The Game - Alessandro Baricco - E-Book

The Game E-Book

Alessandro Baricco

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Beschreibung

Die Geschichte unseres digitalen Lebens – kurzweilig und kritisch erzählt Fast jeder von uns regelt mit dieser oder jener App einen Teil seines Lebens; durch geschickte Nutzung des Netzes lassen sich Wahlen gewinnen; bei Tinder können wir computerspielartig den/die reale/n Richtige/n finden. Das ständige Ineinander von Web und Welt ist uns längst zur Normalität geworden.  In seinem neuen Buch zeichnet Alessandro Baricco die Geschichte der Digitalisierung auf heiter-essayistische Weise nach und lädt uns ein, ungezwungen über unsere eigene Verflechtung mit der digitalen Welt und ihre kritischen Entwicklungen nachzudenken.

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Seitenzahl: 379

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Alessandro Baricco

The Game

Topographie unserer digitalen Welt

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Hoffmann und Campe

Für Carlo, Oscar und Andrea.

Für die sieben Weisen.

Für alle, die die Scuola Holden jeden Tag neu erfinden.

Diese Vorlesung ist für euch.

Username

Vor etwa zehn Jahren habe ich ein Buch mit dem Titel Die Barbaren geschrieben. Damals machten viele normale Menschen und fast alle studierten Leute eine bestürzende Entdeckung: Einige der würdigsten, schönsten und sinnreichsten Tätigkeiten, die die Menschheit im Laufe von Jahrhunderten mit Hingabe und Eifer entwickelt hatte, drohten ihre besten Eigenschaften zu verlieren und zu einem achtlosen, banalen Tun zu werden. Egal, ob es ums Essen oder Studieren, ums Vergnügen, Reisen oder Lieben ging – die Menschen hatten offenbar verlernt, diesen Tätigkeiten die gebührende Aufmerksamkeit und Sorgfalt zu widmen, die sie doch eigentlich von ihren Vätern gelernt hatten. Sie schienen diese Handlungen am liebsten möglichst schnell und ohne mühsame Konzentration hinter sich bringen zu wollen.

Besonders erschreckend war das, was man täglich bei Jugendlichen beobachtete: Sie waren einer unerklärlichen genetischen Rückwärtsentwicklung zum Opfer gefallen, verbesserten die Spezies Mensch also nicht mehr, sondern setzten sie einer bedrohlichen Involution aus. Unfähig, sich zu konzentrieren, verloren in einem nutzlosen Multitasking, ständig am Computer klebend, irrten sie auf der Oberfläche der Dinge umher, anscheinend ohne einen anderen Zweck als den, jegliche Anstrengung zu vermeiden. Man ahnte, dass sich in ihren unverständlichen Bewegungen in der Welt eine Krise ankündigte, und glaubte, eine kulturelle Apokalypse stehe unmittelbar bevor.

Es war eine beunruhigende Zeit. Eine Weile schien der Vernunftgebrauch restlos in der Fähigkeit aufzugehen, den Untergang von diesem und jenem zu prophezeien. Man verbrachte seine Tage damit, Traditionen zu verteidigen, die an Boden verloren. Intelligente Menschen unterzeichneten ohne jedes Gespür für Lächerlichkeit Resolutionen zum Schutz der alten Milchhandlungen oder des Konjunktivs. Jedes Mal, wenn man etwas verteidigt hatte, beziehungsweise verhindern konnte, dass der Sturm der Zeit es mit sich fortriss, empfand man sich als ein besserer Mensch. Die meisten fühlten sich von der Verpflichtung zur Zukunft rechtmäßig befreit – es war viel dringender, die Vergangenheit zu retten.

Ich muss hinzufügen, dass man eine minimale Erklärung für diesen Niedergang der Kultur zu haben glaubte: Ganz klar war die Sache nicht, aber es musste auf jeden Fall etwas mit der digitalen Revolution (diese Computer überall) und der Globalisierung (diese Geschäftemacher überall) zu tun haben. Offenbar war im Brutkasten dieser beiden unbezwinglichen Kräfte ein Menschentyp herangereift, dessen Ziele man nicht verstand, dessen Sprache man nicht kannte, dessen Vorlieben man nicht teilte und dessen Verhaltensweisen man verachtete: Barbaren, um den Begriff zu gebrauchen, der uns in unserer Geschichte als Beherrscher dieses Planeten schon früher dazu gedient hat, die beunruhigende Andersheit von Leuten, die wir weder verstehen noch beherrschen können, in einem Wort zusammenzufassen.

Der Instinkt gebot, sie aufzuhalten. Das verbreitete Vorurteil hielt sie für Zerstörer. Punkt. Aus. Ende.

Wer weiß, dachte ich.

Tatsächlich schrieb ich dann dieses Buch, um mir selbst und anderen klarzumachen, dass das, was wir erlebten, keine Invasion von Barbaren war, die unsere hochentwickelte Kultur hinwegfegten, sondern eine Mutation, die alle betraf und binnen kurzer Zeit eine neue Kultur entstehen lassen würde, eine in gewisser Weise bessere Kultur als die, in der wir aufgewachsen waren. Ich war überzeugt, dass es sich nicht um eine verheerende Eroberung, sondern um eine listige Mutation handelte. Eine kollektive Bekehrung zu neuen Überlebenstechniken. Eine geniale strategische Wende. Ich dachte an jene tiefgreifenden Wenden, die wir Humanismus, Aufklärung oder Romantik genannt haben, und war überzeugt, dass wir gerade einen ähnlich großartigen Paradigmenwechsel erlebten. Wir drehten unsere Prinzipien um hundertachtzig Grad, wie wir es damals unter jenen geschichtlichen Bedingungen getan hatten, aus denen dann so bedeutende Epochen geworden waren. Man brauchte keine Angst zu haben, alles würde gutgehen. Wie erstaunlich das auch scheinen mochte, wir würden bald gute Gründe finden, um seelenruhig auf die alten Milchhandlungen und schlimmstenfalls auch auf den Konjunktiv zu verzichten.

Das war kein naiver Optimismus, wie ich mehrmals zu erklären versucht habe. Für mich war das schlicht und einfach Realismus. Wenn Leute den kulturellen Niedergang in einem Sechzehnjährigen erblicken, der keinen Konjunktiv mehr gebraucht, aber außer Acht lassen, dass dieser Junge dreißig Mal mehr Filme gesehen hat als sein Vater in dem Alter, bin nicht ich der Optimist, nein, sie sind zerstreut. Wenn der Radar der Intellektuellen aus der bodenlosen Dummheit des Buches, das auf Platz eins der Bestsellerliste gelandet ist, auf eine kulturelle Katastrophe schließt, versuche ich, mich an die Fakten zu halten: Das Publikum, das dieses Buch auf die Bestsellerliste gebracht hat, kaufte noch vor sechzig Jahren gar keine Bücher, diese Leute waren nicht nur keine Leser, sondern auch Analphabeten. Der Schritt nach vorn ist offensichtlich. Es ist nicht leicht, in einer solchen Gemengelage genau festzustellen, wer hier Märchen erzählt – ich mit meinem pedantischen Realismus oder sie mit ihrer poetischen Neigung zur Katastrophen-Fantasy.

Während wir Zeit damit verloren, über die Lage zu diskutieren, veränderten andere Menschen, die überwiegend in Kalifornien lebten und überwiegend einer eher unscheinbaren, sehr pragmatischen und mit einem gewissen Geschäftssinn begabten Elite angehörten, die Welt. Und das taten sie durch technische Neuerungen, ohne zu erklären, welcher Plan für die Menschheit ihnen vorschwebte, ja vielleicht auch, ohne zu wissen, welche Konsequenzen das alles für unsere Hirne und Gefühle haben würde. Zu Milchhandlungen und dem Konjunktiv hatten sie keine Meinung, denn für den Schutz der Vergangenheit fühlten sie sich nicht verantwortlich. Viel dringender war es, die Zukunft zu erfinden.

Und dann habe ich mit unerklärlicher Verspätung verstanden, dass das Paradigma des Niedergangs für sehr viele Menschen eine bequeme Szenerie, ein angenehmes Spielfeld darstellt. Ich rede nicht von Tragödien, von Katastrophen – die sind, im Gegenteil, die bevorzugte Umgebung von Minderheiten ungewöhnlich smarter Leute. Was ich meine, ist unschärfer: Es mag sich verrückt anhören, aber die meisten von uns sind Tiere, die ihre Eier dort ablegen, wo sie mit einem sanften, langsamen Niedergang rechnen können. Man bedenke, dass die schiefe Ebene eines maßvollen Unglücks dem vorherrschenden Typ von Intelligenz besonders gut zu entsprechen scheint: Es ist eine leidensfähige, sture, eher geduldige als phantasievolle, wesenhaft konservative Intelligenz. Da es ihr leichter fällt, die Welt wahrzunehmen, wenn die Welt sich mit mäßiger Geschwindigkeit bewegt, bremst sie die Fortbewegung der Welt; da das Verteidigungsspiel ihr im Allgemeinen mehr liegt als die Attacke, zeigt sie sich in Gegenwart von Feinden und drohenden Katastrophen von ihrer besten Seite; da sie keine Begabung zum Angriffsspiel hat, fürchtet sie die Zukunft.

Darum neigen die Menschen dazu, sich möglichst nicht zu lange dem freien Feld neuer Ideen auszusetzen, und bringen ihre Volksstämme, sooft sie können, zurück zu der Partie, die ihren Fähigkeiten am besten entspricht, also dem Angedenken. Im Schutz der Dinge, die gerettet werden müssen, ruhen wir uns aus, legen unsere Eier und züchten die zukünftigen Zeiten, indem wir die nächste Hungerattacke, die uns aus dem Unterschlupf treibt, so lange wie möglich hinausschieben.

Jedenfalls habe ich dann dieses Buch geschrieben, in mehreren Folgen, in einer Tageszeitung – eine Form, die mir herrlich barbarisch erschien. Ich wollte es Die Mutation nennen. Aber der Direktor der Tageszeitung – auf seine Art ein Genie – betrachtete diesen Titel lange und sagte dann nur: »Nein. Die Barbaren ist viel besser.«

Manchmal bin ich gutmütig, ich nannte es Die Barbaren.

Ich fügte einen Untertitel hinzu: Über die Mutation der Kultur.

Als Erstes erlebte ich eine Überraschung: Es kostete mich große Mühe, den Lesern klarzumachen, dass es kein Buch gegen die Barbaren war. Sie waren so versessen darauf, sich überzeugend und geistreich sagen zu lassen, alles breche zusammen und DIE DA seien schuld daran, dass schon dieser Titel sie in eine geistige Erwartungshaltung versetzte, die sie, egal was sie wirklich lasen, immer nur lesen ließ, dass alles zusammenbricht und DIE DA schuld daran sind.

Ehrlich!

Ich konnte noch so oft wiederholen, dass es die Barbaren, wie im Buch erklärt, gar nicht gibt, sondern wir, wir alle, die Welt in dramatischer Weise verändern – nichts zu machen, die Leute kamen, um mir dafür zu danken, dass ich gezeigt hatte, welches Unheil DIE DA anrichten. Wahrscheinlich hätte ich das Buch Ein Lob auf die Barbaren betiteln sollen, aber vielleicht hätte auch das nicht genügt. Wenn einer seine Eier ungestört im Schlupfwinkel ablegen kann, umgeben von den Dingen, die er retten will, geschützt von der warmen Decke eines schönen Niedergangs, holt man ihn nicht so leicht da heraus. Die kollektive Trägheit neigte zur selbstzufriedenen Anklage irgendeiner bevorstehenden Apokalypse, die die schöne Seele der Welt ersticken musste, und die Richtung dieses Denkens umzukehren war furchtbar schwer, manchmal unmöglich.

Seit damals sind gut zehn Jahre vergangen, und siehe da, heute kann ich etwas beschreiben, was mich wieder Mut fassen ließ: Das kollektive Narrativ hat sich verändert, die Stämme sind aus ihren Schlupfwinkeln herausgekommen, und heute gibt es nur noch Wenige, die sich das, was um sie herum passiert, mit dem Märchen von Barbaren erklären, die unsere Festungen abfackeln, weil eine Handvoll beutegieriger Geschäftemacher sie dazu angestachelt hat. Heute akzeptierten die meisten Menschen in der westlichen Welt, dass sie eine Art Revolution erleben – sicher eine technologische, vielleicht auch eine geistige Revolution –, die fast alle ihre Tätigkeiten, wahrscheinlich auch ihre Prioritäten und ganz gewiss die Vorstellung von dem, was Erfahrung ist, verändern wird. Vielleicht fürchten sie die Folgen, vielleicht verstehen sie wenig von dieser Revolution, aber sie zweifeln mittlerweile kaum mehr daran, dass es eine notwendige und unaufhaltsame Revolution ist und dass sie den Versuch darstellt, Irrtümer zu korrigieren, die uns teuer zu stehen kamen. Also haben die Menschen sie wie eine Aufgabe, wie eine Herausforderung angenommen. Nicht wenige glauben, dass diese Revolution uns in eine bessere Welt führen wird. Noch stehen viele unter dem schützenden Schirm des Narrativs vom Untergang, doch nach und nach rutschen sie, wie in einer Sanduhr, einer nach dem anderen durch den Engpass ihrer Ängste und erreichen die anderen auf der anderen Seite der Zeit.

Manch einer wird sich fragen: Was ist passiert, dass wir unsere Meinung in so kurzer Zeit geändert haben, dass wir jetzt die Idee einer Revolution akzeptieren, bei der wir alles aufs Spiel setzen?

Eine präzise Antwort habe ich nicht, aber ich habe eine kurze Liste der Dinge, die es vor zwanzig Jahren noch nicht gab:

WIKIPEDIA

FACEBOOK

SKYPE

YOUTUBE

SPOTIFY

NETFLIX

TWITTER

YOUPORN

AIRBNB

IPHONE

INSTAGRAM

UBER

WHATSAPP

TINDER

TRIPADVISOR

PINTEREST

Wenn ihr gerade nichts Besseres zu tun habt, kreuzt das Kästchen vor den Dingen an, mit denen ihr jeden Tag einen nicht unwesentlichen Teil eurer Zeit verbringt.

Ziemlich viele, was? Da fragt man sich doch, wie zum Teufel man seine Tage früher ausgefüllt hat.

Haben wir Puzzles mit Fotos von der Schweizer Bergwelt gelegt?

Diese Liste lehrt viel, vor allem aber dies: Innerhalb der letzten zwanzig Jahre hat die Revolution sich in der Normalität eingenistet – in einfachen Tätigkeiten, im Alltagsleben, im Umgang mit unseren Wünschen und Ängsten. Bei diesem Grad der Durchdringung noch zu leugnen, dass es sie gibt, ist idiotisch, aber sie als eine von oben herab und von den finsteren Mächten des Bösen aufgezwungene Metamorphose darzustellen wird allmählich auch ziemlich schwierig. Tatsächlich sehen wir, dass die elementarsten Verrichtungen unseres täglichen Lebens heute mit körperlichen und geistigen Aktivitäten einhergehen, die wir noch vor zwanzig Jahren bei den nachfolgenden Generationen nur widerwillig akzeptiert hätten, weil wir sie nicht verstanden, worin wir wiederum ein Zeichen des Niedergangs sahen. Was ist passiert? Sind wir erobert worden? Zwingt uns jemand zu einer Lebensform, die nicht zu uns passt?

Mit Ja zu antworten wäre nicht richtig. Allenfalls hat jemand uns diese Lebensform vorgeschlagen, und wir nehmen diesen Vorschlag jeden Tag aufs Neue an, indem wir unserer Lebensweise, verglichen mit der Vergangenheit, eine bestimmte Drehung verleihen. Durch sie haben wir eine geistige Haltung angenommen, die uns vor zwanzig Jahren noch grotesk, entartet und barbarisch vorkommen mochte, heute aber tatsächlich zu der Art und Weise geworden ist, in der wir uns bequem und sogar gewandt im Fluss des Alltagslebens bewegen. Der Eindruck, erobert worden zu sein, ist verschwunden, jetzt überwiegt das Gefühl, uns über die bekannte Welt hinausgelehnt zu haben und Bereiche von uns selbst zu besiedeln, die wir nie zuvor erforscht und teilweise noch gar nicht erzeugt hatten. Die Idee von einer erweiterten Menschheit beginnt sich durchzusetzen, und das Gefühl, ein Teil davon zu sein, erweist sich als aufregender, verglichen mit der ursprünglichen Furcht, womöglich gewaltsam dorthin verschleppt zu werden. Und so haben wir uns schließlich einer Mutation überlassen, deren Existenz wir eine Zeitlang offen geleugnet hatten – inzwischen verwenden wir unsere Intelligenz darauf, sie zu nutzen, statt sie zu bekämpfen. Nebenbei bemerkt brachte diese Entwicklung uns unter anderem dazu, das Verschwinden der alten Milchhandlungen lediglich als einen unvermeidlichen Kollateralschaden anzusehen. Sehr bald schon eröffneten wir Läden, die Zitate alter Milchhandlungenwaren, das ist unsere Weise, der Vergangenheit Lebewohl zu sagen, indem wir sie umwandeln.

Wir sind genial, das lässt sich nicht leugnen.

Wir haben uns also mit der Sache auseinandergesetzt und einige grobe Irrtümer der Anfangsphase ausgemerzt. Jetzt wissen wir, dass es eine Revolution ist, und sind willens, sie für eine kollektive Schöpfung zu halten – ja sogar eine kollektive Forderung –, nicht für eine plötzliche Degeneration des Systems oder den teuflischen Plan irgendeines bösen Genies. Wir erleben eine Zukunft, die wir der Vergangenheit abgetrotzt haben, die uns zusteht und die wir mit aller Kraft gewollt haben. Diese neue Welt ist unsere – die Revolution ist unsere.

Gut.

Nun geht es darum, sich mit einer mindestens ebenso interessanten Tatsache zu beschäftigen: ES IST EINE WELT, DIE WIR NICHT ERKLÄREN KÖNNEN, ES IST EINE REVOLUTION, DEREN URSPRUNG UND DEREN ZIEL WIR NICHT GENAU KENNEN.

Nun, vielleicht hat ja der eine oder andere schon so seine Idee dazu. Doch im Großen und Ganzen ist das, was wir von der Mutation wissen, herzlich wenig. Unser Handeln hat sich schon erschreckend schnell verändert, doch die Gedanken hinken hinterher, sie scheinen noch nicht recht in der Lage, das zu benennen, was wir in jedem Augenblick neu erschaffen. Schon seit einer Weile sind Raum und Zeit nicht mehr das, was sie waren, dasselbe geschieht gerade mit den geistigen Räumen, die wir lange Zeit Vergangenheit, Seele, Erfahrung, Individuum und Freiheit genannt haben. Alles und Nichts haben heute eine viel klarere Bedeutung als noch vor fünf Jahren, und die Dinge, die wir jahrhundertelang Kunstwerke genannt haben, sind inzwischen namenlos. Wir wissen genau, dass wir uns an Landkarten orientieren werden, die es heute noch nicht gibt, dass wir eine Vorstellung von Schönheit haben werden, die wir noch nicht vorhersehen können, und ein Netz aus Gebilden Wahrheit nennen werden, das wir früher als Lüge gebrandmarkt hätten. Wir sagen uns, dass all das, was passiert, mit Sicherheit einen Ursprung und ein Ziel hat, aber wir kennen beides nicht. In ein paar Jahrhunderten wird man sich an uns als die Eroberer einer Welt erinnern, in der wir heute nur schwer den Weg nach Hause finden würden.

Ist das nicht phantastisch?

Das ist es, glaube ich, und darum schreibe ich dieses Buch: Es reizt mich, eine Weile dort zu wohnen, wo die Revolution blass wird, verstummt, versinkt. Dort, wo wir ihre Vorgänge nicht verstehen, wo der Sinn ihrer Phänomene sich verbirgt, wo sie den Zugang zu den Ursprüngen dessen, was sie tut, verweigert. Wo sie uns wie ein geheimnisvolles Grenzgebiet vorkommt. Endlose Weiden, am Horizont kein einziger rauchender Schornstein. Keine Wegweiser. Nur die Erzählung irgendeines Pioniers.

Ich möchte nicht den falschen Eindruck erwecken, dass ich Antworten hätte oder hier bin, um etwas zu erklären.

Aber ich habe Landkarten. Zugegeben, solange ich mich nicht auf die Reise mache, kann ich nicht wissen, ob sie zuverlässig, genau und nützlich sind.

Um mich auf diese Reise zu begeben schreibe ich das Buch, das ihr in den Händen haltet.

Damit ich mich nicht verirre, werde ich einen Kompass benutzen, der mich nie enttäuscht hat: die Angst. Folge den Spuren der Angst, und du wirst ein Haus finden – dein eigenes und das der anderen. In diesem Fall ein leichtes Unterfangen, denn Ängste finden sich haufenweise, und manche sind alles andere als dumm.

Zum Beispiel gibt es eine, die sagt: Wir sind ohne Licht im Dunkeln unterwegs. Das stimmt. Wir wissen nicht genau, woraus diese Revolution entstanden ist, und noch weniger, welches Ziel sie hat. Wir kennen ihre Absichten nicht, wir können ihre Werte und Prinzipien nicht mit angemessener Genauigkeit benennen. Die der Aufklärung kennen wir, die unserer Zeit nicht. Nicht mit der gleichen Klarheit. Wenn unsere Kinder fragen, wohin wir gehen, nehmen wir gerne Zuflucht zu ausweichenden Antworten [»Sag du es mir« ist derzeit die beste – daraus lässt sich folgern, wie dringend notwendig es ist, dass jemand dieses Buch schreibt].

Eine andere Angst sieht so aus: Können wir sicher sein, dass es keine technologische Revolution ist, die blindlings eine unkontrollierte anthropologische Metamorphose erzwingt? Wir haben uns neue Werkzeuge ausgewählt, und sie gefallen uns. Aber hat jemand vorsichtshalber einmal berechnet, welche Konsequenzen ihre Nutzung für unsere Lebensweise in der Welt, für unsere Intelligenz, im Extremfall für unsere Vorstellung von Gut und Böse haben wird? Gibt es ein Projekt für die Menschheit hinter dem, was die Gates, Jobs, Bezos, Zuckerbergs, Brins und Pages tun, oder gibt es nur brillante Geschäftsideen, die unfreiwillig und ein bisschen aufs Geratewohl eine neue Menschheit hervorbringen werden?

Dann gibt es eine Angst, die mir besonders gut gefällt: Wir sind dabei, eine grandiose, sogar angenehme neue Kultur zu schaffen, die aber unfähig scheint, der Druckwelle der Wirklichkeit standzuhalten. Es ist eine Feiertagskultur, doch die Welt und die Geschichte sind das nicht. Wird das Schwinden unserer Fähigkeit, Geduld aufzubringen, Anstrengung und Langsamkeit auszuhalten, nicht künftige Generationen hervorbringen, die Schicksalsschläge oder auch nur die unvermeidliche Härte jedes Schicksals nicht mehr ertragen können? Über der eifrigen Ausbildung von soft skills verlieren wir die nötige Muskelkraft für einen Zweikampf mit der Wirklichkeit, so die Befürchtung. Und daher rührt die Tendenz, die Wirklichkeit nur noch verschwommen wahrzunehmen, sie zu vermeiden und durch weichere Darstellungen zu ersetzen. Sie passen die Inhalte der Wirklichkeit an unsere Werkzeuge an, sodass sie mit dem Typ Intelligenz kompatibel werden, der sich innerhalb der Logiken dieser Werkzeuge herausgebildet hat. Können wir sicher sein, dass es sich dabei nicht um eine selbstmörderische Taktik handelt?

Noch vertrackter ist eine andere Angst, eine ziemlich verbreitete, die ich nicht anders als mit diesen allgemeinen Worten beschreiben kann: Tagtäglich verlieren die Menschen etwas von ihrer Menschlichkeit, indem sie irgendeiner leistungsstärkeren, weniger fehleranfälligen Künstlichkeit den Vorzug geben. Wenn sie können, delegieren sie ihre Entscheidungen und Meinungen an Maschinen, Algorithmen, Statistiken und Rankings. Das Ergebnis ist eine Welt, in der man immer seltener die Hand des Töpfers sieht, ein Ausdruck, den Walter Benjamin liebte. Sie scheint eher aus einem industriellen Fertigungsprozess als aus einer handwerklichen Tradition zu stammen. Wollen wir die Welt wirklich so? So genau, geschliffen und kalt?

Ganz zu schweigen vom Albtraum der Oberflächlichkeit, der ist fürchterlich. Dieser hartnäckige Verdacht, dass die von den neuen Technologien diktierte Wahrnehmung der Welt einen großen, wahrscheinlich den besten Teil der Wirklichkeit verpasst: den, der unter der Oberfläche der Dinge pulsiert, dort, wohin nur ein geduldiges, mühsames und aufwendiges Vorgehen führen kann. Es ist ein Ort, für den wir einst ein Wort prägten, das dann zum Fetisch wurde: TIEFE. Darin drückte sich die Überzeugung aus, dass die Dinge, freilich versteckt an fast unerreichbaren Orten, einen Sinn haben. Er zeigte einen Ort an – und wer wollte leugnen, dass die neuen Techniken, mit denen wir die Welt lesen, eigens dafür geschaffen scheinen, den Abstieg an diesen Ort unmöglich und eine schnelle, unerschöpfliche Bewegung an der Oberfläche der Dinge fast obligatorisch zu machen? Was wird aus einer Menschheit, die nicht mehr zu den Wurzeln hinabsteigen und zu den Quellen hinaufgehen kann? Wozu soll die Geschicklichkeit dienen, mit der sie zwischen den Zweigen hin und her hüpft und auf der schnellen Strömung surft?

Seit Jahren habe ich nicht mehr so viele Fragezeichen hintereinander geschrieben.

Was ich über Ängste wie diese denke: Sie heute zu haben zeugt nicht von Dummheit, wie die elitärsten Flügel der Revolution behaupten, nein, sie sind das Ergebnis einer Anzahl von Indizien, die zu ignorieren Dummheit wäre. Wahr ist aber auch:

► In jede einzelne dieser Ängste haben wir einen Schritt eingeschrieben, den wir gerade vollziehen und durch den wir uns verbessern. Könnten wir auf jede der obigen Fragen eine Antwort geben, bekämen wir das Inhaltsverzeichnis unserer Revolution in die Hand. Denn die Landkarte dessen, was wir zustande bringen, ist auf die Rückseite unserer Ängste gezeichnet. So überschreiten wir die Grenze zu einer neuen Kultur, ohne aufzufallen, weil wir im doppelten Boden unserer Zweifel die heimliche Gewissheit eines neuen genialen Gelobten Landes verstecken. ◄

Es ist eine ziemlich aufregende Reise, darum habe ich mich oft mit Beobachtungen aufgehalten und verspätet, sodass ich zurückblieb und nicht mit denen Schritt hielt, die die Reise wirklich unternehmen. Aus dieser seltsamen Perspektive des verspäteten Kartographen und gelehrten Uninformierten sammle ich weiter Notizen und Skizzen, in die ich kühn Namen und Orte einsetze. In Momenten des hellsichtigsten Optimismus träume ich von der Präzision einer echten geographischen Karte und davon, dass sich jede meiner Intuitionen in die schöne Ordnung einer Weltkarte einfügt. Es sind rare Momente, und weil ich sie nicht vergeuden will, hielt ich es für unvermeidlich, dieses Buch zu schreiben – was ich mit aller Sorgfalt, zu der ich fähig bin, tun werde.

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Zunächst wäre es gut, zu verstehen, was passiert ist. Was wirklich passiert ist.

Ich denke, die glaubwürdigste Hypothese lautet: Das Aufkommen der Digitalisierung hat eine technologische Revolution ausgelöst. Binnen kurzer Zeit hat sie eine deutliche Veränderung in den menschlichen Denk- und Verhaltensweisen bewirkt. Niemand kann sagen, wie das endet.

Voilà.

Und jetzt wollen wir mal sehen, ob man das besser machen kann.

Der Begriff DIGITAL kommt vom lateinischen digitus, Finger. An den Fingern zählen wir ab, darum bedeutet DIGITAL auch in etwa NUMERISCH. In unserem Zusammenhang wird der Begriff für ein ziemlich geniales Verfahren benutzt, mit dem sich jede beliebige Information in eine Zahl übersetzen lässt. Es handelt sich um Zahlen aus einer Folge von zwei Ziffern, die 0 und die 1. Man könnte auch die 7 oder 8 nehmen, wichtig ist, dass es nur zwei Ziffern sind, die mehr oder weniger dem on und off, dem Ja und Nein entsprechen.

Gut. Wenn ich sage, jede beliebige Information in eine Reihe von Ziffern übersetzen, meine ich nicht Informationen, die ihr in der Zeitung findet, die Nachricht des Tages, das Ergebnis eines Fußballspiels, den Namen des Mörders. Ich beziehe mich auf irgendein beliebiges Stück Welt, das in kleinste Einheiten zerlegt werden kann: Klänge, Farben, Figuren, Mengen, Temperaturen … Ich übersetze dieses Stück Welt in die digitale Sprache (eine bestimmte Folge von 0 und 1), und dort ist es nur noch eine Folge von Ziffern, hat kein Gewicht, kann überallhin geschickt werden, bewegt sich mit einer hinreißenden Geschwindigkeit fort, wird unterwegs nicht beschädigt, schrumpft nicht, macht keinen Schmutz und verdirbt nicht. Wohin ich es auch schicke, es kommt an. Wenn es am Ende seiner Reise eine Maschine gibt, die diese Zahlen aufzeichnen und in die ursprüngliche Information zurückübersetzen kann, ist die Sache geritzt.

Zum Beispiel die Farben. Ihr müsst das nicht wissen, aber eines Tages wurde jeder Farbe ein bestimmter Zahlenwert zugewiesen. Wenn ihr die ganze Geschichte hören wollt, man beschloss, dass es 16777216 Farben gibt, und jeder wurde ein Zahlenwert aus einer Folge von 0 und 1 zugewiesen. Zum Beispiel heißt das reinste Rot, das es gibt, nach seiner Digitalisierung so: 1111110000000000000000. Warum macht man etwas so Unpoetisches? Ganz einfach: Weil ich eine Farbe, die in eine Zahl übersetzt wurde, in Maschinen stecken kann, die sie verändern oder transportieren oder auch einfach aufbewahren können. Für die Maschinen ist das eine lächerlich leichte Aufgabe, sie machen nicht den kleinsten Fehler, erledigen das in schwindelerregender Schnelligkeit und zum Spottpreis. Jedes Mal, wenn ich die wirkliche Farbe wiedersehen will, sage ich der Maschine, sie soll sie mir zurückgeben, und sie tut es.

Bemerkenswert.

Genauso funktioniert das bei Klängen, den Buchstaben des Alphabets oder unserer Körpertemperatur. Stücke der Welt.

Ende der siebziger Jahre begann die Erfolgsgeschichte dieses kleinen Tricks. Damals waren alle Daten, die wir aufbewahrten oder weiterleiteten, anders verpackt, man nannte das ANALOG. Das Analoge war, ähnlich wie andere alte Dinge, zum Beispiel Kompasse oder Großeltern, eine vollständigere Methode, die Wirklichkeit zu verzeichnen, genauer, sogar poetischer, aber ihre Produkte waren auch verflucht kompliziert, störanfällig und leicht verderblich. Analog war zum Beispiel das Thermometer mit Quecksilber fürs Fiebermessen. Das Quecksilber in der Röhre reagierte auf Wärme, dehnte sich aus, und wir leiteten unsere Temperatur aus seiner Bewegung ab. Auf das Glasröhrchen gedruckte Zahlen übersetzten diese Ausdehnung in das Urteil einer genauen Körpertemperatur aus Grad Celsius [bei über 37,5 musste man nicht zur Schule]. Heute ist das Thermometer digital, man legt es an die Stirn, drückt auf einen kleinen Knopf und zack, sofort nennt es dir eine bestimmte Temperatur. Ein Sensor hat eine Temperatur gemessen, die einer bestimmten Zahlenfolge aus 0 und 1 entspricht, der Apparat registriert und übersetzt sie dann auf dem Display in einen Wärmegrad. Als Erfahrungstyp erinnert das sehr an den Übergang vom Tischfußball zum Videospiel.

Zwei Welten.

Das Quecksilber-Thermometer und das digitale.

Vinyl-Schallplatte und CD.

Der Filmstreifen und die DVD.

Tischfußball und Videospiel.

Zwei Welten.

Ein möglicher Mangel der zweiten (digitalen) Welt ist, dass sie nicht sämtliche Nuancen der Wirklichkeit verzeichnen kann, sie macht dabei manchmal Sprünge. Wenn der Zeiger der Kirchturmuhr mit einer kontinuierlichen Bewegung weiterrückt, füllt er jeden noch so winzigen Augenblick der Zeit, wie auch das Quecksilber, das sich im Thermometer ausdehnt, bei seiner Bewegung jeden winzigen Temperaturgrad ausfüllt. Eure Digitaluhr tut das nicht, sie zählt die Sekunden, vielleicht auch die Zehntel- oder Hundertstelsekunden, aber irgendwann hört sie auf zu zählen und springt über zur nächsten Zahl. In diesem Zwischenraum steckt ein (unendlich winziges) Stück Welt, das die digitale Messung unterwegs verliert.

Andererseits hat das digitale System einen unschätzbaren Vorteil: Es eignet sich perfekt für Computer. Das heißt für Maschinen, die die Wirklichkeit berechnen, verändern und übertragen können, vorausgesetzt, man verschafft ihnen die Wirklichkeit in der Sprache, die sie kennen: Zahlen. Und darum sind wir, je besser die Computer nach und nach wurden und sich langsam einer individuellen Nutzung annäherten, zur Digitalisierung übergegangen. Praktisch bedeutet das, dass wir die Wirklichkeit in unendlich kleine Teilchen zerstückelt und jedem einzelnen eine Folge aus 0 und 1 verpasst haben. Wir haben die Welt digitalisiert, also in Zahlen verwandelt. Damit haben wir sie veränderbar, speicherbar und reproduzierbar gemacht. Und die Maschinen, die wir erfunden haben, können sie übertragen. Das tun sie sehr schnell, fehlerlos und mit geringen Kosten. Niemand hat es bemerkt, aber es hat einen Tag gegeben, an dem jemand ein Bruchstückchen Welt digital abgespeichert hat, und dieses Teilchen war das Zünglein an der Waage, das sie dann für immer zugunsten der Digitalisierung ausschlagen ließ. Fragt mich nicht, woher, aber wir wissen, wann das war: 2002. Wir benutzen dieses Datum als präzisen Punkt in der Zeit, an dem wir den Scheitelpunkt überschritten haben und vor der Zukunft standen.

2002.

Auf der anderen Seite ging es dann sehr schnell hinunter: Das Entstehen des Webs und die teilweise geniale Anwendung des digitalen Formats für eine ziemlich beeindruckende Reihe von Technologien hat mit überwältigender Evidenz hervorgebracht, was wir jetzt mit Fug und Recht die DIGITALE REVOLUTION nennen können. Sie ist inzwischen gut vierzig Jahre alt, und seit etwa einem Jahrzehnt hat sie die vorhergehende Macht offiziell abgelöst. Sie ist das, was unsere Kinder anscheinend verdummt hat.

Recht einfach, oder? Der schwierige Teil kommt jetzt.

Revolution ist ein ziemlich allgemeiner Begriff, den wir häufig gedankenlos gebrauchen. Wir beschreiben damit historische Umwälzungen, die Berge von Toten kosteten (Französische Revolution, Russische Revolution), oder verschwenden ihn für Kleinigkeiten wie den Wechsel zur Abwehrformation in Dreierkette bei unserer Lieblingsmannschaft (taktische Revolution).

Auf jeden Fall bedeutet er, dass jemand, statt sich einen guten Schachzug zu überlegen, das ganze Schachbrett verändert. Das nennt man Paradigmenwechsel.

Im Prinzip scheint das auf unsere digitale Revolution genau zuzutreffen.

Aber es gibt zwei unterschiedliche Arten von Revolution, und hier muss man sehr genau unterscheiden. Die Revolution des Kopernikus, der erkannte, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, ist nicht die Art Revolution, die wir als Französische Revolution kennen; so wie auch die Erfindung der Demokratie in Athen im fünften Jahrhundert vor Christus nicht mit der Erfindung der Glühbirne (Edison, 1879) vergleichbar ist. All das waren Leute, die neue Schachbretter erfunden haben, doch das Spiel scheint nicht unbedingt dasselbe zu sein.

Wenn wir von der digitalen Revolution sprechen, ist zum Beispiel ziemlich klar, dass es sich um eine technologische Revolution handelt: die Erfindung von etwas, das neue Arbeitsgeräte und ein anderes Leben hervorbringt. Wie der Pflug, die Feuerwaffen, die Eisenbahnen. Da wir inzwischen eine ganze Menge technologischer Revolutionen erlebt haben, verfügen wir über einige interessante Statistiken, und wenn man sie genau untersucht, zeigt sich deutlich:

► Technologische Revolutionen können phantastische Errungenschaften sein, aber sie führen nur selten unmittelbar zu einer geistigen Revolution, nämlich zu einer ebenso sichtbaren Veränderung der Denkweise der Menschen. ◄

GUTENBERG Zum Beispiel die Erfindung des Buchdrucks (Gutenberg, Mainz, 1436–1440). Eine revolutionäre Tat, deren gewaltige Auswirkungen wir würdigen. Zwar ließ sie einen Gutteil der oralen Kultur (zuvor unangefochtene Herrscherin in einer Welt von Analphabeten) mausetot auf dem Schlachtfeld zurück, öffnete dem menschlichen Denken, seiner Freiheit und Kraft aber gleichzeitig unermesslich weite Horizonte. Denn sie hob ein Privileg auf, das die Verbreitung von Ideen und Informationen jahrhundertelang untrennbar an die Kontrolle der jeweiligen Machthaber geknüpft hatte. Nun musste, wer seine eigenen Ideen in Umlauf bringen wollte, nicht mehr über ein Netzwerk von Schreibern verfügen, das sich kein Privatmann hätte leisten können und das außerdem eine sehr komplizierte und langsame Maschinerie darstellte, mit der kein Profit zu machen war. Großartig. Doch obwohl die Erfindung des Buchdrucks in unseren Augen ein großer technischer Fortschritt war, ist sie kein erkennbares Erdbeben in der geistigen Haltung der Menschen, das mit den Folgen der wissenschaftlichen oder der romantischen Revolution vergleichbar wäre. Ähnlich wie andere technologische Revolutionen scheint sie nicht unmittelbar zu einer geistigen Mutation geführt zu haben. Es ist, als wäre sie steckengeblieben, bevor sie ans Ziel kam, und hätte den Menschen so Zeit gelassen, Maßnahmen zu ergreifen, um sie unter Kontrolle zu halten. Sie blieb ein genialer Schachzug in einer Partie, die sich danach nicht sehr veränderte und nach denselben Regeln weiterging, aus Respekt vor einem Spiel, das im Kern das gleiche blieb.

STEPHENSON Ich nenne ein anderes, weniger bequemes Beispiel: die Erfindung der Dampfmaschine (England, 1765). Auch hier handelt es sich nicht einfach nur um eine geniale Erfindung: Das Ding hat die Welt verändert. Dieser Erfindung verdanken wir die industrielle Revolution, die wir tatsächlich als Revolution erinnern. Sie hatte unberechenbare Konsequenzen nicht nur für die täglichen Gewohnheiten der Menschen, sondern auch für die soziale Geographie der Welt: Die bis dahin gebräuchliche Karte, auf der die Routen des Geldes und die Grenzen zwischen Reich und Arm eingezeichnet wurden, war genau an dem Tag veraltet, als der erste dampfgetriebene Webstuhl seinen Betrieb aufnahm. Alles sollte sich ändern, und das auf so radikale und gewalttätige Weise, dass wir einen Gutteil des grauenvollen blutigen Kampfes, der das zwanzigste Jahrhundert war, auf das Knarren dieser anscheinend harmlosen Maschine zurückführen können. Beeindruckend. Doch auch hier: Diese umwälzende Neuerung schien bis ins Innerste der menschlichen Identität zu dringen, doch dann wurde sie alltäglich, und wenn wir heute die Weiche suchen, an der unsere Auffassung vom Wesen des Menschen umgelenkt und in eine neue Richtung bewegt wurde, denken wir nicht an Stephensons Dampflokomotive und auch nicht an die trostlose Düsternis in den ersten englischen Fabriken. Viel eher denken wir an den Humanismus, an die Aufklärung. Wirkliche geistige Revolutionen, die mit dem technischen Fortschritt wenig mehr als eine Höflichkeitsbeziehung zu unterhalten scheinen. Heute, mit dem Abstand einiger Jahrhunderte, können wir förmlich sehen, wie sie als Öl in das Getriebe der Welt tropften, um schließlich ein hydraulisches System zu schmieren, das ungeheure Flächen – tonnenschwere ideologische Platten – in Bewegung setzen konnte, und was sie antrieb, war die ehrgeizige Absicht, die tragende Struktur des menschlichen Empfindens oder auch die Erdkruste des Planeten Mensch umzugestalten. Das waren nicht einfach nur grandiose Schachzüge: Das war ein ganz neues Spiel.

Tatsächlich können wir etwas vereinfachend sagen, dass viele Revolutionen die Welt verändert haben, und oft waren es technologische Revolutionen, aber es gab nur wenige, die die Menschen radikal verändert haben. Vielleicht sollte man sie GEISTIGE REVOLUTIONEN nennen. Merkwürdig ist, dass WIR UNSERE REVOLUTION, DIE DIGITALE REVOLUTION, ZUR ZWEITEN GRUPPE, DEN GEISTIGEN REVOLUTIONEN, ZÄHLEN. Obwohl sie uns eindeutig wie eine technologische Revolution erscheint, attestieren wir ihr eine Reichweite, die technologische Revolutionen normalerweise nicht haben. Wir halten sie für fähig, eine neue Idee der Menschheit hervorzubringen. Und genau an dieser Stelle reagieren wir, hier entspringen unsere Ängste. Wir begnügen uns nicht damit, die Gefahren zu benennen, die man jeder technologischen Revolution vorwerfen kann: Viele Arbeitsplätze gehen verloren, der Reichtum wird ungerecht verteilt, ganze Kulturen werden ausgelöscht, der Planet Erde leidet, die alten Milchhandlungen schließen usw. Natürlich erheben wir all diese Einwände, doch wie man sah, gehen wir im geeigneten Moment zu höheren Ängsten über, die das moralische, geistige, sogar genetische Gewebe der Menschen betreffen. Es sind Ängste vor einer radikalen Mutation, der Entstehung eines ganz neuen Menschen, die zufällig einem unwiderstehlichen technischen Einfall entsprang. In der kleineren, weil technologischen Revolution ahnen wir die größere, weil erkennbar geistige Revolution.

Das ist ein entscheidender Punkt, der Aufmerksamkeit verlangt. Also stellt das Smartphone bitte auf Flugmodus, gebt dem Kind seinen Schnuller, denn dass er den Gaumen verformt, muss ohnehin noch bewiesen werden.

In der kleineren, weil technologischen Revolution ahnen wir die größere, weil erkennbar geistige Revolution.

Das ist eine Reaktion, die wir in einem Standbild festhalten müssten – um es dann genau zu betrachten und uns zu fragen: Was zum Teufel tun wir da? Überbewerten wir, was wir anrichten? Unterstellen wir einer einfachen technologischen Wende eine Wichtigkeit, die sie gar nicht haben kann? Lassen wir uns von Panik überwältigen? Ist das alles ein grobes Missverständnis, von unseren Ängsten erzeugt?

Möglich, aber ich würde nicht drauf wetten.

Im Gegenteil, ich bin mir sicher, dass an unserem Verdacht, hier würde sich nicht etwas, sondern alles ändern, etwas Wahres dran ist. Dank eines bewundernswerten animalischen Instinkts erkennen wir in dem, was gerade geschieht, eine Mutation, die nicht bei der Art und Weise haltmachen wird, wie wir ein passendes Restaurant auswählen. Blindlings, obwohl wir eigentlich sehr gut sehen.

Und nun?

Ich versuche, es so einfach wie möglich auszudrücken: Aller Wahrscheinlichkeit nach erleben wir wirklich gerade eine geistige Revolution, und wenn ihr jetzt fragt, warum, wo doch technologische Revolutionen bis jetzt noch nie ein so großes Durcheinander angerichtet haben, dann sage ich: Wir versteifen uns auf eine falsche Perspektive. Ein banaler Irrtum, der verständlich ist, aber heimtückisch und schwer auszumerzen: WIR GLAUBEN, DASS DIE GEISTIGE REVOLUTION EINE WIRKUNG DER TECHNOLOGISCHEN REVOLUTION IST, ABER WIR SOLLTEN EINSEHEN, DASS ES SICH GENAU UMGEKEHRT VERHÄLT. Wir denken, dass die digitale Welt die Ursache von allem ist, müssten sie aber, umgekehrt, als das lesen, was sie wahrscheinlich ist, nämlich eine Wirkung, die Konsequenz einer geistigen Revolution. Wir betrachten die Landkarte von der verkehrten Seite, glaubt mir. Wir müssen sie umdrehen. Wir müssen diese verdammte Folge umkehren: erst die geistige Revolution, dann die technologische. Wir glauben, dass Computer eine neue Form von Intelligenz (oder Dummheit, nennt sie, wie ihr wollt) hervorgebracht haben. Falsch. Dreht die Folge aus Ursache und Wirkung um, und zwar sofort: Eine neue Form von Intelligenz hat die Computer hervorgebracht. Das bedeutet: Bestimmte geistige Mutanten haben sich Werkzeuge gebaut, die zu ihrer Lebensweise in dieser Welt passten, und das haben sie sehr schnell getan. Was sie taten, nennen wir digitale Revolution. Macht weiter, kehrt die Abfolge um, bleibt jetzt nicht stehen. Fragt euch nicht, zu welcher Denkweise die Nutzung von Google führen kann, fragt euch, mit welcher Art des Denkens man sich ein Instrument wie Google erschafft. Hört auf, darüber nachzugrübeln, ob der Gebrauch des Smartphones uns von der Realität abtrennt, und nehmt euch genauso viel Zeit, um herauszufinden, welche Art Verbindung mit der Realität wir gesucht haben, als uns das Festnetztelefon endgültig ungeeignet erschien. Ihr meint, dass Multitasking auf die Dauer unfähig macht, den Dingen die gebotene Aufmerksamkeit zu widmen? Dreht die Reihenfolge um: Aus welcher Ecke versuchten wir herauszukommen, als wir Werkzeuge geschaffen haben, die uns endlich gestatteten, an mehreren Tischen gleichzeitig zu spielen? Wenn die digitale Revolution euch erschreckt, dreht die Abfolge aus Ursache und Wirkung um und fragt euch, wovor wir davonliefen, als wir die Tür zu einer solchen Revolution aufstießen. Sucht nach der Intelligenz, von der die digitale Revolution ausgelöst wurde – das ist sehr viel wichtiger, als die Intelligenz zu untersuchen, die von ihr geprägt wurde. Erstere ist ihre ursprüngliche Matrix. Denn der neue Mensch ist nicht der, der vom Smartphone erzeugt wurde, es ist der, der es erfunden hat, der es benötigte, der es zu seinem Nutzen und Gebrauch entworfen hat, der es baute, um aus einem Gefängnis zu entfliehen oder eine Frage zu beantworten oder eine Angst zu beschwichtigen. Pause. Eine letzte Anstrengung.

► Also müssen alle digitalen Festungen, die unsere Landschaft mittlerweile strukturieren, als geologische Formationen gelesen werden, die durch ein unterirdisches Erdbeben in Richtung Himmel geschoben wurden.

Dieses Erdbeben ist die geistige Revolution, deren Kinder wir sind. Es ist in einem Anderswo und in einer Zeitenwende passiert, von denen wir zumeist weder Kenntnis noch Bewusstsein haben. Doch wir können sie anhand der dramatischen Veränderungen erkennen und erforschen, die sie in der Erdkruste unserer Handlungen, Gewohnheiten und geistigen Haltungen bewirkt haben.

Viele dieser Veränderungen lassen sich tatsächlich auf die digitale Revolution zurückführen, und gerade sie erscheinen uns wie die Schrift, mit der wir die jüngsten Codes der Mutation festgehalten haben. Wenn wir sie nicht mit der Ursache von allem verwechseln, haben sie uns sehr viel zu sagen und zu enthüllen.

Wir sollten sie wie Ruinen behandeln, wie archäologische Fundstücke, aus denen wir auf eine verborgene Kultur schließen können. Unsere Kultur. ◄

Ihr könnt das Handy wieder anstellen, danke.

Ich fasse zusammen: Dreht diese verdammte Karte um.

Die digitale Revolution liegt unten, nicht oben.

Ja, so.

Gewöhnt euch daran, die digitale Welt als eine Wirkung anzusehen, nicht als eine Ursache. Richtet euren Blick auf den Punkt, an dem alles angefangen hat. Sucht die geistige Revolution, von der alles herrührt. Wenn es einen Menschheitsentwurf gibt, an dem dies alles mitwirkt, steht er dort geschrieben.

Gut.

Zugegeben, die Karte ist noch fast ganz weiß, aber wir halten sie wenigstens richtig herum.

Glaubt mir, das war die schwierigste Aufgabe.

Jetzt können wir anfangen, zu messen, ein paar Namen einzusetzen, ein paar Grenzen zu ziehen.

Unser Ausgangspunkt ist die Idee von der digitalen Revolution als einer Gebirgskette, die durch ein Erdbeben entstand. Und wir versuchen, sie zu zeichnen.

Play

1978. Der Null-Wirbel

Obwohl die digitale Revolution ein vielgliedriges Gebilde aus Phänomenen und Ereignissen ist, kann man versuchen, ihre Wirbelsäule zu zeichnen: Sie ist die Reihe besonders hoch aufragender Gipfel, geologischer Formationen, die von den Erschütterungen des Erdbebens, das wir zu begreifen versuchen, höher hinaufgetrieben wurden als andere. Wir beginnen unseren Versuch, indem wir eine Art symbolischen NULL-WIRBEL herausarbeiten. Erwartet bitte nichts Besonderes: Ich denke an ein Videospiel.

Es heißt Space Invaders. Die Millennials, also die um die Jahrtausendwende geborene Generation, weiß wahrscheinlich nicht einmal mehr, was das ist. Ich weiß es, denn ich habe das Spiel gespielt, ich war zwanzig und hatte unerklärlicherweise Zeit totzuschlagen. Ein japanischer Ingenieur, Nishikado Tomohiro, hatte es erfunden. In dem Spiel ging es darum, Außerirdische abzuschießen, die auf ziemlich dumme, immer gleiche, vorhersehbare, aber tödliche Weise vom Himmel herabstürzten. Während ihres Falls wurden sie schneller, und wenn sie bei dir ankamen, konntest du einpacken.

Die Graphik war aus heutiger Sicht sträflich primitiv: Die Aliens (die in Italien marzianini, Marsmännchen, hießen) sahen aus wie von einem Idioten gezeichnete Spinnen. Alles war strikt zweidimensional und in Schwarzweiß. Todesanzeigen in der Zeitung waren witziger.

Es gab damals keine Computer in den Wohnungen, also spielte man Space Invaders in öffentlichen Spielhallen (es konnten auch Bars sein), wo eine Art Möbelstück stand, dessen Dimensionen mir heute unerklärlich sind. In dem Möbel steckten ein Bildschirm von der Größe eines kleinen Fernsehers und eine schlichte Konsole mit drei Tasten oder, bei den raffinierteren Versionen, ein Joystick und zwei Tasten.

Man musste sich ein bisschen bücken, eine Münze in den Schlitz stecken, Play drücken und dann wie ein Verrückter schießen, indem man auf die Tasten haute. In Japan war das eine Münze zu 100 Yen, und es spielten so viele Menschen Space Invaders, dass diese Münze bald nicht mehr aufzutreiben war und die staatliche Münzprägestelle eilig Nachschub drucken musste.

Dieser Riesenerfolg kann uns etwas lehren, aber nur, wenn wir uns an zwei andere Spiele erinnern, die in den Spielhallen und Bars standen, bevor das triste Space Invaders-Möbel dort eintraf: Tischfußball und Flipperautomaten.

Und hier sind wir an einem wichtigen Punkt.

Wenn ihr einen Schritt zurückgeht, nein, zwei, seht ihr eine Abfolge von Spielen vor euch, die euch das Wesen der digitalen Revolution besser als alles andere fühlen lässt, bevor ihr es versteht.

Die Abfolge: Tischfußball, Flipper, Space Invaders.

Zieht nicht so ein Gesicht, habt Vertrauen.

Und seht euch diese Folge gut an. Versucht, sie körperlich zu spüren, spielt im Geist diese drei Spiele, eins nach dem anderen. Ihr werdet merken, dass sich bei jedem Wechsel zum nächsten Spiel etwas auflöst, dass alles abstrakter wird, leichter, flüssiger, künstlicher, schneller, knapper. Eine Mutation. Ganz ähnlich der, die uns vom Analogen zum Digitalen geführt hat.

Es ist nichts Verkopftes, es hat vor allem mit körperlichen Empfindungen zu tun. Beim Tischfußball spürst du die Schüsse in der Handfläche, die Geräusche sind echte, mechanische Geräusche, alles ist sehr real, der Ball existiert wirklich, du arbeitest körperlich, bewegst dich, schwitzt. Beim Flipper ändert sich etwas, das Spiel liegt unter einer Glasplatte, die Geräusche werden vorwiegend elektrisch erzeugt, der Abstand zwischen dir und dem Ball ist größer, alles ist in zwei Tasten konzentriert, die dir eine schwache Empfindung vom Ball vermitteln, eine Art Halbwahrnehmung. Die Handbewegungen, die dir beim Tischfußball in beliebig vielen Geschwindigkeiten und Varianten des Zupackens zur Verfügung standen, werden hier in der Arbeit zweier Finger konzentriert. Diese bewahren zwar noch eine gewisse Anzahl an Wahlmöglichkeiten, aber sie ist begrenzt und im Grunde nur erfahrenen Spielern vorbehalten. Der Körper schaut eigentlich nur zu, ist fast ausgeschlossen vom Geschehen. Es überlebt eine bestimmte Beckenbewegung, mit der man den rollenden Ball von seiner Bahn ablenken und peinliche sexuelle Anspielungen provozieren konnte. Aus beiden Gründen war es verboten, die Bewegung zu sehr zu betonen.

Und jetzt spielt Space Invaders.

Der Körper? Verschwunden. Es gibt fast nichts Körperliches im engeren Sinne mehr, der Ball (die Marsmännchen) ist nicht real, die Geräusche sind es auch nicht. Ein Bildschirm, den es beim Tischfußball nicht gab und der beim Flipper nur die Punkte zählte, hat hier alles verschlungen, indem er selbst zum Spielfeld wurde. Alles ist immateriell, graphisch, indirekt. Wenn es eine Realität gibt, dann wird sie als Darstellung hinter Glas geboten, und die Kommandos, mit der ich sie verändern kann, bleiben ihr äußerlich, teilen ihr auf unpersönliche Weise Befehle mit. Wenn man es so beschreibt, erscheint das alles sehr kalt, zwanghaft, sterbenslangweilig und im Grunde traurig. Doch jetzt fangt an zu spielen und versucht die Glätte der Spielfläche wahrzunehmen, das Fehlen jeglichen Widerstands, die Leichtigkeit der Bewegungen, den flüssigen Ablauf von Befehlen und Entscheidungen, die Reduktion jeder beliebigen Spielsituation auf ihren Kern, die Reinheit des ganzen Systems, die Möglichkeit fast absoluter Konzentration, die Schnelligkeit des Geschehens. Ich wette, ihr fangt an zu begreifen, warum den Japanern die Münzen ausgingen.

Jetzt kehrt eine Nanosekunde lang zu den Griffen des Tischfußballs zurück. Ihr zuckt zusammen, stimmt’s? Als hätte man euch aus einer Meditationssitzung gerissen und mitten in eine Diskussion am Kneipentresen gestellt. Alles ist plötzlich so dicht, verwickelt, ungenau und unangenehm real … Nein, das eine ist nicht besser als das andere, das kann man nicht sagen, aber sie sind auf jeden Fall unterschiedlich, wirklich unterschiedlich. In welchem Spiel, würdet ihr sagen, seid ihr präsenter, lebendiger, mehr ihr selbst?

Hüpft eine Weile um den Kickertisch herum und kehrt dann flugs zur Spielkonsole von Space Invaders zurück.

Macht dieses Hin und Her ein paar Mal und haltet euch vielleicht zwischendurch kurz an der Zwischenstation des Flipperautomaten auf.

Tut das ernsthaft.

Spürt ihr die Migration?

Ich meine wirklich MIGRATION: Der Schwerpunkt, um den herum die ganze Sache aufgebaut ist, verschiebt sich, viele Details gleiten von einer Seite der Landschaft zur anderen hinüber, und sogar eure Fähigkeiten, eure Möglichkeiten, eure Wahrnehmungen und Gefühle tauschen den Platz. DIE KÖRPERLICHKEIT DER ERFAHRUNG VERWANDELT SICH.

Es sind nur drei Spiele, doch wie viel wandert aus auf dem Weg vom Ältesten zum Neusten!

Verliert keine Zeit damit, zu beurteilen, was besser und was schlechter ist. Konzentriert euch und versucht, diese Migration in einem Blick, in einer einzigen Empfindung zusammenzufassen. Vor allem in einer Empfindung.

Geschafft? Gut. Was ihr empfindet, ist die Art gleitender Bewegung, die den Übergang vom Analogen zum Digitalen kennzeichnet. Ihr drückt auf den zentralen Nerv unserer Revolution. Ihre grundlegende Bewegung. Ihr Geheimnis, wenn man so will.

Space Invaders