Hegels Seele oder Die Kühe von Wisconsin - Alessandro Baricco - E-Book

Hegels Seele oder Die Kühe von Wisconsin E-Book

Alessandro Baricco

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Beschreibung

 Hegel zufolge soll Musik die Seele erheben. In Wisconsin stieg bei Kühen die Milchproduktion signifikant an, als sie Symphonien hörten. Klassische Musik tut also einfach gut. Allerdings: Beethovens  Ode an die Freude  erklingt heute sowohl mit der Europahymne als auch zu den sadistischen Gewaltakten von  A Clockwork Orange . Ist die Klassik anderen Musikrichtungen wirklich moralisch und geistig überlegen? Was ist ihr Stellenwert in unserer Zeit? Sie als absoluten Wert zu verkaufen, tut dieser Musik unrecht, meint Baricco – ob Interpret oder Zuhörer, es ist an uns, sie wieder zu etwas durch und durch Lebendigem zu machen. Mit seinen spritzigen, brillant formulierten Fragen und Überlegungen tritt Baricco in einen lebhaften Dialog mit allen, denen Musik am Herzen liegt. 

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Seitenzahl: 99

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Alessandro Baricco

Hegels Seele oder die Kühe von Wisconsin

Nachdenken über Musik

Aus dem Italienischen von Viola Bauer

Hoffmann und Campe

(…) so soll die Musik (…) die Seele erheben, sie über ihrem Inhalte schweben machen und so eine Region ihr bilden, wo die Zurücknahme aus ihrem Versenktsein, das reine Empfinden ihrer selbst ungehindert statthaben kann.

G. W. F. Hegel

Vorlesungen über die Ästhetik

 

Bei Kühen, die symphonische Musik hören, steigt die Milchproduktion um 7,5% an.

Aus einer Studie der Universität von Michigan, Wisconsin

Einführung

Manchmal werden Antworten deshalb besonders provokant formuliert, damit die dazugehörigen Fragen deutlicher zum Ausdruck kommen. Das ist zum Beispiel bei diesem Buch der Fall. Wenn man es liest, könnte man den Eindruck bekommen, es enthielte hauptsächlich Gewissheiten; beim Schreiben ging es mir jedoch in erster Linie darum, einige meiner Zweifel darzustellen. Fragen, die sich eigentlich jeder spontan stellen müsste, der aus Liebhaberei oder beruflich mit ernster Musik zu tun hat, und die ungefähr so lauten könnten: Kann man heute noch guten Gewissens von der kulturellen oder moralischen Überlegenheit ernster Musik sprechen? Entspricht die Art und Weise, wie sie konsumiert wird, nur anachronistischen Riten, oder hat sie noch etwas mit unserer Zeit zu tun? War die Neue Musik, dieses unantastbare und unbequeme Totem, ein intellektuelles Abenteuer oder nur ein raffinierter Schwindel? Und: Hat es heute noch Sinn, Musik zu komponieren, oder ist das eine unverbindliche Übung für wenige Auserwählte, die sich in einen Elfenbeinturm zurückgezogen haben?

Auf den ersten Blick scheint es sich um verschiedene Fragen zu handeln, aber in Wirklichkeit sind es nur die verschiedenen Aspekte einer einzigen Frage: Wie haben Theorie und Praxis der ernsten Musik auf den Zusammenstoß mit der Moderne reagiert? Die vier Essays in diesem Buch versuchen, darauf einige Antworten zu geben; vor allem geht es dabei jedoch darum, diese Frage genauer zu artikulieren und sie über das Niveau von Foyergeplauder zu erheben, indem sie mit einem theoretischen Unterbau versehen wird, der auch der Herausforderung einer wirklichen Reflexion standhält. Mir wäre es am liebsten, wenn die vier Kapitel wie lange Aphorismen gelesen würden: jene flüchtigen Momente, in denen das Denken sich in Bewegung setzt, bisweilen die Triebkraft des Paradoxons benutzt, unfundierte oder allzu gewagte Formulierungen wählt oder sich apodiktische Provokationen erlaubt und immer das Spektakuläre neuer, vorläufiger Wahrheiten sucht. Darin liegen zugleich die Stärken wie die Grenzen des Aphorismus: Er hebt das festgefahrene Denken mit Hilfe des dünnen, spitzen Hebels der Intuition aus den Angeln, aber selbst dann, wenn er sich in Form von unumstößlichen Sentenzen äußert, setzt er die Reflexion lediglich in Gang, niemals führt er sie bis zu Ende. Dieses Buch identifiziert sich mit dieser speziellen Form der Guerillataktik. Mit der List des Fragenstellens versucht es, ein konsolidiertes System von Gewissheiten zu erschüttern. Selbst dort, wo es Antworten formuliert, sucht es in Wirklichkeit nur nach ihnen.

 

Vorneweg noch ein paar lexikalische Erläuterungen.

Ich verwende den Begriff »ernste Musik« für das, was oft auch als »klassische Musik« bezeichnet wird. Beide Begriffe sind möglich. Meine Wahl erschien mir lediglich ein klein wenig präziser.

Im dritten Kapitel geht es um zeitgenössische Musik. Mit dem Etikett »Neue Musik« ist jene Bewegung gemeint, die von der Wiener Avantgarde ausgeht, dann in Darmstadt1 theoretisch fundiert und schließlich von der sogenannten Zweiten Avantgarde wieder aufgenommen wird. Natürlich gab es im zwanzigsten Jahrhundert nicht nur diese Musikströmung, und an vielen bedeutenden Kapiteln ihrer Geschichte haben Autoren mitgeschrieben, die zu dieser Bewegung ein zwiespältiges oder gar antagonistisches Verhältnis hatten oder haben. In dem Moment, in dem wir uns mit zeitgenössischer Musik auseinandersetzen, ist diese Strömung jedoch unweigerlich unser erstes und wichtigstes Gegenüber. Ich möchte noch hinzufügen, dass einige Betrachtungen über die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, unter denen diese Musik entstanden ist, sich hauptsächlich auf die Analysen der Situation in Italien gründen. Das restliche Europa und vor allem die USA könnten vielleicht andere Erfahrungen beisteuern, und ich hoffe, dass das auch geschehen wird.

Zum Schluss: Ich verwende den Begriff »Moderne« auf ziemlich allgemeine und – man könnte sagen – undifferenzierte Weise. Auf anderen Gebieten, vor allem in der Philosophie, würde man ihn sehr viel genauer definieren müssen. Zweifellos beziehen sich viele der Betrachtungen in diesem Buch auf ein Phänomen, das man eher als »Postmoderne« bezeichnen müsste. Die Welt der ernsten Musik, die sich so hervorragend auf die Pflege der Vergangenheit versteht, ist jedoch wenig vertraut mit dem zeitgenössischen Denken. Aus diesem Grund habe ich mich dazu entschlossen, das Problem auf möglichst einfache Weise darzustellen. Und so verwende ich den ökumenischen Begriff der »Moderne« für den neuen Horizont, der entstand, nachdem jenes gesellschaftliche und ideologische Szenarium untergegangen war, das die Idee der ernsten Musik hervorgebracht hatte (das Bürgertum des neunzehnten Jahrhunderts, die Romantik, der Idealismus). Mir ist klar, dass es sich um einen Horizont handelt, der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt (vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bis heute) und der unendlich viele Facetten hat: Sie alle zu berücksichtigen würde jedoch diesem Buch nicht zu mehr Wahrheit, sondern nur zu mehr Unklarheit verhelfen. Zum Abschluss: Mit der Moderne ist es wie mit dem Jazz. »Wenn du erst fragen musst, was es ist, wirst du es nie erfahren.« (Louis Armstrong)

1Die Ideologie der ernsten Musik

Ähnlich wie die Grenzen der riesigen Reiche vergangener Zeiten haben auch die der ernsten Musik etwas Hypothetisches und zugleich Absolutes. Keiner weiß genau, wo sie sind, doch dass es sie gibt, steht außer Zweifel. Man legt eine Geographie der Musikerfahrung zugrunde, die unüberwindliche und äußerst präzise Grenzen zieht, nach denen, wie immer man es drehen und wenden will, Brahms und die Beatles verschiedenen Gebieten angehören und nicht dieselbe Sprache sprechen. Die Karten jener Welt bleiben jedoch in einer märchenhaften Unbestimmtheit und sind notwendigerweise ungenau und immer provisorisch. Die Kulturindustrie bedient sich ihrer mit unbeirrbarer und äußerst effizienter Sturheit; sie gibt sie für wahr aus und erstellt auf ihrer Grundlage eine Einteilung der Marktsegmente, die sich durchaus bewährt hat. Was das Publikum angeht, so macht es das Spiel gern mit und akzeptiert dankbar ein System, das sein Ordnungsbedürfnis befriedigt und sich letztlich nicht von dem unterscheidet, dem es tagtäglich im Supermarkt begegnet.

Wie so oft beeinträchtigt auch hier die mangelnde Begründung des Systems nicht seine Funktionalität: ein Phänomen, dessen Gültigkeit inzwischen sogar die Philosophie, die Wissenschaft der Begründungen, eingestehen musste. Wie so oft neigt man allerdings auch hier dazu zu vergessen, wie irrbegründet die Voraussetzungen ursprünglich waren, und schreibt der Konvention einen gewissen Wahrheitsgehalt zu. Als besonders starrköpfig und pedantisch in dieser Hinsicht hat sich der Liebhaber ernster Musik erwiesen. Mehr als jeder andere fürchtet er sich davor, dass die Karten neu gemischt werden könnten, und neigt deshalb dazu, besagte Aufteilung als ein unbestreitbares und der Wahrheit entsprechendes Apriori zu betrachten. Die Gründe liegen auf der Hand: Der Konsument ernster Musik ist – nicht ganz zu Unrecht – überzeugt, innerhalb der Musikwelt die Schweiz zu bewohnen: eine Oase in der Wüste des schlechten Geschmacks. Indem er die herrschende Ordnung verteidigt, verteidigt er zugleich seine Besonderheit und seine Vorrangstellung.

Mehr als man allgemein zugeben will, handelt es sich um einen ebenso energisch wie blind geführten Kreuzzug: Der Konsument ernster Musik verteidigt etwas, was er gar nicht kennt. Wie in gewissen riesigen Reichen vergangener Zeiten ist es auch hier leichter, jemanden zu finden, der bereit ist, die Grenzen des Reichs zu verteidigen, als jemanden, der diese Grenzen tatsächlich gesehen hat. Die Besonderheit ernster Musik und ihre vermeintliche kulturelle Vorrangstellung werden selten und, wenn überhaupt, wenig konsequent infrage gestellt; als Parolen ohne Fundament dienen sie als theoretisches Kopfkissen für den Schlaf wohlmeinender Abonnenten. Sogar professionelle Musiktheoretiker sind in Verlegenheit, wenn sie eine plausible Legitimation dafür anführen sollen. Wie sollte dann erst das normale Publikum dazu in der Lage sein?

 

Würden wir das Publikum, das Konzertpublikum, fragen, worin sich eigentlich die ernste Musik von der Popmusik unterscheidet, also Berio von Sting und Vivaldi von Elvis, bekäme man einigen Aufschluss über die tausend Missverständnisse, die sich um diesen ganzen Komplex ranken. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Leute mit jener synthetischen Intelligenz, die das Gegenteil unkonventionellen Denkens ist, einige grundsätzliche Argumente nennen würden wie zum Beispiel: »Ernste Musik ist schwieriger, komplexer« oder »Popmusik ist reine Unterhaltungsmusik, während die klassische Musik einen Gehalt hat, eine geistige, ideelle Natur«. Solche Sätze haben wie andere Gemeinplätze den Vorteil, etwas Wahres auf falsche Weise auszudrücken. Man erkennt darin die beiden Seiten einer einzigen Überzeugung: Die ernste Musik verdankt ihre Besonderheit und ihre Vorrangstellung ihrer Fähigkeit – mit Hilfe des besseren Artikulationsvermögens ihrer Sprache –, die Grenzen der Immanenz zu überschreiten und uns in ein Jenseits zu entführen, das nicht genau definiert ist, aber irgendwie mit Begriffen wie Herz, Geist oder Wahrheit zu tun hat. Bevor wir uns fragen, ob das alles falsch oder richtig ist, sollten wir vielleicht zu verstehen suchen, wie es überhaupt so weit gekommen ist. Wie alle Vorurteile hat auch dieses eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden.

Es ist nicht falsch zu sagen, dass wir seine Entstehung der Romantik verdanken, genauer gesagt, ihrem Protomärtyrer Beethoven. Vermutlich spielt er in der Musikgeschichte eine ähnliche Rolle, wie Nietzsche sie Sokrates in der Geschichte der Philosophie zugeschrieben hat. Er hat einer Praxis sakrale Würden verliehen, die bis dahin ausgesprochen weltlich gewesen war, um nicht zu sagen kommerziell. Bei Beethoven treffen zum ersten Mal und legitimiert durch sein Genie folgende drei Phänomene aufeinander: 1. Der Musiker strebt nach der Überwindung der rein kommerziellen Auffassung seiner Arbeit. 2. Die Musik hat ausdrücklich geistige und philosophische Inhalte. 3. Grammatik und Syntax dieser Musik erreichen eine Komplexität, die die Aufnahmefähigkeit des Publikums des Öfteren auf die Probe stellt. Wie man sieht, sind diese drei Elemente eng miteinander verflochten in dem Sinne, als jedes jeweils die anderen beiden legitimiert; für sich allein wäre jedes einzelne nur ein bedeutungsloser Auswuchs. Zusammengeschweißt durch gegenseitige Notwendigkeit, bilden sie jedoch ein Modell. Sie stellen eine Formel dar, die – getragen von dem faszinierenden Pathos ihres Schöpfers, dem rebellischen, einsamen, kranken Genie – die Phantasie des bürgerlichen Publikums, das gerade im Entstehen war, beflügelte. Die Musik seiner Salons bekam nun die elektrisierende neue Identität, die hervorragend zu dem allgemeinen Streben nach irgendeiner Form von Adel passte.

Die Ideologie der »ernsten Musik« entsteht hier. Sie bezieht ihre Rolle aus dem Abstand, den diese Art von Musik plötzlich zwischen sich und einer bestimmten Musiktradition schafft, indem sie sich dieser gegenüber als überlegen betrachtet; eine Überlegenheit, die nicht mehr bloß sozialer, sondern in erster Linie geistiger Natur ist. Bis dahin hatte man diese Art von Musik sehr passend mit einem schönen Begriff aus dem sechzehnten Jahrhundert bezeichnet: als »Musica reservata«, eine elegante Umschreibung für gesellschaftliche Abgehobenheit. Das Beethoven’sche Modell hebt diese Berufung zur Elite nun über die prosaischen Grenzen von Vermögen oder Herkunft hinweg. Die ernste Musik ist die Musica reservata einer Menschheit, die über den Genuss hinausgehen und sich auf den Kurs des Geistes begeben will. Konnte sich das auserwählte Publikum jener Musik bis dahin des erlesensten Geschmacks rühmen, so durfte es jetzt zu Recht auch eine Vorrangstellung auf kulturellem und moralischem Gebiet beanspruchen.

Das alles wäre nicht passiert, hätte die Romantik nicht intuitiv den Fall Beethoven zum Modell erhoben, der sonst vielleicht eine durch Genialität bedingte Ausnahmeerscheinung geblieben wäre. Stattdessen wurde er zum ideologischen Modell, das die Romantiker nicht nur zur Legitimierung ihrer eigenen Musiklandschaft verwendeten, sondern das sie unfairerweise auch rückwirkend auf ganze Generationen von nichts ahnenden Komponisten des achtzehnten Jahrhunderts anwendeten: Leute, die mit der Dienerschaft an einem Tisch gegessen und sich ihr Brot verdient hatten, indem sie nicht weniger und nicht mehr als gute Unterhaltungsmusik schrieben. Jahrhunderte feinen Kunsthandwerks wurden so mit einem Mal Kunst. Das neu entstandene Unternehmen der ernsten Musik beschaffte sich auf diese Weise eine vornehme und weit zurückreichende Ahnentafel – eine arglose List, deren Erfinder unschwer zu erraten ist. Es ist der Hauptsponsor des Unternehmens, jene Bourgeoisie, die sich gerade anschickte, den Palast zu stürmen: reich an Geld, aber arm an Adel.