Moritz W. - Barbara Kreuter - E-Book

Moritz W. E-Book

Barbara Kreuter

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Moritz M. Die Erzählung einer Liebe, die nie beweisen durfte, ob sie die große Liebe ist. Jedoch so lange bestehen blieb, bis sie gebraucht wurde. Nicht nur der Erinnerung willen – der Liebe wegen. Moritz Wassermann, neunundsechzig Jahre alt und alleinstehend, ist als wohlhabender Antiquitätenhändler durchaus zufrieden mit seiner jetzigen Lebenssituation. Eines Tages erhält er von einer Jugendliebe, die mit Unterbrechungen, einige Jahre seines Lebens begleitet hat, einen Brief. Er ist verwundert, dass sich Viktoria nach so vielen Jahren bei ihm schriftlich meldet. Sie schreibt, dass die Zeit drängt. Es folgen mehrere Briefe, in denen sie von ihrer gemeinsamen Zeit berichtet. Moritz erinnert sich, wenn auch dazu aufgefordert. Er erfährt jedoch auch Details und wichtige Geschehnisse, die ihm bisher unbekannt waren. Er zwingt sich, geduldig immer auf den nächsten Brief von Viktoria zu warten. Sie schreibt, sie muss zu einem Schluss finden.

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Seitenzahl: 225

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Moritz W.

Moritz M.

Die Erzählung einer Liebe, die nie beweisen durfte,

ob sie die große Liebe ist.

Jedoch so lange bestehen blieb, bis sie gebraucht wurde.

Nicht nur der Erinnerung willen – der Liebe wegen.

Moritz Wassermann, neunundsechzig Jahre alt und alleinstehend, ist als wohlhabender Antiquitätenhändler durchaus zufrieden mit seiner jetzigen Lebenssituation.

Eines Tages erhält er von einer Jugendliebe, die mit Unterbrechungen, einige Jahre seines Lebens begleitet hat, einen Brief. Er ist verwundert, dass sich Viktoria nach so vielen Jahren bei ihm schriftlich meldet.

Sie schreibt, dass die Zeit drängt. Es folgen mehrere Briefe, in denen sie von ihrer gemeinsamen Zeit berichtet. Moritz erinnert sich, wenn auch dazu aufgefordert.

Er erfährt jedoch auch Details und wichtige Geschehnisse, die ihm bisher unbekannt waren. Er zwingt sich, geduldig immer auf den nächsten Brief von Viktoria zu warten.

Sie schreibt, sie muss zu einem Schluss finden.

© Barbara Kreuter

Das Leben borgt nicht – es schenkt großzügig,

oder stellt genau die Rechnung.

   Der Klang eines Gegenstandes hat nicht nur mit sich selbst zu tun. Ganz entscheidend ist das Zusammentreffen mit dem anderen. Die verschiedenen Materialen ergeben unzählbare Möglichkeiten.

„Pink“. machte es. „Pink“. diesmal leiser, zarter. Moritz Wassermann hatte es gehört. Er saß am Schreibtisch und las die Angebote im Anzeigenblatt. Eine alte Gewohnheit von ihm. Er hatte sie von seinem Vater übernommen. Die Anfragen oder Suchanzeigen überflog er meistens nur. Bei den Angeboten war es etwas Anderes. Er empfand immer noch den Reiz. Die Spannung in sich, einen unverhofften Schatz ausfindig zu machen. So realistisch und kaufmännisch genau er sonst sein Geschäft betrieb. Es war auch eher eine Marotte von ihm. Er saß fast jeden Tag nach Geschäftsschluss im Büro. So viel Zeit ließ er sich zum Abend hin. Die Tür zu den Geschäftsräumen stand offen. Theorie und Praxis tauschen Luft aus, hatte er einmal festgestellt. Seitdem blieb es so.

   Zum Lesen benötigte er längst eine Brille. Er hörte jedoch noch sehr gut. „Sie verstehen nicht mehr alles. Das ist das Innenohr.“ hatte ihm der Arzt bei der letzten Untersuchung erklärt. „Das heißt nicht, dass Sie schlecht hören.“ Sein Arzt hatte dann noch einen Kalauer über das Alter generell und den Vorzug, dass man als Mann nicht mehr alles verstehen müsste, gemacht. Moritz konnte sich nicht mehr genau erinnern. Und an die Pointe schon gar nicht. Es war irgendetwas mit den Frauen die Wünsche von den Lippen ablesen gewesen. Und dafür hätte man in der Jugend zu sorgen. Der Arzt hatte mitten im Satz aufgehört. Die Sache im Raum stehenlassen. Vielleicht war er sich der Peinlichkeit der Situation geworden bewusst. Und Moritz hatte tatsächlich sich und sein Alter angesprochen gefühlt. Er empfand den Mann als unhöflich. Noch dazu war er der Kunde und musste dessen Rechnung bezahlen. Er schätzte ihn auf gut zwanzig Jahre jünger.

   Das Geräusch, dass er eben gehört hatte, kam ihm sonderbar vor. Manchmal flog ein Stein an eine der Schaufensterscheiben. Das kam von den vorbeifahrenden Fahrzeugen. Es war erstaunlich, dass nie ein Schaden an den Scheiben entstand. Dieses hörte sich zarter an. Und unmittelbar zwei hintereinander waren es noch nie gewesen. „Seltsam, ein so unscheinbarer Laut kann einem Menschen so viel Aufmerksamkeit abverlangen“, dachte er und stand auf um nachzusehen. Er wollte wissen, was es gewesen war.

   Er stellte die Alarmanlage ab. Um diese Zeit war sie automatisch eingeschaltet. Ihm kam der Gedanke, dass das ganze vielleicht ein Plan sei, um in sein Geschäft zu kommen. Immerhin gehörte ihm das beste Antiquitätengeschäft im Umkreis. Sicherheitsvorkehrungen, die die Versicherungen ihm auferlegt hatten, waren getroffen. Er hatte viel Mühe darauf verwendet, die Melder und Kameras so dezent wie möglich anbringen zu lassen. Er wollte keine Bankschalteratmosphäre haben. Sicherheitsvorkehrungen, sicherlich notwendig, dokumentieren jedoch auch Angst. Er hatte keine Angst.

   Er verwarf auch sofort den Gedanken an eine Falle. Wer sollte schon wissen, dass er um diese Zeit im Büro saß, und bereit war, einem Stein an der Schaufensterscheibe nachzugehen. Die Neugierde nach der Ursache des Geräusches in ihm war stärker. In dem Augenblick, in dem er sich der Eingangstür näherte, hörte er, wie jemand in den, in der Mauer eingelassenen, Briefkasten etwas einwarf. Er vernahm deutlich das Klappern der Abdeckung. Moritz Wassermann stutzte. Er beschloss, zuerst den Briefkasten aufzuschließen. Ein weißer Briefumschlag lag drin. Länglich. Etwas größer als die üblichen Normumschläge. In dem Augenblick, als er den Umschlag herausnahm, fiel ihm ein, dass er noch nie einen Brief auf diese Art erhalten hatte. Er hörte, wie Schritte sich entfernten. Flüchtige, keine festen. Die Tür aufzusperren und nachzulaufen erschien ihm zu aufwendig.

„Moritz Wassermann“ stand auf der Vorderseite. Moritz hatte ein gutes Gedächtnis für Formen. Die ungewöhnlich großen Anfangsbuchstaben. Die kleinen exakt in einer Höhe. Wie in eine unsichtbare Linie geschrieben. Wenn er auch nicht sofort sagen konnte, wem sie gehörte, kam ihm die Schrift bekannt vor. Er drehte den Umschlag um. „Viktoria von Treppeln“ stand da, ebenfalls handschriftlich.

   Moritz sperrte die Tür auf. Vielleicht konnte er noch jemand sehen. Er trat ins Freie. Der Gehsteig war leer. Außer ihm war kein Mensch auf der Straße. Ein paar Autos fuhren vorbei. Sein Geschäft lag an keiner Hauptverkehrsstraße. Das Geräusch fiel ihm wieder ein. Er ging zu der Stelle, von der das Pink, Pink gekommen sein musste. Da lagen zwei kleine Steinchen am Boden. Moritz bückte sich und hob sie auf. Zwei helle, fast weiße, nahezu kreisrunde Kieselsteine. Der eine etwas größer als der andere. Er lief noch ein paar Schritte die Straße entlang. Nichts, er sah Niemand.

Die Steinchen hielt er in der hohlen Hand. Den Briefumschlag zwischen die Finger geklemmt, so ging er zurück ins Geschäft. Mit der anderen Hand machte er die Tür zum Briefkasten zu. Er tat es mit einer Sorgfalt, als sei sie ein Tresor. Bald hätte er vergessen, die Geschäftstür zu versperren. Er ging noch mal zurück.

   Kieselsteine und Viktoria – sofort erinnerte er sich. Es musste fast vierzig Jahre her sein. Nicht ganz. Warum war die Beziehung eigentlich auseinandergegangen? Darüber konnte er später noch nachdenken. Zunächst wollte er wissen, warum sie sich bei ihm meldete. Behutsam legte er die Steinchen auf den Tisch und öffnete den Umschlag. Er war gespannt. Neugierde war für ihn wertfrei. Er liebte es neugierig zu sein.

Sehr geehrter Herr Wassermann – ach nein, grüß Dich, Moritz,

   Du wirst überrascht sein, nach so langer Zeit, von mir zu hören. Es sind Jahrzehnte. Und so unvermittelt. Ich bin überzeugt, Du kannst Dich gleich wieder an mich erinnern. Dein historisches Gedächtnis kommt nicht nur Deinem Geschäft zugute, es hatte auch immer viel Privates darin Platz.

   Habe zu Beginn des Briefes keine Sorge, dass ich Dir zu nahetreten, oder Dich gar um etwas bitten werde. Nein, wir werden es lassen wie es ist. Was mich betrifft, kann ich Dir sagen, es geht mir gut. Entschuldige Moritz, dass ich mich über Dich etwas informiert habe. Soweit ich nun weiß, lebst Du in „geordneten Verhältnissen“. Oder, in gehobenen, wie man so sagt. Das tut eigentlich nichts zur Sache. Du bist nicht verheiratet. Diese Auskunft war ausschlaggebend, warum ich mich überhaupt schriftlich bei Dir melde. Ich möchte nicht mit der Erinnerung an die Vergangenheit Unruhe in eine Ehe bringen. Dich persönlich beunruhigen will ich auch nicht.

   Die Vergangenheit ist das Fundament der Zukunft. Wenn wir die Vergangenheit nicht so lassen, wie sie ist, und in ihr zu sehr herumsuchen, wird das Fundament porös und brüchig. Es ist nicht mehr stabil genug eine Gegenwart zu tragen, gar eine Zukunft. Die Gegenwart hat eine Eigenverantwortlichkeit zu beachten. Philosophische Gedanken laut auszusprechen, habe ich seinerzeit von Dir gelernt.

   Ich will nicht an irgendwelchen Grundfesten rütteln. Fühle mich auch nicht befugt, die Zeiten schicksalhaft miteinander zu verbinden, zu verknüpfen. Die Vergangenheit, Moritz, will ich stehenlassen, wie sie war. Weder in die Gegenwart noch Zukunft eingreifen. Und doch fühle ich mich verpflichtet, einiges zu ordnen. Nachträglich, die Vergangenheit betreffend.

   Du brauchst nicht misstrauisch zu sein, Moritz. Ich will Dir nicht nachträglich irgendwelche moralischen Grundsätze aufdrängen. Bist Du argwöhnisch? Du bist ein anerkannter Sachverständiger auf Deinem Gebiet. Es hat allerdings nichts mit Argwohn oder Misstrauen zu tun. Sachkenntnis ist es. Jedes Mal, wenn von Dir gesprochen wird, höre ich genau hin. Einige meiner Freunde sind Kunden bei Dir. Es ist ein Glück, wenn einem die Gedanken nicht auf der Stirn geschrieben stehen. Und es ist praktisch, man muss sie nicht immer grammatikalisch in die Reihe bringen. Der Gedankenstrich ist ungemein vielseitig einsetzbar. Und eigentlich nie als Strich darunter zu sehen, sondern als Verbindung. Manchmal auch als Hinauszögerung. Manches im Leben braucht eine Verlängerung. Meine Gedanken, ihre Formation, verloren die Punkte und Kommas, als sie sich mit den Gefühlen verbanden. Und mit dem Punktum war es immer schon so eine Sache. Auf ein Ausrufezeichen werde ich verzichten. Ich habe auch keines zur Verfügung. Ich hoffe, Moritz, es berührt Dich nicht unangenehm, wenn ich unsere gemeinsame Zeit erwähne. Ich meine, es ist schon so lange her, und man kann ohne Peinlichkeit davon sprechen. So sehe ich das jedenfalls.

   Ich kann mir gut vorstellen, Moritz, Du bist ein bisschen ungeduldig. Kleine Kinder ermahnt man zur Geduld. Das Kind im Mann. Ich hoffe, es ist Dir erhalten geblieben. Es hat mir gut gefallen – und natürlich auch der Mann. Du möchtest den Grund erfahren, warum ich plötzlich aus dem Nichts auftauche? Du wirst. Gesprächsnotizen können nebenbei geschrieben werden. Meistens sind es nur Kritzeleien. Schlagzeilen benötigen Platz und vor allen Dingen mehr Druckfarbe.

   Ja, jetzt hat mich der Mut verlassen. Der Mut, einfach die Druckfarbe auszuschütten. Aber den Platz für die Schlagzeile halte ich Dir frei. Ich verspreche es. Und entschuldige bitte das Spiel mit den Kieselsteinen. Mir war jugendlich zumute. Wenn ich mich schon bei Dir in Erinnerung bringen wollte, dann mit romantischem Beiwerk.

   Denk ein bisschen an vergangene Zeiten – bis bald – Viktoria

Moritz Wassermann lehnte sich langsam in seinem Stuhl zurück. Er behielt den Brief in seiner Hand. Viktoria von Treppeln – typisch für sie. So war sie gewesen. Sie nimmt einen ganz mit ihrer Gegenwart gefangen und löst sich auf, wie es ihr gefällt. Zieht sich ins Unbekannte zurück. Da er nun neunundsechzig Jahre alt war, musste sie, soweit er sich erinnern konnte, siebenundsechzig sein. Sie war in dem Alter noch keine alte Frau. Doch das Spitzbübische, das ganz Jugendliche, das man in ihren Jahren nicht mehr vermutet, schien sie beibehalten zu haben. Er legte das Blatt auf die Schreibunterlage. Mit beiden Händen streifte er es vorsichtig glatt. Das Papier war matt. Mit Wasserzeichen. Sie hatte eine besondere Vorliebe für schönes Papier gehabt, und die sich anscheinend erhalten. Natürlich hatte sie mit Tinte geschrieben. Sie hätte eher ihr Auto ausgeliehen, als ihren Füllhalter.

   Und ob er sich noch an Viktoria erinnern konnte. Fast fünf Jahre hatte die Beziehung gedauert. Liaison – Liebe. Wie immer es auch genau zu bezeichnen war. Mit Unterbrechung. Aber als sie sich wieder getroffen hatten, hatte es gleich wieder gefunkt. Liebe auf den ersten Blick. Auch beim zweiten Mal. „Weißt Du, Wunderkerzen – Sternenwerfer verzaubern nicht nur in der Weihnachtszeit. Eine dunkle Nacht genügt.“ hatte sie gesagt. In seinem Elternhaus war natürlich nie Weihnachten gefeiert worden. Aber Wunderkerzen liebte er. Und Nächte mit einem strahlenden Sternenhimmel. Besonders im August stand er Nachts auf und ging auf den Balkon, um zu staunen.

   Auf mehreren Reisen nach Italien hatte sie ihn begleitet. Einmal war sie mit nach London gekommen. Er konnte sich noch gut entsinnen. Die ersten zwei Jahre ihrer Bekanntschaft waren leidenschaftlich gewesen. Seine Eltern hatten ihm ihre Missbilligung gezeigt. Die Offenheit, mit der die beiden ihre Zärtlichkeiten ausgetauscht hatten, war es gewesen, die seine Eltern so entsetzt hatten. Er hatte Viktoria oft mit nach Hause gebracht. „Du benimmst dich, Moritz. wie ein ...“, Vater hatte es nicht ausgesprochen. Was immer er auch gemeint hatte. Er war damals einfach aus dem Zimmer gegangen, und hatte ihn allein gelassen. Mutter hatte zwar nie darüber gesprochen, aber ihr Gesicht verriet ihre Gedanken. Seine Mutter hatte vielsagend schweigen können.

   Viktoria hatte ihn auch ihren Eltern vorgestellt. Mit Freundlichkeit war er hier allerdings auch nicht überschüttet worden. Im Hause von Treppeln hatte er Viktoria zwar nie zärtlich berührt – vor der Familie. Er war sich jedoch zum x-ten Male zum Anstandsbesuch vorgekommen. In einem Punkt waren die Elternteile, auch wenn sie sich nie persönlich kennengelernt hatten, einer Meinung. Gesellschaftlich harmonierte man nicht zusammen. Die Form war aber gewahrt worden. Zur Höflichkeit hatten sich beide Familien verpflichtet gefühlt. Und sei es dem eigenen Kind gegenüber, der eigenen Nonchalance. Moritz erinnerte sich aber auch an gemeinsame, fröhliche Stunden mit Viktoria und seinen Eltern. Wenn nicht gerade wichtige Feiertage waren, war Viktoria oft zum Essen geblieben.

Moritz kam aus einer alten Familie. Seit vielen Generationen wurde mit wertvollen Antiquitäten gehandelt. Man war sehr vermögend. Man stellte sich vor, der einzige Sohn würde sich, später, mit etwas mehr Lebenserfahrung, ebenfalls vermögend und nach seinem Glauben, in dem er erzogen worden war, verheiraten. Nur der Glaube war es nicht. Auch der Tradition fühlte man sich verpflichtet. Die letzten Kriegsjahre waren sie bei Freunden in Frankreich untergekommen. Man hatte dann wieder von vorn begonnen, als nichts gewesen wäre. Nichts, einfach nichts. Man ignorierte die Vergangenheit, sprach nie darüber. Nicht über das Schicksal der Verfolgten. Nicht über das Schicksal der Geretteten. Auch nicht über die Verfolger. Selbst nicht im engsten Familienkreis. Moritz konnte sich an kein dementsprechendes Gespräch erinnern. Seine eigenen Erinnerungen und Geschichtsdokumentationen waren alles. Es war für ihn genügend. Es kam auch vor, dass seine Mutter mit ihren Gedanken in dieser Zeit verweilte. Wenn er es merkte, bedrückte es ihn. Ihr Schweigen nahm das ganze Haus in Anspruch.

   Familie von Treppeln war nicht das, was man verarmten Adel nannte. Jedoch auch sie wollten ihre Kinder unter ihresgleichen verbunden sehen. Maximilian von Treppeln, das derzeitige Familienoberhaupt, vertrat seine Meinung deutlich. Er war kein alter würdiger Herr. Manchmal tat er so. Er verkörperte die Würde seiner Ahnen. Er fühlte sich ihnen verpflichtet. Das tat er, wann immer er es für angebracht hielt. Mit bestimmtem Ton pflegte er zu sagen: „Man kann sich nur mit Menschen umgeben, die plus oder minus zehn Prozent von uns abweichen, um wirklich glücklich zu sein. Dies betrifft alle Lebensbereiche. Speziell Religion, Broterwerb und die alltäglichen Gebräuche, die schließlich Träger eines Kulturkreises sind.“ Er stand zu dieser Erklärung immer auf. Wer immer auch sich im Zimmer befand, hörte aufmerksam zu. Nickte leicht mit dem Kopf, als würde man es zum ersten Mal hören. Es gab Personen, die hatten diesen Satz schon zig-Mal gehört. Aber immer noch nicht genau wussten, was er damit meinte. Sie nickten jedoch bejahend. Manchmal räusperte sich von Treppeln noch abschließend. So, als hätte er nichts anderes als eine Zustimmung erwartet. Seine Familie war mit dieser Lebensaussage vertraut, durch lange Diskussionen bekehrt worden. Wahrscheinlich war sie mittlerweile davon überzeugt worden. Die Familie liebte ihn. Neuhörern, erklärte Annegret von Treppeln, seine Frau, seine These mit vermittelndem Lächeln: „Mein Mann meint, mehr als zehn Prozent über unsere Toleranzgrenze hinaus reicht unser Arm nicht, um den anderen zu berühren. Selbst mit ausgestreckten Fingern.“ Dezent zeigte sie mit ihren ausgebreiteten Händen einen Zwischenraum an. Sie streckte ihre Finger aus und machte sie so lang wie möglich. Sie wollte der Toleranzgrenze mehr Raum zugestehen. Auch dazu hatte sich niemals Jemand direkt geäußert. Auch nicht beim ersten Mal.

   Umso erstaunlicher war es, dass Viktoria, mit ihren fünfundzwanzig Jahren, Moritz auf dessen Reisen begleiten durfte. Mit der Zustimmung ihrer Eltern. Vater unterstützte sie regelrecht. „Bei der Menge Überstunden und dem Einsatz, den du in der Firma leistest, kannst du ab und zu ein paar Tage unbezahlten Urlaub nehmen. Ich erlaube dir „blau“ zu machen“. Manchmal genierte er sich für seine Freizügigkeit. Er schaute dabei immer etwas an Viktoria vorbei. Oder er drehte sich um und sah aus dem Fenster. Und wenn Annegret von Treppeln versuchte, daran zu erinnern, dies hätte sich zu ihrer Zeit nicht geschickt, winkte er ab. „Jede Generation muss etwas tun, was sich nicht schickt. Was sich heute nicht schickt, ist morgen Mode. Und Mode, na ja, lassen wir das. Lassen wir sie mit Haltung mit dem jungen Wassermann verreisen. Wie soll sie wissen, wo der Angelpunkt der Welt ist, wenn sie sich mit ihr nicht auseinandersetzt? Sie braucht ja die Welt nicht gleich aus den Angeln heben.“ Welche Haltung Maximilian von Treppeln meinte, ob die der Eltern, die ihre Tochter reisen ließen, oder die von Viktoria, die vielleicht während der Reise Haltung bewahren sollte, ließ er offenstehen. Es war ihm genaugenommen recht, dass niemand nachhakte. Nicht einmal bei dem Wort Mode. Er liebte es, wenn sich die Frauen in seinem Umfeld modisch kleideten. Nur Eleganz war ihm zu langweilig. Er gebrauchte gern den Vergleich mit dem Angelpunkt der Welt. Den gab es für ihn tatsächlich nicht. Die Welt setzte sich für ihn aus vielen Punkten zusammen. Und jeder, der die Welt ernst nahm, war entscheidend für das Gesamtbild, er eingeschlossen.

Es war spät geworden. Moritz saß immer noch an seinem Schreibtisch. Er dachte an die gemeinsame Zeit mit Viktoria. An ihre Art. „Eigentlich ist es eine Ungezogenheit von ihr, mich nach so langer Zeit, anzutippen und dann sitzenzulassen. Plötzlich. Nur so. Mit einem vertrauten Zeichen. Mit Kieselsteinen und mit einem verheißungsvollen und wiederum nichtssagenden Brief.

Erlebnisse müssen immer bezahlt werden – gleich wie – und sei es, dass wir die Erinnerung daran ein Leben lang in uns herumtragen.

   Von Treppeln – er konnte annehmen, sie war nicht verheiratet. Was wollte Viktoria von ihm? Wollte sie, dass er sie aufsuchte? Sicherlich würde er sie mit Leichtigkeit ausfindig machen können. Er würde einfach in ihre Heimatstadt fahren. Zu ihrem Elternhaus gehen und nach ihr fragen. Es gab auch ein Telefonbuch, und ein Telefon. Aber Viktoria war anders. Wenn sie direkten Kontakt zu ihm hätte aufnehmen wollen, wäre sie in sein Geschäft gekommen. Die Türe wäre eines Tages aufgegangen. Eine Frau wäre vor ihm gestanden und hätte gesagt: „Grüß dich Moritz“ oder „Herr Wassermann, ich möchte etwas kaufen. Bei ihnen.“ Er stellte sich die Szene für einen Augenblick vor. Es erregte ihn. Er spürte es deutlich.

So deutlich, wie er sich jetzt an sie erinnerte, so deutlich stellte sich erstmals die Frage, warum er sie nicht geheiratet hatte? Er hatte es nicht einmal in Erwägung gezogen. Das hatte er bei den anderen Frauen auch nicht getan. Er hielt sich für eine endgültige Bindung nicht geeignet.

   Es schien ihm, mit diesem Brief hatte sie ein Spiel mit ihm begonnen. Er kannte die Spielregeln noch nicht. Er wollte jedoch mithalten. Und wenn es ihr ernst war? Warum sollte sie auch mit ihm spielen wollen? Wenn sie noch eine alte Sache zwischen ihnen zu begleichen hatte – er wusste nicht was – dann sollte sie es sagen bzw. schreiben. Was meinte sie mit einer Schlagzeile? Eine, die Platz benötigt. Schlagzeilen sind nur Überschriften. Was war mit dem Text? Was verstand sie unter viel Druckfarbe? Er beschloss, sich an ihre Anweisung zu halten. Ein bisschen an vergangene Zeiten zu denken. In Ruhe abzuwarten. Soweit das umsetzbar war. Anweisungen konnte er nicht ausstehen. Vielleicht meinte sie es gut. Die es gut meinen, sind die Schlimmsten. Privat zitierte Moritz diesen Satz gern von Paracelsus.

Bis bald, hatte sie geschrieben. Den Zeitpunkt bestimmte sie. Auch das gefiel ihm nicht besonders.

   Moritz ließ den Brief und die zwei Steinchen auf dem Schreibtisch liegen. Er wollte sie nicht mit in die Wohnung nehmen. So nah sollten sie nicht gleich an ihn herankommen. Er pflegte Distanz über alles. Spontanität brachte ihn aus dem Rhythmus, mit zunehmendem Alter. Früher war es anders gewesen. An der Tür blieb er stehen, drehte sich um und ging nochmals zum Schreibtisch zurück. Er nahm ein schwarzes Tuch aus der Schublade. Er benützte es sonst als Unterlage für Diamanten. Vorsichtig legte er es über die Steinchen und den Brief. Er wollte die Sachen nicht bestatten. Das schwarze Tuch war ein täglicher Gebrauchsgegenstand. Er hatte eine Vorliebe für Ordnung.

Moritz hörte an diesem Abend Musik. Tschaikowsky – die Schwanensee-Suite. Er aß ein bisschen Weißbrot und Käse, trank einen leichten Rotwein dazu. Er teilte sich für gewöhnlich die Menge des Weines ein. Nicht weil er mit Alkohol Probleme hatte. Es war ihm zur Gewohnheit geworden. An diesem Abend genehmigte er sich zwei Gläser mehr. Er wollte sich keinen Schwips antrinken, aber über die übliche Feierabendstimmung hinauskommen. Er blieb bis Mitternacht wach. Ein paar Mal im Jahr hörte er über einen gewissen Zeitraum immer die gleiche Musik. Nicht jede Musik. Harfenkonzerte von Händel, Wagenseil und Mozart bevorzugte er. Die Schwanensee-Suite gehörte auch dazu. Er ließ die Aufnahme immer wieder spielen. Bis er schlafen ging. Was er dabei gedacht oder nur der Musik zugehört hatte, wusste er am nächsten Morgen nicht mehr.

   „Wer pflückt schon Blumen, mit der Sicherheit, dass sie in der Vase länger blühen als auf der Wiese – an ihrer Pflanze?“

   Moritz waren die Worte von Viktoria ganz plötzlich wieder eingefallen. Beim Aufwachen. Als hätte er sie gestern erst gehört. Sie hatte nie Blumen auf der Wiese oder im Garten gepflückt. Aber eine gelbe, langstielige Rose hatte fast immer auf ihrem Schreibtisch gestanden. Ich denke an den, der gelbe Rosen verkaufen will, war ihre Erklärung gewesen. Manchmal hatte er sie ihr geschenkt. „Warum nur immer eine gelbe Rose?“ hatte er einmal wissen wollen. „Blau ist die Symbolfarbe für die ungestillte Sehnsucht nach der Ferne in mir.“ hatte Viktoria geantwortet. Er hatte damals sagen wollen: „Du hast das Thema verfehlt. Wir sprechen von gelben Rosen. Und immer nur von einer.“ Aber er hatte es sein lassen. Er hatte auch Lust gehabt, über die Ambivalenz der Farbe Gelb zu sprechen. Neid und Hoffnung in einer Farbe zu vereinen, war ihm heute noch unverständlich. Den Widerspruch in ihren Antworten – er erinnerte sich. Der war da. Irgendwann. Später einmal hatte sie ernsthaft darüber gesprochen. Gelb war für sie eine wichtige Farbe in der Lebensbejahung. Nicht nur im Geist des Barocks zu suchen. Neid war für sie unheilbare Unsicherheit, genetisch bedingt, hatte sie einmal deklariert.

Auf dem Weg zur Bank ging er beim Blumenhändler vorbei. Er kaufte eine gelbe Rose. Ohne etwas grün oder einem dekorativen Blatt, wie es die Verkäuferin angeboten hatte. Er stellte sie auf seinen Schreibtisch, meinte, die Rose würde zart nach Zitrone duften. Er fragte sich, ob er nun der Sentimentalität verfallen sei? Und wenn schon. Er brauchte sich niemand erklären. Er nahm das Tuch von den Steinchen und dem Brief. Seine Mitarbeiter hatten freien Zugang zu seinem Schreibtisch. Die Schublade war seine Privatangelegenheit. Den Brief schloss er in die Schublade zu der erledigten Post, zu seinen persönlichen Briefen. Zu der Post, die eine Zeit lang nicht abgeheftet wurde, die nur so dalag. Als er das Tuch hochhob, erwartete er einen kurzen Augenblick, dass sich die Steine vielleicht aufgelöst hätten. Dem war allerdings nicht so. Sie lagen sehr gegenständlich auf der Tischplatte.

   Immer wieder ertappte er sich bei den Gedanken an Veronika. Wie sie heute wohl aussah? Er erinnerte sich an ihre große schlanke Figur. Sie war fast so groß wie er gewesen. Wegen ihrer Größe trug sie immer flache Schuhe. Es war damals schwierig gewesen, flache und doch elegante Schuhe zu finden. An ihr dunkles, starkes Haar. Oft genug hatte er mit einer Hand einfach in ihre Frisur gefasst. Oder mit beiden Händen ihre Haare gestreichelt. „Ich möchte es angreifen – dein Haar.“ Er hatte sie manchmal auch mit dem Begriff „Rosshaar“ aufgezogen. Dann hatte Viktoria immer herzhaft gelacht und den Kopf geschüttelt. Wie ein Pferd, das soeben ein Derby gelaufen und sich seines Sieges durchaus bewusst war. Und er hatte es geküsst. Sich mit dem Gesicht darin vergraben. Ob sie wohl schon lange Zeit graue Haare hat? Ob sie sie färbt oder so lässt? Ob sie ihre Figur behalten hat? Ein klares Bild, wie sie jetzt aussehen würde, gelang ihm nicht. Immer wieder mischten sich Eindrücke von früher ein.

   Er dachte an Viktoria. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, alte Fotos herauszusuchen. Photographien oder Briefe von Viktoria hatte er nicht vernichtet. Auch nicht von anderen Frauen. Die letzten zwei Alben standen immer im Bücherschrank. Die vorhergehenden kamen ins Archiv. Wie er es nannte. Es war ein Blechschrank am Dachboden, der von ihm abgeschlossen wurde. Viele waren es nicht. Er hatte nie Wert auf Masse gelegt. Auch nicht auf Menge, Photographien betreffend. Die Alben füllten sich langsamer. Was würde eigentlich mit seinen persönlichen Dingen nach seinem Tod geschehen? Wenn er nicht wollte, dass sie jemand durchblätterte, ihnen die Intimität nahm, musste er sie vorher vernichten. Aber wie sollte er den Zeitpunkt festlegen? Würde er zu früh seine Erinnerungen aufgeben, wie würde er das Vakuum ertragen können? Es wäre ein Zeitraum ohne die Chance, jederzeit die Vergangenheit herholen zu können. Der Gedanke daran war ihm unangenehm. Es bestand auch die Möglichkeit, dass die Erben seine persönlichen Sachen ungesehen dem Müll übergeben würden. Offen darüber zu sprechen war ihm peinlich. Auf eine konkrete Verfügung im Testament hatte er verzichtet. Von Viktoria waren einige Fotos da. Er konnte sie herholen. Er ließ es sein. Der Griff zum Fotoalbum war in ihm blockiert. Er konnte sich immer noch nicht entschließen, seine Gefühle genau zu definieren. Ob angenehm oder unangenehm.

   Dann fing er an, sich zu überprüfen. Er blickte kritisch in den Spiegel. Hatte er sich so gut in sein neunundsechzigstes Lebensjahr gelebt, dass Viktoria ihn ansehen wollte? Manchmal blieb er vor einem großen Spiegel stehen, um sich von Kopf bis Fuß zu betrachten. Baucheinziehen ließ er weg, er verpönte es. Er blähte ihn auch nicht mit aller Gewalt auf. Er war nicht dick. Er achtete auf sein Gewicht, schon allein aus Gesundheitsgründen. Er war jedoch keine zwanzig mehr. In seiner Familie hatten die Männer keine Glatzen. Und seine dunklen Haare waren noch gut erkennbar. Die grauen waren weniger. Ein paar Falten. Da, wo sie hingehörten.

   Dafür kleidete er sich sehr sorgfältig. Im Schachclub war man einer Meinung: Ein gut angezogener Mann erscheint zehn Jahre jünger – zu mindestens bei Frauen. Er wollte nicht jünger scheinen. Auch nicht bei Frauen. Wie würde er nun nach fast vierzig Jahren auf Viktoria wirken, wenn sie sich plötzlich gegenüberstehen würden? Oder war sie bereits inkognito hier im Geschäft gewesen? Traute er ihr das zu? Und er hatte sie nicht erkannt? Dann hätte er allerdings auf sie keinen schlechten Eindruck gemacht, sonst wäre der Brief nicht gekommen. Er fragte sich, ob er überhaupt auf sie wirken wollte? Und auf Wirkung und Gegenwirkung sollte die Sache auch sicherlich nicht hinausgehen. Dann war er wieder über sich selbst verärgert. Aus heiterem Himmel ließ er sich aus der Ruhe bringen. Mit ein paar Zeilen. Noch dazu aus der Vergangenheit.