Morsezeichen aus der Einsamkeit - G. K. Ruediger - E-Book

Morsezeichen aus der Einsamkeit E-Book

G. K. Ruediger

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Beschreibung

Abgeschieden in den Bergen, dem Himmel ganz nah, inmitten von Klein- oder Großstadtidyllen erzählen diese Geschichten vom Alleinsein. Unsere durchökonomisierte Gesellschaft nimmt immer weniger Rücksicht auf sozial Schwache und Benachtei­ligte, erfindet immer neue Erklärungsmuster zur Ablenkung vor schwindender gesellschaftlicher Verantwortung. Im Schatten vermeintlich wichtiger, den Mainstream bestimmender Themen entwickelt sich eine nie gekannte Vereinsamung, nicht nur in anonymen Megastädten. Insbesondere Ältere sehen sich in dieser ihnen unverständlichen Welt oftmals allein gelassen. Die hier versammelten "Biografien" schildern, wie Menschen aller Altersgruppen, selbst- oder fremdverschuldet, einsam geworden sind. Die meisten leiden darunter. Manche sehen in einem solchen Rückzug eine Möglichkeit, um in einer sich immer schneller drehenden Welt selbstbestimmt überleben zu können – oder auch nicht. Jeder einzelne Protagonist der einfühlsamen Short Stories könnte unser Nachbar sein.

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G. K. Ruediger

Morsezeichen aus der Einsamkeit

Geschichten vom Alleinleben

Lindemanns

Alle Personen, Ereignisse und Orte dieser Erzählungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen, Orten oder Geschehnissen wären zufällig.

Für Lea & Larissa

G. K. Ruediger, geboren 1949 in Karlsruhe, studierte Germanistik, Geschichte, Politikwissenschaften und Psychologie in Mannheim, Heidelberg und Berlin. Der ehemalige Gymnasiallehrer war neben seiner Lehrtätigkeit einige Jahre an einer Schulpsychologischen Beratungsstelle sowie als Referent in der Lehrerfortbildung beschäftigt, ehe er zunächst die Schulleiterstelle am Melanchthon-Gymnasium Bretten und danach am Hermann-Hesse-Gymnasium Calw übernahm. Neben seiner Tätigkeit als Coach für Kinder und Jugendliche sowie Mediator und Mediatoren-Ausbilder arbeitete er viele Jahre als Fachjournalist und freier Schriftsteller für verschiedene Verlage. Neben zahlreichen Sachbüchern und Fachaufsätzen veröffentlichte er Kurzgeschichten und Gedichte in Sammlungen und Anthologien. Der Autor ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

Vorweg

Ohne gesellschaftlichen Wandel säße die Menschheit noch heute auf den Bäumen des sie zwangsläufig umgebenden Urwaldes. Diesen Wandel gab es schon immer, zu allen Zeiten, meist ausgelöst durch technologische Veränderungen, innovative Entdeckungen. Dauerten die daraus erwachsenden, auch Wertvorstellungen und Haltungen verändernden und die Betroffenen heftigst erschreckenden, ängstigenden Prozesse früher Jahrzehnte, erleben wir diese heute praktisch über Nacht. Einschnitte wie die Menschen gewollte Globalisierung verändern nicht nur die Arbeitswelt, schaffen in vielen Regionen prekäre Lebensverhältnisse für die zu Niedriglöhnern oder Sozialhilfeempfängern stigmatisierten Verlierer dieser Entwicklungen, die rasant wachsenden Ungleichheiten in den Industriestaaten fördern auch die nicht länger zu leugnenden sozialen Verwerfungen.

Globalisierung und nahezu flächendeckende Digitalisierung verändern die uns bekannte Welt mit nie gekannter Dynamik, die daraus resultierende Gentrifizierung lässt in den Ballungsräumen ohne Rücksicht auf Betroffene die Mieten explodieren. Völlig unbeachtet von all diesen die politische Debatte bestimmenden Themen entwickelt sich quasi in deren Schatten eine nie gekannte Vereinsamung vieler Menschen, und das nicht nur in den sich zunehmend anonymisierenden Großstädten. Arbeitsnomaden wie Globalisierungsgewinner entfremden sich zunehmend ihren angestammten Herkunftsmilieus, insbesondere ältere Menschen sehen sich in dieser ihnen unverständlichen Welt selbst in der Provinz allein gelassen. Eine durchökonomisierte Gesellschaft nimmt zunehmend weniger Rücksicht auf sozial Schwache und Benachteiligte, erfindet konfabulatorische Erklärungsmuster zur Ablenkung vor schwindender gesellschaftlicher Verantwortung, ohne auf die für Betroffene daraus resultierende Dissoziation Antworten zu suchen. Nicht einmal auffälliges deviantes Verhalten findet in den auf eitle Selbstbeschau ausgerichteten sozialen Netzwerken Beachtung, erst bei offensichtlicher Delinquenz wird nach dem schützenden Staat gerufen.

Die hier gesammelten kleinen Erzählungen und Anekdoten bieten einen Einblick in die Lebenssituationen vereinsamter, allein gelassener Menschen aller Altersgruppen, die entweder durch selbstverschuldetes oder ihnen zugefügtes Leid sich in die Einsamkeit zurückziehen. Andere wiederum sehen in diesem Rückzug die einzige Möglichkeit, um in einer sich immer schneller um sich selbst drehenden Welt überleben zu können. Jeder einzelne Protagonist könnte dabei unser aller unbeachteter Nachbar sein.

Einsam

An einem der letzten milden Indian Summer Nachmittage verschlug es den Unrasierten in diese einsame Hütte in den Alpen. Mit allem hatte er damals, vor dem Aufbruch zu seiner großen Tour entlang der majestätischen Gipfel, bereits abgeschlossen: die brave Frau anständig beerdigt, wie sie es sich immer gewünscht hatte, auf einem nur ihm bekannten anonymen Waldfriedhof ohne Kreuz beigesetzt, wo keiner der verlogenen vermeintlichen Freunde sie heimsuchen könnte, um sogar ihre letzte Ruhe zu stören. Ihre drei geliebten Katzen brachte er danach, allerdings gänzlich gegen ihren Wunsch, für eine entsprechende Pflegegebühr ins Städtische Tierheim, was sollte er auch mit diesen ihn ständig anfauchenden Plüschmonstern anderes machen, die ihn lediglich als den zweibeinigen Dosenöffner akzeptierten. Mit Haustieren konnte er ohnehin noch nie etwas anfangen, dieses Gewusele und Gezupfe ging ihm auf den Nerv. Wie konnten sich Menschen diesen zusätzlichen Ballast eines bellenden Hundes, einer oder gleich mehrerer die Tapeten zerfetzenden Katzen, von ewig fiependen Meerschweinchen oder alles anknabbernden Karnickeln bloß antun. Ihn nervte es schon, wenn er im kleinen Schuppen die hungrigen Mäuse pfeifen hörte.

Das kleine Häuschen im alten Stadtviertel überschrieb er seiner einzigen Tochter, die sich, von ihrem Lebensgefährten, einem jovialen rundbäuchigen Schornsteinfegermeister, im siebten Monat schwanger, mit diesem darin dauerhaft einrichten konnte. Seinem cholerischen Abteilungsleiter kehrte er mit allergrößter Erleichterung den Rücken, seine drei aus der überwiegend sitzenden Tätigkeit im Büro resultierenden Bandscheibenvorfälle reichten für die Genehmigung seiner Frührente locker aus. Von dieser vom Gesetzgeber in Folge der alles andere als sozialen Reform namens Hartz IV verknappten Rente ließe es sich gerade noch so leben, zumal er niemals große Ansprüche an seine persönliche Lebensqualität stellte, sich auch notfalls mit Wasser und trockenem Brot zufrieden geben konnte.

Mit seinem bewährten Rucksack war er Monate kreuz und quer durch Deutschland gewandert, blieb mal hier zwei Tage, mal dort. Immer zog es ihn weiter weg von der früheren Residenz, vom wortkargen Kleingartengeist, weg von der mit undurchsichtigem Geld finanzierten und in fremde Hände geratenen Protzvilla des bankrotten einstigen Tunnelbohrers.Hinaus in die Weite wollte er, immer Richtung Süden, immer dem Tessin, später den Bergen des Karwendelgebirges näher, von denen er schon sein Leben lang träumte, ohne jemals einen Urlaub dort erlebt zu haben. Auf diesem Treck, seinem ganz persönlichen und nicht genau geografisch verorteten Jakobsweg, fand er Zeit und Ruhe, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Der Tod der Frau stellte schon einen Einschnitt in seinem bis dato geruhsamen Leben dar, ihren Verlust empfand er wie das Verlegen eines jahrelang getragenen, lieb gewordenen Kleidungsstückes. Man vermisste etwas, allerdings ohne allzu großen Trennungsschmerz. Während ihrer über fünfundzwanzigjährigen Ehe passten sie recht konfliktfrei mit ihren eher phlegmatischen Temperamenten zueinander, auch wenn er in ihr, zumindest glaubte er das, nie die von Dichtern und Musikern angepriesene große Liebe erkennen konnte.

Nach ihrem Kennenlernen gingen sie ein paar Mal in Ettlingen tanzen, bald darauf wurde sie schwanger. Für ihn war es selbstverständlich, dass er sie heiratete. Größere Reibereien gab es nie zwischen ihnen, und die Gedanken waren schließlich frei, auch wenn er manchmal fürchtete, sein Leben beenden zu müssen, ohne jemals etwas wirklich Bewegendes erlebt zu haben. Seine ihn schon Zeit seines Lebens immer wieder einholenden nachtschwarzen tiefen Ängste kamen nicht oft zum Vorschein, nur manchmal, wenn er etwas zu viel Genever intus hatte und die Kontrolle über seinen Gedankenfluss verlor. Du sollst dich nicht ängstigen, sagte er sich dann immer, wie er es vom Großvater eingetrichtert bekam, denn Angst frisst dich stückweise auf, nimmt dir dein Selbst, macht dich klein. Angst tötet letztlich das noch intakte Bewusstsein, diese Binsenweisheit kannte er zu gut, weil sie von den Angstmachern immer wieder mit Erfolg praktiziert wurde: von den Priestern, den Politikern, den Wirtschaftsbossen, den Journalisten, den Vorgesetzten, den Fake News. In dem Moment, in dem er der Angst auf den Leim ging, spielte er das Spiel der Angst als Opfer mit und sah keine Chance mehr, ihr zu entkommen, das wusste er nur zu gut, und dennoch holte sie ihn trotz aller Abwehrversuche immer wieder ein. Man konnte, wenn dieses tief hineingefressene Gefühl die Oberhand gewann, entweder nur kapitulieren oder resignieren – beides keine guten Aussichten für das restliche Leben. Die krankmachende Resignation glaubte er doch längst überwunden, spätestens seit er den Rentenantrag unterschrieben hatte, denn von da an war sein Lachen wieder gelöst, sein Körper erholte sich langsam und seine wunde Seele auch. Also warum dieses beschissene Spiel noch einmal durchleben – nur, weil er jetzt Großvater würde? Man musste die gesellschaftlich aufgezwungenen moralischen Strukturen durchschauen und mit einer paradoxen Intervention kontern, was nichts anderes meinte, als dass man genau das tat, was die anderen in dieser Situation nicht erwarteten und daher mit staunender Verblüffung reagierten: Wenn Gegenwehr erwartet wird, reagiert man wie Ghandi, wenn Gewalt erwartet wird, hält man wie Jesus auch noch die andere Wange hin, wenn der Kampf um etwas wie das Haus erwartet wird, verzichtet man freiwillig und löst so beim Angstmacher eine mittlere Katastrophe aus: Sein ganzes Gedankenbild fällt in sich zusammen, er erreicht genau das Gegenteil dessen, was er sich vorgestellt hatte. Im Klartext: Du sollst gefügig gepresst werden, damit du möglichst schnell das Familienleben wieder aufnimmst – und als „Belohnung“ dafür darfst du dazugehören. So wie die Katzen oder der treue Hofhund. Haustiere eben, die mit ein paar Streicheleinheiten und Supermarkt-Dosenfutter zufriedenzustellen waren. Und das war es, was er auf keinen Fall mehr wollte. Irgendwo dazugehören, sich einfügen, anpassen, die Schnauze halten, wenn es anderen so beliebte, Männchen machen.

Sein vermeintlich vorübergehender Mentalitätswechsel war vom engsten Umfeld als Merkmal seiner Trauer gedeutet worden, doch getrauert hatte er die vergangenen sechsundzwanzig Jahre in seinem gut bürgerlichen Gefängnis mit Häkeldeckchen und Sahnetorte am Sonntag zur Genüge; das reichte für zwei Leben. Er wusste es besser als die anderen, besser als die Tochter und der Banause von Schwiegersohn. Mit diesem Wissen konnte er mit großer Gelassenheit paradox intervenieren und die Seifenblasen der andern zum Platzen bringen. Man darf sich die wahre Absicht, die Tatsache, dass man ihr Spiel durchschaut hat, nur nicht anmerken lassen. Besser könnte er das nicht sagen, dachte er, als er abends zum ersten Mal an der offenen Feuerstelle seiner tags zuvor entdeckten Berghütte in die Flammen starrte und zum wiederholten Mal über sein Leben nachdachte. Das passte wie angegossen zu seiner Situation, zu seinem Selbstfindungsprozess, von dem ihn nichts und niemand mehr abbrächte.

Etwas geht um mit ihm, doch er weiß noch nicht, was es ist. Er weiß nur, dass es nicht nur Gutes ist, denn es lähmt und ängstigt ihn einerseits und beraubt ihn manchmal seiner Empathie, welche etwa beim Anblick der blutrot zwischen den ganz oben noch eisbehafteten Gipfeln versinkenden Septembersonne in ihm aufwallt. Frei lebt er ja jetzt, er leidet keinen Hunger, seit er gestern mit prall gefülltem Rucksack hier ankam und mit dem Besitzer und Verpächter vereinbarte, dass dieser jede Woche Eier, ein paar Konserven, Speck und Brot vorbeibrächte. Bis zum Winter hielte er sicher durch, musste keine Existenzangst aufbauen. Was war es dann, was die vergessen geglaubte Angst selbst in diesem menschenleeren Fleckchen Erde wiedererweckte?

Er nimmt zunächst an, es sei die Einsamkeit, die Leere in ihm, das Gefühl der Verlassenheit – es ist schon so lange her, seit er länger als ein, zwei Stunden unter Menschen weilte, einen Fernseher gesehen oder einem Radio gelauscht hat. Fehlt ihm diese ungewollte Nähe doch so sehr, dass es schmerzt, manchmal heftig schmerzt? Mitunter, wenn er gegen Morgen aufwacht, fühlte es sich an, als ob man ihm in der Nacht die Eingeweide entfernt hätte und alles Blut abgesaugt. Erst wenn er dann seine Gedanken vor der massiven Holztür der wie an den Hang hingegossenen Hütte gen Himmel richtet, dem Spiel der Wolken folgt, das Rufen des Auerhahns im nahen Bannwald vernimmt, sich dann erneut wie im Halbschlaf in seine über die Holzbank vor der wurmstichigen Tür ausgebreitete Wolldecke kuschelt, wird ihm wieder wärmer, fängt er wieder an, sich selbst zu spüren, kann er wieder atmen ohne ein Sauerstoffgerät zu benutzen, kann wieder schlucken, kann wieder sachte lächeln und darüber nachdenken, dass er sich des Lebens freut.

„I’m free! I’m free! Dank dir, FREIHEIT!“ erschallt es dann hell in den klaren Morgenhimmel.

Es ist nicht so einfach, mit dieser für ihn veränderten Situation umzugehen: Einerseits weiß er sich bereit, viel zu investieren und ein hohes Risiko einzugehen für diese letzte Wegstrecke seines Lebens, andererseits bleibt ihm jetzt, da er sich entschieden hat, entschieden für diese Hütte etwa zweieinhalb Wegstunden von der ganzjährig bewirtschafteten Erfurter Hütte des Alpenvereins entfernt, übers Spieljoch halbwegs bequem zu erreichen, nichts anderes übrig, als dazusitzen und der Dinge zu harren, die sich ergäben oder auch nicht, die neuartigen Gedanken zuzulassen und zu sortieren, die da kommen wollten oder nicht. Die manchmal dröhnende Stille um diese Berghütte erfordert mindestens ebenso viel Geduld wie Rationalität – aber was passiert dabei mit seinen zugewucherten Gefühlen? Die will er nicht länger in den Gefrierschrank gepackt wissen und so lange auf Eis liegen lassen, bis sie gefragt wären oder politisch korrekt angebracht werden konnten.

Morgens lag jetzt immer häufiger wie ausgestreuter Puderzucker kräftig weiß glänzender Tau auf den Almwiesen, die Temperaturen sanken nachts Grad um Grad nahe an den Gefrierpunkt. Dennoch trat er Morgen für Morgen an den dunklen hölzernen Trog, der aus einem schwarzen Kunststoffrohr gespeist wurde, mit welchem der tüchtige Almbauer dem klaren Bergbächlein, das weiter oben aus dem Fels trat, einen kräftigen Wasserstrahl abrang. Das eiskalte kristallklare Gebirgswasser, mit dem er Gesicht und Oberkörper wusch, ernüchterte und ermunterte ihn schlagartig, auch wenn ihm beim ersten Spritzer auf die von der Kuscheldecke noch warme Brust schier der Atem stillzustehen drohte.

Die einfachen Freuden des so begonnenen Tages ließen für ein, zwei Stunden die alten Gespenster verblassen, und während seiner täglichen Wanderungen, die er in abwechselnde Himmelsrichtungen unternahm, fand er zunehmend letzte Pfifferlinge oder Steinpilze an besonders geschützten Plätzen der umliegenden Wälder, sammelte an pilzlosen Tagen Bruchholz, soviel er auf seiner altertümlichen Holzschütte aus der Hütte tragen konnte. Gelegentlich vorbeikommende Wanderer, die, vom schönen Spätherbstwetter zum vielleicht letzten Mal animiert, das Karwendelgebirge mit ihren gelgepolsterten Schickimicki-Wanderstiefeln erobern mochten, grüßten zwar höflich, wunderten sich jedoch offensichtlich über diesen vollbärtigen wortkargen Schrat, der hier in der absoluten Bergeinsamkeit vor sich hinzuvegetieren schien. Während das Schwere seines zurückgelassenen Lebens, das Mühselige und Belastende täglich mehr und mehr von ihm abfiel, das Grübeln ihn immer seltener einholte, schloss er Freundschaft mit dieser so rauen und vielleicht auch bedrohlichen Landschaft in all ihrer schroffen, manchmal auch bizarren Schönheit. Bald schon kannte er jeden Felsüberhang der majestätisch ruhenden Gipfel, erfasste sofort, wenn ein Stück Fels abgerissen und zu Tal geschleudert worden war, sichtbare Spuren im darunterliegenden Kar hinterlassend.

Ein dunkelbraunes Eichhörnchen mit weißem, fast herzförmigem Brustfleck, intensiv mit dem Anlegen seiner Wintervorräte beschäftigt, gewöhnte sich während seiner kontemplativen Stunden zunehmend an ihn, holte sich wie ein vorbeihetzender Kaufhausdieb getrocknete Brotstücke vom Tisch, wurde bald ruhiger und zutraulicher, nahm die Leckereien gar bald aus der Hand. Wenn es dann auf dem ausladenden Ast der Krüppelkiefer posierte, immer ein Auge zum edlen Spender auf seiner kleinen hölzernen Veranda gerichtet, und die von ihm gespendete Morgen- oder Abendmahlzeit verzehrte, ihm zum Abschied angesichts der um sich greifenden Dämmerung wie mit einem pelzigen Gute-Nacht-Gruß zukeckerte, wusste er sich nicht mehr vereinsamt. Tag für Tag berichtete er im Wissen um die baldige winterliche Unterbrechung ihrer Kommunikation dem neu gewonnenen, verständigen Freund von sich, über sein nicht immer angenehmes Leben, über all jene Dinge und Ereignisse, die besser dem Dunkel anvertraut blieben. Jetzt konnte er sie zum Vorschein kommen lassen. Er erzählte oft stockend von der schlimmen Kindheit im kleinen Pfinztaldorf beim rohrstockschwingenden Großvater, welcher jede von ihm als solche empfundene Verfehlung, selbst die geringste, mit körperlicher Züchtigung auszutreiben gedachte. Um keine unliebsamen Zeugen dieser Erziehungstortur anzulocken, erfolgten die heftig schmerzenden Sanktionen stets in der Scheune. Noch heute meinte er, die heftigen Schläge mit dem dünnen Buchenstock auf seinem verlängerten Rücken zu spüren, fühlte sich, wenn er schweißgebadet erwachte, auf den kratzigen Heustapel zurückversetzt, über den er sich für des gestrengen Züchtigungsmeisters erfüllendes Ritual legen musste. Oft genug fragte er sich, ob denn die blöden meckernden Schwarzkopfschafe des passionierten Hobbyzüchters später seinen Angstschweiß im durchgekauten Heu riechen konnten. Immerhin gestand ihm dieser gestrenge Herr mit dem akkurat gescheitelten Weißhaar eine angemessene Schulbildung auf der Realschule zu, obwohl er in seinen Augen als durch die uneheliche Geburt mit dem Kainsmal christlicher Schande in den Augen des evangelikalen ehemaligen Dorfpolizisten für alle Zeiten Gezeichneter doch eher in eines der leider im 20. Jahrhundert abgeschafften Waisenhäuser gehörte. Wenigstens das blieb ihm am Ende erspart, gestand er dem geduldig zuhörenden Pelzträger augenzwinkernd. Seine Mutter sah er, nachdem sie den Anlass ihrer Schande im zarten Alter von acht Monaten bei den Großeltern deponiert hatte, nie wieder. Glaubte er den Aussagen der Großmutter, war seine Erzeugerin zwischenzeitlich mit einem rechtschaffenen Mann, einem Verwaltungsrat, verheiratet und lebte mit diesem und drei weiteren Kindern aus der fruchtbaren und gesegneten Verbindung irgendwo bei Ulm.

Von seiner gruseligen Schulzeit musste er eines Abends den spitz aufgerichteten Ohren seines trotz der aufwühlenden Nachrichten gelassen sitzenden Zuhörers berichten, von Lehrern, die sich anstelle eines Herzens einen Kieselstein einpflanzen ließen, sodass Kinder und Jugendliche alles erwarten konnten, bloß kein wie auch immer geartetes Verständnis bei schwierigen Entwicklungsaufgaben. Wie er sie damals gehasst hatte, diese sich selbstzufrieden wie ein Pädo-Buddha hinter ihrem Schutzpult verschanzenden Pauker, auch wenn es wohl die eine oder andere Ausnahme unter dieser überflüssigen Population geben sollte.

Er selbst kam nie in den Genuss eines wahren Pädagogen vor der Klasse, musste sich mit lebensfremden Existenzen wie Dr. Jürgen Tromme herumplagen, diesem völlig verkorksten, fettleibigen angeblichen Englisch-Experten, der sie vier Stunden in der Woche mit seinem völlig abgehobenen Vokabular überforderte und sich ob ihrer Minderleistungen belustigte. „I took most of my studies at Oxford“ war einer seiner selbstlobenden Standardsätze, was ihn offensichtlich über alle anderen Lehrerkollegen erhob. Und ihn, den Unsichersten seiner Schüler, nahm er sich besonders gerne vor, belustigte sich über seine Leistungen vor der Klasse, quälte ihn beim Vokabelabhören, bis keine Silbe mehr über seine Lippen wollte und er rot wie ein Puter vor den Mitschülern herumstotterte. „Mister Stupid“ pflegte ihn dieser Menschenschinder zu titulieren, wenn er ein weiteres Mal versagt hatte, und die Klasse lachte darüber zur eigenen Entlastung. Noch heute konnte er darüber nicht lachen, lachen über die Tatsache, dass Mister Oxford sich dennoch mit der mittelprächtigen Tätigkeit an einer Realschule abfinden musste. Um diesen offensichtlichen Minderwertigkeitskomplex, verstärkt durch seine dickwanstige Kleinwüchsigkeit von einem Meter und zweiundsechzig, zu kompensieren, mussten die Schülerinnen und Schüler kleingehäckselt werden.

Mit verletzenden Ausbrüchen war neben diesem Minderbegabten auch Musiklehrer Kilsch schnell bei der Hand, dieser Meister des Taktstockes beleidigte, erniedrigte, folterte verbal ununterbrochen, bis Tränen flossen. Besonders auf die Mädchen hatte es dieser eingebildete Klaviervirtuose abgesehen, wenn sie wieder einmal den Ton auf der zwangsverordneten Blockflöte nicht trafen. Tafeltyrannen wie diese durfte man doch nicht auf Kinder loslassen, doch zum Bedauern vieler Schüler gab es eine Vielzahl dieser erbarmungslosen Pultstreichler, sie trotzten mit ihren von den pädagogischen Neandertalern übernommenen Mikroroutinen allen Reformen in der Bildungspolitik und ließen Legionen ihnen ausgelieferter kindlicher Opfer das Bittersüße ihrer Bildung kosten.

Manches Mal, so erinnerte sich der Einsame beim ihn noch immer aufwühlenden Berichten, musste er wie manch anderer auch beim von allen gefürchteten Rektor antanzen, wenn wieder einmal ein Tagebucheintrag wegen Störens oder Leistungsverweigerung eine Standpauke durch den Herrn aller Schülerbespaßer erforderte. Dr. phil. Marius Pfeiler, seines Zeichens und nur durch die aufgeblähte Selbsteinschätzung belegt ein begnadeter Schulleiter und Mathematiker, machte in aller Regel kurzen Prozess mit den auffälligen unter seinen Schützlingen und empfahl ihnen mit dem Wechsel auf die Hauptschule die beste aller Lösungen, meinte mit dieser Reinigung der eigenen Anstalt einen wesentlichen Beitrag gegen den schleichenden Werteverlust in der weichgespülten Gesellschaft zu leisten. Abweichungen von den geltenden Regeln ließ er auch nicht im Ansatz zu, berief sich dabei auf seinen Sportsgeist als mittelmäßiger Hobby-Triathlet und ehemaliger Turner beim TSV Havelsburg. Seine Schüler, so seine Behauptung, behandelte er dabei nicht anders als seine eigenen Kinder, welche, wie aus dem benachbarten Gymnasium kolportiert wurde, daheim ausschließlich mit Heilerde ernährt wurden und sich deshalb bei den wenigen Geburtstagseinladungen mitleidiger oder auch berechnender Mitschüler das dürre Asketenbäuchlein mit Süßigkeiten geradezu vollstopften.

Sobald der Braunbepelzte auf dem sanft wippenden Ast sein abendliches Reinigungsritual mit den gleichmäßig auf und ab streichenden grazilen Vorderpfötchen startete, deutete der Feierabenderzähler diese Zeichen wie immer richtig und wünschte dem neu gewonnenen Freund eine gute Nacht, zog sich in seine Hütte zurück, um das jetzt erforderliche abendliche Feuer im alten Buller-Ofen anzufachen. Die Nächte in diesem Teil der Berge konnten jetzt schon empfindlich frisch werden. Er wusste sich mit dem massenweise auf seinen Touren zusammengetragenen Holzvorrat bestens gerüstet, plante, eventuell den kompletten Winter über hierzubleiben, sofern sein Vermieter sich in der Lage sähe, die besprochenen Lieferungen zu gewährleisten.

Sobald die ersten Flämmchen züngelten, fiel die enorme Anspannung, von der Erinnerung an seine Schulzeit befördert, endlich von ihm ab. Er erkannte immer deutlicher, woher die üblen Träume, die dunklen Ahnungen resultierten. Kindheit und Jugend hinterließen wie bei fast jedem unauslöschbare Narben, die sich wie amputierte Gliedmaßen regelmäßig mit ihrem speziellen Phantomschmerz ins Bewusstsein drängten. Alle trugen ihren Teil zu diesen seelischen Amputationen bei: die gewissenlose Mutter in ihrem jugendlichen Leichtsinn, der sadistische Großvater, die pädagogischen Folterknechte, und ließen ihn ein unauffällig mittelmäßiges Leben für erstrebenswert halten. Er entwickelte zu keiner Zeit Ambitionen für berufliches Fortkommen, schlüpfte geräuschlos in eine distanziert mittelmäßige Ehe, die mehr ein Nebeneinander als ein Miteinander wurde. Die große Liebe, von der so mancher Spielfilm handelte, welchen er sich in der ehelichen Gemeinschaft mit nur einem Fernseher im Häuschen ansehen musste, konnte er nicht finden. Er zwang sich, der nie geliebten Frau angelernte Gefühle wie auf einer Amateurbühne vorzuspielen. Den einzigen wahren Liebesdienst ihrer gesamten Ehezeit erwies er ihr, als sie wegen ihres Brustkrebses im Endstadium nur noch an den Maschinen hing, indem er nach seinem wie täglich stundenlangen Verweilen am Krankenhausbett in Karlsruhe die Nachtinfusion mit einer im Ärztezimmer angesichts der chronischen personellen Unterbesetzung auf der Station mühelos entwendeten Überdosis Insulin anreicherte und sie von ihrer Qual erlöste.

Dem neuen braunbepelzten Freund konnte er das alles erzählen, manches Mal liefen ihm dabei die Tränen wie Sturzbäche in seinen mächtig gesprossenen Vollbart, den er gelernt hatte, hin und wieder mit seinem scharfen Schweizermesser zu stutzen. Alles konnte er bei diesem neuen Freund loswerden, was sonst keiner hören durfte, und mit jedem Mal wurde ihm leichter ums Herz. Erst jetzt verstand er die Katzenliebe seiner verstorbenen Frau. Ihren drei Samtpfoten, zwei Perserkatzen und einer Britisch Kurzhaar, konnte sie ihrerseits alles Bedrückende, Belastende mitteilen, es an diese verständigen Zuhörer abgeben. Erst jetzt verstand er diese ihre Konsequenz aus ihrer an sich sprachfernen, kommunikationsarmen Beziehung. Er wusste und lernte, dass es wichtig war, vor allem sich selbst zu lieben und seinem eigenen Kompass zu folgen, dass dies auch noch im Alter von beinahe sechzig möglich und sinngebend war, wo andere längst aufgegeben hatten. Er konnte sich verändern, auch wenn ihm aus Kindheit und Jugend fast übermenschlicher Ballast an Beziehungsferne, an zwischenmenschlicher Kälte mitgegeben worden war. Wer sich aufgab wie die zahllosen Obdachlosen, denen er auf seiner Monate langen Tour immer wieder begegnet war, sobald er eine Großstadt nicht umgehen konnte, vegetierte nur noch vor sich hin bis zum Erlöschen der biologischen Funktionen. Diese Menschen besaßen noch weniger Widerstandskraft als er selbst, sie atmeten, tranken, schluckten und funktionierten wie eine Amöbe; er dagegen entschied sich endlich zu leben und sich schrittweise der Erkenntnis zu nähern, dem wahren Sitz im Leben, und damit dem göttlichen Prinzip. Über den Buddhismus hatte er gelesen, dass diese Religion nicht von einem Gott als höherem Wesen ausging, nach dessen unumstößlichen Regeln die Menschen zu leben hatten. Diese Religion sah Gott in jedem Menschen, Gott war in jedem Menschen, und es lag an jedem selbst, was er aus dieser Tatsache machen wollte. Das erschien ihm als wahre Transzendenz, wie ein später Auftrag. Je länger er diesen Gedanken nachhing, ob nun beim Gespräch mit seinem Eichkater oder bei der Pilzsuche im Wald, jedes Mal erlebte er einen richtigen Gefühlssturm, selbst wenn er danach einsam in seiner Bretterbude saß und mit sich selbst sprach. Jeder neue Morgen war wie eine Wiedergeburt für den Einsamen, der hier in der Einöde all das fand, worauf er so lange warten musste: Ein selbstbestimmtes Leben.

Flügge werden

Seit Kindergartentagen schienen sie wie eineiige Zwillinge unzertrennlich, entstammten demselben kleinen Winzerörtchen nahe der Kreisstadt, wohnten wie viele Familien auf dem flachen Land mit Eltern und Großeltern nur eine Straßenecke voneinander entfernt. Eng verbunden konnte man sie tagein tagaus erleben, gemeinsam standen sie die diversen, meist oberflächlichen und pädagogisch untauglichen Dressurmaßnahmen diverser Erzieherinnen im evangelischen Kindergarten ebenso durch wie die ambivalenten Versuche ihrer erzieherisch wenig talentierten Eltern, sie in die durch Tradition, Religion, Kultur und Berufsethos der Väter vorgegebene Richtung zu konditionieren. Marco und Oliver waren unzertrennlich, blieben unzertrennlich, traten immer und überall wie die überlebenden beiden Musketiere auf, selbst dann, als das pädagogische Fallbeil für die Zuordnung in die weiterführende Schule sie zu trennen versuchte.

Oliver, der Sohn eines einfachen Metallarbeiters, sollte die örtliche Hauptschule besuchen, während Marco die Empfehlung für das renommierte, nach einem allseits beliebten Lokalhelden benannte Gymnasium in der Kreisstadt erhielt. Ihm als Architektensohn trauten die Superpädagogen der kleinen Dorfschule trotz nahezu identischer Noten eher die erfolgreiche Bewältigung der Bildungsanforderungen zu als Oliver, der im deutlich bildungsfernen Elternhaus nicht die notwendige Unterstützung erwarten durfte. Trennen ließen sie sich trotzdem nicht, waren täglich sofort nach Unterrichtsende wie besagte Zwillinge miteinander verwoben. Mit ihren dunkelbraunen Haaren und der kräftigen Statur, welche den Menschen dieser Region seit Jahrhunderten zu eigen ist, wirkten sie wie Brüder, und wer genau hinsah, konnte in jeder Geste, jedem Blick das abgrundtiefe Vertrauen spüren, das beide zusammenhielt.

Beide spielten Fußball beim örtlichen Sportverein, beide waren talentierte Mittelfeldspieler, konnten im Spiel nach vorne durchaus torgefährlich werden und jeden Gegner beeindrucken. So konnten sie sich zwei Mal in der Woche auch noch nach den ersten Einschränkungen durch Marcos Eltern wegen dessen unbefriedigender Leistungen auf der Eliteschule beim Training sehen, an Wochenenden bei den Spielen. Unter der Woche fanden sie sich, sobald Marco sein deutlich umfangreicheres Pensum an Lernstoff und Hausaufgaben bewältigt und seine Schulsachen nach dem Abgang des Nachhilfelehrers abgelegt hatte, trotz des Protestes der Mütter, irgendwo draußen zusammen, sogar im Winter. Selbst am geheiligten Sonntag, Marco musste die Heilige Messe der katholischen Kirche besuchen, wogegen Oliver in den Gottesdienst der Lutheraner geschickt wurde, fanden sie wenigstens eine Stunde bis zum Mittagessen, um die Köpfe zusammenzustecken, zu tuscheln, zu lachen und sich nahe zu sein.