Mr Gwyn - Alessandro Baricco - E-Book

Mr Gwyn E-Book

Alessandro Baricco

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Beschreibung

Jasper Gwyn, ein berühmter englischer Schriftsteller Anfang vierzig, fasst eines Tages einen weitreichenden Entschluss. In einem Zeitungsartikel listet er 52 Dinge auf, die er fortan nicht mehr zu tun gedenkt, darunter auch: Bücher schreiben. Stattdessen beschließt er, in seinem neuen Leben als "Kopist" zu arbeiten und Porträts anzufertigen - dies allerdings nicht mit Pinsel und Palette, sondern in geschriebener Form. Er mietet ein Atelier an, wo ihm fortan Menschen Modell sitzen, die sich später in seinen Porträts gänzlich wiederfinden werden. Bis eine junge Frau auftaucht, die sich den strengen Regeln des Kopisten entzieht.

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Seitenzahl: 311

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Alessandro Baricco

Mr. Gwyn

Roman

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Hoffmann und Campe

Tout commence par une interruption.

Paul Valéry

Mr. Gwyn

1

Jasper Gwyn machte gerade seinen Gang durch den Regent’s Park – er nahm unter den vielen möglichen immer dieselbe Allee – als ihm plötzlich klar zu Bewusstsein kam, dass das, womit er sich jeden Tag beschäftigte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, nicht mehr zu ihm passte. Der Gedanke war ihm schon mehrmals flüchtig gekommen, doch nie zuvor in dieser Reinheit und mit so großer Anmut.

Also setzte er sich zu Hause hin und schrieb einen Artikel, den er dann ausdruckte, in einen Umschlag steckte und persönlich quer durch die Stadt in die Redaktion des Guardian brachte. Dort kannte man ihn. Gelegentlich arbeitete er für die Zeitung. Er bat darum, mit der Veröffentlichung des Artikels eine Woche zu warten, falls das möglich sei.

Der Artikel bestand aus einer Liste von zweiundfünfzig Dingen, die Jasper Gwyn nie mehr zu tun beabsichtigte. An erster Stelle stand, Artikel für den Guardian schreiben. An dreizehnter, Selbstsicherheit bei der Begegnung mit Schulklassen vortäuschen. Nummer einunddreißig war, sich mit der Hand am Kinn in nachdenklicher Pose fotografieren lassen. Nummer siebenundvierzig, sich bemühen, höflich zu Kollegen zu sein, die er in Wirklichkeit verachtete. An letzter Stelle stand: Bücher schreiben. In gewisser Weise machte dieser Vorsatz den vagen Hoffnungsschimmer zunichte, den der vorletzte hinterlassen haben mochte: Bücher veröffentlichen.

Man muss dazusagen, dass Jasper Gwyn damals ein in England recht populärer und im Ausland leidlich bekannter Autor war. Er hatte vor zwölf Jahren mit einem Krimi begonnen, der zur Zeit des Thatcherismus in Wales auf dem Land spielte: Es ging um Fälle mysteriösen Verschwindens. Drei Jahre später hatte er einen kurzen Roman über zwei Schwestern veröffentlicht, die einander nie wiedersehen wollen. Etwa hundert Seiten lang versuchen sie, ihren bescheidenen Wunsch in die Tat umzusetzen, was sich aber als unmöglich herausstellt. Das Buch endet mit einer meisterhaften Szene auf einer Hafenmole im Winter. Nach einem kleinen Essay über Chesterton und zwei Erzählungen, die in verschiedenen Anthologien erschienen, beendete ein dritter, fünfhundert Seiten langer Roman das Werk von Jasper Gwyn. Es war die gelassene Lebensbeichte eines betagten Olympiasiegers im Fechten, ehemals Marinekapitän und Moderator von Varietéprogrammen im Radio. Der in der ersten Person geschriebene Roman mit dem Titel Wenn die Scheinwerfer erlöschen begann mit diesem Satz: »Oft habe ich über das Säen und das Ernten nachgedacht.«

Wie von vielen bemerkt wurde, unterschieden diese drei Romane sich so stark voneinander, dass man sie schwerlich als Erzeugnisse ein und desselben Verfassers erkennen konnte. Ein ziemlich sonderbares Phänomen, aber es hatte Jasper Gwyn nicht daran gehindert, binnen kurzer Zeit zu einem Schriftsteller zu werden, der beim Publikum anerkannt war und von einem Großteil der Kritik geschätzt wurde. Sein Talent als Erzähler stand ohnehin außer Frage, doch besonders verblüffte die Leichtigkeit, mit der er sich in Menschen hineinversetzen und ihre Gefühle beschreiben konnte. Er schien die Worte zu wissen, die jeder sagen würde, und jedermanns Gedanken im Voraus zu denken. Kein Wunder, dass es damals viele gab, die ihm ganz selbstverständlich eine glänzende Karriere vorhersagten.

Doch im Alter von dreiundvierzig Jahren schrieb Jasper Gwyn einen Artikel für den Guardian, in dem er zweiundfünfzig Dinge aufzählte, die er von dem Tag an nie mehr tun würde. Und das letzte war: Bücher schreiben.

Seine glänzende Karriere war bereits zu Ende.

2

An dem Morgen, als der Artikel im Guardian erschien – als großer Aufmacher in der Sonntagsbeilage –, weilte Jasper Gwyn in Spanien, in Granada. Unter den gegebenen Umständen war es ihm angebracht erschienen, einen gewissen Abstand zwischen sich und die Welt zu legen. Das kleine Hotel, das er sich ausgesucht hatte, war so bescheiden, dass die Zimmer nicht einmal ein Telefon hatten, darum musste an diesem Morgen jemand zu ihm heraufkommen, um ihm mitzuteilen, dass es einen Anruf für ihn gab, unten, am Eingang. Er ging im Schlafanzug hinunter und näherte sich widerwillig einem alten, gelb lackierten Telefon auf einem Korbtischchen. Die Stimme, die er vernahm, als er den Hörer ans Ohr hielt, war die von Tom Bruce Shepperd, seinem Agenten.

»Was ist das denn für eine Geschichte, Jasper?«

»Welche Geschichte?«

»Die zweiundfünfzig Dinge. Ich hab’s heute Morgen gelesen, Lottie hat mir die Zeitung ans Bett gebracht. Fast hätte ich einen Herzschlag gekriegt.«

»Vielleicht hätte ich es dir vorher sagen sollen.«

»Erzähl mir nicht, dass das dein Ernst ist. Soll das eine Provokation sein, eine Anklage, was zum Teufel ist das?«

»Nichts, bloß ein Artikel. Aber es ist alles wahr.«

»Was heißt das?«

»Es heißt, dass ich es ernst meine; was da steht, ist genau das, was ich beschlossen habe.«

»Willst du mir damit sagen, dass du aufhörst zu schreiben?«

»Ja.«

»Bist du verrückt geworden?«

»Hör zu, ich muss jetzt Schluss machen.«

»Warte einen Moment, Jasper, wir müssen drüber reden, wenn du nicht mit mir darüber redest, deinem Agenten …«

»Es gibt nichts hinzuzufügen, ich werde von nun an nicht mehr schreiben, das ist alles.«

»Weißt du was, Jasper, hörst du mir zu? Weißt du was?«

»Ja, ich höre dir zu.«

»Gut, dann pass mal auf, diesen Satz, den habe ich schon Dutzende Male gehört, den haben mir schon so viele Schriftsteller gesagt, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele. Sogar von Martin Amis hab ich ihn schon gehört, glaub mir! Es mag vor etwa zehn Jahren gewesen sein, Martin Amis hat mir genau dieselben Worte gesagt, ich höre auf zu schreiben, und das ist nur ein Beispiel, ich könnte dir zwanzig weitere nennen, soll ich dir eine Liste machen?«

»Das ist nicht nötig, glaube ich.«

»Und soll ich dir was sagen? Nicht einer von denen hat wirklich aufgehört, das gibt es nicht, aufhören.«

»Ist ja gut, aber jetzt muss ich wirklich auflegen, Tom.«

»Nicht einer.«

»Ja, okay.«

»Jedenfalls ein guter Artikel.«

»Danke.«

»Der mischt den Betrieb mal ordentlich auf.«

»Bitte sag so was nicht.«

»Was?«

»Egal. Ich lege jetzt auf.«

»Ich erwarte dich in London, wann kommst du zurück? Lottie würde sich wahnsinnig freuen, dich zu sehen.«

»Ich lege jetzt auf, Tom.«

»Mach keine Witze, Kumpel.«

»Ich habe aufgelegt, Tom.«

Den letzten Satz sagte er, nachdem er aufgelegt hatte, darum hörte Tom Bruce Shepperd ihn nicht mehr.

3

Jasper Gwyn blieb zweiundsechzig Tage in dem kleinen spanischen Hotel, eine angenehme Zeit. Als es ans Bezahlen der Rechnung ging, waren unter den Extrakosten zweiundsechzig Tassen kalte Milch, zweiundsechzig Gläser Whisky, zwei Telefonate, eine gesalzene Rechnung der Wäscherei (hundertneunundzwanzig einzelne Posten) und der Kauf eines Transistorradios verzeichnet – was einen gewissen Eindruck von seinen Neigungen vermitteln mag.

Aufgrund der Entfernung und seiner Isolation musste Jasper Gwyn sich während des gesamten Aufenthalts in Granada nicht mehr mit seinem Artikel auseinandersetzen, außer gelegentlich im Selbstgespräch. Eines Tages allerdings geschah es, dass ihm eine junge Frau aus Slowenien begegnete und sich im Garten eines Museums eine angenehme Unterhaltung zwischen ihnen entspann. Sie war geistreich und selbstsicher, sprach recht gut Englisch. Sie arbeite an der Universität von Ljubljana, sagte sie, am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte. In Spanien war sie, um dort zu recherchieren, sie arbeitete an der Geschichte einer italienischen Adeligen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach Reliquien durch ganz Europa gereist war.

»Wissen Sie, der Handel mit Reliquien war zu jener Zeit ein Hobby bestimmter Kreise der katholischen Aristokratie«, erklärte sie.

»Wirklich?«

»Wenige wissen davon, aber es ist eine faszinierende Geschichte.«

»Erzählen Sie mir die Geschichte.«

Sie aßen zusammen zu Abend, und nachdem die Frau aus Slowenien lange über Schienbeine und Fingerglieder von Märtyrern gesprochen hatte, erzählte sie beim Dessert von sich selbst, besonders davon, wie glücklich sie sich schätzte, als Forscherin zu arbeiten, ein wunderbarer Beruf, meinte sie. Sie fügte hinzu, natürlich sei »das ganze Umfeld« entsetzlich, die Kollegen, der Ehrgeiz, die Mittelmäßigkeit, die Heuchelei, alles. Aber sie sagte auch, von einer Handvoll armer Idioten werde sie sich die Lust am Forschen und Schreiben nicht nehmen lassen.

»Es freut mich, das von Ihnen zu hören«, bemerkte Jasper Gwyn.

Da fragte ihn die Frau, welchen Beruf er habe. Jasper Gwyn zögerte einen Augenblick, dann behalf er sich mit einer Halbwahrheit. Er sagte, er habe zwölf Jahre lang als Raumausstatter gearbeitet, aber vor zwei Wochen habe er damit aufgehört. Der Frau schien das leidzutun, sie fragte, aus welchem Grund er eine Arbeit aufgegeben habe, die sie sich immer als sehr befriedigend vorgestellt habe. Jasper Gwyn machte eine vage Handbewegung. Dann sagte er einen unverständlichen Satz.

»Eines Tages habe ich erkannt, dass mir nichts mehr wichtig war und dass mich alles tödlich beleidigte.«

Die Frau schien neugierig geworden, doch Jasper Gwyn lenkte das Gespräch geschickt auf andere Themen, indem er beiläufig die dumme Angewohnheit erwähnte, Teppichboden ins Bad zu legen, und sich dann über die Überlegenheit der südlichen Kulturen verbreitete, die daher rührte, dass sie die genaue Bedeutung des Wortes Licht kannten.

Viel später an diesem Abend verabschiedeten sie sich, doch weil sie es langsam taten, hatte die Frau aus Slowenien Zeit genug, die geeigneten Worte zu finden, um zu sagen, dass es schön wäre, wenn sie die Nacht gemeinsam verbrächten.

Jasper Gwyn war da nicht so sicher, aber er folgte ihr in ihr Hotelzimmer. Später erwies es sich geheimnisvollerweise als unproblematisch, ihre Eile und seine Vorsicht in einem spanischen Bett zu vermischen.

Zwei Tage später, als die Frau aus Slowenien abreiste, überließ Jasper Gwyn ihr eine von ihm zusammengestellte Liste mit dreizehn schottischen Whiskymarken.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Schöne Namen. Ich schenke sie dir.«

Jasper Gwyn verbrachte noch sechzehn Tage in Granada. Dann reiste auch er ab. In dem kleinen Hotel vergaß er drei Hemden, einen einzelnen Strumpf, einen Spazierstock mit Knauf aus Elfenbein, ein Sandelholzduftbad und zwei Telefonnummern, die mit Filzstift auf den Duschvorhang aus Plastik geschrieben waren.

4

Zurück in London verbrachte Jasper Gwyn die ersten Tage damit, ausdauernd, ja besessen durch die Straßen der Stadt zu gehen, begleitet von der wohltuenden Gewissheit, unsichtbar geworden zu sein. Da er aufgehört hatte zu schreiben, fühlte er sich nicht mehr als öffentliche Person – jetzt, wo er wieder ein Jedermann geworden war, gab es keinen Grund mehr, warum die Leute ihn bemerken sollten. Er begann seine Kleidung zu vernachlässigen und tat viele kleine Alltagsdinge ohne das Gefühl, jederzeit präsentabel sein zu müssen, falls ein Leser ihn plötzlich erkennen würde. Eine bestimmte Haltung an der Theke des Pubs einnehmen, zum Beispiel. Ohne Fahrkarte im Bus fahren. Allein bei McDonald’s essen. Gelegentlich erkannte ihn jemand, dann leugnete er, der zu sein, der er war.

Es gab noch eine Menge anderer Dinge, mit denen er sich nicht mehr beschäftigen musste. Er war wie eines jener Pferde, die, nachdem der Jockey abgeschüttelt ist, versonnen im leichten Trab umkehren, während die anderen sich abkämpfen, bis ihnen die Brust zerspringt, um das Ziel und irgendeine Reihenfolge beim Ziellauf zu erreichen. Dieser seelische Zustand war unendlich lustvoll. Wenn sein Blick zufällig auf einen Zeitungsartikel oder das Schaufenster einer Buchhandlung fiel, die ihn an die Gefechte erinnerten, aus denen er sich soeben zurückgezogen hatte, spürte er, wie ihm das Herz leicht wurde, und ihn erfüllte die Samstagnachmittagstrunkenheit eines Kindes. Seit Jahren hatte er sich nicht mehr so wohl gefühlt.

Auch darum schob er es ein wenig hinaus, sein neues Leben auszuloten, und verlängerte diese persönliche Ferienatmosphäre ein wenig. Während des Aufenthalts in Spanien war der Gedanke gereift, in den Beruf zurückzukehren, den er vor dem Romanschreiben ausgeübt hatte. Das wäre nicht schwierig gewesen, nicht einmal unangenehm. Er sah darin sogar eine gewisse formale Eleganz, eine Art strophischen Verlauf, wie bei einer Ballade. Doch nichts drängte Jasper Gwyn, diese Rückkehr zu beschleunigen, denn er lebte allein, hatte keine Familie, gab wenig Geld aus und hätte, sogar ohne morgens aufzustehen, mindestens ein paar Jahre lang unbesorgt leben können. Darum vertagte er die Sache, um sich Zufallstätigkeiten und lang hinausgezögerten Aufgaben zu widmen.

Er warf alte Zeitungen weg. Setzte sich in Züge mit unbekanntem Ziel.

5

Nun geschah es allerdings, dass er, während die Tage vergingen, ein eigentümliches Unbehagen verspürte, welches er anfangs kaum verstehen und erst nach einer Weile deuten konnte: So unangenehm es auch war, sich das eingestehen zu müssen, er vermisste den Akt des Schreibens, die tägliche Sorgfalt, mit der Gedanken in der geradlinigen Form eines Satzes angeordnet wurden. Das hatte er nicht erwartet, und es stimmte ihn nachdenklich. Es war eine kleine Verstimmung, die sich jeden Tag wiederholte und schlimmer zu werden drohte. Darum fragte sich Jasper Gwyn, ob es nicht angebracht wäre, unbedeutende Beschäftigungen in Betracht zu ziehen, die ihm erlauben würden, die Tätigkeit des Schreibens auszuüben, ohne dass dies notwendigerweise die sofortige Rückkehr zu den zweiundfünfzig Dingen bedeutet hätte, die er, seinem Vorsatz gemäß, nie mehr tun wollte.

Reiseführer, sagte er sich. Doch dann hätte er reisen müssen.

Er dachte an die Verfasser von Gebrauchsanweisungen für Haushaltsgeräte und fragte sich, ob es irgendwo auf der Welt noch den Beruf gab, Briefe für jene zu schreiben, die das nicht konnten.

Übersetzer, dachte er. Aber aus welcher Sprache?

Zuletzt war das Einzige, was ihm klar vor Augen stand, ein Wort: Kopist. Als Kopist zu arbeiten würde ihm gefallen. Es war kein richtiger Beruf, das war ihm bewusst, doch das Wort hatte einen Nachhall, der ihn überzeugte und in dem Glauben bestärkte, dass er etwas Konkretes gefunden hatte. Es vermittelte Diskretion und Geduld – eine Mischung aus Bescheidenheit und Feierlichkeit. Nichts anderes würde er sein wollen als das: Kopist. Er war überzeugt, dass er das sehr gut konnte.

Während Jasper Gwyn sich vorzustellen versuchte, was in der wirklichen Welt dem Wort Kopist entsprechen könnte, ließ er viele Tage vorübergleiten, einen nach dem anderen, scheinbar schmerzlos. Er bemerkte sie fast gar nicht.

6

Von Zeit zu Zeit kamen Verträge an, die er unterschreiben musste, sie betrafen die Bücher, die er früher geschrieben hatte. Neuauflagen, Übersetzungen, Bearbeitungen fürs Theater. Er ließ die Verträge auf dem Tisch liegen, und schließlich wurde ihm klar, dass er sie niemals unterzeichnen würde. Eine leichte Verstörung löste die Erkenntnis aus, dass er nicht nur keine Bücher mehr schreiben wollte, sondern sie in gewisser Weise auch nie hatte schreiben wollen. Das heißt, es hatte ihm zwar gefallen, sie zu verfassen, aber er wünschte sich keineswegs, sie würden seine Entscheidung, einen Schlusspunkt zu setzen, überleben, im Gegenteil, es ärgerte ihn, dass sie aus eigener Kraft dorthin gingen, wo er sich vorgenommen hatte, nie mehr einen Fuß hinzusetzen. Er begann, die Verträge wegzuwerfen, ohne sie zu öffnen. Manchmal leitete Tom Briefe von Bewunderern an ihn weiter, die ihm höflich für eine bestimmte Stelle oder diese eine besondere Geschichte dankten. Sogar das machte ihn nervös, und er konnte nicht umhin, festzustellen, dass keiner von ihnen auf sein Schweigen anspielte – sie schienen nichts davon zu wissen. Ein paar Mal machte er sich die Mühe, zu antworten. Er bedankte sich seinerseits mit schlichten Worten. Dann teilte er mit, dass er aufgehört habe, zu schreiben, und schloss mit freundlichen Grüßen.

Es entging ihm nicht, dass niemand auf diese Briefe antwortete.

Immer häufiger jedoch machte sich jenes Bedürfnis zu schreiben bemerkbar, und er vermisste die tägliche Sorgfalt, mit der Gedanken in der geradlinigen Form eines Satzes angeordnet wurden. Unwillkürlich begann er, diesen Mangel mit einer eigenen, privaten Liturgie auszugleichen, die einer gewissen Schönheit nicht zu entbehren schien: Er schrieb im Geist, während er spazieren ging oder bei gelöschtem Licht im Bett lag und auf den Schlaf wartete. Er wählte Worte, baute Sätze. Es kam vor, dass er tagelang einer bestimmten Idee folgend fortfuhr, bis er ganze Seiten im Kopf geschrieben hatte, die er dann gern wiederholte, manchmal laut deklamierend. Ebenso gut hätte er mit den Fingerknöcheln knacken oder gymnastische Übungen machen können, immer dieselben. Es war etwas Körperliches. Es gefiel ihm.

Einmal schrieb er auf diese Weise eine ganze Partie Poker. Einer der Spieler war ein Kind.

Besonders gern schrieb er, während er im Waschsalon wartete, umgeben von sich drehenden Trommeln, im Rhythmus der zerstreut durchblätterten Illustrierten auf den übereingeschlagenen Beinen von Frauen, deren Wunschvorstellungen sich auf die Zierlichkeit ihrer Fußfesseln zu beschränken schienen. Eines Tages schrieb er dort im Geist einen Dialog zwischen zwei Liebenden, in dem der Mann erklärte, dass er schon seit seiner Kindheit die merkwürdige Fähigkeit habe, nur dann von Menschen zu träumen, wenn er in einem Bett mit ihnen schlafe, und zwar genau dann, wenn er neben ihnen schlafe.

»Du meinst, du träumst nur von denen, die in deinem Bett sind?«, fragte die Frau.

»Ja.«

»Was ist das denn für ein Blödsinn?«

»Keine Ahnung.«

»Wenn jemand nicht in deinem Bett ist, träumst du also nicht von ihm.«

»Niemals.«

Genau in dem Moment war im Waschsalon ein recht elegant gekleidetes, dickes Mädchen auf ihn zugekommen und hatte ihm ein Mobiltelefon gereicht.

»Es ist für Sie«, hatte sie gesagt.

Jasper Gwyn hatte das Telefon genommen.

7

»Jasper! Vergiss den Weichspüler nicht!«

»Hallo, Tom.«

»Störe ich?«

»Ich habe gerade geschrieben.«

»Volltreffer!«

»Nicht in dem Sinn.«

»War mir gar nicht bekannt, dass es da unterschiedliche Interpretationen gibt, wenn einer Schriftsteller ist, schreibt er, ganz einfach. Ich hab’s dir ja gesagt, keiner schafft es, wirklich aufzuhören.«

»Tom, ich bin in einem Waschsalon.«

»Ich weiß, da bist du immer. Und zu Hause gehst du nicht ans Telefon.«

»Man schreibt keine Bücher im Waschsalon, das weißt du, jedenfalls würde ich sie dort nicht schreiben.«

»Du nervst. Los, pack aus. Was ist es, eine Erzählung?«

Seine Unterwäsche war noch im Vorwaschgang, und niemand blätterte in Illustrierten. Also konnte er versuchen, es zu erklären. Er erzählte Tom Bruce Shepperd, dass es ihm Spaß mache, Worte in einer Reihe anzuordnen und Sätze zu verschachteln. Genauso gut könne er seine Finger knacken lassen. Er tue das im Geist. Es entspanne ihn.

»Super! Ich komme, du sprichst, ich nehme es auf, und das Buch ist fertig. Du wärst nicht der Erste, der das so macht.«

Jasper Gwyn erklärte ihm, dass es nicht einmal Geschichten waren, es seien Bruchstücke ohne ein Vorher und Danach – es sei schon viel, sie als Szenen zu bezeichnen.

»Genial. Den Titel habe ich schon.«

»Sag ihn nicht.«

»Szenen aus Büchern, die ich nie schreiben werde.«

»Du hast ihn gesagt.«

»Rühr dich nicht vom Fleck, ich erledige noch kurz was, dann bin ich da.«

»Tom.«

»Was gibt’s, Kumpel?«

»Wer ist diese elegante Frau?«

»Rebecca? Sie ist neu, sehr tüchtig.«

»Was tut sie noch, außer Mobiltelefone in Waschsalons zu bringen?«

»Sie lernt, mit irgendwas muss man ja schließlich anfangen.«

Wenn es etwas gab, was er bedauerte an seiner Entscheidung, kein Schriftsteller mehr zu sein, dachte Jasper Gwyn, dann war es, dass er keinen Grund mehr haben würde, mit Tom Bruce Shepperd zusammenzuarbeiten. Eines Tages würde Tom aufhören, ihn mit Telefonaten zu verfolgen, und das würde ein schlechter Tag sein. Er fragte sich, ob er Tom das nicht vielleicht sagen sollte. Hier, im Waschsalon. Dann kam ihm eine bessere Idee.

Er machte das Handy aus und winkte der dicken jungen Frau, die sich aus Höflichkeit ein paar Schritte entfernt hatte. Er bemerkte, dass ihr Gesicht sehr schön war, ansonsten hielt sie den Schaden mit geschickt gewählter Kleidung in Grenzen. Er fragte sie, ob sie Tom etwas von ihm ausrichten könne.

»Natürlich.«

»Dann seien Sie so nett und sagen Sie ihm, dass er mir fehlen wird.«

»Natürlich.«

»Was ich meine, ist, dass er früher oder später aufhören wird, mir überall, wo ich bin, auf die Nerven zu gehen. Dann werde ich die gleiche Erleichterung verspüren, die man verspürt, wenn in einem Raum der Motor des Kühlschranks ausgeht, aber auch das gleiche unvermeidliche Erschrecken und das Gefühl, das Sie sicher kennen, nicht genau zu wissen, was man mit dieser plötzlichen Stille anfangen soll und ihr vielleicht nicht gewachsen zu sein. Glauben Sie, Sie haben verstanden?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Soll ich es wiederholen?«

»Vielleicht sollte ich mir Notizen machen.«

Jasper Gwyn schüttelte den Kopf. Zu kompliziert, dachte er. Er klappte das Mobiltelefon wieder auf und hörte Toms Stimme. Wie diese Dinger genau funktionierten, würde er niemals verstehen.

»Tom, sei mal einen Moment ruhig.«

»Jasper?«

»Ich möchte dir was sagen.«

»Schieß los.«

Er sagte es ihm. Auch das mit dem Kühlschrank und alles andere. Tom Bruce Shepperd hustete und schwieg ein paar Sekunden, was er sonst nie tat.

Dann ging die junge Frau, und sie hatte diesen leicht wiegenden Seemannsschritt, mit dem die Dicken gehen, doch davor lächelte sie Jasper Gwyn zum Abschied zu, mit einem strahlenden Licht in den Augen, schönen Lippen und weißen Zähnen.

8

Dennoch kam ihm der Winter in diesem Jahr sinnlos lang vor, und dass er sehr früh am Morgen erwachte, schlaflos, vor den Fenstern die Dunkelheit, begann ihn zu kränken.

Eines Tages, es war kalt und regnete, saß er im Wartesaal einer Ambulanz mit einen Nummernzettel in der Hand – er hatte den Arzt überzeugen können, ihm Kontrolluntersuchungen zu verschreiben, gab vor, es gehe ihm nicht besonders gut. Neben ihn setzte sich eine Dame mit einem vollen Einkaufswagen und einem tropfnassen Regenschirm, der andauernd umfiel. Eine alte Dame mit einer Regenhaube auf dem Kopf. Sie nahm sie ab, und in der Art, wie sie ihren Haaren einen leichten Stubs versetzte, lag der Rest einer Verführung, die vor vielen Jahren aufgegeben worden war. Ihr Schirm fiel jedoch weiterhin nach allen Seiten um.

»Darf ich Ihnen helfen?«, fragte Jasper Gwyn.

Die Frau sah ihn an, dann sagte sie, dass es in Ambulanzen an Regentagen Schirmständer geben sollte. Wenn die Sonne wieder scheint, fügte sie hinzu, müsste man sie lediglich wegstellen.

»Ein vernünftiger Gedanke«, sagte Jasper Gwyn.

»Natürlich ist er das«, sagte die Frau.

Sie nahm den Schirm und legte ihn auf den Boden. Er sah aus wie ein Pfeil oder die Grenze von etwas. Um ihn herum bildete sich langsam eine Pfütze.

»Sind Sie Jasper Gwyn oder nur jemand, der ihm ähnlich sieht?«, fragte die Frau. Währenddessen suchte sie nach etwas Kleinem in ihrer Tasche. Ihre Hände wühlten noch am Taschenboden, als sie die Augen hob, um sich zu vergewissern, dass er die Frage gehört hatte.

Jasper Gwyn hatte diese Frage nicht erwartet, also sagte er, ja, er sei Jasper Gwyn.

»Bravo«, sagte die Frau, als hätte er eine Quizfrage richtig beantwortet. Dann sagte sie, dass die Szene auf der Hafenmole in Schwestern das Schönste sei, was sie in den letzten Jahren gelesen habe.

»Danke«, sagte Jasper Gwyn.

»Und auch der Brand in der Schule, am Anfang von dem anderen Buch, diesem langen, der Brand in der Schule ist perfekt.«

Wieder hob sie die Augen zu Jasper Gwyn.

»Ich war Lehrerin«, erklärte sie.

Sie holte ein paar Bonbons aus ihrer Tasche, runde Bonbons mit Zitrusfruchtgeschmack, und bot sie Jasper Gwyn an.

»Danke, nein, wirklich nicht«, sagte er.

»Stellen Sie sich doch nicht so an!«, sagte sie.

Er lächelte und nahm ein Bonbon.

»Dass sie auf dem Boden meiner Tasche herumliegen, heißt nicht, dass sie eklig sind.«

»Natürlich nicht.«

»Trotzdem habe ich bemerkt, dass die Leute zu dieser Ansicht neigen.«

Genauso ist es, dachte Jasper Gwyn, einem Bonbon, das am Boden einer Tasche gefunden wurde, trauen die Leute nicht.

»Ich glaube, es ist das gleiche Phänomen wie das leise Misstrauen, das die Leute bei Waisenkindern haben«, sagte er.

Die Frau blickte ihn überrascht an.

»Oder beim letzten Wagen der U-Bahn«, sagte sie mit einer seltsamen Fröhlichkeit in der Stimme.

Sie wirkten wie zwei, die als Kinder zusammen auf der Schule waren und jetzt die Nachnamen ihrer Klassenkameraden aus sehr weiten Fernen heraufholten. Ein Augenblick der Stille zwischen ihnen verging wie ein Zauber.

Dann fingen sie wieder an zu plaudern, und als eine Krankenschwester kam und vermeldete, Mr. Gwyn sei an der Reihe, sagte Jasper Gwyn, im Moment könne er wirklich nicht.

»Sie verlieren Ihren Platz auf der Warteliste«, sagte die Krankenschwester.

»Das macht nichts. Ich kann morgen wiederkommen.«

»Wie Sie meinen«, sagte die Krankenschwester frostig. Dann rief sie laut nach einem gewissen Mr. Flewer.

Der Frau mit dem Regenschirm erschien das ganz normal.

Schließlich sahen sie sich allein im Wartesaal sitzen, und da sagte die Frau, es sei wirklich Zeit zu gehen. Jasper Gwyn fragte sie, ob bei ihr keine Untersuchung oder so etwas anstehe. Aber sie sagte, sie komme hierher, weil es hier warm sei und die Ambulanz genau in der Mitte zwischen dem Supermarkt und ihrer Wohnung liege. Außerdem betrachte sie gern die Gesichter der Menschen, die sich nüchtern Blut abnehmen lassen mussten. Sie sehen aus wie Menschen, denen man etwas gestohlen hat, sagte sie. Stimmt genau, bestätigte Jasper Gwyn.

Er begleitete sie nach Hause und hielt den aufgespannten Schirm über sie, weil sie ihren Einkaufswagen nicht loslassen wollte, und auf dem Weg setzten sie ihre Unterhaltung fort, bis die Frau ihn fragte, was er gerade schreibe, und er sagte: Nichts. Die Frau ging eine Weile stumm weiter. Schade, sagte sie dann in einem so aufrichtig bedauernden Tonfall, dass es Jasper Gwyn schmerzte.

»Sind Ihnen die Ideen ausgegangen?«, fragte sie.

»Nein, das nicht.«

»Was ist es dann?«

»Ich möchte gern einen anderen Beruf ausüben.«

»Zum Beispiel?«

Jasper Gwyn blieb stehen.

»Ich glaube, es würde mir gefallen, ein Kopist zu sein.«

Die Frau dachte eine Weile darüber nach. Dann ging sie weiter.

»Ja, das kann ich verstehen«, sagte sie.

»Wirklich?«

»Ja. Das ist eine schöne Arbeit, Kopist.«

»Das habe ich mir auch gedacht.«

»Es ist eine saubere Arbeit«, sagte sie.

Sie verabschiedeten sich auf der Treppe, die zu ihrem Haus führte, und keiner der beiden kam auf die Idee, Telefonnummern zu tauschen oder ein nächstes Mal zu erwähnen. Irgendwann sagte sie nur, der Gedanke, dass sie kein Buch mehr von ihm lesen werde, stimme sie traurig. Sie fügte hinzu, nicht jeder sei fähig, sich so in die Köpfe der Menschen hineinzuversetzen wie er, und es sei schade, wenn sein Talent in einer Garage eingeschlossen würde, um einmal im Jahr poliert zu werden wie ein Oldtimer-Sportwagen. Genau dieses Wort gebrauchte sie, ein Oldtimer-Sportwagen. Dann schien sie fertig zu sein, doch etwas hatte sie noch zu sagen.

»Kopist sein bedeutet, etwas zu kopieren, nicht wahr?«

»Wahrscheinlich.«

»Dachte ich mir. Aber keine notariellen Urkunden oder Zahlen, bitte.«

»Ich werde versuchen, das zu vermeiden.«

»Sehen Sie zu, dass Sie etwas in der Art finden, wie Menschen kopieren.«

»Ja.«

»So wie sie sind.«

»Ja.«

»Das wird Ihnen gut gelingen.«

»Ja.«

9

Es war vielleicht ein Jahr, anderthalb Jahre nach dem Artikel im Guardian, als Jasper Gwyn begann, von Zeit zu Zeit unter einem Unwohlsein zu leiden, das er nur als eine plötzliche Auflösung beschreiben konnte. Es kam vor, dass er sich von außen sah – so erzählte er – oder dass er nichts mehr genau wahrnehmen konnte außer sich selbst. Manchmal war das durchaus verstörend. Eines Tages musste er in ein Telefonhäuschen gehen und mühsam Toms Nummer wählen. Stotternd sagte er, er wisse nicht mehr, wo er sei.

»Keine Angst, ich schicke Rebecca, die holt dich ab. Wo bist du?«

»Das ist das Problem, Tom.«

Es endete damit, dass das dicke Mädchen das ganze Viertel mit dem Auto durchkämmen musste, bis es ihn fand. Unterdessen blieb Jasper Gwyn in der Kabine, wo er krampfhaft den Hörer umklammerte und versuchte, nicht zu sterben. Um sich abzulenken, sprach er ins Telefon – so improvisierte er einen Anrufer, der gegen das Abstellen der Wasserleitung protestierte, niemand habe ihn vorher benachrichtigt, und dadurch seien ihm große wirtschaftliche und moralische Schäden entstanden. Immer wieder sagte er: Muss ich warten, bis es regnet, um mir die Haare zu waschen?

Als Jasper Gwyn in das Auto des dicken Mädchens gestiegen war, fühlte er sich schlagartig besser.

Während er sich entschuldigte, konnte er den Blick nicht von ihren fleischigen Händen abwenden, die das Sportlenkrad festhielten, nein, das Verb traf es nicht. Da fehlt der Zusammenhang, dachte er, und das musste die Erfahrung sein, die dieses Mädchen in jedem einzelnen Augenblick des Tages mit ihrem eigenen Körper machte – dass zwischen ihm und allem anderen kein Zusammenhang bestand.

Doch sie lächelte ihr schönes Lächeln und sagte, sie fühle sich geehrt, ihm behilflich sein zu können. Übrigens, fügte sie hinzu, sei ihr das auch schon passiert, es habe eine Zeit gegeben, in der es ihr oft auf diese Weise schlecht gegangen sei.

»Ganz plötzlich dachten Sie, Sie müssten sterben?«

»Ja.«

»Und was hat Sie geheilt?«, fragte Jasper Gwyn, der mittlerweile jeden um Ratschläge für eine Behandlung angefleht hätte.

Das Mädchen lächelte wieder, dann schwieg es eine Zeitlang, während sie auf die Straße achtete.

»Nein, tut mir leid«, sagte sie schließlich, »das ist meine Privatsache.«

»Natürlich«, sagte Jasper Gwyn.

Sie wickelten sich. Das war wahrscheinlich das richtige Verb. Sie wickelten sich um das Sportlenkrad.

10

In den darauffolgenden Tagen bemühte sich Jasper Gwyn, Ruhe zu bewahren, und seine Versuche, ein heilendes Mittel für die immer häufiger auftretenden Anfälle zu finden, führten dazu, dass er sich einer Übung anvertraute, die er in einem Film gesehen hatte. Sie bestand darin, sehr langsam zu leben, indem man sich auf jede einzelne Handlung konzentrierte. Als Regel mag das ziemlich allgemein klingen, doch Jasper Gwyn befolgte sie auf eine Weise, die sie überraschend konkret machte. So zog er sich die Schuhe an, indem er sie zuvor eingehend betrachtete, ihre schöne Leichtigkeit erwog und die nachgiebige Weichheit des Leders würdigte. Beim Binden der Schnürsenkel war er darauf bedacht, sich nicht zu automatischen Gesten verleiten zu lassen, und beobachtete aufmerksam die eleganten Bewegungen seiner Finger, voller Bewunderung für die Sicherheit, mit der sie harmonischen Gesetzmäßigkeiten folgten. Dann erhob er sich und vergaß bei den ersten Schritten nicht wahrzunehmen, wie fest der Schuh sich um den Fußrücken schloss. Gleichzeitig konzentrierte er sich auf Geräusche, die man gewöhnlich als selbstverständlich hinnimmt, und hörte so wieder das Schnappen eines Schlosses, die Heiserkeit von Klebeband oder das leiseste Knirschen von Scharnieren. Lange Zeit gefiel es ihm, Farben wahrzunehmen, auch dann, wenn das nicht den geringsten Nutzen hatte, und besonders achtete er darauf, die zufälligen Farbpaletten zu bewundern, die sich durch die Verteilung von Gegenständen im Raum ergaben – egal ob im Inneren einer Schublade oder auf einem Parkplatz. Oft zählte er die Dinge auf seinem Weg – Stufen, Laternen, Schreie – und kontrollierte Oberflächen mit den Fingern, wobei er das zwischen rau und glatt enthaltene unendliche Spektrum entdeckte. Er blieb stehen, um Schatten auf dem Boden zu betrachten. Spürte jede Münze zwischen den Fingern.

All das verlieh seinen alltäglichen Bewegungen einen imposanten Gang, wie bei einem Schauspieler oder einem afrikanischen Tier. In seiner eleganten Langsamkeit meinten die Menschen das natürliche Zeitmaß der Dinge zu erkennen, und in der Präzision seiner Gesten trat eine souveräne Beherrschung der Gegenstände in Erscheinung, die die meisten vergessen hatten. Jasper Gwyn bemerkte das nicht einmal, aber ihm war völlig klar, dass dieses minuziöse Verfahren ihm eine gewisse Stabilität zurückgab – jenen Schwerpunkt, der ihm offenbar abhandengekommen war.

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So ging es einige Monate. Dann kehrte er erschöpft zu seiner üblichen Lebensweise zurück, doch prompt begann wieder die bekannte Auflösung, und ihn überfiel ein unheilbares Gefühl der Leere, vor dem es kein Entrinnen gab. Andererseits unterschied sich diese obsessive Kur – diese Weise, sich die Schuhe zuzubinden – in ihrer Annäherung an die Welt nicht sehr davon, die Dinge zu schreiben, statt sie zu leben, also über Adjektive und Verben zu grübeln. Und so musste Jasper Gwyn sich eingestehen, dass der Verzicht auf Bücher eine Leere erzeugt hatte, der er nicht anders zu begegnen wusste als mit dem Inszenieren unvollkommener, provisorischer Ersatzliturgien, wie im Geist Sätze zusammenzustellen oder sich mit der Langsamkeit eines Idioten die Schuhe zuzubinden. Er hatte Jahre gebraucht, um zu akzeptieren, dass der Beruf des Schriftstellers für ihn unmöglich geworden war, und jetzt sah er sich gezwungen festzustellen, dass es ohne diesen Beruf sehr schwierig für ihn werden würde, weiterzumachen. So begriff er schließlich, dass er sich in einer Situation befand, die zwar vielen Menschen vertraut, deswegen aber nicht weniger leidvoll ist: Das Einzige, was sie fühlen lässt, dass sie am Leben sind, ist etwas, was sie langsam umbringen wird. Die Kinder für die Eltern, der Erfolg für die Künstler, zu hohe Berge für Alpinisten. Bücherschreiben für Jasper Gwyn.

Als er das erkannte, fühlte er sich verloren und wehrlos wie nur Kinder sind, die intelligenten. Zu seinem Erstaunen verspürte er einen ihm ganz ungewohnten Drang, ein brennendes Bedürfnis sozusagen, darüber mit jemandem zu sprechen. Er dachte eine Weile nach, aber der einzige Mensch, der ihm einfiel, war die alte Dame mit der Regenhaube in der Ambulanz. Es wäre sehr viel naheliegender gewesen, mit Tom zu sprechen, das war ihm bewusst, und einen Moment lang schien es ihm sogar möglich, eine der Frauen, die ihn geliebt hatten und sicher entzückt gewesen wären, ihm zuhören zu dürfen, in irgendeiner Form um Hilfe zu bitten. Doch die Wahrheit ist, dass der einzige Mensch, mit dem er wirklich gern über diese Sache gesprochen hätte, die alte Dame aus der Ambulanz war, sie, ihr Schirm und ihre Regenhaube. Er war überzeugt, dass sie ihn verstanden hätte. Es endete damit, dass Jasper Gwyn sich weitere Kontrolluntersuchungen verschreiben ließ – was in Anbetracht seiner Symptome nicht schwierig war – und wieder den Wartesaal aufsuchte, wo er sie damals getroffen hatte.

In den Stunden, die er während der drei Tage der Untersuchungen dort verbrachte und auf sie wartete, überlegte er sich genau, wie er ihr die ganze Angelegenheit erklären würde, und obwohl sie nicht erschien, begann er mit ihr zu sprechen und ihren Antworten zuzuhören, als wäre sie anwesend. Indem er das tat, verstand er sehr viel besser, was an ihm zehrte, und einmal stellte er sich sehr deutlich vor, wie die alte Dame ein Büchlein aus ihrer Tasche holte, ein altes Notizbuch, an dem eine Menge Krümel klebten, wahrscheinlich Kekskrümel. Sie schlug es auf, um einen Satz zu suchen, den sie sich aufgeschrieben hatte, und als sie ihn fand, brachte sie das Buch nah an ihre Augen, wirklich sehr nah, und las ihn laut vor.

All unsere endgültigen Beschlüsse werden in einem Geisteszustand gefasst, der nicht anhalten wird.

»Wer hat das gesagt?«

»Marcel Proust. Der hat sich nie geirrt.«

Und sie klappte das Notizbuch wieder zu.

Jasper Gwyn hasste Proust, aus Gründen, die er nie hatte vertiefen wollen, doch diesen Satz – fiel ihm jetzt ein – hatte er sich vor Jahren notiert, überzeugt, dass er ihm eines Tages nützlich sein würde. Aus dem Mund der alten Dame klang er unangreifbar. Was soll ich also tun, fragte er sich.

»Kopist, verflixt noch mal«, antwortete die Dame mit der Regenhaube.

»Ich bin nicht sicher, ob ich weiß, was das bedeutet.«

»Sie werden es verstehen. Zum richtigen Zeitpunkt werden Sie es verstehen.«

»Versprechen Sie mir das.«

»Ich verspreche es Ihnen.«

Als er am letzten Tag aus dem Belastungs-Elektrokardiogramm kam, ging er zur Rezeption und fragte das Personal, ob sie in letzter Zeit eine ziemlich alte Dame gesehen hätten, die oft herkam, um sich auszuruhen.

Die junge Frau hinter der Scheibe musterte ihn einen Moment, bevor sie antwortete.

»Sie ist verschieden.«

Dieses Verb gebrauchte sie tatsächlich.

»Vor ein paar Monaten«, fügte sie hinzu.

Jasper Gwyn starrte die Frau bestürzt an.

»Kannten Sie die Dame?«

»Ja, wir kannten uns«, antwortete er.

Unwillkürlich drehte er sich um, um nachzusehen, ob der Schirm noch am Boden lag.

»Sie hat mir gar nichts gesagt«, murmelte er.

Die Frau fragte nichts, wahrscheinlich wollte sie zurück an ihre Arbeit.

»Vielleicht wusste sie es nicht«, sagte Jasper Gwyn.

Als er hinausging, schlug er wie von selbst den Weg ein, den er mit der alten Dame gegangen war, damals, im Regen. Denn das war alles, was ihm von ihr blieb.

Vielleicht nahm er eine falsche Abzweigung, wahrscheinlich war er an jenem Tag nicht sehr aufmerksam gewesen, und so fand er sich in einer Straße wieder, die er nicht kannte, und das Einzige, was wieder wie damals war, war der Regen, der plötzlich eingesetzt hatte, ein starker Regen. Er suchte mit Blicken nach einem Café, in das er sich flüchten konnte, aber es gab keins. Als er schließlich versuchte, zur Ambulanz zurückzukehren, kam er an einer Kunstgalerie vorbei. Einer jener Orte, die er niemals betrat, doch jetzt war er wegen des Regens geneigt, sich einen Unterschlupf zu suchen, und so überraschte er sich dabei, dass er einen Blick durch das Schaufenster warf. Der Boden war holzgetäfelt, der Raum schien sehr groß und war gut beleuchtet. Jasper Gwyn betrachtete das im Schaufenster ausgestellte Gemälde. Es war ein Porträt.

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Es waren große Gemälde, alle ähnlich, wie die unendliche Wiederholung eines einzigen Bestrebens. Immer ein nackter Mensch und wenig drum herum, ein leeres Zimmer, ein Flur. Es waren keine schönen Menschen, es waren gewöhnliche Körper. Sie waren einfach da – doch eigentümlich war die Kraft, mit der sie anwesend waren, als wären sie geologische Ablagerungen, das Resultat tausendjähriger Metamorphosen. Jasper Gwyn erschienen sie wie Steine, aber weiche und lebendige Steine. Gern hätte er sie berührt, ganz bestimmt waren sie lauwarm.

Jetzt hätte er wieder gehen können, es genügte, aber draußen regnete es noch immer in Strömen, also begann Jasper Gwyn, ohne zu wissen, dass er damit sein Leben verändern würde, in einem Ausstellungskatalog zu blättern, es waren drei, sie lagen aufgeschlagen auf einem Tisch aus hellem Holz – die üblichen, absurd schwergewichtigen Wälzer. Jasper Gwyn stellte fest, dass die Gemälde die banalen Titel hatten, die man erwarten durfte (Mann mit den Händen im Schoß), und dass neben jedem Titel das Datum der Ausführung stand. Er bemerkte auch, dass der Maler jahrelang an den Porträts gearbeitet hatte, etwa zwanzig Jahre, anscheinend ohne an seiner Sicht auf die Dinge oder an