Muffensausen - Christoph Dörr - E-Book

Muffensausen E-Book

Christoph Dörr

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Beschreibung

Warum heiraten? Es läuft doch gerade so gut.

Nina und Philipp sind seit drei Jahren ein Paar, gerade frisch zusammengezogen und lieben sich sehr. An einem romantischen Abend macht Nina ihm spontan einen Antrag: »Willst du mich heiraten?« Bamm! Eigentlich ist es für ihn keine Frage, schließlich ist sie seine Traumfrau. Dennoch fühlt Philipp sich nicht überwältigt, sondern überrumpelt. Er verpatzt den Moment komplett: »Warum heiraten? Es läuft doch gerade so gut.« Als Nina daraufhin abhaut, merkt er schnell, dass er sie nur mit dem weltallerbesten Heiratsantrag zurückgewinnen kann. Gesagt, getan – doch damit beginnt ein Albtraum in Weiß…

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Christoph Dörr

MUFFEN

SAUSEN

ROMAN

1. Auflage

Originalausgabe September 2014 bei Blanvalet Verlag,

einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © 2014 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Redaktion: Kristof Kurz

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-12363-5www.blanvalet.de

für meine Anja,die ich mit dem Herzen bewundere.

Willst Du mich heiraten?

1. Kapitel

Vor meinen Augen flimmert die Luft. Windstoß um Windstoß bläst mir ins Gesicht, fauchend wie ein Hitzeschwall aus der Sahara. Meine Lippen brennen, meine Augenlider zucken. Mit jedem Atemzug lodert die heiße Luft durch die Nasenlöcher, die sich bebend weiten. Ich keuche, atme immer schwerer.

Um mich herum sitzen Männer und Frauen, dicht an dicht gedrängt. Ihre Gespräche sind schon seit Minuten verstummt, sie ächzen nur noch. Von hinten prustet mir jemand schwer in den Nacken. Der sehnige Typ links neben mir japst, zieht schnaufend Luft ein, die Augen zu, als wolle er sie vor dem Unausweichlichen verschließen. Die Menschen verharren angestrengt, sie sind schweißgebadet.

Rechts von mir kauert die süße Frau, einzelne Schweißperlen rinnen ihren Arm hinab und tropfen in den Schoß. Die feuchte Haut ihres Bauches schimmert. Als sie sich mir zudreht, schmatzt ihr glitschiger Körper.

Die stickige Luft schmeckt nach Zitronen. Hier und da knarrt Holz. Raus, ich muss raus hier, die flammende Hitze schnürt mir die Kehle zu. Aber wenn ich jetzt aufgebe, halten mich die anderen für eine Memme. Erneut verdampft Wasser, zischend wie eine wütende Natter. Es folgt das Geräusch eines flatternden Propellers, und wieder walzt eine Woge sengender Hitze über uns hinweg. Dann verebbt das Fauchen des Wüstenwindes.

»Das war unser Limonenaufguss. Ich wünsche Ihnen weiterhin gute Entspannung«, sagt der junge Kerl, der eben noch mit seinem Handtuch die Hitze auf unsere Gesichter gefächelt hat. Jetzt nimmt er seine Schöpfkelle und packt sie zurück in den Holzbottich. Endlich, wir haben es geschafft. Meine Süße steht auf und schlängelt sich hinter den anderen am Steinofen vorbei. An der Tür atmet sie noch einmal hörbar aus.

»Aufregend, so ein Saunagang«, sagt Nina.

»Schweißt zusammen«, grinse ich sie an.

Nina hüllt ihren grazilen Körper in einen Bademantel, ich nehme meinen vom Haken. Nebenan prasselt bereits das Wasser aus den Duschen. Wir treten aus der Holzhütte ins Freie, lösen uns aus der Umklammerung des Schwitzkastens. Über dem Whirlpool des Außenbereichs ziehen dampfend weiße Schwaden hinweg.

Der Duft von Räucherstäbchen umweht uns, als wir durch den asiatischen Entspannungsraum im Neptunbad laufen. In goldglänzenden Buddhafiguren spiegelt sich das flackernde Licht der mehrarmigen Kerzenleuchter. Sogar in ihrem flauschigen Bademantel wirkt Nina sexy. Ja, selbst ein Astronautenanzug könnte ihre Erotik nicht bändigen. Der Mann im Mond würde ihr definitiv hinterherpfeifen.

Unter den blonden Haaren, die sich ihr feucht ins Gesicht kringeln, lächelt sie vergnügt. Nina nimmt meine Hand und schwingt unsere Arme, kindlich, wie eine Schaukel. Ich kann mich so glücklich schätzen, sie als Freundin zu haben. Seit sie mich vor drei Jahren zum ersten Mal angestrahlt hat, bereichert sie mein Leben. Ich wüsste gar nicht so recht, ob es ohne sie noch funktionieren würde. Was für ein schönes Gefühl. Und dieses Gefühl, meine Güte, macht mich gerade richtig scharf auf sie!

Ihr blöder Bademantel. Muss er mir derart die Sicht versperren? Nina sollte sich wie ein Weihnachtsgeschenk auspacken, es würde ein Kreischgefühl bei mir auslösen. Während wir an den Ruheliegen vorbeilaufen, versuche ich, ihr auf Brusthöhe eine Hand seitlich in den Frottee zu schieben. Leider nicht sonderlich elegant, nö, eigentlich eher ziemlich gierig.

»Philipp!« Gespielt tadelnd patscht sie mir auf die Finger. »Schau mal, was da an der Wand steht.«

»Äh, asiatische Schriftzeichen?«

»Daneben, auf dem Schild.«

Ich gehe näher ran und lese den Text unter der Überschrift ›Sauna-Knigge‹ laut vor: »Wir bitten Sie, den Austausch von Zärtlichkeiten in der gesamten Anlage zu reduzieren und in den Saunakabinen sowie in den Becken ganz zu unterlassen.«

Nina kichert. »Mit anderen Worten: Schweinkram verboten.«

»Da steht aber: ›Austausch von Zärtlichkeiten‹«, erwidere ich und gehe erneut auf Brustfühlung, »handfester Sex ist doch keine Zärtlichkeit …«

»Philipp, du riechst nach Öl und Zitronenaufguss, puuh.«

»Na und, Stinktiere paaren sich doch auch.«

Lächelnd entwindet sie sich meiner Umarmung und läuft ein paar Schritte voraus. Ich liebe dieses verrückte Huhn, greife ihre Hand.

»Du bist so intelligent und attraktiv.«

»Bin ich das wirklich?«

»Ja, bist du!«

Großartig genug, das würde ja schon reichen, das ist ja schon mehr, als ich verlangen darf. Aber nein, sie ist noch mehr: eine sinnliche Sinfonie der Sünde.

Eilig folge ich ihr durch die Glastür zum ›Kaiserbad‹. Im Erholungsbecken mit meditativer Unterwassermusik relaxen gerade nur wenige Gäste. Nina zieht ihre Schlappen aus, schiebt sie mit den Zehen zur Wand und lässt den Bademantel an sich heruntergleiten. Vorhang auf, Bühne frei, Spot an! Ein Mann, der gerade vorbeischlendert, versucht, seinen Seitenblick möglichst unauffällig erscheinen zu lassen. Was ihm nicht gelingt. Hey, nur ich allein darf meine Nina anstarren! Verzieh dich, schamloser Schurke! Meine stämmige Statur richtet sich auf, na ja, eigentlich bläht sie sich auf, drohend wie bei einem Auerhahn.

Wir steigen die Stufen ins wohlig warme Wasser hinunter. Augenblicklich entspannt sich mein Körper wieder. Aaah, das ist gemütliche Wärme, keine, die mich an der Kehle packt.

Nina paddelt an einer Säule im römischen Stil vorbei, legt sich Poolnudeln unter den Nacken und die Kniekehlen. Wie eine Hängebrücke liegt sie nun auf dem Wasser, ich streichle ihren Bauch. Um uns herum rinnen Tropfen über die Wandkacheln, von oben streut Tageslicht durch bunte Mosaikfenster. Ich kitzle Nina.

»Ey, Philipp!« Sie verliert das Gleichgewicht und kippt ganz ins Wasser.

»Frau über Bord«, sage ich und lache.

Das Becken ist blau ausgeleuchtet, durch Scheinwerfer am Grund verstärkt sich der Anschein, das Wasser würde durch den Boden hindurch ins tiefe Nichts fallen. Winzige Wellen wippen an uns vorüber, Nina schmiegt sich an meine Brust. Als wollte ich mit dem antiken Pfeiler konkurrieren, bekomme ich einen stattlichen Ständer.

»Rate mal, warum der Wasserspiegel gerade gestiegen ist«, raune ich ihr zu.

»Philipp, bitte – keine Körperflüssigkeiten im Becken«, sagt sie und schaut umher, ob uns jemand belauschen kann. »Es sei denn …«, Nina lässt die Hände an ihrer Hüfte hinabgleiten, »… in meinem.« Sie macht einen neckischen Schmollmund. »Aber nicht jetzt!«

Sie legt ihre Hände auf meine Schultern und drückt mich unter Wasser. Ich gebe nach und rutsche mit dem Rücken an den Kacheln hinab. Unter der Oberfläche bewege ich mich in Zeitlupe, schwebe entrückt wie im Weltall. Tatsächlich ist klassische Musik zu hören, im Becken klingt sie sphärischer. Trommeln kommen scheinbar auf mich zu und werden wieder leiser. Auch Harfen und Geigen säuseln durchs Becken. Um Luft zu holen, ploppe ich wie eine Boje an die Oberfläche und schüttle mich. Liebevoll berge ich Nina in meinem Arm und streichle ihre Wangen. »Ich bin echt so ein Glückspilz, dich gefunden zu haben.«

»Danke«, haucht sie und schmiegt sich noch enger an mich.

»Wirklich Nina, ich hätte mir nie träumen lassen, dass es eine wie dich gibt.«

Sie zittert, was nicht am warmen Wasser liegen kann. Dieser Moment ist so zärtlich, so zerbrechlich. Unversehens schaut sie mir endlos tief in die Augen.

»Du-u, Philipp …willst du mich heiraten?«

Bamm! Ihre Frage schlägt bei mir ein, als wäre gerade eine Arschbombe im Becken detoniert. Was war das denn jetzt? Mein Herz setzt einen Augenblick aus. Ich ducke mich unter Wasser. Orgelmusik, wie unpassend. Ich tauche wieder auf.

Eigentlich ist das für mich keine Frage, ich liebe sie ja. Dennoch trifft mich das so unverhofft wie ein Radarblitz. Nina schaut mich weiter an, nun unschlüssiger. Sie meint es ernst, natürlich. Ich sollte ihr antworten. Ohne weitere Verzögerung. Das Wasser steht mir bis zum Hals, jetzt tatsächlich.

»Ja?«, sage ich.

»Das Fragezeichen habe ich gehört.«

»Öhm, ja nee, so prinzipiell bin ich dafür.«

»So prinzipiell?«

»Ja, grundsätzlich ist das doch eine gute Sache.« Ich bin einfach immer noch zu baff, ihr eine klare Antwort geben zu können. Nina legt ihren Kopf schief, sagt aber nichts. »Also, das ist jetzt nicht nüchtern gemeint, soll jedenfalls nicht so klingen, klar sehe ich das schon auch emotional und so.« Meine Worte verheddern sich im Satz.

»Hallo, ich habe dir gerade einen Heiratsantrag gemacht«, sagt Nina leise, aber eindringlich, und fuchtelt mit den Händen.

»Hab ich gehört, ja. Also gerne gehört. Natürlich.« ›Warum nur bin ich nicht überwältigt?‹, schießt es mir durch den Kopf. ›Weil ich überrumpelt bin!‹, schießt es hinterher. »Das ist toll, Nina. Ich …ich …will nur nichts überstürzen.«

Nina sinkt jetzt tiefer ins Wasser, ihre schönen Brüste sind leider nicht mehr zu sehen.

»Liebst du mich?«, flüstert sie.

»Ja!«

Ihr Blick rutscht an den Kacheln herab. »Offenbar nicht genug.«

»Wie kannst du das nur sagen?«

Nina watet durchs Wasser und bleibt auf der Treppe stehen. »Dann zeig es auch.«

Sie dreht sich um und steigt aus dem Becken. So wendet mir Nina das Körperteil zu, dessen Anblick ich wohl gerade verdient habe. Ist sie jetzt sauer, nur weil ich das Becken nicht mit Freudentränen überschwappen lasse?

Die Entspannung und Wärme hier, diese ganze knisternde Atmosphäre – ich denke mal, Nina ist der Antrag einfach so rausgerutscht. Wenn sie erst mal geduscht und wieder einen klareren Kopf hat, wird sie schon merken, dass ihre Frage an Plötzlichkeit nicht zu überbieten war.

Ich betrete die gemischte Umkleide, dachte ich mir doch, dass sie schon hier ist.

»Ein großes Hallo an die schönsten Beine, die jemals in dieser Sauna zu sehen waren! Wobei mir andere natürlich gar nicht aufgefallen sind.«

»Ist gut«, sagt Nina und zieht sich ihre Jeans hoch.

Ich halte den Schlüssel ans Umkleidefach, der Farbcode springt auf grün.

»Du, Nina, wenn man so einen Antrag macht, müssen doch die Umstände stimmen.«

»Ich fand es harmonisch und romantisch.«

»Ja, das schon, aber wenn man heiraten will, muss man auch die ganze jobmäßige und familiäre Situation bedenken, was da nicht alles dranhängt. Ich meine, das fragt man doch nicht einfach so … so spontan.«

»Das war’s auch nicht.«

»Nicht?« Ich blicke von meiner Sporttasche auf.

»In dem Moment ja, aber ich warte jetzt seit über einem Jahr auf einen Antrag von dir.«

Uff, warum hat sie nie was gesagt? Um überlegen zu können, stecke ich meinen Kopf ins Handtuch und rubble meine brünetten Haare, die an den Schläfen mittlerweile grau unterwandert sind.

»Seit einem Jahr? Aber wir sind doch gerade erst zusammengezogen. Vor drei Wochen.«

»Drei Monaten«, zischt sie.

»Oh, echt?«

»Das hat doch überhaupt nichts damit zu tun.« Energisch schüttelt sie die lockigen Haare. »Heiraten zu wollen, das ist der Wunsch, sein Leben gemeinsam zu verbringen!«

»Ja guck, das ist doch noch genug Zeit, das ist doch echt ’ne Strecke! Also musst du nicht drängeln wie auf der Autobahn.«

»Ich drängle auch nicht, ich habe nur gefragt!« Sie knallt ihre Umkleidetür zu. »Wenn du den Kopf einziehst, sieh zu, dass er dir nicht zum Hintern wieder rauskommt!« Ja gut, als Ärztin kennt sie sich natürlich in der Anatomie aus.

Als Nina den Fön anmacht, erhält jede weitere Diskussion Gegenwind.

Bei Cousin Ralf war es doch auch so. Zehn Jahre glücklich mit seiner Lisa. Die Hochzeit nur noch Formsache. Mann, warum fährt der Idiot nur so dicht auf? Ich meine den Typ im Wagen hinter mir, aber für Cousin Ralf galt das auch. Ein halbes Jahr Ehe und Schluss. Ende. Scheidung. Die hatten noch nicht einmal alle Geschenke ausgepackt. Heiraten macht alles kaputt. Zack, das Verhalten ihrer Eltern haben sie angenommen. Nix mehr mit Surfen, Snowboard, Serengeti-Safari. Nur noch Kinderwunsch, Kaffee und Kuchen, Karriere.

»Wir sparen jetzt fürs Kind statt für neue Skier«, soll Lisa gesagt haben. So ein Quatsch. Erst Spaß und Romantik. Dann Spießertum. Heiraten macht alles kaputt.

Bisher hatten Nina und ich ein Freilos. ›Freilos‹, quasi zusammengesetzt aus ›freischwebend und sorgenlos‹. Was macht ein Antrag mit uns? Müssen wir unseren Tauchschein abgeben, um den Trauschein zu erhalten? Okay, Nina will Sicherheit, will spüren, dass aus unserer Beziehung noch mehr wird. Das verstehe ich ja. Aber wenn sich dann unsere Einstellung auch so plötzlich ändert? Was, wenn der Schritt in die Ehe nach hinten losgeht?

Es ist nur noch ein spärlicher Lichtstreifen, der am Kölner Himmel glimmt. Im Grüngürtel ist allerdings noch viel los, Männer spielen Fußball, Hunde springen nach Stöckchen, und die vielen Grills haben eine Qualmwolke über der Wiese aufsteigen lassen. Durch das offene Autofenster lässt sich der Sonntagabend erspüren, der für Anfang September noch sehr lau ist.

Nina unterbricht unser minutenlanges Schweigen. »Wie gut, dass hier nirgends steht: ›Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen‹.«

»Sag doch einfach, was du denkst«, antworte ich.

»Was ich denke? Dass ich dir einen Heiratsantrag gemacht habe, und du hier völlig ruhig und teilnahmslos sitzt, als wäre nichts gewesen!«

Ich halte die Arme angestrengt am Steuer. »Und deswegen bist du so gereizt?«

»Ich Schussel, warum nur.« Sie schaut mich noch verwunderter von der Seite an. »Klar, du hast ja nichts damit zu tun, also brauchst du keinen Mucks mehr von dir geben!«

Keinen Murks, Nina. Keinen Murks mehr von mir geben. Ich habe gerade mächtig das Gefühl, dass alles, was ich jetzt noch sage, gegen mich verwendet werden kann. Da ist es ja wohl allemal cleverer, die Klappe zu halten, bevor meine nächste Äußerung zur Eskalation führt.

Wir fahren am Mediapark vorbei, nur vereinzelt sind Spaziergänger unterwegs. Die Kinoreklame macht leuchtend auf sich aufmerksam. Jetzt scheint es vorbei mit der gelassenen Sonntagsstimmung. Schade.

»Mensch, Nina! Wir wollten doch unkonventionell bleiben, frei sein, Träume verwirklichen.« Also, es zumindest versuchen, um uns im Altenheim nicht grämen zu müssen.

»Ach, und verheiratet ist das nicht mehr möglich?« Ich denke an Cousin Ralf … »Philipp, erklär’s mir!«

»Das ist nicht so einfach …das ist, als wollte ich dir die Abseitsregel erklären.«

»Wenn Fußballfans sie verstehen, wie schwer kann das sein!?«

Meine nächsten Worte sortiere ich behutsamer. »Das beginnt ja schon mit dem Nachnamen.«

»Als wenn es gerade darum ginge!« Nina wirft die Hände in die Luft.

»Du würdest dann Nina Schäfer heißen.«

»Klar, wie sonst.« Nina schnaubt aus dem Fenster. »Ich kann auch bei meinem Namen bleiben. Oder du nimmst ganz einfach meinen an.«

Philipp Lang, ich weiß nicht. Außerdem sehe ich die Gefahr, dass mich meine Kumpels und Kollegen hänseln würden, weil ich mich nicht durchgesetzt hätte. Auch könnten meine Eltern denken, ich hätte das Interesse an unserer Familie verloren.

»Nö«, sage ich.

»Bloß keinen Doppelnamen«, erwidert Nina.

»Stimmt, mir kommt das immer so vor, als würde man den einen Namen vom anderen abziehen.« Ich biege nach links auf den Hansaring ab. »Außerdem: Schäfer-Lang. Das klingt ja wie Oer-Erkenschwick, Holsten-Bexten oder Hamminkeln-Dingden. Also wie ein Ort, wo kaum einer hinkommt.«

Nina schaut mich erst verständnislos an, dann so, als wolle sie mich aus dem Auto schubsen.

»Worüber reden wir hier überhaupt. Der Nachname ist ja wohl das Letzte, worum wir uns jetzt Gedanken machen müssen!« Sie guckt verdrossen aus dem Fenster, als wir den Ebertplatz umrunden und ins Agnesviertel einbiegen.

Heiraten, o Mann, meine Kindheit wäre endgültig vorbei.

Bei Hiller im Hochparterre brennt Licht, er ist ja eigentlich immer zu Hause. Von der Straße aus ist sein wuchtig rustikaler Eichenschrank auch hinter den Gardinen gut zu erkennen. Wahrscheinlich sitzt er gerade in seinem rissigen Ohrensessel davor. Unser Nachbar lebt schon seit über 30 Jahren im Haus, er scheint hier festgewachsen wie sein Eichenschrank. Hiller ändert nur ungern etwas, am wenigsten seine Meinung. Er denkt wohl, das mit 74 Jahren nicht mehr nötig zu haben: Doch mich nervt er damit ständig und gewaltig.

Dunkelheit empfängt uns, ich drücke den Knopf, klackend geht das Treppenhauslicht auf allen vier Etagen gleichzeitig an. Nach einigen Schritten in den Flur winke ich Hillers Wohnungstür zu.

»Was soll das?«, fragt Nina missmutig.

»Nur für den Fall, dass er gerade wieder durch den Spion guckt.«

In der ersten Etage informiert das Messingschild: Bert und Sofie Schäfer. Meine Eltern. Ich stelle unsere Sportaschen ab.

»Wo habe ich denn den Schlüssel?« Ich krame ihn aus der Hose.

Dann nehme ich die Taschen wieder auf, laufe noch ein Stockwerk höher und bugsiere den Schlüssel ins Schloss. Jetzt merke ich doch, wie schlapp ich nach der Sauna bin. Angenehm schlapp, ausgepowert vom Nichtstun. In der Wohnung öffne ich den Kühlschrank und pfeife mir ein Bierchen rein, das hat etwas von Durchatmen. Nina hängt unsere Bademäntel und Handtücher auf dem Balkon auf. Ich nehme mir eine weitere Flasche, nach der Schwitzerei fließt es wie ein Wasserfall. Klack, der innere Schalter ist umgelegt. Jetzt bin ich versöhnlich gestimmt, fast ein bisschen euphorisch. Jetzt kann ich alles schaffen, jede Herausforderung meistern, sogar heiraten. Ich stelle mich in die Balkontür und grinse sie an.

»Naa gut, okayy, lass es uns machen.«

»Blödmann.« Nina fällt ein Handtuch aufs Wäschegestell. »Der Punkt ist: Du sollst es wollen!«

»Aber ich weiß doch gar nicht, wie Heiraten funktioniert.«

»Du weißt auch nicht, wie dein Tablet funktioniert. Und trotzdem bist du damit glücklich!«

Stimmt. »Nina, ich möchte mich deswegen nicht streiten.«

»Ach, dann willst du mich also nur heiraten, um dir unnötigen Ärger zu ersparen?«

Vorsicht. Das ist eine dieser Frauen-Fangfragen. So wie ›Findest du, dass ich dick aussehe?‹. Darauf kann man eigentlich nur falsch antworten. Also dient die Frage dazu, Streit zu suchen oder zu verlängern.

Schnell, ein Kompliment. »Ich will auch in 20 Jahren noch so scharf auf dich sein wie heute in der Sauna.«

»Du bist so ein Idiot!« Ihre Wut braust von unserem Balkon über den Innenhof hinaus und knallt an die nächste Hausfassade.

»Da hast du’s!« Die Lautstärke ist mir jetzt auch egal. »Kaum ist das Thema ›Hochzeit‹ angesprochen, schon geht der Krampf los!«

»Ach, und das liegt an mir?« Nina stemmt die Hände in die Hüfte.

»Ja nee, am Thema.« Ich empfinde es als eine emotionale Nötigung, die alles verkompliziert.

Sie lässt sich in einen unserer Liegestühle plumpsen. »Und jetzt bin ich auch noch die Doofe, weil ich dich überhaupt gefragt habe.« Auf einmal schießen ihr die Tränen in die Augen, sie scheint jedoch bemüht, nicht loszuheulen. »Nimmst du mich eigentlich ernst?«

»Selbstverständlich.« Ich schaue erst sie an, dann zu Boden. So ein Heiratsantrag geht doch eigentlich immer wie ein Fußballspiel aus: wird er angenommen, ist es ein historischer Sieg, und du gewinnst den Pokal, also den Ring. Bei einer Ablehnung sollte man sich die Niederlage eingestehen und schnell vom Platz schleichen. Und dann gibt es eben noch unser Resultat: unentschieden.

»Jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, wo ich dran bin«, sagt Nina und wischt sich die Tränen von den Wangen. »Und das ist das Schlimmste, weil so … so unbefriedigend.« Sie steht auf. »Ich red jetzt mit Simone, die versteht mich wenigstens. Wo ist der Weißwein von gestern?«

»Im Kühlschrank«, antworte ich und gehe ebenfalls rein. So ein richtig gutes Wochenende ist es nun doch nicht gewesen. »Bin im Schlafzimmer.«

Ich höre, wie sie in der Küche den Kühlschrank öffnet. Sie spricht mit sich selbst. »Kummersaufen.«

Natürlich kann ich nicht einschlafen, wie auch. Die Dunkelheit starrt mich durchs Fenster an. Ich habe überhaupt nicht gerne Schiss vor etwas. Und doch ist mir mein Leben lang bange gewesen, schon als mir meine Mutter grimmige Märchen vorlas. Zack, ist die Hexe im Ofen verbrannt. In Märchen wird doch keine Rücksicht auf Kinder genommen.

Durch die Tür habe ich Nina noch längere Zeit aufgebracht telefonieren hören. Mit Simone, ihrer allerbesten Freundin aus Studentenzeiten. Dann ist sie aus dem Bad gekommen und hat sich neben mich gelegt.

»Gute Nacht, mein Stern«, murmele ich und will sie gerade küssen, da heult Leon los. Wie so oft, wenn wir schlafen gehen. Als wenn er wüsste: sie legen sich hin – los jetzt. Ich habe keine Ahnung, wie pädagogisch unsere Nachbarn Kerstin und Stefan drauf sind. Fest steht, ihr Vierjähriger krakeelt in einer Tour. Und zwar direkt über uns.

»Echt nicht, schon wieder!« Genervt setze ich mich auf.

»Wahrscheinlich hat er seine Trotzphase.« Nina scheint es nicht zu stören.

Trotzphase. Flenne ich dann etwa lautstark rum?

Leon plärrt durch die Zimmerdecke. Eine Phase geht doch eigentlich irgendwann vorbei. Nicht so in seinem Fall, seit Monaten trampelt er uns auf dem Kopf herum. »Mann, das ist doch so unnötig wie … wie ein Striptease in der Sauna!«

»Das ist einfach so in diesem Alter, das wäre bei unserem Kind auch nicht anders«, murrt Nina.

Ich schaue sie einige Sekunden an, Leon stampft jetzt auf dem Boden herum. »Dann kauf ich dir einen Hund!«

Sie wirft mir einen bösen Blick zu, zieht ihre Decke etwas höher und dreht sich zum Schrank. Stabile Seitenlage. Die nimmt sie immer ein, wenn ihr etwas nicht passt. »Vollidiot.«

»Nina, echt jetzt.« Ich lösche das Licht. »Warum heiraten? Es läuft doch gerade so gut.«

2. Kapitel

Die Sonnenstrahlen gleiten durch die Jalousie ins Zimmer. Ich wache auf, noch bevor der Wecker randaliert. 7:56 Uhr zeigt das schwach beleuchtete Display an. Gut, noch zwei Stunden, ehe ich in die Massagepraxis muss. Dann wende ich mich zur anderen Seite und will ihre warme Hand fassen. Keine Hand? Nicht nur die fehlt, Nina ist komplett nicht mehr da. Ihre Seite des Bettes ist leer. Wie eigenartig. Sie muss doch heute erst zur Spätschicht in die Klinik.

Meine Beine berappeln sich und stellen Bodenkontakt her. Wahrscheinlich ist sie schon raus, Brötchen holen. Super, mein Stern ist die Allerbeste.

Toilette, Duschen, Zähne putzen – routiniert starte ich in den Montagmorgen. Alles wieder normal, der Schreck von gestern ist vorbei. Das scheint ein herrlicher Tag zu werden. Ich ziehe ein grünes T-Shirt aus dem Stapel.

So langsam könnte Nina zurückkommen. Gut, decke ich eben schon mal den Tisch. Wie schön, wenn wir die Zeit haben, gemeinsam zu frühstücken. Ich pfeife vor mich hin, laufe die paar Meter über den Flur, will gerade in die Küche abbiegen, da fällt mir ein großer Zettel an unserer Pinnwand auf. Nina hat in fetten Buchstaben eine Nachricht hinterlassen:

So nicht! Bin bei Simone.

Was will sie um die Zeit bei ihrer besten Freundin? Und warum: ›so nicht‹? Verblüfft stehe ich im Flur. Ach, ist das jetzt die Strafe dafür, dass ich ihren Antrag falsch beantwortet habe? Na ja, was heißt ›falsch‹, sie wollte etwas anderes hören, ich war nur ehrlich.

Ach, das ist doch Mädchenkram. So, und das werde ich ihr auch sagen. Ich tippe auf mein Smartphone, es wählt ihre Nummer – erfolgreich, aber vergeblich. Sie geht nicht ran, und die Mailbox ist ausgeschaltet. Also versuche ich es auf dem Festnetz. Ausgerechnet bei Simone. Sie hat keinen Freund, schon länger nicht, und irgendwie habe ich das Gefühl, wir Männer müssen dafür büßen, speziell wir vergebenen. Sie ist gerade mal 31, genau wie Nina, soll also locker bleiben. Es meldet sich nur ihr Anrufbeantworter: › …wir sind zurzeit nicht zu erreichen …‹ Haha, ›wir‹, was für ein Vorgriff in eine ungewisse Zukunft.

»Schönen guten Morgen, Ladys, der Philipp hier. Alles klar bei euch? Öhm, Nina, ruf mich doch bitte mal zurück.«

Na ja, nach der Arbeit wird sie wiederkommen, und dann quatschen wir noch mal über alles.

Nun muss ich eben selbst Brötchen holen.

»Hi, Jessi.« Ich gehe am Empfangstresen entlang.

»Hi, Philipp, eine neue Patientin wartet schon auf dich. Chilliges Wochenende gehabt, Massage-Doc?«

»Jau«, antworte ich und umschiffe damit, was mich eigentlich beschäftigt. Was sollte ich auch sagen: ›Freundin entlaufen. Hört auf den Namen Nina. Rückgabe gegen Finderlohn‹?

Nee. Also nicke ich Jessi freundlich zu und laufe über den Flur der Massagepraxis. Es ist noch ruhig, ein paar Kollegen sind im Urlaub.

»Guten Morgen, ich heiße Philipp Schäfer. Okay, Sie haben sich also schon entkleidet.« Als ich meinen Praxisraum betrete, steht die neue Patientin in Unterwäsche da.

»Guten Morgen, ich habe meinen Turnbeutel einfach mal hierhin gelegt«, sagt die Seniorin. Erst stutze ich etwas wegen ihres Alters. Normalerweise sind es trainierte Mitzwanziger, die eine Sportmassage benötigen, weil die kräftiger als eine normale durchgeführt wird. Ich hatte auch schon Eishockeyprofis der Kölner Haie hier.

Sie reckt sich. »Ich treibe gerne Sport. Das geht doch schon morgens los, wenn ich aus dem Bett steige.«

Ich schaue auf ihren Datenbogen. Tatsächlich, 78 ist sie, holla. »Frau Schwarz, Sie sind also zum ersten Mal hier?«

»Richtig, für eine Rundumbehandlung«, erwidert sie kokett, »Uuh, Sie sind aber ein gut gebauter junger Mann. Soll ich mich ganz frei machen?«

»Das ist nicht nötig.« Ich lege ein Handtuch auf ihren Rücken, lasse Öl in meinen Handflächen verlaufen und mache mich an die Arbeit.

»Euch Sportmasseure habe ich mir grobschlächtiger vorgestellt.« Frau Schwarz lächelt vor sich hin. »Schade.«

Sie macht einen durchaus robusten Eindruck, ich streiche ihre Waden etwas stärker in Herzrichtung. »Dann will ich mal die Ermüdung aus Ihren Beinen klöppeln.«

Allerhand, Nina hat also auf meinen Antrag gewartet. Sie wusste also die ganze Zeit schon, dass sie mich heiraten will. Krass. Es ist ja auch nicht so, als hätte ich nie daran gedacht. Aber Männer lassen sich nun mal gerne treiben. Zu dumm, jetzt muss ich mich diesem Gedanken stellen.

»Sie sind aber nicht sehr redselig«, sagt Frau Schwarz. »Wissen Sie, ich bin so der Zumba-Typ.«

»Ah ja.«

Klarer Fall, Nina ist die Frau meines Lebens, meines bisherigen Lebens jedenfalls. Aber muss das so etwas Endgültiges bekommen? Denn wer weiß, ob’s gut geht. Alles wäre einfacher, könnte ich mein altes Leben abspeichern, um notfalls darauf zurückzukommen.

»Außerdem wandere ich viel, und Pilze suche ich auch.«

»Das ist toll, Frau Schwarz.«

Nichts gegen ihre hutzeligen Seniorenstelzen, aber ich bin ausgebildeter Sportmasseur, mit Zusatzqualifikationen, Sonderlehrgängen und allem. Ich könnte Promis wie Heidi Klum behandeln. Was ich nicht tue, aber denkbar wäre es. Noch lieber knete ich allerdings Ninas schmucke Beine.

»Ich schwimme ja auch regelmäßig«, sagt die Seniorin und atmet betont aus.

»Ah, gut, sehr gut«, antworte ich abwesend.

Und so geht es die ganze Zeit weiter – sie plaudert, ich nicke und lockere ihren Körper. Routiniert beende ich die Massage. »So, alles weich wie Buttercreme, der Kreislauf voll da, jetzt können Sie wieder Bäume ausreißen.«

»Ach, mir reicht es doch schon, wenn ich beim Unkrautjäten nicht ins Beet kippe.« Sie lässt das weiße Handtuch, das ihren Oberkörper bedeckt, kurz so verrutschen, dass es eine gewisse Aussicht freigibt. »Haben Sie eine Freundin?«

»Das will ich hoffen«, antworte ich, bevor ich den Massageraum verlasse, »erkälten Sie sich nicht, Frau Schwarz.«

Wofür habe ich denn mein Smartphone in der Tasche, wenn es nicht klingelt? Ich tippe auf Ninas Namen und halte es mir ans Ohr. Mein Versuch ist vergebens.

Ich ziehe mir das Handtuch aus dem Nacken und wische mir über die Stirn. Nicht dass mich die Massage eben angestrengt hätte, aber ein gewisses Auftreten muss sein, ich bin hier schließlich der Experte für Sportler und für Jessi sogar der Massage-Doc. Das gefällt mir, weil sie es ehrlich und anerkennend meint. Und nicht so wie ein Kollege von Nina, der mich auf einer Feier mal angetrunken als Möchtegernarzt abgekanzelt hat.

Jessi sieht von ihrem Bildschirm auf. »Unten im Supermarkt sind die Erdbeeren heute supergünstig. Und superlecker. Probieren?« Sie hält mir eine Schale hin.

»Danke, hmm, echt gut.«

»Ich muss mal um die Ecke, hältst du eben die Stellung?«

»Klar.« Als Jessi den Empfang verlässt, checke ich meinen Maileingang. Ich meine, Nina muss mir nichts schreiben, wir sehen uns sowieso heute Abend. Sie hat nämlich nichts mitgenommen, deshalb wird sie nachher wohl oder übel zurückkommen müssen. Drum ist es eigentlich echt egal, ob sie mir jetzt schon …da-ha, eine neue Nachricht!

Von Hannes, ach so. ›Hey Philipp, mir ist ein Künstler ausgefallen, kannst du in meiner Show am Donnerstag einspringen? Um 19 Uhr ist Soundcheck in Rath im ’B. Burger’. Es gibt 50 Euro und Freigetränke. Würde mich freuen. LG, Hannes‹

›Geht klar, bin dabei‹, schreibe ich meinem Comedy-Kumpel zurück auf die andere Rheinseite. Wir Comedians helfen uns gerne untereinander aus. Und da ich nur nebenher auftrete, als Hobby und zum Ausgleich, sind bis zu fünf Shows im Monat zeitlich drin.

Wow, Jessis Erdbeeren sind richtig lecker. Das bringt mich auf … die Idee!

Fast eine Stunde hat es gedauert. Nun liege ich im Bett, nackt, auf dem Rücken, und spähe vorsichtig in den Spiegel des Schlafzimmerschranks. Mein Körper ist über und über mit Erdbeeren bedeckt, von der Stirn bis zu den Füßen bin ich sorgfältig mit den fleischig roten Früchten garniert. Ich habe sie fein säuberlich durchgeschnitten, damit sie besser aufliegen. Noch etwas Schlagsahne obendrauf – und ich bin servierfertig. Nina! Jetzt kannst du kommen und mich vernaschen. Natürlich habe ich mich vorher noch im Bad rasiert, überall, es soll ja quasi kein Unkraut zwischen den Früchten hervorlugen. Und jetzt darf ich mich nicht mehr bewegen, sonst würde die rote Pracht komplett ins Bett rutschen. Ninas Schicht endet um 20 Uhr, wie üblich wird sie eine halbe Stunde später hier sein. Also in etwa fünf Minuten.

Solche fantastischen Einfälle habe ich nicht oft, ich genieße ihn. Natürlich sehe ich außerordentlich albern aus, zudem untermalt vom fliederfarbenen Satin-Laken. Der Spiegel zeigt es ohne Häme, aber überdeutlich. Albern, aber gerade deswegen auch süß. Nina wird sich nicht mehr einkriegen, sie wird mir das von gestern nicht länger übel nehmen und sich bestenfalls gleich dazulegen.

Regungslos wie ein Brett verharre ich, habe die Wohnungstür einen Spalt offen stehen gelassen. Nur für den Fall, dass Nina mal wieder ihren Schlüssel vergessen hat. Sie muss jeden Moment hier sein!

»Hallo?«, höre ich die weibliche Stimme schwach von der Tür. Da, ha, es geht los!

»Hallo, Ihr beiden, seid Ihr da?« Ihr beiden? Es ist …shit … Mama!

»Nein, sind wir nicht!«, rufe ich vom Bett aus durch den Flur.

»Aber Philipp, ich kann dich doch hören.«

»Mich schon, ja, ich bin da!« Mein Brustkorb hebt und senkt sich bedenklich, mit ihm mindestens dreißig Erdbeerstücke, aber vielleicht lässt sich meine Mutter durch mein Geschrei verscheuchen.

»Philipp, ich suche ein Rezept aus dem Internet.«

»Hier ist es nicht!«

»Natürlich nicht, es ist ja im Internet. Ich brauche eure Hilfe, ich komme mal rein.«

»Nein!« Nicht bewegen, nicht bewegen. Du hast Panik, die nackte Panik sogar, aber du darfst sie auf keinen Fall zeigen!

»Keine Sorge, ich will nicht weiter stören. Aber ich brauche es doch morgen, Nina kann mir bestimmt sagen, wo ich am besten das Rezept für den Obstkuchen runterlade.« Mamas Schritte tapsen näher.

»Kann sie gerade nicht!« Ich schwitze stärker. »Hast du denn kein Kochbuch?«

»Philipp, ich gehe doch mit der Zeit! Wo steckst du denn eigentlich?«

Oh nein, ich sehe aus, als hätte ein Erdbeerlaster seine Ladung über mir ausgekippt – und meine Mutter ist nur noch wenige Meter entfernt! Ich komme mir so dämlich vor wie in einem amerikanischen Highschoolfilm. Aber wenn ich mich jetzt bewege, war alles umsonst!

»Weißt du, Philipp, nix als Probleme mit dem Computer. Aber ich muss es lernen!« Sie öffnet die Küchentür.

»Warte!!« Durch den Schweiß sind schon einige Früchte von meinem Unterarm aufs Bett geschlittert. Sie hinterlassen blassrote Schleifspuren, und ihr Saft suppt schon in die Matratze.

Mama läuft den Flur entlang, weiter in meine Richtung. »Ich meine, ich will das verstehen, aber kaum ist eine Seite offen, kommt irgend so ein Update daher, das ich nicht bestellt habe. Andauernd, Philipp, das ist furchtbar.«

»Morgen helfe ich dir gerne dabei!«, brülle ich erbärmlich. »Aber jetzt geh bitte!«

»Ach so, da hinten bist du. Ich komme schon.«

Sie will Obstkuchen backen, und ich gebe hier die Erdbeere! Es ist zwecklos, mich einfach umzudrehen, sie würde meinen blanken Hintern sehen. Also hilft nur aufspringen und so schnell wie möglich den Bademantel aus dem Schrank zerren! 3, 2, 1 …

Jemand klopft an die offene Wohnungstür. Nina? Endlich, Rettung in allerletzter Sekunde!

»Sofie?«

Die Schritte meiner Mutter stoppen unmittelbar vor meiner Schlafzimmertür. »Was denn, Berti?«

Oh Gott, mein Vater, auch der noch!

Panisch springe ich auf, Erdbeeren fliegen durchs Zimmer und matschen an die Wand, sie ergießen sich aufs Laken und kullern das Bett hinunter auf den hellen Teppich. Ich schnelle auf den Schrank zu, der Spiegel zeigt mir einen verzweifelten Mann, der mit roten Punkten übersät ist. Meiner Mutter werde ich es als fiese allergische Reaktion verkaufen. Ich schlinge mir den Bademantel um den Körper.

»Da bist du«, ruft mein Vater vom Eingang. »Deine Schwester ist am Telefon!«

»Ja gut, ich komme«, tönt Mama aus dem Flur zurück. »Okay, Philipp, dann regeln wir das morgen. Ich wünsche euch noch einen schönen Abend.« Sie lässt die Tür ins Schloss fallen.

Nina ist an diesem Abend nicht mehr nach Hause gekommen. Unser Bett roch zwar aromatisch, war allerdings von den Erdbeeren völlig versaut. Darum bin ich auf die Couch im Wohnzimmer gekrochen. Als ich endlich einschlafen konnte, habe ich mich an Ninas Seite geträumt. Wo die Liebe hinfällt … wurde sie vielleicht geschubst?

3. Kapitel

Erfrischt steige ich aus der Dusche. Im Schlafzimmer schlüpfe ich in meine Klamotten und schaue bedrückt auf Ninas Betthälfte. Dort haben sich die meisten Erdbeerstücke eingenistet, sie scheinen noch ausschlafen zu wollen. Nix da. Ich ziehe das Laken mitsamt den Erdbeeren ab und schmeiße es in den Müll.

Es klopft an der Wohnungstür. »Guten Morgen, hier ist der Bert. Kann ich kurz zu Nina?«

»Morgen, Papa, ist gerade ungünstig«, rufe ich zurück.

»Ich brauche nur eben ihre Unterschrift, für das Rezept von Mutters Blutdruckpillen. Sie hat keine mehr, ich bin auf dem Weg zur Apotheke.«

»Wir sind gerade … ahm … Mooment, warte!«

Reflexartig ziehe ich mir das Shirt über den Kopf und öffne rasch meinen Gürtel. Dabei hatte ich mich doch gerade erst angezogen. Die Jeans rutscht runter, bleibt aber in den Knien hängen. Schnell lehne ich mich mit dem Rücken an die Flurwand und ziehe die Hose ganz aus. Meine Unterhose, die muss ich jetzt noch verdecken!

Die Küche ist am nächsten, fix springe ich hinein und grabsche nach einem Geschirrtuch. Mit einer Hand halte ich es mir ums Becken, mit der anderen öffne ich die Tür. »Sorry, Papa, wir sind gerade …«

»… ›beschäftigt‹«, schmunzelt mein Vater. »Ich sehe schon.«

Wie gerne würde ich jetzt wie ein lässiger Kojote wirken, stehe aber wohl eher da wie ein begossener Pudel.

»Dann muss das natürlich warten.« Bert mustert mich genauer. »In Socken?«

Verlegen zucke ich mit den Schultern. »Es sind keine Löcher drin.«

»Ach ja, die Mama lässt ausrichten, ihr könnt gerne zu uns frühstücken kommen«, sagt Bert, als er die Treppe fast schon wieder unten ist.

Was für ein Schmierentheater ich hier aufführe! Und so unglaubwürdig wie ein Rodeo auf Schaukelpferden. Bert ist toll, wer hat schon einen echten Kumpel als Vater, und ich lüge ihn an, weil mir das mit Nina oberpeinlich ist. Papa hat das nicht verdient, weil er immer an uns denkt. Dies umso mehr, seit er als Rentner mehr Zeit hat.

Okay, das war eben eine Notlüge, eindeutig, denn wie kann ich Papa erklären, was ich selbst nicht verstehe: Ich bin nur Ninas Abwesenheitsassistent! Zumal er richtig vernarrt ist in sie, zum Glück liebt er sie so sehr wie mich.

Mensch Nina, wir können doch über alles reden, ich will dich endlich zurück!

»Ihr habt mir den Computer zu Weihnachten geschenkt, wegen euch habe ich jetzt die Bescherung.« Mutter sagt das nicht vorwurfsvoll, aber etwas belehrend klingt es schon. »Nichts als Probleme mit dem Ding. Früher an der Schreibmaschine, und ich hatte ja sogar eine elektrische, war alles viel einfacher. Da habe ich die Taste gedrückt, und dann stand das ›B‹ auf dem Blatt. Es ist also genau das passiert, was ich wollte. Heute springt mir erst ein Kasten ins Bild und fragt: ›Wollten Sie wirklich ’B’ drücken?‹ Ja natürlich wollte ich das, sonst hätte ich es doch nicht getan!«

Mein Vater lacht. »Sei bloß ruhig, Berti«, mosert Sofie auf ihre putzige Art weiter, »dich interessiert das ja alles nicht, damit machst du’s dir natürlich auch sehr einfach.«

Er hat schon angefangen, den Frühstückstisch abzuräumen und zwinkert mir dabei zu.

»So, wo bleibt Nina denn nun?«, fragt mich Mama und klappt ihren Laptop auf.

»Sie ist ans Bett gefesselt«, sage ich mit betroffener Miene. Mein Vater sieht mich perplex an. »Also, sie ist krank«, füge ich rasch hinzu. Bert schließt den Kühlschrank ruckartig und schaut weiter entgeistert.

Was Mutter aber nicht bemerkt, dazu überrascht sie diese Nachricht viel zu sehr. »Meine Güte, was hat sie denn? Da muss ich mir ja Sorgen machen, mit einer Spätsommergrippe ist nicht zu spaßen.«

Ich mache eine beschwichtigende Handbewegung. »Danke, schon okay, sie wird’s überleben.«

»Nein, nein, wenn du nachher bei der Massage bist, sehe ich mal nach ihr. Wofür haben wir denn den Ersatzschlüssel.«

»Mama, wir haben doch klar vereinbart: Den nutzt ihr nur im Notfall.«

»Aber das ist es doch: ein Notfall!«

»Wenn sie zurück ist, ich meine, wenn ich zurück bin, kümmere ich mich um sie.«

»Philipp …«, setzt mein Vater jetzt an.

»Moment, Berti, nun lass mich doch auch mal, ich bin ja hier noch nicht durch«, unterbricht sie ihn und schiebt mir ihren Laptop rüber. »Ich muss ja noch den Obstkuchen gurgeln.«

»Googeln, Mama.«

»Sag ich doch. Guck hier, ich suche die perfekte Teigmischung und wie ich den Boden am besten belege … uiiih, so viele Rezepte für Kuchen, da muss ich jetzt mal schauen …och, der mit den Erdbeeren sieht aber auch richtig lecker aus.«

»Erdbeeren«, seufze ich, »wie kriegt man die eigentlich am besten aus der Wäsche?«

Während meine Mutter mit ihrem Laptop abgelenkt ist, nimmt mich mein Vater zur Seite.

»Du, wenn Nina krank ist, muss sie sich doch schonen«, raunt er mir zu. »Da könnt ihr doch nicht … na, du weißt schon … schnackseln?« Bevor ich etwas erwidern kann, haut er mir jovial auf den Rücken. »Und dann auch noch: in Socken!«

Nina hat sich immer noch nicht gemeldet, meine Anrufe ignoriert sie, und ihre Mailbox ist weiterhin ausgeschaltet. So ein Mist, bestimmt zehnmal habe ich es versucht. Nichts gegen ihren Warnschuss – den habe ich offenbar verdient –, aber ich finde, es reicht jetzt. Und muss sie sich denn ausgerechnet bei Simone verschanzen? Jetzt muss auch ich mein stärkstes Geschütz auffahren: Chris.

Chris ist mein bester Freund, immer gewesen, schon im Brutkasten haben wir den Hebammen hinterhergepfiffen. Er ist ein brillanter Verkäufer, von Autos und sich selbst, selbst Luftschlösser könnte er verticken. Und er würde längst ein Autohaus leiten, wäre er nicht so ungeheuer chaotisch und um einiges unpünktlicher als jede Frau. Noch im Treppenhaus tippe ich ihm eine SMS: ›Seenot, Frau über Bord. Biergarten Aachener Weiher, 19 h.‹ Dann ist er wenigstens um 20 Uhr da. Als ich im Erdgeschoss wieder aufsehe, fällt mir ein roter Zettel auf, der am Stromzähler klebt.

Offizieller Aushang: Aus gegebenem Anlass möchte ich sämtliche Nachbarn darauf hinweisen, dass strikt auf die Mülltrennung zu achten ist. Ferner müssen Paket- und Pizza-Pappen so verkleinert werden, dass sie in den dafür vorgesehenen Müllbehälter passen. Es ist nicht Aufgabe des Hausmeisters, den Müll vor der Abfuhr zu sortieren, noch ist es seine Pflicht, die Pappen zu zerschneiden. Mit freundlichen Grüßen, Hiller

Hiller, natürlich, der macht mich noch wahnsinnig! Was für eine Frechheit, den Hausflur mit solch einem Spam zu behängen. Vor allem: Hausmeister, ha. Das Haus gehört meinen Eltern, sie haben es damals günstig, weil baufällig gekauft, und mein Vater hat es fast komplett selbst renoviert. Obwohl Papa mit 62 frühpensioniert ist, erlaubt er es Hiller weiterhin, kleinere Tätigkeiten im Haus zu erledigen. Dafür zahlt Hiller weniger Miete. Völlig unnötig nur, dass er sich dabei stets wie ein Gauleiter aufführt. Womit ich nicht nur die Heinis im Dritten Reich meine, sondern zusätzlich den GAU als ›größten anzunehmenden Unfall‹. Und meine klebrigen Pizzapackungen schmeiße ich immer noch so in die Tonne, wie es mir passt!

Derart in Gedanken stoße ich im Treppenhaus gegen Leons Buggy, der mit Hillers Rollator um den Platz im Hausflur konkurriert. Na, das nenne ich mal einen Generationenkonflikt.

Chris stützt den Kopf mit seiner Faust ab, das Weizenglas vor ihm ist noch halb voll. »Okay, das klingt nach gewaltig Sand im Getriebe. Aber nimm’s nicht so schwer, was soll da erst ’ne Wüste sagen?«

»Nicht so schwer nehmen? Sie ist seit zwei Tagen weg und meldet sich einfach nicht!« Klar will er mir gut zureden, aber ich habe keine Geduld mehr. Eine leichte Brise weht angenehm vom Weiher herüber.

»Chris! Es ist doch kein Fehler, ehrlich zu sein?«

»Bei den Frauen schon«, grinst er und beugt sich vor. »Was meinst du, wie das mit meinen Affären läuft? Es gibt so Tage, da hilft es, die Wahrheit verknittert zu übergeben.«

Chris hat gut reden. Wenn ihm eine Frau querkommt, legt er sich dazu. Seit Jahren ist er erfolgreich Single, erfolgreich im Sinne von: absolut zufrieden, so wie es ist. Na klar hat er Frauen. Einige. Es ist sein Siegerlächeln, auf das sie stehen, seine Gelassenheit. Ich würde nicht sagen, dass er beziehungsunfähig ist. Aber Chris ist einfach zu bequem, um ernsthaft erwachsen zu werden.

Ich falte meinen Bierdeckel zusammen. »Du machst dir das mit den Frauen immer so einfach. Weil dir ihre Sichtweise fehlt.«

»Na … und?« Chris verdreht die Augen.

»Weil du Single bist.«

»Hab ich ein Glück!«

Mein Bierdeckel ist Kleinholz, ich werfe ihn nach Chris.

»Jedenfalls hat Nina keinen Grund, an meiner Liebe zu zweifeln.«

»Nun ja, Frauen wollen es verbindlich, wollen eine gewisse Sicherheit«, sagt Chris, »Das weiß selbst ich.«

»Dann soll ich sie aus Vernunft heiraten, also weil’s Sinn macht?«

Chris rümpft die Nase und schnüffelt.

»Was?«

»Dein Schiss inne Bux stinkt zum Himmel.« Er verschränkt seine drahtigen Arme hinter dem Kopf. Seine dunklen Haare haben mit einigen Wirbeln zu kämpfen. »Du liebst sie?«

Er fragt es fast lapidar, so wie den Kellner nach dem nächsten Bier.

»Ja sicher«, sage ich.

Er nimmt die Arme wieder herunter. »Wo ist dann das Problem?«

Wo ein Problem ist, weiß für gewöhnlich meine Mutter am besten. Aber dafür rufe ich sie jetzt nicht an.

»Das solltest du doch ganz genau wissen. Wenn ich Nina heirate, gibt es keinen Rückwärtsgang mehr, kein rechts oder links abbiegen!« Demonstrativ lasse ich meinen Blick durch den Biergarten schweifen, es sind einige honigsüße Studentinnen unterwegs. Wenn der Pfarrer sein Urteil spricht: ›lebenslänglich‹, und ich es mit einem lauthalsen ›Ja‹ annehme, werden meine Spermien unfrei, dürfen nur noch Nina eine Brut bescheren. Vorbei wäre der knallharte Existenzkampf unserer Zeit, in dem der Mann seinen Samen streuen muss, um seine hervorragendsten Gene wie hohe Alkoholverträglichkeit und totale Beratungsresistenz sicher vererben zu können. Entschlossen schlage ich auf den Tisch. »Ich will nicht die totalen Zwänge, ich will noch atmen können!«

»Dann hol halt Luft«, sagt eine Kellnerin gestresst und stellt ihr volles Tablett am Nebentisch ab.

»Hey, ich bin jetzt 33, also habe ich noch etwa zehn gute Jahre!«

Chris lacht. »Du sprichst mir aus der Seele, genau diese Freiheit genieße ich so sehr. Zumal ich nicht mit Zuneigung asphaltiert werden möchte.« Jetzt ist er es, der sich umschaut. »Ja, ich mag den Ruf der Wildnis, mag es, lässig erst ein paar Bier zu erlegen und dann …« Chris beugt sich vor. »Hey, Sex ist einfacher als Liebe. Allerdings gibt es zwischen uns einen entscheidenden Unterschied: Ich muss in so eine Beziehungsbüchse erst noch reinwachsen. Du bist schon so weit.«

Ich schweige beifällig.

»Kerl, wir üben das jetzt. Pass auf, ich bin Nina.« Chris wirft sich in Pose. »Lieber Philipp, willst du mich heiraten?«, fragt er mit höherer Stimme.

Ich spiele mit und betone theatralisch: »Ja, ich will!«

Zwei Studentinnen, die gerade auf dem Kiesweg an uns vorbeilaufen, bleiben kurz stehen und kichern. »Ach wie goldig, ihr seid ja niedlich. Schöne Hochzeit, Jungs.«

Chris schaut ihnen verdattert nach. »Was, wir? Nee!« Dann winkt er ab. »Ach, ist ja auch egal.«

»Mit dir hätte ich wenigstens keinen Ärger«, grinse ich.

»Tja, Pech, ich bleibe lieber Single.«

Ein Kellner stellt uns zwei frische Weizen auf den Tisch. Auffordernd zieht er eine Augenbraue hoch: »Zugriff.«

Chris ergreift beide Gläser. »Eins für’n Durst, eins für’n Hunger!« Grinsend schiebt er mir eins zurück. »Worauf es letztlich ankommt: ob das Bier schäumt oder nicht.« Der Kerl chillt einfach sein Leben, er macht sich keiner übertriebenen Verantwortung verdächtig.

»Und was noch klar ist«, erwidere ich und nehme einen großen Schluck, »wenn, würde ich niemals ohne dich heiraten.« Das Bier fließt wunderbar kühl in mich hinein.

»Und das heißt?«

»Du! Du wärst mein Trauzeuge!«, sage ich feierlich.

Chris erhebt mit der einen Hand sein Glas und hält mir die andere hin. »Brandzeichen drauf!« Ich schlage ein, dann umarmen wir uns über den Biertisch hinweg.

›Brandzeichen drauf‹ und die ›Gib mir 5‹-Geste, das macht er sogar nach jedem verkauften Auto mit dem neuen Besitzer. Und der tritt komischerweise für gewöhnlich nicht sofort vom Vertrag zurück.

»Was jetzt ’ne coole Sache wäre«, sagt Chris und ballt beschwörend eine Faust, »wenn ihr tatsächlich heiraten würdet.«

4. Kapitel

Wasser tröpfelt von den langen Stielen, als die Verkäuferin verschiedene Rosen aus ihren Vasen nimmt und hochhält.

»Die roten, bitte«, sage ich.

Natürlich die roten, nur diese Farbe spiegelt mein Herzblut wider. Sie schneidet die Stängel an und bindet sie zu einem leuchtenden Strauß.

Als ich den Blumenladen am Krankenhaus verlasse und mich mit dem prächtig duftenden Bund im Glasfenster betrachte, ist mir klar: ›So sehen Sieger aus‹. Mit dem dazugehörenden Lächeln ist es mir ein Leichtes, am Empfang zu erfahren, wo meine Nina gerade im Einsatz ist. Station 13, ich komme!

Überraschen werde ich sie. »Wenn die Katze der Maus auflauert, dann sagt sie ja auch nicht erst ›Schach …‹«, hat Chris gemeint. Viele Worte werde ich gar nicht machen, ihr nur elegant die Königin der Blumen überreichen und sie herzlich umarmen. Und dann reiten wir in den Sonnenuntergang oder was auch immer am Ende des Stationsflurs ist.

Im Aufzug redet ein Arzt auf eine Krankenschwester ein. Absolut selbstgefällig, würde ich sagen. »Schlachten löst schon mal 90 Prozent der Probleme«, sagt er zu ihr und schüttelt seine langen blonden Haare. Als der Arzt merkt, wie verblüfft ich ihn anschaue, lacht er großspurig: »Ist ein alter Spruch von der Intensivstation.«

»Welches Spezialgebiet haben Sie denn?«, frage ich ihn.

»Gefäßchirurgie.«

»Ah, und ich dachte: Frauen.«

Seinen Gesichtsausdruck kann ich nicht mehr sehen, weil sich just dann die Aufzugtüren schließen. Das Stationsschild weist nach links auf einen langen weißen Flur. Es ist mein persönlicher Gang nach Canossa. Der wirkt freundlich, aber nicht einladend.

Es hat etwas von Weg abschneiden, als die mollige Oberschwester auf einmal vor mir steht. »Und ich muss das Kraut hinterher wieder wegschmeißen.«

»Bitte?«

»In welches Zimmer sollen die?« Sie nickt den Rosen zu, nicht mir, und baut sich vor mir auf wie eine Türsteherin.

»In das, wo ich Nina Lang finde. Meine Freundin, Ihre Kollegin«, antworte ich verschmitzt. ›Kollegin‹, das ist mir spontan eingefallen, das sollte Miss Molly schmeicheln.

Sie lässt allerdings nicht klar erkennen, wie beeindruckt sie von meinem Charme ist. Also muss ich ihr weiter Honig um den Bart schmieren, den sie in Ansätzen tatsächlich hat. »Wissen Sie, eigentlich bin ich ja Kassenpatient, in diesem Fall jetzt aber privat hier.«

Energisch streicht sie sich ihren weißen Kittel glatt und stiert mich weiter an. Das irritiert mich, ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll.

»Schach?«

Ihr Gesichtsausdruck wechselt von uninteressiert zu mitleidig. Ich bemühe mich, meine Zähne so zu zeigen, dass es als Lächeln durchgehen könnte.

»Verkleiden Sie sich Karneval als Krankenschwester?« Eigentlich sehen Frauen, die ab Weiberfastnacht als Krankenschwester rumlaufen, immer total scharf aus. Umso mehr, wenn rote Dessous unter dem Kostüm hervorblitzen. Bei ihr funktioniert diese Vorstellung überhaupt nicht.

Sie beäugt mich wie eine lästige Made, bei der sie noch nicht weiß, ob sie sie zertreten oder aufessen soll. »Die Frau Doktor berät gerade einen OP-Patienten.«

›Die Frau Doktor‹, wie hochgestochen das klingt. Ich nenne mich doch auch nicht: der Herr Sportmasseur. »Warten ist okay, ich brauche eh nur ein paar Minuten.«

»Da könnte ja jeder einfach so hier reinspazieren!«, betont die Obermolly frostig und nimmt eine etwas geduckte Haltung ein, so als würde sie mich auf der Stelle anspringen, sollte ich eine falsche Bewegung machen. So als wolle sie mich hospitalisieren, wenn sie denn ein Bett frei hätte.

»Wissen Sie«, bitte ich sie, aber es kommt mir vor wie betteln, »es … es geht um Liebe.«

Mit diesem Zauberwort gewinnt man doch die Aufmerksamkeit jeder Frau.

Nicht dieser. »Ach, hören Sie auf mit diesem depressiven Thema.« Sie winkt einfach ab. »Und jetzt sage ich Ihnen mal was: Hier wird gearbeitet!«

In mir zuckt es, zornige Verzweiflung windet sich durch sämtliche Adern. Dennoch, ich möchte nicht ruppig werden und verkneife mir daher die Bemerkung, dass an ihrem Hintern Ozeandampfer zerschellen könnten. Aber es nervt mich jetzt kolossal, sie steht da wie ein Wellenbrecher, der die Hafeneinfahrt schützt. Sie blockiert meinen Weg ins Glück! Ich weiß nicht, wie einschüchternd man mit roten Rosen wirken kann, drum hebe ich lieber die Stimme, um ganz sicherzugehen.

»Gearbeitet wird hier, ach so! Und ich habe glatt gedacht, Sie legen erst Infusionen und sich dann auf die faule Haut. Und Bettpfannen wechseln, das ist dann also auch kein Hobby von Ihnen?« Ich hole Luft. »Natürlich wird hier gearbeitet, und davor habe ich den größten Respekt! Aber bei allem, was Sie hier sonst so pflegen – wie wäre es mal mit einem freundlichen Umgangston?«

Die Obermolly schnaubt, erwidert jedoch nichts.

»Und jetzt möchte ich gefälligst meine Freundin sprechen!« Sie kann ja nicht wissen, dass es sich sozusagen um einen Notfall handelt, sonst würde sie bestimmt so flink reagieren, wie es in solchen Situationen in Krankenhäusern üblich ist. So aber macht sie einen langsamen Schritt zurück, dann noch einen, und bevor sie sich umdreht, blitzt sie mich an: »Sie warten hier!«

Ja guck, wie gebieterisch man doch wirken kann, wenn man es nur mal richtig versucht.

Ich lehne mich an die weiße Wand und grüße eine Frau, die im Bademantel zum Tee- und Kaffeetisch gegenüber schlappt und sich heißes Wasser in einen Becher füllt. Dann nimmt sie den ausgelegten Bestellzettel eines Pizzadienstes vom Tisch, schüttelt den Kopf und schaut zu mir rüber. »Wenn die doch genau wissen, dass das Klinikessen der reinste Fraß ist, warum machen die es nicht besser?«

Die Obermolly kommt energisch zurückgestampft und nimmt wieder ihre Türsteher-Grundhaltung ein. »Die Frau Doktor lässt ausrichten, ihr Beratungstermin dauert noch länger. Und direkt danach führt sie eine Narkose durch.« Ihr starrer Gesichtsausdruck löst sich erstmals und geht in ein süffisantes, ja schadenfrohes Grinsen über. Die Frau gegenüber hat gerade ihren Teebeutel aus dem Becher gezogen. Wortlos drücke ich ihr meine Blumen in die Hand und schleiche bedröppelt den langen Gang zurück zum Aufzug. Keine Rosen ohne Dornen.

Hatte ich es nicht gesagt? Chris ist ein Chaot! Ich will ihm nicht vorwerfen, dass er mich ins offene Messer hat laufen lassen, in der Klinik sogar ins Skalpell – aber sein Plan, Nina zurückzuholen, hat sich als undurchführbar erwiesen. Chris, der Einzelspieler, was versteht er schon vom gemischten Doppel? Wobei seine Idee, Nina zu überraschen, dennoch gut war. Chris kann ja nichts dafür, dass Schwester Obermolly den Gang verstopft hat. Fast hoffe ich, sie hat gar nicht mit Nina gesprochen, sondern nur eine Runde im Stationszimmer gedreht, um sich sodann an mir zu rächen. Denn so kann ich mir wenigstens einreden, Nina wusste gar nicht, dass ich in der Klinik war. Oder sie hatte wirklich viel zu tun und deswegen keine Zeit für mich, womit ich leben könnte.

Nicht aber mit einer schnöden Abfuhr! Diese Ungewissheit nervt mich.

Grimmig biege ich in unsere Straße ein und bin noch so in Gedanken, dass ich Herrn Hiller erst kurz vor der offen stehenden Haustür bemerke. »Nun komm, Bestie! Komm raus, Gassi gehen.« Der Hund stürmt auf den Bürgersteig, den Kopf steil aufgerichtet. Herr Hiller hat einen Dackel, den er ›Bestie‹ nennt. Und weil das Tier weiblich ist: ›die Bestie‹ – dabei ist sie allenfalls ein mutiger Schoßhund.

»Ah, wie gut, dass ich Sie treffe«, spricht er mich an, »es geht um Folgendes: Ich nehme wohl mit Recht an, dass Sie für das Chaos in der blauen Tonne zuständig sind.«

Sein zackiger Ton gefällt mir gar nicht und seine Beschuldigungen noch weniger.

»Wie ich in meinem Aushang bereits schriftlich festgehalten habe, gehören Papier und Pappe fein säuberlich darin gestapelt. So eine Unordnung, also das hätte es früher nicht gegeben. Von andersfarbigen Tonnen ganz zu schweigen.« Die Bestie dackelt ein paar Schritte zur Straße und kläfft – nicht weniger selbstbewusst als ihr Herrchen in der grauen Strickjacke.

»Herr Hiller …« Ich kenne seinen Vornamen nicht, weiß gar nicht, ob er überhaupt einen hat. Wahrscheinlich ist ›Herr‹ sein Vorname, das würde jedenfalls perfekt zu ihm passen.

Ich deute auf das Klingelschild neben der Tür. »Ihr Name ist falsch geschrieben.«

Er beugt sich darüber. »Wieso, ich heiße doch Hiller.«

»Da müsste aber ›Blödmann‹ stehen.«

Nina bleibt wirklich länger weg, als ich gedacht hätte. Nicht eine Stunde, nicht einen Tag. Selbst Jesus war am dritten Tag zurück, und Nina ist es noch immer nicht. Sie fehlt mir, ich vermisse sie, es schmerzt gewaltig! Offenbar will sie mich nicht sehen, was also kann ich tun? Jedenfalls nicht noch einen Abend herumsitzen und warten, was passiert, was passieren könnte, was auch immer. Verdammt!

Der Nieselregen ist nicht kühl, aber mich fröstelt. Ich habe keine Wahl, ich muss zu Simone, um Nina zu sprechen. Wenn man erst mal am Teufel vorbei ist, ist die Hölle gar nicht mehr so schlimm. Im Halbdunkel leuchten die Buchstaben des Rewe schwülstig rot. Von der Dürener Straße biege ich in die Schallstraße ein, es sind nur noch fünfzig Meter. Dann stehe ich bei Simone in der Tür.

Sie ist kein grottenschlechter Mensch, wirklich nicht. Aber dass sie mit Anfang 30 keinen Typen hat, versetzt ihr regelmäßig Panikschübe. ›Ihr Männer seid soo doof!‹, hat sie kürzlich in der Fußgängerzone geplärrt. Und wenn Simone derart einen Fön kriegt, der ihr gewissermaßen auch noch ins Wasser fällt, müssen alle anderen es ausbaden. Allen voran meine Nina, was für sie als beste Freundin natürlich auch okay ist, meistens jedenfalls. Umso mehr hat Simone mich auf dem Kieker. Vielleicht, weil ich ein Konkurrent um Nina bin, weil ich kein Single-Mann bin, oder weil sie mich ganz einfach doof findet. Und nun ist Nina auch noch meinetwegen zu ihr geflüchtet …

Ich erschaudere, klappe meinen Kragen hoch. Nach dem zweiten Klingeln knackt es in der Haussprechanlage. »Wer da?«

»Philipp. Hi, Simone.«

Sie sagt einige Sekunden nichts, ich lehne an der Haustür. »Du störst. Was willst du überhaupt?«

Was soll ich sagen: Simones Laune unterbietet noch meine Erwartungen.

»Ich möchte mit Nina reden.«

»Nö. Geht nicht.«

»Ist sie nicht da?«

»Schon, aber sie will dich nicht sehen.«

»Ich will sie ja auch nur sprechen.« Ich bemühe mich, freundlich zu bleiben, komme mir im Hauseingang aber wie ein windiger Vertreter vor, der alles tut, um reingelassen zu werden.