung und schluckte sie mit dem Rest der abgestandenen Cola aus einem von Fingerabdrücken übersäten Glas auf dem Nachttisch. Dann stand er schwerfällig auf und verließ sein Zimmer.

Auf der Treppe musste er sich am Geländer festhalten, denn ihm wurde wieder schwindelig. Mit unsicheren Schritten durchquerte er die kühle Diele, ging vorbei an unzähligen Rehbockgeweihen und goldgerahmten Heiligenbildern und betrat die niedrige holzgetäfelte Küche, in der seine Mutter hektisch Tupperdosen auf dem Tisch stapelte.

»Kannst net amal den Kühlschrank anschauen?«, bat sie ihren Sohn. »Alles warm. Des ist eine Katastrophe.« Anklagend wies sie auf die Dosen auf dem Tisch.

»Dann kaufen mir halt einen neuen«, antwortete Sebastian lakonisch. »Mir ham’s ja.«

»Ham mir im Lotto gewonnen, oder was?« Waltraud schaute ihn missbilligend an. »Du weißt selber, wie’s ausschaut bei uns.«

Sebastian fasste in seine Gesäßtasche und zog mit unbeweglicher Miene ein Bündel Geldscheine heraus, das er auf den Tisch legte, gleich neben die Tupperdosen.

»Woher hast du des?«, wollte seine Mutter misstrauisch wissen.

»Gespart.« Mit einer Handbewegung schob er ihr das Geld über die Wachstuchdecke. »Des reicht mindestens für den Tierarzt, der fährt grad her. Ich bin net gern was schuldig.« Er zeigte zur Tür.

Durch das gekippte Sprossenfenster sah man einen großen blauen SUV in die Hofeinfahrt rollen, der vor dem Haus stoppte. Ein hochgewachsener braunhaariger Mann Anfang vierzig, der einen blauen Drillichkittel und Gummistiefel trug, stieg aus, nahm seine Sonnenbrille ab und tauschte sie gegen eine getönte Hornbrille. Dann fuhr er sich kurz durch das lockige Haar und kam mit schnellen Schritten auf das Haus zu.

Während seine Mutter das Geld ungläubig betrachtete und es dann blitzschnell in ihrer Schürzentasche versenkte, erhob sich Sebastian ächzend und öffnete die Tür. »Mama, ich muss noch schnell zur Apotheke, bin bald wieder da. Servus, Herr Doktor«, begrüßte er den Mann. »Wieder pünktlich wie ein Maurer.«

»Bin ich doch immer. Servus, Herr Sauter, hallo, Frau Sauter.« Edgar Engel, der ortsansässige Tierarzt, blieb im Türrahmen stehen. »Jedes Mal, wenn ich hierherkomme, denke ich mir: Ein nettes Fleckchen Erde habt ihr, aber leider am Ende der Welt. Wie geht es der Schecke?«

»Möglicherweise Koliken«, informierte ihn Sebastian. »Schon das zweite Mal. Am Futter liegt’s net.«

»Ich schau sie mir nachher an«, beruhigte ihn Edgar. »Beim letzten Mal hat sie auf mich einen guten Eindruck gemacht.« Sein braun gebranntes Gesicht war ernst, als er den jungen Landwirt musterte. »Sie sind ein bisschen blass, Herr Sauter. Alles in Ordnung?«

»Ich glaub, ich hab mich ein bissle übernommen und was zu Schweres gehoben«, gab Sebastian zu. »Ist halt viel Arbeit mit der Mama allein.«

»Sicher, dass Sie in Ordnung sind?«, wiederholte der Tierarzt skeptisch. »Wenn Sie zusammenklappen, helfen Sie Ihrer Mutter nicht. Und glauben Sie nicht, dass so was nicht passieren kann, nur weil Sie noch jung sind.«

»Weiß ich«, winkte Sebastian ab. »Ich hab bloß ein bissle Schmerzen. Könnt eine Bandscheibe sein, aber ich glaub’s net. Wenn Sie der Schecke was geben, können Sie mir ja auch was spritzen. Sie ham bestimmt gute Sachen, die einen wegbeamen.« Es sollte scherzhaft klingen, aber seine leicht gekrümmte Körperhaltung strafte seine Worte Lügen.

Edgar warf ihm einen undefinierbaren Blick zu. »Sie sollten über so was keine Witze machen«, ermahnte er den jungen Landwirt. »Schmerzen haben durchaus ihre Berechtigung, sie weisen uns darauf hin, dass etwas in unserem Körper nicht in Ordnung ist. Vielleicht sollten Sie sich mal durchchecken lassen.«

Obwohl der Arzt erst Anfang vierzig war, machten sich erste graue Strähnen in seinem dichten gelockten Haar breit. Auf dem linken Brillenglas prangte ein Fleck, aber er schien ihn nicht zu stören.

»War bloß ein Witz«, redete sich Sebastian heraus. »Ich halt einiges aus. Muss jetzt los, dann die Maschinen sauber machen und Mamas Auto umparken. Servus.«

»Wenn Sie mögen, können Sie nachher mit uns essen, Herr Doktor«, bot Waltraud dem Tierarzt an. »Das Kochen dauert net lang. Es gibt Bratwürstle mit Sauerkraut und Kartoffelpüree.«

»Wie nett von Ihnen«, bedankte sich Engel höflich. »Aber ich glaube, ich hab mir den Magen verdorben. War gestern mit meinen Freunden im Mohren. Das letzte Bier war wohl schlecht. Ich habe gar keinen rechten Appetit.«

Sebastian hatte gar nicht richtig zugehört, er war bereits auf dem Weg nach draußen und stakste mit unsicheren Schritten zu seinem Auto.