Muj und der Herzerlfresser von Kindberg - Christoph Wagner - E-Book

Muj und der Herzerlfresser von Kindberg E-Book

Christoph Wagner

4,7

Beschreibung

WAS HAT EIN MYSTERIÖSER MORDFALL MIT EINER ALTEN HEIMATSAGE ZU TUN? INSPEKTOR MUJ ERMITTELT Ein Mordfall in Kindberg, der idyllischen steirischen Kleinstadt an der Südbahn-Strecke, das wäre an und für sich schon ungewöhnlich genug aber wenn dann noch der Brustkorb der Leiche fein säuberlich geöffnet und das Herz verschollen ist, dann wird auch der sonst stets gelassene Bezirksinspektor Muj hellhörig: Hat etwa der lokale Satanisten-Zirkel seine Finger im Spiel? Oder ist gar ein Nachahmungstäter des berüchtigten "Herzerlfressers von Kindberg" aus der Barockzeit am tödlichen Werk? Der mürrische, stets eine Virginier paffende Muj setzt seine legendäre Körperfülle in Bewegung und taucht ein in die kriminellen und zwischenmenschlichen Abgründe, die sich in der verschlafenen Provinz südlich des Semmerings auftun ... "Mag der Titel auch noch so blutrünstig klingen, so ist der Krimi durchaus amüsant geschrieben. Die vielen originellen, skurrilen Charaktere nehmen einen mit auf eine kriminelle, aber auch kulinarische Reise durch die Steiermark. Ein durch und durch schmackhaftes Krimivergnügen des Restaurantkritikers Christoph Wagner!"

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Titel

Christoph Wagner

Muj und derHerzerlfresser von Kindberg

Ein Südbahn-Krimi

Zitat

Landstraße und Eisenbahn laufen in größerer Eintracht, als das sonst zwischen Concurrenten der Fall zu sein pflegt, über die freundlichen Matten des Mürzthales mittägigen Landstrichen zu.

Peter Rosegger

Widmung

Meinen Kindberger Freunden gewidmet, die zu dieser völlig frei erfundenen Geschichte dennoch viel Wahres beigetragen haben.

Morgenzug

Prinz Eisenherz lenkte seinen Peugeot zur Seite, als er in der Morgensonne das glitzernde Bündel sah, das am Eingang zum Hohlweg hinauf auf den Töllmarkogel lag. Aus den zwei Dutzend wie Riesenkürbisse übereinander gestapelten Plastikballons, die das eingeschweißte Heu der vergangenen Ernte umschlossen, duftete es nach verklingendem Sommer. Doch das Bündel, das zwischen den blausilbrig schimmernden Ballen hervorlugte, wirkte wie ein beunruhigender Fremdkörper.

Als Eisenherz ein paar Meter in die vom Morgentau noch tropfnasse Wiese hineingestapft war, sah er, dass sein Instinkt ihn nicht getrogen hatte. Zwischen den Ballen eingeklemmt war ein in eine Nylonhülle eingeschlagenes Bündel, durch das etwas schimmerte, das nach Haut und menschlichen Gliedmaßen aussah. In dem mit einem Kabel abgebundenen vorderen Teil des Pakets hatte sich roter Saft angesammelt, ähnlich wie in den durchsichtigen Säckchen, in denen man zu kurz abgehangene Steaks aus der Fleischhauerei nach Hause trägt.

Eisenherz rief die Polizei und sah sich, während er auf ihr Eintreffen wartete, den Tatort genauer an. Als Taxifahrer war er schon hunderte Male an dieser Stelle vorbeigefahren, und als Jogger, wenn er mit Splinta, seiner kleinen pechschwarzen Wölfin, auf den Töllmarkogel hinauflief, war ihm der steile Hohlweg bestens bekannt.

Eisenherz berührte mit den Fingerspitzen ein paar Dutzend pralle Springkräuter am Wegesrand, von denen einige auch prompt explosionsartig aufplatzten und ihren Samen verschwenderisch ins umliegende Grün verspritzten.

Es dauerte eine Weile, bis die beiden Wachposten vom Kindberger Revier ankamen. Eisenherz kannte sie beide. Andi Dittelbacher war lang, pockennarbig und blass, Charly Pichler kurz, rund und rotnasig. Beide wirkten müde und hatten schwarze Ringe unter den Augen, trüb wie die Morgennebel, die über den Wipfeln aufstiegen, wo einsam ein Lämmergeier kreiste.

„Nur eine halbe Stunde später, und du hättest unsere Ablöse erwischt“, sagte der Lange vorwurfsvoll. „Zwei ausgeschlafene Burschen, die sicher hochmotiviert wären.“

„Eigentlich sollte ich schon im Bett liegen, und jetzt hole ich mir im Gras nasse Füße“, murrte der Pausbäckige.

„Meine Schicht ist auch gleich zu Ende“, sagte Prinz Eisenherz. „Bei mir wird’s allmählich Zeit fürs Frühstücksbier. Aber wollt ihr nicht wenigstens einmal reinschauen, was in dem Päckchen drin ist?“

„Nichts, was einem Appetit auf Frühstück machen könnte, fürchte ich.“

„Manderl oder Weiberl?“, fragte Eisenherz.

„Weißt du doch sicher schon längst.“

„Warum sollte ich euch die Arbeit abnehmen? Ich hab den Sack nicht einmal berührt.“

„Würden wir dir auch nicht geraten haben. Spurensicherung ist unsere Sache, auch wenn wir noch so geschafft sind.“ Mit diesen Worten band Charly Pichler das bunte Kabel auf. Er warf einen schnellen Blick in den Sack und wandte sich angeekelt ab, während Andi Dittelbacher die Plastikhülle von der Leiche streifte.

„Muj mag so was“, feixte Charly.

„Was soll er dran mögen?“

„Das Knifflige.“

„Und was bitte soll an dieser hässlichen Leiche knifflig sein? Sieht doch ganz einfach nach Mord aus.“

„Schau einmal genau hin. Es fehlt was.“

„Was soll denn ...?“ Prinz Eisenherz starrte in ein Loch, das mitten im Brustkorb klaffte. Wer immer den Toten auf dem Gewissen hatte, hatte das Loch fein säuberlich ausgefräst und danach ausgeweidet. Das Herz war weg.

„Einer von uns sollte Muj anrufen“, sagte der kurze Charly.

„Der möchte ich nicht sein. Ruf du an.“

„Ihr habt ja ganz schön Schiss vor eurem Chef“, sagte Eisenherz und ertappte sich dabei, wie er in Anwesenheit eines Toten pietätlos auflachte. „Aber wenn ihr wollt, dann ruf ich ihn an.“

„Das würdest du für uns tun?“, flötete der lange Andi. „Da hast du zweimal Augenzudrücken gut.“

Eisenherz tat zunächst so, als hätte er diese Anspielung auf seinen Fahrstil nicht verstanden, antwortete dann aber: „Dreimal – okay?“

„Wir können’s dir auch fünfmal versprechen“, sagte Charly. „Seit die neue Polizeiverordnung in Kraft ist, dürfen wir in der eigenen Gemeinde sowieso nicht mehr kontrollieren. Das tun irgendwelche Jungspunde aus Kärnten.“

Eisenherz nahm seine Niederlage stumm zur Kenntnis, und der morgendlich-bleiche Andi Dittelbacher besiegelte sie mit einem wissenden Nicken.

***

„Teufelszeug“, sagte der Junge mit dem türkisgrünen Irokesenkamm und dem Messingbeschlag in der Unterlippe, nachdem er die Eingangstür lautstark hinter sich zugeworfen hatte. „Gib mir noch mehr von dem Teufelszeug. Wodka Lemon, meine ich.“

Panther Fürnschitz sah auf die Uhr, und ihm war klar: das war wieder einmal einer jener Tage, an denen er nicht wusste, ob er seine kleine Wirtschaft gegenüber dem Bahnhof gerade auf- oder zugesperrt hatte.

„Nix“, sagte Panther zu dem Jungen, dessen T-Shirt eine zwischen zwei Frauenschenkeln hervorlachende Teufelsfratze zierte, die allerdings eher nach Krampuskränzchen aussah.

„Sie brauchen keine Angst zu haben, dass ich nicht bezahlen kann“, lallte der Junge und schob Panther sein Geldbörsel hin, in dem noch zwei Fünf-Euro-Scheine steckten. „Ich bin gut vorgeglüht“, brachte der kleine Satan noch heraus, bevor er vom Stuhl rutschte und nichts mehr sagte.

Panther kannte seine Komatrinker und er wusste auch, dass ein „vorgeglühter“ kleiner Säufer einer war, der bis dato auf Kosten anderer gesoffen hatte und daher noch liquid war. Dennoch oder gerade deswegen hätte Panther ihm nie und nimmer auch nur einen Tropfen Alkohol verkauft.

Satanas war so schon abgefüllt genug. Schlaff wie ein zerknitterter Bademantel hing er über der Stuhlkante. Panther packte den Knaben und schüttelte ihn so lange durch, bis er nach einiger Zeit zwar windschief, aber immerhin aufrecht stand.

„Bruck oder Mürz?“, fragte Panther seinen kreidebleichen Patienten.

„Was?“

„Du brauchst eine Wangenmassage“, sagte Panther und tätschelte die Backen seines jungen Gastes so lange, bis tatsächlich ein Hauch von Rot in die blutleeren Gefäße schoss.

„Also was ist? – Mürz?“, fragte Panther noch einmal.

„Nein, Bruck.“

„Dann geht dein Zug in zehn Minuten. Hast du eine Fahrkarte?“

„Ich habe einen Ausw... Ich glaube, ich muss spei...“

Eine Fontäne ergoss sich über Panthers Theke, die noch schauriger als nur nach höllischem Pech und Schwefel stank.

Panther hätte gute Lust gehabt, den Jungen einfach vor die Tür zu setzen und seinem Schicksal zu überlassen. Doch er schob ihn behutsam zur Tür hinaus, überquerte mit ihm den Bahnhofsvorplatz und trug ihn mehr, als er ihn schob, durch die Unterführung zum 3er-Bahnsteig, an dem in wenigen Minuten der erste REX in Richtung Friesach halten würde.

Der Transport des Knaben dauerte länger, als Panther gedacht hätte. Als er den Jungen endlich auf dem Bahnsteig wieder zum Stehen gebracht hatte, fuhr der Regionalexpress auch schon ein. Die automatischen Schiebetüren quietschten, und Panther hievte sein Küken mit einem sanften Fußtritt hinein.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte er.

„Clown“, sagte der Junge. „Ich heiße Clown.“

„Ich heiße Panther“, sagte Panther, der eigentlich Peter hieß. „Immer sprungbereit.“

Da knallten die beiden Türen auch schon wieder aufeinander. Und kaum hatte sich der Zug in Bewegung gesetzt, küsste Clown den Boden und war aus Panthers Gesichtsfeld verschwunden.

Panther ging die Kotze aufwischen und ärgerte sich einmal mehr, dass er kein Haubenkoch in einem feinen Restaurant geworden war, sondern in diesem vergammelten Bahnhofsresti die Stellung halten musste, das er mitsamt der dazugehörigen Wohnung und einem Haufen Hypotheken von seiner Oma geerbt hatte. Aber Haubenköche, dachte er, während er sich wegen des Gestanks die Nase zukniff, hatten vermutlich auch ihre Probleme. Und wer weiß, vielleicht fand auch dort der eine oder andere Gast die Küche zum Kotzen.

***

„Mein König, hier ist dein Prinz“, säuselte Eisenherz mit der Stimme eines Wolfes, der Kreide gefressen hatte, in sein Handy.

„Scheißkönigreich, in dem man den König nicht schlafen lässt“, krächzte Muj zurück und legte wieder auf.

Muj hatte bis zwei Uhr früh Puccinis Bohème mit der göttlichen Anna gehört. Ganz schön spät für jemanden, der um acht mit geputzten Schuhen wieder die Respektsperson geben sollte. Aber wenn er um halb sieben aufstand, kriegte er das, wie er aus Erfahrung wusste, so recht und schlecht hin. Nur: Jetzt war es fünf.

Muj grunzte mürrisch, schlurfte schwankenden Schrittes ins Bad und einigte sich mit sich selbst auf eine „kleine Herrenwäsche“. Da brauchte man nur den Kopf unter den Wasserhahn zu beugen und eiskaltes Wasser drüberlaufen zu lassen, bis einem der Atem stockte. Mit dem Kindberger Wasser ging das. Es war Felsgestein in flüssiger Form und konnte Wunder wirken.

Bevor das Wunder geschah, schrillte das Handy erneut.

Muj besprühte noch einmal seine Schläfen und tätschelte sie mit einem eiskalten Waschlappen ab, bevor er das Gespräch annahm.

„Sei wachsam, mein Prinz!“, schnarrte er ins Telefon.

„Das bin ich, mein König!“

„Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich anzurufen.“

„Ein Frühstücksbier ist immer ein guter Grund. Noch bist du nicht im Dienst.“

„Das kann’s ja nicht sein.“

„Ist es auch nicht. So herzlos bin ich nicht. Aber andere sind es. Du wirst es gleich sehen.“

„Ich bin nicht herzlos. Also sag schon, was ist.“

„Du solltest dir das hier anschauen.“

„Hier ist wo?“

„Oben beim Guggenbauer, dort, wo die Schlossallee in den Hohlweg auf den Töllmarkogel einmündet. Ich würde dich ja abholen.“

„Wer oder was hindert dich daran?“

„Zwei von deinen Leuten, die meinen, ich solle mich als Zeuge bereithalten.“

„Kann ich einen von ihnen sprechen?“

Prinz Eisenherz hielt sein Handy dem kurzen Pausbäckigen hin. Der hörte zu, was Muj ihm sagte, und schien dabei noch weiter zu schrumpfen. Dann gab er Eisenherz sein Handy zurück.

„Gib mir noch zehn Minuten. Dann stehe ich an der Haustür.“

„Und nimm deinen Spazierstock mit. Wir haben eine kleine Wanderung vor uns.“

„Das fängt ja gut an“, sagte Muj und legte das Handy irritiert in den Seifenhalter.

Im Normalfall hatte Muj für das, was nun folgte, eine Stunde Zeit. Heute musste er es im Zeitraffer tun: Auf den Balkon des grauen Plattenbaus treten, in dessen viertem Stock er wohnte. Nachsehen, ob der Kirchturm und der Zunftbaum noch standen. Die Zeitung vom Fußabstreifer vor der Wohnungstür holen und kurz reinschauen, ob jemand angepatzt wurde, den er kannte. Frühstücken. Seine Medikamente mit einer Vitaminbrause hinunterspülen. Die Gurkengläsersammlung im Wandschrank abstauben. Rasieren, duschen. So in die Kleider schlüpfen, dass wenigstens ein Hauch von Würde aufkam. Den alten Burberry-Mantel als Schutz gegen die Morgenkälte aus dem Schrank holen. Ja, und die Balkonblumen gießen.

Das Rasieren und Duschen ließ Muj heute weg. Alles andere zog er durch, selbst die Balkonblumen, obwohl sie um diese Jahreszeit ohnedies schon hart am Verdorren waren. Aber Laura Muj hatte einen grünen Daumen und kannte, wenn sie zu ihren monatlichen Routinekontrollen nach Kindberg kam, keine Gnade mit saumseligen Balkongärtnern. Zur Besänftigung würde Muj ihr bei ihrem nächsten Zusammensein eine neue Klezmer-CD schenken, die er bei seinem Freund Tannenblat in Wien bestellte. Laura liebte Klezmer-Musik. Ganz im Gegensatz zur göttlichen Anna, von der sie, um Muj zu ärgern, stets behauptete, sie sei besser in Gymnastik als bei Stimme. Umso lauter ließ Muj die göttliche Anna aus der Konserve trällern, wenn Laura nicht in Kindberg war. Und sie war selten da, seit ihre Mutter an Alzheimer litt und in Lauras Heimatstadt Mestre der Pflege bedurfte.

Muj brauchte exakt zehn Minuten, aber als er unten das Haustor öffnete, stand das Peugeot-Taxi des Prinzen schon davor und beschämte den König. Seinen Spazierstock mit dem Silberknauf hatte Muj zu allem Überfluss auch noch vergessen. Er war also bereits einigermaßen genervt, als er seinen massigen Körper in den Beifahrersitz fallen ließ.

„Also was ist los?“, sagte Muj, als ein schriller Piepston zu pfeifen begann, der seine Nerven noch weiter strapazierte.

„Das ist der neue Peugeot“, erwiderte Eisenherz. „Der will, dass du den Gurt anlegst.“

„Ich lege nie den Gurt an.“

„Ich weiß“, sagte Eisenherz. „Dann musst du dir den Gurt einfach unter dem Allerwertesten durchschieben und ihn dann einrasten lassen. Auch ein neuer Peugeot lässt sich hinters Licht führen.“

Muj tat, was ihm Eisenherz gesagt hatte, und schnaufte dabei hörbar. „Das ist ja fast wie Morgensport“, seufzte er.

„Polizisten, habe ich gelesen, sollten heutzutage besonders fit sein. Vorbilder halt.“

„Ein Vorbild bin ich schon lange, zumindest für schlechte Menschen wie dich. Jetzt sag schon, was los ist.“

„Ein Herz ist los.“

„Und du willst es mir schenken?“

„Dummerweise gehört es nicht mir, sondern jemandem, der es dringend bräuchte.“

„Sag bloß, du hast die Leiche gefunden!“

„Die beiden Komiker vom Revier waren’s jedenfalls nicht. Mit ihren Ringen unter den Augen wären die wohl glatt dran vorbeigefahren am Ende der Nachtschicht.“

„Und was ist jetzt mit dem Herz?“, fragte Muj gereizt.

„Na sieh sie dir halt einmal an, die Leiche“, erwiderte Eisenherz.

***

Als Muj an den Tatort kam, versiegte das Gemurmel unter den Staatsdienern und den wenigen Schaulustigen, die zu dieser frühen Stunde hier stehengeblieben waren.

Muj war daran gewöhnt, dass dort, wo er auftauchte, das Gespräch versiegte. Er war zwar korpulent, aber nicht gemütlich. „Hui, der Muj“, zischten einander die Kindberger Kids ins Ohr, wenn sie ihn sahen und sich vorsichtshalber um die nächste Ecke verzogen, um dort ihre Tschicks weiterzurauchen oder was sie sonst gerade Verbotenes taten. Der Muj, so waren sie überzeugt, sah so gefährlich aus, als würde er sie nicht nur bei ihren bösen Taten ertappen, sondern bereits erraten können, was sie im Schilde führten.

Muj war in Kindberg nicht nur geachtet, sondern auch gefürchtet. Gegen das Geachtetwerden hatte er nichts. Aber das Gefürchtetwerden störte ihn mitunter. Er wusste doch selbst ganz genau, dass seine Seele längst nicht so finster war, wie das dazugehörige Gesicht manchmal dreinschaute. Andererseits hatte er mit diesem Gesicht zu leben gelernt. Und seine Frau und seine beiden Töchter wussten oder ahnten zumindest, wie es in Mujs Herz tatsächlich aussah. Wie in einer Mördergrube sicher nicht.

Muj fand, dass es jetzt Zeit für seine Morgenvirginier war. Sie half ihm nicht nur beim Ermitteln, sie war vielmehr selbst ein Teil davon. Die spanischen Kaufleute waren nicht blöd, pflegte Muj zu sagen, als sie den Tabak und den Kaffee nach Europa brachten. Beides klärt den Verstand und macht die Gedanken scharf. Und das sind Fähigkeiten, die ein Polizist gut gebrauchen kann. Genauso wie einen guten Arzt. Einen von der Art des Doc Kotschvar, einem bärbeißigen Kerl, der nicht viele Worte machte. Die allerdings waren fast immer die richtigen. Wie wohl auch jetzt, nachdem er den Toten einer kurzen Untersuchung unterzogen hatte.

„Unser Freund hat sein Herz schon gestern abgeben müssen. Wahrscheinlich in den frühen Abendstunden, vielleicht aber auch schon am Nachmittag.“ Doc Kotschvar murmelte es in seinen grauen Spitzbart, füllte den Totenschein aus und wollte schon in seinem feldgrauen Rover verschwinden, als Muj ihn am Ärmel zupfte.

„Eine Ahnung von der Tatwaffe, Doc?“

„Haben Sie das ‚Texas Kettensägen-Massaker‘ gesehen?“

„Ich mag im Kino kein Blut, davon hab ich genug in der Wirklichkeit.“

„Als Arzt kann ich das gut verstehen“, sagte Doc Kotschvar. „Aber dennoch: Der Film könnte Ihnen wertvolle Hinweise liefern. Ebenso übrigens wie das Silberkettchen mit dem Drudenfuß als Anhänger. Weiß der Teufel, was sich der Täter dabei gedacht hat.“

Muj tat einen tiefen Morgenzug und lächelte sein erstes Lächeln an diesem Tag. Aber keiner merkte es. Muj lächelte selten, und wenn er lächelte, merkte es niemand. Denn Muj lächelte nach innen. Und meistens dachte er gleich darauf an Laura und was sie im fernen Mestre wohl gerade tat. Der Gedanke konnte heute entfallen. Um diese Zeit schlief Laura. Definitiv.

Die mittlerweile um einen weiteren Beamten verstärkte Spurensicherung hatte ihre Arbeit fürs Erste getan. Der Tatort war aus allen erdenklichen Perspektiven durchfotografiert. Die herzlose Leiche war in einem Acrylsarg verstaut und befand sich auf dem Weg in die Gerichtsmedizin. Muj nuckelte aus tiefster Lunge an seiner Virginier und blies einen Freundschaftsring zu Prinz Eisenherz hinüber.

„Hast du den Toten gekannt?“, fragte Muj.

„Hab ihn sicher schon einmal gefahren. Er ist aber kein Kindberger. Sein Gesicht gehört eher nach Bruck. In irgendein Geschäft, einen Supermarkt oder so. Ja, eher in einen Supermarkt.“

„Zeit für dein Frühstücksbier, mein Prinz!“

„Wüsste nicht, was ich lieber täte, mein König. Aber ich habe dir noch eine kleine Morgenwanderung versprochen.“

„Und ich hab meinen Spazierstock vergessen. Dabei hat Laura ihn mir eigens für Expeditionen dieser Art geschenkt.“

„Sag nicht, du seist nicht gewarnt worden. Es ist zwar steil, aber mit deinen vierundfünfzig schaffst es so auch.“

„Dreiundfünfzig“, widersprach Muj.

„Dann schaffst du es noch leichter, junger König.“

Eisenherz streckte seine Hand in die Richtung des vom Morgenlicht durchfluteten Sonnenhangs, dessen Neigungswinkel in der Tat ehrfurchtgebietend war.

„Ist das nur Morgensport oder hat es auch einen Sinn?“

„Als Morgensport wären hundert Liegestützen sinnvoller“, sagte Eisenherz, und Muj bekreuzigte sich. „Aber ermittlungstechnisch gesprochen, ist es sehr sinnreich.“

„Und man kann da hinauf nicht fahren?“

„Nicht einmal, wenn man Doc Kotschvars Rover hätte, könnte man das. Mit dem Hohlweg beginnt das Gebirge.“

„Sieht so aus“, erwiderte Muj und stolperte dabei fast über einen Wurzelstock. Der verheerende Sturm vor ein paar Wochen hatte eine Menge Bäume ausgerissen.

Der Weg war steil und steinig, und dem ausgerissenen Baum folgten weitere, was den steilen Anstieg über die normale Strapaze hinaus auch noch zu einem Hindernislauf machte.

„Du meinst, das ist wirklich nötig?“

„Dort oben hockt der Mörder, klar.“

„Ach was!“ Muj setzte sich auf einen der vielen Felsbrocken, die zwischen Wurzelstöcken und Baumruinen den Weg säumten. Seine Atemzüge klangen wie Sturmböen.

„Vielleicht solltest du deine Morgenvirginier später weiterrauchen“, riet Eisenherz. „Deine Lunge muss ja schon schwarz wie die Nacht sein.“

„Mit Sicherheit ist sie das“, gab Muj zu. „Drum fühlt sie sich ja auch so wohl, in unmittelbarer Nachbarschaft meiner schwarzen Seele.“

„Du hast keine schwarze Seele. Aber dein Mund dampft wie ein kaputtes Auspuffrohr.“

„Mit 120 Kilo Lebendgewicht bin ich ja auch ein ganz schöner Bolide.“

„Für einen Boliden müsstest du schneller sein, mein König.“

„Halt’s Maul, mein Prinz.“

Muj griff nach einem Zweig, der sich einigermaßen als Wanderstab gebrauchen ließ. Zuvor dämpfte er allerdings folgsam seine Virginier aus.

„Ein Verbrechen gegenüber einer Zigarre“, sagte er und stopfte den stromlinienförmigen Stumpen ins Papieretui zurück.

„Du solltest das nicht nur auf steilen Hängen tun, sondern deinem Körper auch sonst gehorchen. So ein Körper ist nämlich ziemlich redselig. Er sagt dir genau, was du zu tun hast.“

„Ich gehorche meinem Körper nicht, ich füge mich seiner Gewalt“, beharrte Muj. Aus seinem Brustkorb surrte und schnarrte es weiter, als drehten sich zwei Windräder darin.

„Was suchen wir wirklich hier oben?“, fragte Muj, nun schon ein wenig ärgerlich.

„Findest du es geschmacklos, wenn ich sage: das Herzstück des Falles? Ich jogge fast täglich mit Splinta dran vorbei.“

„Du wirst mir doch nicht einreden, du wüsstest etwas über den Verbleib des herausgeschnittenen Herzens.“

„Wer viel läuft und die Augen dabei offen hält, weiß vielleicht nichts, aber er ahnt so manches. Was wir suchen, ist übrigens eines von Splintas Lieblingsplätzchen und in ihrem privaten Toilettenführer als Dreisterne- Damenklo eingezeichnet. Wenn ich dran vorbeilaufe, verbellt sie mich und ich muss umkehren.“

„Jetzt mach’s nicht so spannend. Wo gehen wir hin?“

„Sei nicht so neugierig. Wir gewinnen ohnedies rasch an Höhe“, sagte Eisenherz. „Gleich ist’s geschafft.“

Muj war mehrmals nahe daran, von einem der feuchten Felsbrocken, über die der steile Anstieg führte, abzugleiten, und er verfluchte den Tag, an dem er sich von Laura zu einer Gleitsichtbrille hatte überreden lassen. Sobald man damit direkt nach unten sah, begann der Untergrund zu verschwimmen. Muj sah immer nur den Boden für den übernächsten, nicht aber für den nächsten Schritt.

Ein Viertelstündchen später hatten die beiden Morgenwanderer die Anhöhe erreicht und standen vor einer Birkengruppe, in deren Mitte sich auf mehreren übereinandergetürmten Felsblöcken ein Wegkreuz befand.

„Du hast es geschafft, gratuliere, mein König!“, sagte Prinz Eisenherz.

Muj holte mehrmals tief Atem, bevor er antworten konnte. „Und wegen diesem kitschigen Marterl hast du mich hier heraufgeschleppt, als ob ich Reinhold Messner wäre?“

„Das ist, pflichtschuldigst, kein 9000er, sondern ein 900er, mein König!“

„Mir schien es das Erstere zu sein“, schnaufte Muj. „Und jetzt sag schon, warum sind wir hier?“

„Vielleicht siehst du dir das Bild in dem Kreuz einmal näher an. Der Teufel steckt nämlich selbst bei Heiligenbildern im Detail.“

Muj raffte seine letzte Atemluft zusammen, um die paar Felsen zum Marterl hochzuklettern, und fand ein schon ziemlich verwaschenes Bild naivster Malerei in einem hölzernen Rahmen, der oben spitz zusammenlief und das Bild wie ein Kapellendach schützte. Die Darstellung zeigte einen Mann ohne erkennbares Gesicht, der sein Messer gegen ein Mädchen erhob, auf das er sichtlich einstechen wollte. Der Mann und das Mädchen waren jedoch nicht allein. Von hoch oben über dem Wald wurde die Untat nämlich auch von einer Dreifaltigkeitserscheinung im Strahlenkranz beobachtet.

„Schon einmal was vom Herzerlfressermarterl gehört?“, fragte Prinz Eisenherz.

„Du kennst ja meine Wanderlust. Ich kann mich nur an ein Herzerlfresser-Duo erinnern. Das musste ich einmal in Schutzhaft nehmen, weil unmusikalische Nachbarn es an einen Baum fesseln wollten.“

Da war es wieder, das Muj’sche Lächeln nach innen. Und wer weiß, vielleicht war Laura in Mestre ja auch schon beim Zähneputzen. Muj atmete schwer, und sein Atem wurde noch schwerer, wenn er daran dachte, dass Laura sich jetzt vielleicht gerade einen Espresso machte und auf die Via Fiume starrte, wo sie gegenüber ihrem gemeinsamen Lieblingsrestaurant, der Osteria alla Pergola, gemeinsam mit ihrer Mutter die Parterrewohnung in einem alten Ziegelsteinbau bewohnte.

Doch Muj stand zu seinem Bedauern nicht vor einer venezianischen Osteria, sondern vor einem alpenländischen Marterl, auf dem in schon ziemlich vergilbter Frakturschrift zu lesen war: „Der Herzerlfresser von Kindberg anno 1786.“ Das Kleingedruckte darunter war ein Gedicht in holprigen Versen, das wie eine jener schaurigen Moritaten klang, wie man sie gegen Ende der Kaiserzeit in der Küche sang, damit einem das Zwiebelschneiden leichter von der Hand ging.

Muj bückte sich ganz nah bis an den unteren Bildrand vor und las, nunmehr wieder froh über seine Gleitsichtbrille, halblaut vor:

Herzerlfresserweg wird hier genannt

Der Platz von alters her bekannt,

wo im 1786er Jahr

eine große Mordtat geschehen war.

Knecht Paul R***,

vom Aberglauben toll besessen,

Der lebte in dem Wahn,

dass er sich unsichtbar machen kann,

wenn er sieben Menschenherzen hätt gegessen.

Eine Bauernmagd, o großer Gott,

die stach der Wüterich hier zu Tod,

Und riss dann voller Wut und Freud

Das Herz dem Opfer aus dem Leib,

Sechs Menschen mussten unter seinen Händen

So grauenvoll ihr Leben enden,

bis endlich kam auch dann der Tag,

dass gefesselt er im Kerker lag

am Grazer Schlossberg in grimmer Haft

hat ihn der Tod hinweggerafft.

„Warum tut sie nichts?“, fragte Muj.

„Das Mädchen? Sie hat doch keine Chance, sich gegen den Unhold zu wehren.“

„Nein, die Heilige Dreifaltigkeit. Sie sieht zu und tut nichts.“

„Das kann ich dir auch nicht beantworten“, sagte Eisenherz. „Aber es ist eigenartig, da hast du Recht.“

Eisenherz nahm die paar Natursteinstufen vom Marterl auf den Waldweg in einem einzigen Sprung, während Muj vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, um auf den morgentaunassen Steinen nicht abzurutschen.

„Wenn wir schon hier oben sind, könnte ich dir auch noch die Höhle des Herzerlfressers zeigen. Sie ist mindestens so bekannt wie das Marterl, aber noch ein schönes Stück schauriger. Es sind nur ein paar hundert Meter.“

„Bergauf?“

„Wäre gelogen, würde ich behaupten, es wäre nicht so.“

„Dann lieber ein anderes Mal. Für heute hab ich genug Sport getrieben. Und du hast dir dein Frühstücksbier ebenso redlich verdient wie ich mir den zweiten Teil meiner Frühstücksvirginier. Einen starken Morgenespresso nicht zu vergessen.“

„Du könntest genauso gut sagen, du hast dir den Tod verdient. Das Zeug zerfrisst dir die Lunge. Noch dazu hier oben an der guten Luft, an einem Wallfahrtsort.“

„Wenn man mich eines Tages vor die Wahl stellt, ob ich lieber wallfahren gehe oder Virginier rauche, dann sei gewiss, mein Prinz, dass ich mich für die Virginier entscheiden werde.“

„Es wird mir das Eisenherz brechen, mein König“, sagte er Prinz. „Aber wir müssen wohl zu Panther fahren, sonst lässt dich ja keiner mehr rauchen, zumindest nicht dort, wo es einen Kaffee und ein Bier gibt.“

„Mich lässt hier jeder rauchen“, grummelte Muj, fischte seinen Virginier-Stumpen wieder aus dem Etui, steckte ihn an und ließ ihn bedrohlich von einem Mundwinkel zum anderen wandern. „Ich bin hier nämlich der Kommissar Muj.“

„Ich weiß“, sagte Eisenherz, und diesmal war er es, der still in sich hineinlächelte. Natürlich wussten sowohl Eisenherz als auch Muj selbst, dass der Titel Kommissar in der österreichischen Polizei unbekannt war und Muj nur der polizeiintern zwar bedeutsame, aber wenig klangvolle Titel Bezirksinspektor zustand. Den Titel Kommissar hatte ihm daher auch nicht der Polizeipräsident verliehen, den hatten ihm die Kindberger selbst gegeben. Weshalb Muj ihn zwar ohne jede rechtliche Grundlage, aber voll Stolz führte.

Als Muj gleich darauf beinahe über einen Haufen Tannenzapfen stolperte und nur vom biegsam federnden Waldboden vor einer gröberen Verletzung bewahrt wurde, schüttelte er sorgsam die Tannennadeln von seinem grauen Burberry-Mantel und senkte sein Haupt vorsichtshalber wieder.

Evilprincess

Die Bahnhofswirtschaft von Peter Fürnschitz hieß zwar „Zum Steirischen Panther“, war aber alles andere als ein normales Landwirtshaus. Zunächst erschien sie dem Besucher als Tabaktrafik, die den Vorteil hatte, dass die Unverbesserlichen unter den Kindbergern ihren Tschick- und Zigarillobedarf hier auch dann noch stillen konnten, wenn alle anderen Trafiken längst geschlossen hatten. Denn Panther war, außer am Donnerstag, immer da. In der Früh, wenn die ersten Morgenzigaretten vor seiner Tür geraucht wurden, weil man das am Bahnsteig nicht mehr durfte. Und in der Nacht, wenn er sein Lokal kurzerhand zum privaten Raucherclub erklärte, erst recht.

Wann und ob Panther überhaupt schlief, war ein in Kindberg viel diskutiertes, aber letztlich eben sein Geheimnis. Denn schließlich war er nicht nur Trafikant, sondern auch noch Schankbursch, Betreiber eines Internet-Cafés, Inhaber des Patents für den schärfsten Teufelstoast nördlich von Sri Lanka und kommunaler Seelenheiler.

In der letzteren Funktion stand Panther gerade vor einem Rätsel, als Muj und Prinz Eisenherz die ebenerdige Bahnhofswirtschaft betraten, die mit zwei Kellergeschoßen in einen Abhang hineingebaut war.

„Das hat mir heute früh einer durchs Fenster hereingeworfen, während ich meinen letzten Gast in den Morgenzug gesetzt habe“, sagte Panther und drückte Muj, ohne ihn vorher zu grüßen, einen kleinen Nylonsack in die Hand. Er enthielt ein ausgestopftes Nähkästchen-Herz mit sieben Stecknadeln drin. Auf einer davon steckte ein giftgrünes Post-it, auf das mit zittriger Hand gekritzelt war: „Operation Satanismus is im vulln Gange!“ Die Botschaft war mit „Evilprincess“ gezeichnet und datierte vom 22.3.1998.

Die Botschaft selbst schreckte Muj nicht besonders. Solche Nachrichten fanden sich im Mürztaler Polizeialltag immer wieder, und zu den Satanisten hatten sich in letzter Zeit auch immer mehr Schamanen, Rebirther, Hexentanzmeister und alle möglichen anderen Erweckungskonsulenten gesellt. Als Muj jedoch das nun schon über ein Jahrzehnt zurückliegende Datum las, versetzte das seinem Herzen einen schmerzhaften Stich. Denn dieser Tag hatte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingeprägt, erinnerte er ihn doch an einen der ganz wenigen Fälle seines Lebens, an denen er gescheitert war. Er hatte dem Fall Evilprincess wohl eines der Gurkengläser in seinem Schrank gewidmet, doch es war bis heute leer geblieben und verursachte Muj, sooft er daran dachte, ein dumpfes Drücken in den Eingeweiden.