Schlag auf Schlag - Christoph Wagner - E-Book

Schlag auf Schlag E-Book

Christoph Wagner

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Beschreibung

Zur Reihe Heidelbergkrimis: Hauptkommissar Travniczek war lange Leiter der Mordkommission München. Er kommt in gleicher Position nach Heidelberg und wird zusammen mit seinen Mitarbeitern Brombach und Martina Lange im Raum Heidelberg diffizile Mordfälle aufklären müssen und dabei auch immer wieder zu den markanten Plätzen von Heidelberg geführt. Die Texte sind so konzipiert, dass sie gerade auch für Leser interessant sind, die Heidelberg gar nicht oder nur wenig kennen. Travniczek war früher noch nie in Heidelberg. Brombach ist Hobbyfremdenführer und gibt seinem neuen Chef unterwegs immer wieder viele Informationen über die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten. Weitere Details erfähren die Leser in zahlreichen Anmerkungen. Bilder zu den Schauplätzen der Geschichte finden sich unter heidelbergkrimi.de. Diese Krimiserie soll ausdrücklich Lust auf Heidelberg machen. Der erste Fall: Schlag auf Schlag Ein Mann eilt kurz vor Mitternacht zum Schlosspark hinauf. Schlimme, weit zurückliegende Ereignisse verfolgen ihn noch heute und treiben ihn zu einem Doppelleben, das jemand benutzt, um ihn zu erpressen. Dieser hat 100.000 € gefordert und ihn zur Geldübergabe an den Vater-Rhein-Brunnen im Schlossgarten bestellt. Aber der Mann will ihm das Geld nicht geben, sondern seinen Erpresser töten. Am nächsten Morgen findet ein Jogger eine männliche Leiche mit eingeschlagenem Schädel im Vater-Rhein-Brunnen. Der Tote kann zunächst nicht identifiziert werden. Am gleichen Morgen erwarten die Mitarbeiter der Mordkommission Heidelberg ihren neuen Chef, Joseph Travniczek. Kurz nach seinem Eintreffen an seinem neuen Dienstort erreicht die Ermittler die Nachricht über den Toten im Schlosspark. Travniczek muss sofort in die Arbeit springen. Zunächst sieht es nach einem "normalen" Mordfall aus.

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Heidelbergkrimi

Hauptkommissar Joseph Travniczek war lange Zeit Leiter der Mordkommission München. Er kommt in gleicher Position nach Heidelberg und wird zusammen mit seinen Mitarbeitern Michael Brombach und Martina Lange Heidelberg diffizile Mordfälle aufklären müssen. Das Team wird bei seinen Ermittlungen dabei auch immer wieder zu den markanten Plätzen in Heidelberg geführt.

Dabei sind die Texte so konzipiert, dass sie nicht nur für Heidelberger, sondern gerade auch für Menschen interessant sind, die Heidelberg gar nicht oder nur wenig kennen. Hauptkommissar Travniczek war vor seinem Dienstantritt bei der Heidelberger Kripo noch nie in dieser Stadt. Kommissar Brombach ist Hobbyfremdenführer und gibt seinem neuen Chef unterwegs immer wieder umfassende Informationen über die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten. Weitere Details erfährt der Leser in zahlreichen Anmerkungen. Auf der Internetseite www.heidelbergkrimi.de finden Sie umfangreiches Bildmaterial zu den Schauplätzen der Geschichte. Diese Krimiserie soll ausdrücklich auch Lust auf Heidelberg machen.

Impressum

Schlag auf Schlag

Christoph Wagner

Published by epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright©2012  Christoph Wagner

ISBN 978-3-8442-4108-2

Cover-Foto: Pulverturm, Schloss Heidelberg

Copyright©2012  Christoph Wagner

Der Autor

Geboren 1953 in Norddeutschland, lebte ich von 1959 bis 1983 in Heidelberg, besuchte dort die Grundschule, von 1964 bis 1972 das Kurfürst-Friedrich-Gymnasium und studierte danach Musik und Mathematik. Seit 1983 arbeite ich als Musik- und Mathematiklehrer in Frankfurt am Main. Der enge Kontakt zu Heidelberg blieb über die Jahre weiterbestehen.

Nach nun bald abgeschlossenem Berufsleben als Lehrer will ich in der Reihe „Heidelbergkrimis“ meine Liebe zur Stadt Heidelberg, die ich für eine der schönsten und interessantesten Städte überhaupt halte, verbinden mit der Frage nach der Psychologie des Bösen. In dem vorliegenden ersten Roman habe ich meine Grundfrage Hauptkommissar Joseph Travniczek in den Mund gelegt. Dort sagt er angesichts eines brutal erschlagenen Mannes: “Wie unendlich viel muss in der Seele eines Menschen zerstört worden sein, damit er zu so einer Tat fähig wird? … Kein Kind wird als Mörder geboren.”

Christoph Wagner

Statt eines Vorworts

Das eben ist der Fluch der bösen Tat,

daß sie, fortzeugend, immer Böses muß gebären.

Friedrich Schiller, „Wallenstein“

1. Teil:diePiccolomini: 5. Akt, 1.Auftritt

MITTERNACHT

Kapitel 1

Ermuss sterben–unbedingtsterben–schweigenmuss er für immer–denn wenn er redet–ist alles verloren – gescheitertder Kampf–gegen Dämonen der Kindheit –

dieMenschen–denen das Kind vertraute–gedemütigt–erniedrigt–undumdas eigeneLeben betrogen–zerstörtensie seinekindliche Seele –aber sie merkten es nicht–

lange istdasjetzt her …

Zwarkonnteichvieles erreichen– um die Dämonen zu bannen –doch noch ist der Kampf nicht entschieden –

Dämonen der Kindheit – sie zwingen mich immer wieder – zu handeln, wieich nicht will –undbleibe im Ekel zurück – vor meinen ruchlosen Taten –

Dämonen der Kindheit –siewillichfür immer besiegen –

es wird mir gelingen– doch vorher darf niemand erfahren – wozu sie mich immer noch zwingen …

***

Es war kurz vor Mitternacht an einem Sonntag im Oktober. Dichte Nebelschleier hatten die Stadt eingehüllt. Es war vollkommen windstill. Da hastete ein stattlicher Mann mit langem, braunem, leicht gelocktem Haar und klassisch ebenmäßigen Zügen auf der Hauptstraße1 an Heiliggeistkirche2, Rathaus3, Kornmarkt4 und Karlsplatz5 vorbei und bog mit schnellen, hämmernden Schritten in den Friesenberg ein, um noch rechtzeitig den Schlosspark zu erreichen. Seinen Blick starr auf die feucht glänzenden Pflastersteine geheftet, nahm er seine Umgebung kaum wahr und hielt krampfhaft mit der linken Hand den Griff eines kleinen schwarzen Aktenkoffers umfasst. Der Schein der wenigen Straßenlaternen an einigen Hauswänden drang kaum durch den milchigen Nebel und ließ die Häuser und hohen Stützmauern an den Seiten nur wie verschwommene, dunkle Schatten erscheinen, gleich Spiegelbildern seiner düsteren Gedanken. In den menschenleeren Straßen war der Lärm des Tages erstorben. Nur seine hämmernden Schritte hallten durch die neblige Nacht.

***

Er muss sterben – unbedingt sterben – schweigen muss er für immer –

doch wer muss sterben? – wer muss schweigen? – wer hat herausgefunden – dass es mich doppelt gibt? – zwei Namen – zwei Personen – die nichts miteinander gemein haben – die sich hassen unddie sichniemals begegnen dürfen – einer hat es durchschaut – was niemand durchschauen durfte – der Plan war perfekt – an alles gedacht – Entdeckung unmöglich – wo lag mein Fehler? – verstellt die Stimme am Telefon – ich müsste sie kennen –kommt das von denRussen? – wollen die noch mehr? – das glaube ich nicht – denn sie verdienen fantastisch durch meineschändlicheArbeit– oder haben die einen gefunden, der ihnen noch mehr bringt? – doch wenn nicht die Russen, wer dann? – kenne ich ihn überhaupt? – woher kennt er mich? – warum bestellt er mich an den Brunnenim Schlosspark? – weiß er, was dort geschah? – was mich in den siebenten Himmel erhob – was später den Riss durch mein Ich noch unerträglicher machte?– vielleicht weiß er nur das – aber er will 100.000 – dann weiß er alles – es macht keinen Sinn, ihm das Geld zu geben – denn ich kann ja nicht wissen, ob er nicht immer mehr fordert – ihm zu vertrauen ist Wahnsinn – also gibt es nur eines:Ermuss sterben – unbedingt sterben – schweigen muss er für immer…

***

Der Mann durchschritt das Tor zum Schlossgarten. Hier leuchteten die Laternen heller als am Friesenberg, und so konnte er seine Schritte weiter beschleunigen. Der schmale und steile Anstieg durch das tief eingeschnittene Tal zwischen Scheffelterrasse6 und Ostseite des Schlosses führte ihn zwischen großen Bäumen hindurch, die im neblig fahlweißen Licht der Laternen am Wegrand Gespenstern glichen. Kurz leuchteten linker Hand im feurigen Orange der Scheinwerfer einige Bögen der Scheffelterrasse schemenhaft auf. Über enge Serpentinen eilte der Mann weiter, während hoch oben die hell erleuchtete Ostfassade des Schlosses mit Glockenturm7, Ottheinrichsbau8 und Apothekerturm9 immer deutlicher aus dem Nebel hervortrat. Er ließ genau in dem Augenblick den Nebel unter sich und trat in die klare Nachtluft, als er den ersten Bau des Schlosses erreichte, den Karlsturm10, der wie von der Faust eines Riesen zerschlagen sein dunkles Inneres nach außen kehrte und wie der drohende Rachen eines mächtigen Ungeheuers erschien, das gnadenlos alles verschlingt, was sich ihm nähert. Unter dem schwarzen, sternenübersäten Himmel führte ihn der jetzt schnurgerade Weg weiter an den vollständig restaurierten unteren Befestigungsanlagen entlang auf die wuchtige Spitzkasematte zu, vor der sich der Weg nach links wendete und kurz den Blick freigab auf den vor mehr als dreihundert Jahren geborstenen Pulverturm11, einem Mahnmal gleich für alles, was unwiederbringlich zerstört ist. Durch eine letzte, steil ansteigende Biegung des Weges erreichte er die Scheffelterrasse.

***

Er muss sterben – unbedingt sterben – schweigen muss er für immer –ich will ihn töten – er hat keine Chance –trifft ihn die Kugel nicht gleich –dannwird ihn der Senderim Kofferverraten –der wird mich zu ihm führen–wohin er auch geht – damit rechnet er nicht – das ist sein Fehler – ichwill triumphieren– die heutige Nacht –nur eine Episode–dennichwillweiterkämpfen-gegenDämonen der Kindheit – ichwillsie vernichten – mit ihnen mein dunkles Ich –meine Seele heilen–und trotz meiner heutigen Taten–wird,wie einstmals fürFaust,– auch für michdannder„Chor der seligen Knaben“singen:

Wer immer strebendsich bemüht,

den dürfen wir erlösen.12

***

Völlig erschöpft durch den Aufstieg spürte der Mann, wie sein Herz raste und ihm bis zum Halse schlug. Er hielt an, drehte sich um und stützte sich mit der rechten Hand auf der steinernen Balustrade der Scheffelterrasse ab. Den Kopf tief gesenkt, atmete er mit geschlossenen Augen einige Male langsam und tief aus und ein. Allmählich öffneten sich seine Augen wieder und sein Blick fiel auf die im Nebel verschwommenen Lichter der Altstadt und die vor dem schwarzen, sternenbedeckten Nachthimmel feurig hell erleuchtete Ostfassade des Schlosses. Doch diese grandiose Kulisse erreichte sein Inneres nicht. Mit starrer Miene wandte er sich nach Süden und ging in den Schlosspark hinein. Vor ihm standen weit ausladende, uralte Bäume, deren Blätter sich nur ganz leicht im kaum spürbaren Wind bewegten. Rauschen von Wasser durchzog die Luft. Es deutete auf das Ziel seines Weges, den Brunnen des Vater Rhein, den man in der südöstlichen Ecke des Parks mehr ahnen als sehen konnte, da er vom rötlichen Scheinwerferlicht nur matt erleuchtet war.

Auf diesen richtete sich jetzt sein Blick und blieb auf ihm haften, während er langsam die Scheffelterrasse entlangging. Die Brunnenfigur wurde immer deutlicher, während der Mann an der ersten Wegkreuzung zunächst zögerte und dann nach links einbog. Kurze Zeit später stand er dem Vater Rhein gegenüber. Umringt von den hohen Fontänen des Springbrunnens, blickte die auf Felsbrocken liegende steinerne Figur mit verträumten Augen in unendliche Fernen. Viel musste sie gesehen haben in den fast vierhundert Jahren, die sie hier bewegungslos lag.

***

Er muss sterben – unbedingt sterben – schweigen muss er für immer –

Aber – darf ich ihn töten? –wenn ich ihn töte – dannüberschreiteich eine Grenze – unwiderruflich – da wird es keinzurückmehr geben – doch auch Faust hat getötet13–

aber – kann ich dennmorden?– wird meine Hand nicht zittern, wenn ich die Waffe erhebe?–dannwird er nurhöhnischlachen – und mein Kampf ist für immer verloren – – –

aber – muss ich denn kämpfen?–ichkann die Waffeauchgegen mich selbstrichten– und alle Not hat ein Ende – die Dämonen der Kindheitgebannt– ewiger Friede in meiner Seele –

aber – wenn ich dann doch Rechenschaft ablegen muss – was werde ich sagen?–kanndenn ein ewiger Richter ermessen, was es bedeutet, für immer Opfer zu sein?–immer wieder zu scheitern –zwanghaft tun zu müssen,was man nicht will?–ich sollte es darauf ankommen lassen –nureine kleineBewegung –und es ist alles vorbei…

***

Plötzlich war alles still. Die Fontänen des Brunnens schwiegen. Auch das warme, rötliche Scheinwerferlicht war erloschen. Die hell strahlende Schlossfassade war nur noch eine dunkle Silhouette mit gespenstisch leeren Fensterhöhlen. Es blieb das kalte, weißliche Licht der Weglaternen. Zwölf Mal durchbrachen die Glockenschläge der Uhr vom Torturm14 die mitternächtliche Stille. Das Gesicht des Vater Rhein war aschfahl geworden. Es schien, als ob er ausgeträumt hätte und ihn hellsichtig Schrecken ergriffe vor dem, was nun geschehen sollte.

***

Die Fontänen verstummt – die Scheinwerfer dunkel – es ist jetzt Mitternacht – warum meldet er sich nicht? – ich will es hinter mich bringen – –

ich darf mich nicht töten – denn ich werde gebraucht – ich muss doch noch denen helfen, die keinen Ausweg mehr sehen – ich muss ihnen zeigen, wo ihre verborgenen Wege liegen – und meine Kinder – Sebastian und Hannes – sie brauchen den Vater – ich muss ihre Unschuld bewahren – wenn der Vater sich tötet – bricht ihre Welt zusammen – dann wird auch offenbar das Tun meines dunklen Ichs – dann sind die Seelen auch dieser Kinder zerstört – und das Spiel beginnt wieder von vorn – das muss ich verhindern – sie muss ich bewahren vor einem Schicksal, das mich selber so quält …

***

SeinHandyklingelteundriss ihn ausseinenGedanken.Erhörtewiederdie verstellte Stimme: „Sie gehen jetzt langsam auf das Portal der Grotte vorIhnen zu bis zum Absperrgitter und stellen den Aktenkoffer an der linken Seitenwand ab. Dannbleiben Sie stehen. BehaltenSie das Handy am Ohr und wartenSieauf neue Anweisungen!“

***

Diese Stimme – woher kenne ich sie? – es will sich nicht zeigen – aber der Platz für den Koffer kommt meinen Plänen entgegen – ich kann michverstecken–und wenn er sich den Koffer holt, wird meineKugelihntreffen…

***

„Jetzt gehen Sie rückwärts ganz langsam wieder ins Freie, bis Sie den Beckenrand berühren.“

***

Was soll das?– spielt er mit mir? – es liegt etwas Furchtbares in der Luft – mir ist, als greife eine kalte Hand nach meinem Herzen – was will er von mir? – will er kein Geld,sondern nur Rache? – will er mich töten? – oh, auf einmal wird alles klar – es kann …

***

„Du sollst jetzt wissen, wer ich bin! – – ICH BIN DER GEIST, DER STETS VERNEINT!“15

***

Die Stimme – nicht mehr verstellt – jetzt erkenne ich sie– ichhätte es längst schon erkennen müssen – o Gott, ihn kann ich nicht töten – nicht diesen Menschen – das wäre Verrat – was bleibt mir zu tun? – was hat er vor? – warum gibt er sich ausgerechnet jetzt zu erkennen? – was– – –

***

Wie glühender Stahl durchfuhr ein nie gekannter Schmerz seinen Schädel und ließ ihn bersten. Das Dunkel der Nacht zerfetzten tausend gleißend grelle Blitze, sogleich verschlungen von vollkommenem Schwarz. Und das vollkommene Schwarz zerrann ins bodenlose, allumfassende Nichts.

Kapitel 2

Stille. Die Nebeldecke über der schlafenden Stadt ließ kein Geräusch mehr bis hier herauf dringen. Der aufgehende Mond warf ein fahles Licht auf die Fassaden des Schlosses, während der Vater-Rhein-Brunnen noch im Schatten der Berge lag, die hinter dem Park groß und schwarz vor dem blass erhellten Nachthimmel standen. Am Boden der Tote. Vor ihm sein Mörder, reglos, die blutige Keule in der rechten Hand, seinen triumphierenden Blick auf das Opfer gerichtet.

***

Ich hab es getan–mich wird Mephisto jetzt loben –hast du tatsächlich geglaubt, ich wollte dein Geld?–mich interessiert dein Geldnicht– ich bin keingewöhnlicherMörder– nein, ich bin vom Schicksal ausersehen –ich mussseine Notwendigkeiten vollenden – und du hast dein Leben verwirkt – vielfach – durch dein furchtbares Tun – undmein Leben hast dudann auchnochzerstört –was mir gehörte,hastdugenommen,– und mir deshalb den Weg aus der Hölle verlegt –ichkann ihnnun nie mehr finden –ichfühledas…

***

Es war etwas Wind aufgekommen. Die Blätter der großen alten Bäume des Parks rauschten in leichter Bewegung. Der Himmel wurde heller. Der Mond würde bald auch hier aufgehen.

***

Ich muss mich schützen–ich habenochPflichten zu erfüllen –michdürfen sienochnicht finden – ich muss sie verwirrenundfalsche Spuren legen – ichnehmedem Toten, wasihnenverrät, wer er ist –ichwerfeihnin den Brunnenund bedeckedas Blut auf der Erde mit Kies–ich stelle den Koffer mit dem Geldaufden Brunnenrand– sie sollen sich das Hirn zermartern – warum stiehlt einer die Brieftasche, lässt aber 100.000Eurostehen?– siesollensich im Kreise drehen – und ich habe Zeit –ichkann tun, wasMephistoverlangt – ich könnte es nicht ertragen, gerichtet zu werdenvon denen, die das normale Leben lieben – die nicht erkennen, dass all ihr Tun vergebens ist – dass es keinen Sinn geben kann – und wennichalles getanhabe, wasich tunmuss?–ich werdeMephistosein imgrandiosen Finale– eine Apotheose des Nichts…

***

Wie er beschlossen hatte, nahm er dem Toten Handy und Brieftasche ab, schleifte ihn zum Brunnenrand und ließ ihn so sachte ins Wasser gleiten, als ob er die Stille der Nacht nicht stören wollte. Dass dabei etwas aus der Hosentasche des Toten fiel, bemerkte er nicht. Dann holte er den Geldkoffer und stellte ihn auf den Brunnenrand. Noch lange Zeit verharrte er vor dem Brunnen, den Blick auf sein Opfer gerichtet. Dann drehte er sich langsam um und entfernte sich mit gesenktem Kopf in Richtung der Scheffelterrasse. Dass die ganze Zeit zwei scharfe Augen das Geschehen beobachtet hatten, war ihm entgangen.

Der Mond war inzwischen hinter den Bergen hervorgekommen. Die vom auflebenden Wind leicht gekräuselte Oberfläche des Brunnenwassers schimmerte silbrig. Vom Körper des Toten ragte in zwei schwarzen, kaum wahrnehmbaren Kreisen nur etwas vom Kopf und Rumpf aus dem Wasser. Vater Rhein thronte wie ein Wächter über der Szenerie. Stiller Friede legte sich über den Ort des schaurigen Geschehens.

DER ERSTE TAG

Kapitel 3

Es war Montagmorgen kurz nach sieben Uhr. Das Büro der Mordkommission in der Polizeidirektion Heidelberg lag noch verwaist in der Wochenendruhe. Im Morgengrauen drang wenig Licht durch die Glasfront an der Längsseite des zweckmäßig eingerichteten Raumes. Gegenüber der Fensterfront waren die ganze Wand entlang mehrere Aktenschränke aus dunkelbraunem Holz und silbern glänzenden Edelstahlstützen aufgereiht. Wenn man durch die Tür in der Mitte der Stirnwand hereinkam, schaute man links vor den Aktenschränken auf den Schreibtisch der Sekretärin Frau Siebert, die auch für technische Recherchen zuständig war. Auf der rechten Seite stand vor der Fensterfront ein runder Tisch mit fünf Stühlen, der zu Gesprächen verschiedenster Art diente. In der Mitte des Raumes hatten Oberkommissar Michael Brombach und Oberkommissarin Martina Lange ihre Arbeitsplätze, die einander gegenüberlagen, damit man bei der Arbeit problemlos Kontakt miteinander aufnehmen konnte. Vor der Rückwand dann der groß dimensionierte Chefschreibtisch, von dem aus man leicht den ganzen Raum überblicken konnte. Er war leer geräumt, weil der langjährige Leiter der Mordkommission, Eduard Bamberger, am vergangenen Freitag in seinen wohlverdienten Ruhestand verabschiedet worden war. Heute sollte sein Nachfolger Joseph Travniczek seinen Dienst antreten. Auf die Idee, den Raum durch Zimmerpflanzen oder Bilder an den Wänden etwas freundlicher zu gestalten, war bisher wohl noch niemand gekommen.

Wie fast jeden Tag kam auch heute die Sekretärin Melissa Siebert schon deutlich vor dem eigentlichen Dienstbeginn ins Büro. Die etwas rundliche, recht kleingewachsene Endfünfzigerin konnte sich nur mühsam fortbewegen, denn sie hatte drei große Blumensträuße und mehrere Plastiktüten voll mit Backwerk mitgebracht. Für den Einstand des neuen Chefs wollte sie das sonst eher sterile Büro freundlicher, lebendiger und wärmer erscheinen lassen. Sie nahm aus dem untersten Fach eines Aktenschrankes drei Vasen, füllte sie mit Wasser, stellte die Sträuße hinein und arrangierte sie sorgfältig. Dann ließ sie ihre stets freundlichen, hellblauen Augen durch den großen Büroraum schweifen, um zu entscheiden, wo die Blumen ihre größte Wirkung entfalten könnten. Sie stellte dann einen Strauß von zwanzig roten Rosen auf den Besprechungstisch, Sonnenblumen vor den Arbeitsplatz von Brombach und Frau Lange und einen bunten Herbstblumenstrauß direkt auf den Chefschreibtisch.

Sie hielt nochmals inne, um sich mit prüfendem Blick davon zu überzeugen, dass ihre Wahl gut war, und wandte sich dann der Kaffeemaschine zu. Es war ein tägliches Morgenritual. Mindestens zwei Löffel Kaffeepulver mehr als normal musste sie in den Filter schütten, weil sie wusste, dass das Team ohne ständigen Nachschub an starkem Kaffee nicht wirklich arbeitsfähig war und deshalb sämtliche Mörder im Großraum Heidelberg weiter unbehelligt frei herumlaufen würden. Als das Wasser durch die Maschine zu laufen begann, öffnete sich schwungvoll die Tür und Kommissar Michael Brombach trat ein, Enddreißiger, groß gewachsen, forscher Blick, erkennbar stolz auf seine durchtrainierte sportliche Figur, seine fast schwarzen Haare und die sonnengebräunte Haut. Er trug sehr enge, schwarze Jeans, ein ebenso eng anliegendes, schwarzweiß gestreiftes, oben offenes Hemd und graue Sportschuhe.

„Guten Morgen, Kommissar“, begrüßte ihn Melissa Siebert.

„Morgen“, entgegnete Brombach und nahm mit spöttischem Lächeln den Blumenschmuck zur Kenntnis. „Der gute Melissengeist hat mal wieder für Leben in der tristen Bude hier gesorgt. Schlechte Zeiten für Heidelbergs Mörder. Die fangen wir jetzt doppelt so schnell.“

„Ach, Brombach, wenn du meinst, ich hätte die Blumen für euch Ignoranten besorgt, so irrst du gewaltig. Hast du vergessen, dass heute ein besonderer Tag ist?“

„Das fällt mir jetzt grade nicht ein.“

„Aber heute kommt doch unser neuer Chef! Und der soll doch gleich einen guten Eindruck von uns bekommen. Du weißt doch: Der erste Eindruck ist immer der wichtigste.“

„Ach, jetzt versteh ich. Du willst dich bei dem Neuen, Tawizik, oder wie der heißt, einschleimen!“

„Jetzt red doch keinen Quatsch! Wir haben hier eine Reihe von Jahren gut zusammengearbeitet und – “

„Eben“, unterbrach Brombach.

„Was heißt eben?“

„Eben heißt eben! Wir haben hier in der Tat seit fast zehn Jahren mit dem alten Bamberger blendend zusammengearbeitet, haben anerkanntermaßen sehr gute Arbeit geleistet. Wir hatten mehrere Jahre hintereinander landesweit die höchste Aufklärungsrate. Dann verabschiedet sich der Bamberger in den Ruhestand. Zur Abschiedsfeier kommt sogar der Innenminister, labert hier herum, überschüttet uns, die Heidelberger Mordkommission, mit Lobeshymnen und was dann? Sie setzen uns diesen Tschechen oder Slowaken vor die Nase!“

„Also, Kommissar Brombach, bitte keine fremdenfeindlichen Ressentiments! Du hast wohl im Geschichtsunterricht geschlafen. Es gab vor dem Zweiten Weltkrieg das Sudetenland, aus dem nach Kriegsende über drei Millionen Deutsche vertrieben worden sind, von denen viele tschechisch klingende Namen hatten. Und übrigens, der Mann heißt Travniczek.“

„Das mag ja alles sein und ich habe gegen den Mann auch nichts persönlich. Ich bin nur sauer auf diese hochherrschaftlichen Verwaltungsfuzzis. Nach dem, was wir hier geleistet haben, hätte ich, oder meinetwegen auch Martina, die Leitung der Mordkommission übernehmen müssen.“

„Da gebe ich dir natürlich recht. Aber du weißt ja – “

Da klingelte das Telefon.

„Aha, die Arbeit ruft“, meinte Brombach wenig erfreut, während die Sekretärin den Hörer abnahm und dem Anrufer eine Weile zuhörte. Melissa Siebert verdeckte das Mikro des Hörers mit der Hand und wandte sich an Brombach.

„Kommissar, die Pforte ruft an. Sie hätten dort einen Herrn Meyer-Hampel oder so ähnlich, der unbedingt mit jemandem von der Mordkommission sprechen will. Er wollte auch keine Andeutungen machen, um was es geht.“

„Dann sollen die uns diesen Hampelmann hochschicken. Wahrscheinlich wieder so ein üblicher Wichtigtuer, dem angeblich zwei Mörder durch den Vorgarten gelaufen sind. Und wenn man nachprüft, dann waren’s nur zwei Katzen. In der Regel Zeitverschwendung.“

Das Gespräch zwischen Brombach und der Sekretärin über den neuen Chef und die Ungerechtigkeit dieser Personalentscheidung wurde bald durch leises Klopfen an der Tür unterbrochen.

„Ja, bitte!“, rief Brombach in barschem Ton. Die Tür öffnete sich zögerlich zunächst nur einen Spalt. Es erschien ein ziemlich großer Kopf, der aber einem recht kleinen Mann gehören musste. Zwei verschmitzt lächelnde, recht weit auseinander stehende blaue Augen überflogen prüfend den Raum. Über buschigen Augenbrauen erhob sich eine leicht fliehende Stirn mit tiefen Geheimratsecken. Das hellbraune, schon etwas schüttere Haar war nach hinten gekämmt. Die Backenknochen standen leicht vor, der Mund war breit mit dicken Lippen und einem etwas struppigen Oberlippenbart. Im Zentrum prangte gleich einem Leuchtturm auf einer Insel eine große Adlernase.

„Hm, Entschuldigung, wenn ich störe. Bin ich hier richtig bei der Mordkommission?“

„Da sind Sie goldrichtig“, erwiderte Kommissar Brombach etwas ungeduldig. „Treten Sie bitte näher!“

Die Tür öffnete sich und gab den Blick frei auf die ganze Gestalt. Der große Kopf saß auf einem kurzen dicken Hals und einem im Verhältnis zum Kopf zu klein geratenen, aber doch sehr kräftigen Körper. Er trug eine hellbraune Lederjacke, ziemlich abgewetzt und wohl schon lange in Gebrauch, über einem lila Hemd, dessen zwei obere Knöpfe offen waren und den Blick auf eine dichtbehaarte Brust freigaben. Dazu trug er graue Leinenhosen, deren Bügelfalten ihren Namen nicht mehr verdienten, und dunkelbraune Schuhe, die offenbar schon länger mit keiner Schuhbürste mehr in Berührung gekommen waren.

„Darf ich Platz nehmen?“, fragte der Besucher.

„Aber gewiss doch“, antwortete Brombach und zeigte auf einen der Stühle an dem Tisch neben dem Eingang, auf dem Melissa Siebert den Rosenstrauß platziert hatte.

„Rote Rosen bei der Polizei! Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet.“

„Sehen Sie“, gab Brombach lächelnd zurück, „die Polizei ist gar nicht so schlimm wie ihr Ruf. Aber zunächst einmal: Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„O je, wie ungeschickt von mir! Ich hätte mich gleich vorstellen müssen. Das gehört sich ja eigentlich so. Aber Sie müssen entschuldigen, ich bin etwas nervös, Sie müssen nämlich wissen, ich hatte mein Lebtag noch nie mit der Polizei zu tun, und da ist man beim ersten Mal schon, ja, Sie wissen sicher …“

„Also, da machen Sie sich mal keine Sorgen. Angst haben müssen vor uns nur die Spitzbuben, und die richtig, aber für alle anderen sind wir – Sie kennen den Spruch – Freund und Helfer. – Aber jetzt zur Sache. Sie sind?“

„Meyer-Hampel, Wilfried.“

„Wohnhaft?“

„In München, Schwanenthalerstraße 14.“

„Sie wollen uns etwas mitteilen. Also bitte.“

„Ja, entschuldigen Sie, aber das ist nicht so einfach, ich weiß nicht so recht, wo ich anfangen soll.“

„Vorne am besten.“

„Ich will Ihnen natürlich nicht Ihre sicher sehr kostbare Zeit rauben. Aber um mich verständlich zu machen, muss ich etwas weiter ausholen.“

Während des Gesprächs war Melissa Siebert an den Tisch getreten, sah den Besucher freundlich lächelnd an und fragte: „Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“

„Ach, ganz herzlichen Dank.“

„Aber ich warne Sie. Bei der Polizei trinkt man sehr starken Kaffee.“

„Dann vielleicht doch nicht. Wissen Sie, das Herz … ist nicht mehr ganz so, wie es sein sollte. Aber vielleicht ein Glas Wasser?“

„Aber selbstverständlich! Einen Augenblick.“

Brombach sah sie strafend an wegen ihrer, wie er fand, völlig überflüssigen Freundlichkeit und weil sie ihm keinen Kaffee angeboten hatte. Zu Meyer-Hampel gewandt: „Das ist hier unsere gute Seele. Ohne sie wäre es hier gar nicht auszuhalten. Aber jetzt endlich zur Sache. Was haben Sie zu sagen?“

„Entschuldigen Sie, aber eine Frage noch: Sind Sie hier der Chef?“

„Das nicht. Der hat gerade woanders zu tun. Aber Sie können sich ruhig mir anvertrauen. Also, jetzt endlich, schießen Sie los!“

„Na so was, bei der Polizei schießt man gleich. Aber Spaß beiseite. Also, das ist so. Ich habe vor Jahrzehnten hier in Heidelberg gelebt und habe neun Jahre im altehrwürdigen Kurfürst-Friedrich-Gymnasium16 verbracht und da 1974 Abitur gemacht. Dann ging ich nach München zum Studieren und habe dann dort eine Familie gegründet und mich beruflich etabliert. Meine Eltern starben früh, und so ist mein Kontakt zu Heidelberg abgerissen, da ich keine anderen Verwandten hier hatte.“

„Sie sind doch sicher nicht hergekommen, um uns das zu erzählen“, warf Brombach mit zunehmender Ungeduld ein.

„Natürlich nicht! Natürlich nicht! Aber Sie müssen entschuldigen, die Sache ist sonst nicht zu verstehen. Also – jetzt habe ich den Faden verloren – wo war ich stehengeblieben? Ach ja! Ich hatte, wie gesagt, den Kontakt zu Heidelberg verloren, es kamen Kinder, drei Mädchen, hinreißend süß waren sie, als sie klein waren. Ich müsste noch irgendwo Bilder aus dieser frühen Zeit haben. Aber das brauchen wir vielleicht wirklich nicht. Sie sind übrigens mittlerweile alle drei aus dem Haus, zwei sind verheiratet und haben selbst Kinder, ja die Enkelchen, das ist wirklich wunderschön mit ihnen. Aber entschuldigen Sie, ich schweife jetzt doch etwas ab. Also, um es kurzzumachen. Es ist jetzt ungefähr ein halbes Jahr her, da traf ich am Viktualienmarkt – Sie kennen den Viktualienmarkt? Einer der schönsten Plätze auf der Welt, wie ich finde …“

„Nein, kenne ich nicht, hatte noch nicht das Vergnügen, in München zu lustwandeln.“

„Das ist aber ein Fehler! Wissen Sie, München ist eine der schönsten Städte der Welt, die muss man gesehen haben!“

„Da haben Sie sicher recht, aber wir haben eben hier eine ganze Menge zu tun, und deswegen wäre ich Ihnen jetzt wirklich sehr dankbar, wenn Sie endlich zur Sache kämen!“

Inzwischen hatte auch Kommissarin Martina Lange das Büro betreten und Melissa Siebert zu verstehen gegeben, dass sie wieder einmal auf der Ziegelhäuser Landstraße im Stau gestanden hatte. Sie setzte sich neben Brombach an den Tisch.

„Darf ich vorstellen: meine Kollegin Lange.“

„Oh, sehr erfreut, sehr erfreut, aber mir fällt gerade auf, ich habe wohl Ihren Namen vergessen, oder – haben Sie ihn gar nicht genannt?“

„Jetzt muss ich mich entschuldigen: Kommissar Brombach.“

„Oh, sehr erfreut, Herr Kommissar. Ach, wo war ich denn stehengeblieben? Ach ja, bei den Enkelchen, aber ich wollte ja die Sache abkürzen, nein richtig, ich war ja schon einen Schritt weiter, am Viktualienmarkt. Wirklich wunderschön dort, das müssen Sie mir glauben. Also, dort traf ich, wie gesagt, vor etwa einem halben Jahr ganz zufällig einen alten Klassenkameraden. Wir kamen ins Gespräch über die vergangenen Zeiten, über die vielfältigen Schönheiten von Heidelberg. Natürlich auch die Mädchen, ja, damals waren wir noch jung. Das waren Zeiten. Wir erinnerten uns, dass wir gerne miteinander Schach gespielt hatten. Kurz und gut, nachdem wir unsere Adressen ausgetauscht hatten und ich merkte, dass er gar nicht – “

„Zur Sache bitte, unsere Zeit ist begrenzt und unsere Geduld nicht unendlich.“

„Ja, entschuldigen Sie, die Sache ist eben doch kompliziert und das Problem nicht so leicht zu verstehen. Also, wo war ich nochmal stehengeblieben? Ach ja, also, wir trafen uns, froh, uns wiedergefunden zu haben, seitdem regelmäßig zum Schach und zum Erzählen über alte Zeiten, und dann hatte mein Schulkamerad schließlich die wirklich hervorragende Idee, unsere Erinnerungen an Ort und Stelle aufzufrischen und eine gemeinsame Reise nach Heidelberg zu unternehmen, ohne Familien, nur wir zwei, um in die alten Zeiten einzutauchen.“

Er nahm einen genussvollen Schluck aus dem Glas Wasser, das ihm die Sekretärin inzwischen hingestellt hatte. Brombach und Lange warfen sich gequälte Blicke zu und nur Melissa Siebert bemerkte, dass die Augen des merkwürdigen Besuchers immer listiger und spöttischer blinzelten. Ihr schien, dass er sich ausgesprochen wohl fühlte und sich glänzend amüsierte. Sie hatte mehr und mehr das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Er fuhr fort: „Also, wir kamen dann vor drei Tagen hier in Heidelberg an. Wir haben keine Kosten gescheut und sind im Hotel Ritter17 abgestiegen – Sie kennen doch sicher das Hotel Ritter, ist doch sehr berühmt, oder?“

Brombach wurde jetzt erkennbar zornig: „Natürlich kenne ich das Hotel Ritter, ich bin schließlich gebürtiger Heidelberger und habe noch nie in einer anderen Stadt gelebt. Aber jetzt bitte weiter und endlich zur Sache!“

„Ja, ja, wir sind ja schon am Punkt“, setzte Meyer-Hampel seine Ausführungen fort, unterbrach sich aber noch einmal, um einen weiteren genüsslichen Schluck aus dem Wasserglas zu nehmen. Inzwischen war auch Kommissarin Lange der eigenartige Gesichtsausdruck ihres Gastes aufgefallen. Irgendetwas schien auch ihr nicht zu stimmen.

„Also“, fuhr Meyer-Hampel endlich fort, „gestern Abend, nachdem wir einen sehr unterhaltsamen Tag in Heidelberg verbracht hatten, nach einigen Gläsern köstlichen Pfälzer Rotweins, sagte mein Klassenkamerad ziemlich überraschend, er wolle noch vor dem Schlafengehen kurz an die Luft. Und dann, Sie werden es nicht glauben, kam er einfach nicht wieder, blieb verschwunden.“

„Aber dann“, unterbrach ihn Brombach, „sind Sie bei uns völlig falsch. Ich nehme an, Sie wollen eine Vermisstenanzeige aufgeben, aber dafür sind andere zuständig. Wir sind die Mordkommission und geben uns mit solchen Lappalien nicht ab.“

„Nein, nein, von wegen Lappalie. Wissen Sie, ich kenne meinen alten Schulkameraden gut genug, um sicher, vollkommen sicher zu sein, dass hier etwas Schlimmes passiert sein muss. Und ich habe schon Erkundigungen eingezogen. Ein Unfall mit Personenschaden ist gestern Abend, nachdem er mich verlassen hat, nicht geschehen. Er muss, verstehen Sie, er muss einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein.“

Brombach blickte zu seiner Kollegin Lange, sah sie fragend an und sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Zu Meyer-Hampel gewandt, sagte Brombach: „Also, wissen Sie, ich verstehe ja Ihre Aufregung. Aber sie ist wahrscheinlich völlig unbegründet. In den meisten Fällen, bei denen wir hören, jemand müsse umgebracht worden sein, taucht derjenige kurze Zeit später kerngesund wieder auf, und für die ganze Geschichte gibt es irgendeine völlig banale Erklärung. Also, ich würde Ihnen jetzt raten, gehen Sie in Ihr Hotel zurück und warten Sie noch bis mindestens heute Abend, Ihr Schulfreund wird mit ziemlicher Sicherheit wieder auftauchen. Aber wenn Sie ihn unbedingt jetzt schon als vermisst melden wollen, begeben Sie sich bitte einen Stock tiefer in Raum 141, dort finden Sie einen dafür zuständigen Kollegen. Ich betrachte unser Gespräch jetzt als beendet. Wir haben hier wahrlich jede Menge zu tun und können uns mit dieser Angelegenheit nicht weiter befassen.“

Herr Meyer-Hampel erhob sich und nahm plötzlich eine völlig andere, sehr selbstbewusst wirkende Körperhaltung an, sein Blick wurde durchdringend und er fuhr Brombach mit einer auf einmal sehr kräftigen, sonoren Stimme an: „So geht das nicht, Herr Kommissar! Ich lasse mich von Ihnen nicht wie einen dummen Jungen abweisen. Ich bin sicher, dass hier ein Verbrechen geschehen ist, und ich bestehe darauf, dass Sie in der Sache aktiv werden.“

Brombach und Martina Lange sahen sich verdutzt an. Diese Wendung kam überraschend. Allerdings war bei der Kommissarin der Verdacht, dass dieser Besucher irgendein merkwürdiges Spiel mit ihnen trieb, in den letzten Minuten immer größer geworden. Ohne Brombach zu fragen, ergriff sie daher die Initiative.

„Also, Herr Meyer-Hampel, jetzt regen Sie sich bitte nicht zu sehr auf. Wenn Sie sich Ihrer Sache so sicher sind, können wir Folgendes tun. Wir nehmen Ihre Aussage zu Protokoll und sehen dann, was wir unternehmen können. – Folgen Sie mir bitte zu meinem Schreibtisch!“

Meyer-Hampel folgte ihr, nahm unaufgefordert neben ihrem Schreibtisch Platz, verschränkte die Arme vor der Brust, schlug die Beine übereinander und blickte überlegen lächelnd, aber doch freundlich in die Runde.

Martina Lange wandte sich wieder an ihn: „Sie müssen sich noch einen Moment gedulden, bis der Computer hochgefahren ist.“

Im Hintergrund flüsterte Brombach zu Siebert: „So ein komischer Kauz ist mir noch nie vorgekommen. Irgendwie kann ich mir da keinen rechten Reim drauf machen. Auf jeden Fall bin ich froh, dass der neue Chef nicht ausgerechnet während dieses Gesprächs hereingekommen ist.“

„Warten wir’s ab“, entgegnete Frau Siebert wissend lächelnd, „ich hab da so einen ganz bestimmten Verdacht.“

„Was meinst du?“

„Abwarten!“

Inzwischen war der Computer auf Martina Langes Schreibtisch startklar. Sie wandte sich betont freundlich an Meyer-Hampel: „Also, Herr Meyer-Hampel. Wir wären so weit, Sie können loslegen. Vielleicht zuerst die technischen Dinge. Geben Sie mir bitte Name und Adresse des Vermissten!“

„Sein Name ist Joseph Travniczek.“

„Wie bitte?“, fragte Martina Lange etwas verwirrt, während Melissa Siebert auflachte und Brombach einen triumphierenden Blick zuwarf.

„Zugegebenermaßen für die Zeitgenossen etwas schwer zu schreiben. Das war in meiner Jugend noch anders. Also ich buchstabiere: Theodor – Rudolf – Anton – Victor – Nordpol – Ida – Cäsar – Zeisig – Emil – Karl. Vorname: Joseph, bitte mit „ph“, darauf hat er immer Wert gelegt.“

Martina Lange tippte den Namen in den Computer, verschrieb sich aber dreimal, da ihr allmählich schwante, was hier gespielt wurde. Sie fragte weiter: „Und was ist Herr Travniczek von Beruf?“

„Polizist!“ – Martina Lange suchte vergebens den Blickkontakt zu ihrem Kollegen, der mit offenem Mund völlig entgeistert in die Leere starrte.

„Welcher Dienstgrad?“

„Hauptkommissar, er war bis vor kurzem Leiter der Münchner Mordkommission.“

Stille – man hätte eine Stecknadel fallen hören –, bis Melissa Siebert sich nicht mehr halten konnte und laut losprustete. Der vermeintliche Herr Meyer-Hampel erhob sich, blickte verschmitzt lächelnd in die Runde und sagte mit freundlicher, ruhiger Stimme: „Also, meine Herrschaften, wir können die Komödie jetzt beenden. Herrn Meyer-Hampel gibt es nicht. Ich habe ihn frei erfunden. Ich bin Joseph Travniczek, Ihr neuer Dienststellenleiter.“

Brombach und Lange standen verlegen mit langen Gesichtern im Raum. Vor allem Brombach hätte sich wohl gerne in eine Maus verwandelt, um das Terrain fluchtartig verlassen zu können. Nur Melissa Siebert schien sich köstlich zu amüsieren.

„Also“, fuhr der neue Chef fort, „vielleicht muss ich mich für diese kleine Komödie entschuldigen. Aber ich wollte möglichst schnell erfahren, wie Sie hier so arbeiten, und da schien mir dieser etwas unkonventionelle Einstieg ganz effektiv. Und außerdem hat Theaterspielen mir immer schon unheimlich viel Spaß gemacht.“

Martina Lange befreite sich als Erste aus der Verlegenheit und fragte: „Ein besonders gutes Bild haben wir da wohl gerade nicht abgegeben?“

„Nun“, entgegnete Travniczek beruhigend, „was mich sehr beeindruckt hat, unsere Sekretärin hat mein Spiel wohl als Erste durchschaut. Und es spricht immer sehr für eine Dienststelle, wenn auch, wenn ich so sagen darf, die niederen Dienstgrade konstruktiv mitdenken und zu Problemlösungen beitragen. Ansonsten – nun, ich habe es Ihnen nicht einfach gemacht und einen Trottel gegeben, wie es ihn in der Wirklichkeit kaum geben wird. Und so war es sicher eher schwierig, instinktiv auf die richtige Spur zu kommen. Aber, ohne jetzt auf Einzelheiten einzugehen, kann ich Ihnen gleich zu Beginn meine Philosophie des Dienstes bei der Kriminalpolizei vermitteln. Mir ist es wichtig, dass wir alle Menschen, mit denen wir zu tun haben, vorurteilslos ernst nehmen, ganz gleich, ob sie freundlich, garstig, intelligent, dumm, verlegen, schüchtern, arrogant, gutmütig oder abgrundtief böse sind. Wir dürfen nie urteilen, sondern immer nur beobachten, um aus unseren Beobachtungen Schlüsse zu ziehen. Und wir dürfen vor allem nie vergessen: Es handelt sich um Menschen, die immer das Recht haben, ernst genommen zu werden. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Man müsste einmal eine Statistik erheben, wie viele Verbrechen nicht aufgeklärt oder nicht verhindert wurden, weil die Ermittler mit Vorurteilen, die sie selbst oft gar nicht kennen, an eine Sache herangegangen sind. Also, genug der Vorrede, setzen wir uns zusammen und klären einige technische Details.“

Alle vier nahmen an dem runden Besprechungstisch Platz, auf den Melissa Siebert schon Kaffeetassen und zwei Teller mit Keksen und anderem Gebäck gestellt hatte. Sie goss ein, und nach kurzer Pause begann Travniczek: „Nun, vorweg, was mich auch sehr gefreut hat, waren die drei wunderschönen Blumensträuße hier im Raum. Das bringt hier Leben hinein, wo so viel vom Tod die Rede ist. Ich weiß jetzt nicht, ob das eine Begrüßungszeremonie für mich war oder ob es bei Ihnen so üblich ist. Ich lege Wert darauf, dass es so bleibt. Ein paar dauerhafte Grünpflanzen wären sicher gut. Das heißt, meine erste Dienstanweisung in meiner neuen Position geht an Sie, Frau Siebert. Sie tragen ab sofort die Verantwortung dafür, dass es hier ein wenig lebendiger wird. Kosten spielen keine Rolle, da wird sich alles lösen lassen. Des Weiteren müssen wir klären – – “

Das Telefon auf Brombachs Schreibtisch klingelte und unterbrach den neuen Chef. „Das riecht nach Arbeit. Ich geh ran“, sagte Brombach etwas missmutig, eilte zu seinem Schreibtisch und nahm den Hörer ab. Eine Weile hörte er nur zu. Dann: „Wann? – Wo? – Ist schon jemand vor Ort? – O. k., wir kommen so schnell wie möglich. Ich denke, spätestens in einer halben Stunde sind wir da.“

Er legte den Hörer auf und wandte sich den anderen zu: „Die technischen Details müssen warten. Es gibt Arbeit. Die Heidelberger Kriminellen haben sich wohl auch einen Einstand für den neuen Chef der Mordkommission ausgedacht. Männliche Leiche im Schlossgarten, hinten beim Vater-Rhein-Brunnen12.“

Travniczek erhob sich sofort: „O. k., dann fahre ich da jetzt gleich hin. Frau Lange, begleiten Sie mich bitte. Herr Brombach, Sie halten hier die Stellung, um mögliche Hinweise entgegenzunehmen. Und sicher gibt es ja auch noch irgendwelchen Bürokram zu erledigen.“

„Herr Travniczek“, unterbrach ihn Brombach, „eine persönliche Frage: Haben Sie selbst, so wie Meyer-Hampel behauptet hat, am Kurfürst-Friedrich-Gymnasium Abitur gemacht oder war das auch frei erfunden?“

„Das war in der Tat auch frei erfunden. Ich war noch nie in Heidelberg, und da die Entscheidung, dass ich hier diese neue Stelle antrete, innerhalb von zwei Tagen fiel, hatte ich auch kaum die Möglichkeit, mich vorzubereiten. Es hat nur zum Erwerb eines Stadtplans und eines Reiseführers gereicht.“

„Na, dann haben Sie Glück“, schaltete sich Martina Lange in das Gespräch ein, „denn gleich Ihr erster Fall führt Sie an den berühmtesten Ort unserer Stadt: das Heidelberger Schloss.“

Kapitel 4

Der neue Chef der Mordkommission eilte mit Martina Lange durch die Gänge der Polizeidirektion. Sie verließen sie durch den Haupteingang und wandten sich zum Parkplatz. Travniczek nutzte die Gelegenheit, seine Kollegin näher von der Seite zu betrachten, und war durchaus empfänglich dafür, es mit einer ausgesprochen reizvollen Kollegin zu tun zu haben. Eine schlanke, durchtrainierte Gestalt, ein wohlgeformter kleiner Kopf mit ovalem Gesicht, schulterlangen, dunkelblonden, leicht gelockten Haaren und einem schmalen Mund, dessen Lippen dezent mit Rouge nachgezogen waren. Aber am auffälligsten waren ihre blaugrünen, hellwachen Augen, die ganz und gar nicht frei von Schalk waren. Sie trug enganliegende dunkelgraue Jeans und ein weißes, weit geschnittenes Top. Das alles machte durchaus Eindruck auf ihn. Aber er verbot sich sofort weitergehende Gedanken, da es sein eisernes Prinzip war, nie Berufliches mit Privatem zu vermischen.

„So, das wäre unser Dienstwagen“; sagte Martina Lange, als sie den Parkplatz erreichten. „Da Sie Heidelberg nicht kennen, ist es sicher gut, wenn ich fahre. Und wenn es Ihnen recht ist, werde ich die Fahrt dazu nutzen, Sie etwas in die Stadt Heidelberg einzuführen.“

Travniczek nickte dankend. Sie bestiegen das Auto und fuhren los. Nach wenigen Metern erreichten sie den Römerkreis.

„Wir kommen jetzt gleich in die Kurfürstenanlage. In diesem Bereich von Heidelberg finden Sie nur neuere Gebäude. Das sieht hier so aus wie in fast allen anderen großen deutschen Städten, die nach den kriegsbedingten Zerstörungen in den Fünfziger Jahren neu aufgebaut wurden. Hier ist es aber anders. Wissen Sie, Heidelberg ist die einzige deutsche Großstadt, die im Krieg nicht bombardiert wurde. Das verdankt unsere Stadt der Sentimentalität der Amerikaner. Sie haben schon immer für Heidelberg geschwärmt. Für sie ist es der Inbegriff der deutschen Romantik. Und so hatten sie schon frühzeitig beschlossen, nach gewonnenem Krieg ihr Hauptquartier in Heidelberg aufzuschlagen. Und dafür sollte das alte Heidelberg erhalten bleiben.

Was nun den Bereich der Kurfürstenanlage angeht: Dort war früher der Heidelberger Hauptbahnhof, ein Sackbahnhof, der in den frühen Fünfziger Jahren durch den jetzigen, etwas weiter westlich liegenden ersetzt wurde. Dadurch wurde in der Stadtmitte dieses große Areal frei, das dann neu bebaut werden konnte.

Die Grünanlage mit dem großen Springbrunnen vor uns ist der Adenauerplatz, zusammen mit dem Bismarckplatz links davon, den Sie jetzt nicht sehen können, das Zentrum des neuen Heidelberg. Wir fahren jetzt gleich rechts an dem Platz vorbei durch einen Straßentunnel. Der ist ein Überbleibsel des alten Bahnhofs. Die Eisenbahnstrecke durchs Neckartal führte früher da hindurch.“

Nach der Fahrt durch den gut dreihundert Meter langen Tunnel setzte Martina Lange ihre Stadtführung fort. „Da direkt vor uns sehen Sie die Peterskirche18. Es ist die älteste Kirche Heidelbergs, bis zum Bau der Heiliggeistkirche, die man jetzt nicht sehen kann, Heidelbergs Hauptkirche. Danach wurde sie Universitätskirche und ist das bis heute geblieben. Ganz kurz können Sie links dahinter einen prachtvollen Bau sehen, der aber gar nicht so alt ist, wie er aussieht. Er wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet. Es ist die Universitätsbibliothek19, in der neben anderen auch die „Manessehandschrift“ aufbewahrt wird, eine der weltweit bedeutendsten mittelalterlichen Liedersammlungen. Und da rechts das Klingentor20, einziges erhaltenes Stadttor des alten Heidelberg aus dem frühen 17. Jahrhundert.

Wir biegen jetzt von der Hauptlinie, die ins Neckartal führt, rechts ab und fahren über die Neue Schlossstraße hoch zum Schloss. Die Straße wird jetzt sehr eng. Sie ist in den steilen Hang hinein gebaut. Aber trotzdem stehen an den Straßenseiten dichtgedrängt alte Häuser. Auf der rechten Seite sind sie aus dem Auto schwer zu sehen, da sie oberhalb dieser hohen Stützmauern errichtet wurden. Wer hier wohnt, muss ständig viele Treppen steigen. Das hält sicher fit. Nach der Spitzkehre dort vorne achten Sie rechts auf ein ganz besonderes Prachtstück: ein burgähnlicher Palast. Genaueres weiß ich aber darüber nicht. Das Schloss selbst lassen Sie zunächst einmal einfach auf sich wirken. Dazu könnte man stundenlang erzählen. Und dazu haben wir jetzt sicher keine Zeit.“

Sie kamen an der Bergbahnstation vorbei zum Haupteingang des Schlossgartens, der natürlich für Autos normalerweise gesperrt ist. Jetzt aber stand dort ein Verkehrspolizist. Sie mussten sich ausweisen und konnten dann weiterfahren.

An einem Montagmorgen im Oktober sind auch bei sonnigem Wetter noch fast keine Touristen unterwegs. Dennoch steuerte Martina Lange ihren Wagen jetzt nur im Schritttempo weiter. Sie wollte ihrem neuen Chef doch die Möglichkeit geben, einen ersten Eindruck von der Schlossanlage zu bekommen. Der Park lag noch in tiefem Schatten, während die Berge auf der nördlichen Neckarseite schon sonnenbeschienen waren.

„Ein paar Angaben zu dem, was Sie hier sehen, will ich doch machen“, setzte Martina Lange ihre Erklärungen fort. „Hier gleich links der Stückgarten21. Hier stand früher eine lange Reihe von Geschützen, die im Falle eines feindlichen Angriffs das ganze Tal bestreichen konnten. Und da steht ein kleines Tor eigentlich völlig nutzlos in der Gegend, das Elisabethentor22. Irgendeiner der hier herrschenden Kurfürsten hat es in einer Nacht erbauen lassen, um es seiner Frau, Elisabeth mit Namen, zum Geschenk zu machen. Und hinter diesem Garten die Ruinen vom Dicken Turm23 und Englischen Bau24. Und gleich da rechts das neue Service-Center, das sie in die ehemalige Sattelkammer gebaut haben, man kann es auch Touristenmelkstation nennen. Links gegenüber das Brückenhaus25 und der Torturm, komplett erhalten. Da kommt man in den Schlosshof26. Früher kam man da immer umsonst hinein, aber seit einiger Zeit muss man tagsüber leider Eintritt zahlen. Und gleich da vorne links der für mich spannendste Bau hier oben, der Krautturm oder auch Pulverturm. Der ist einst explodiert. Der abgesprengte Teil liegt noch so da wie vor über dreihundert Jahren. Sehen Sie sich diese Mauern an, mehr als fünf Meter dick. Das muss damals furchtbar gekracht haben.“

Jetzt näherten sie sich dem Tatort im südöstlichen hinteren Eck des Schlossgartens. Er war bereits weiträumig abgesperrt. Das wäre kaum notwendig gewesen. Denn der Park war noch fast menschenleer und nur ein paar vereinzelte Schaulustige standen am Absperrband, um Genaueres sehen zu können. Martina Lange parkte den Wagen etwas entfernt vom Geschehen. Die letzten Meter gingen sie zu Fuß in der noch sehr kühlen morgendlichen Herbstluft. Dabei scheuchten sie einen Schwarm schwarzer Krähen auf, die mit lautem Krächzen aufflogen, ein paarmal tief über ihnen kreisten, einen großen Bogen über den Tatort, die Scheffelterrasse, zum Schloss hin zogen und sich zum größten Teil auf den Resten des obersten Stockwerks des gesprengten Pulverturms niederließen.

„Todesvögel, so nannte man sie früher. Es ist schon merkwürdig, dass die uns hier empfangen“, meinte Travniczek nachdenklich, während er sich mit seiner Kollegin unter der Absperrung hindurch duckte. Sofort kam ihnen ein uniformierter Beamter entgegengelaufen und rief ihnen in scharfem Ton zu: „Sie können hier nicht einfach reingehen! Bitte sofort hinter die Absperrung zurück!“

Sie blieben etwas verdutzt stehen und Travniczek sprach den Uniformierten ruhig und freundlich gelassen an: „Guten Morgen, Herr Kollege, ich habe hier beruflich zu tun. Joseph Travniczek mein Name, Leiter der Mordkommission, meine Kollegin Lange. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Oh, entschuldigen Sie vielmals“, entgegnete der Uniformierte verlegen und wurde rot im Gesicht. „Ich hatte mit dem alten Bamberger gerechnet. Ich bin Polizeimeister Gerhard Metz.“

„Mit Bamberger ist nicht mehr zu rechnen. Der hat sich in den wohlverdienten Ruhestand zurückgezogen. In Zukunft müssen Sie mit mir vorliebnehmen.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen.“

„Ganz meinerseits“, antwortete Travniczek. „Waren Sie der Erste am Tatort?“

„Ja, mit meiner Kollegin Annette Abramczik. Ein morgendlicher Jogger hat die Leiche gefunden, die 110 angerufen und wir wurden dann hierher geschickt.“

„Und wie ist die Lage?“

„Männliche Leiche, wohl zwischen vierzig und fünfzig, lag im Vater-Rhein-Brunnen, man hat ihm offenbar den Schädel eingeschlagen.“

„Ist schon jemand von den Kollegen da?

„Ja, Dr. Melchior, der Gerichtsmediziner und Breithaupt mit einigen Kollegen von der Spurensicherung.“

„Und der Finder der Leiche?“

„Sitzt in der Nähe des Tatorts. Ist wohl völlig fertig. Er meinte, er habe noch nie einen Toten gesehen.“

„Dann sehen wir uns die Sache doch an.“

Sie näherten sich mit schnellen Schritten dem Tatort. Die Leiche war nur zur Hälfte bedeckt. Ein sehr großer, hagerer Mann mit Vollglatze und kleinen runden Brillengläsern kniete neben ihr und untersuchte sie. Martina Lange stieß Travniczek von der Seite an und deutete auf diesen Mann: „Das ist Dr. Melchior, der Gerichtsmediziner, mit dem wir meistens zusammenarbeiten. Fachlich absolut kompetent, aber im Umgang oft schwierig, vor allem, seit er vor zwei Jahren an Krebs erkrankt ist.“

„Er wird mich schon nicht fressen.“ Travniczek näherte sich vorsichtig dem Doktor, beugte sich zu ihm hinunter und sprach ihn mit leiser, aber freundlicher Stimme an: „Dr. Melchior?“

„Ich kenne Sie nicht. Was wollen Sie? Sie sehen doch, dass ich arbeite.“

„Entschuldigen Sie vielmals. Ich bin Hauptkommissar Joseph Travniczek und leite seit heute die Mordkommission. Gut, dass wir uns so schnell kennenlernen.“

„O. k., das wäre erledigt. Wollen Sie sonst noch etwas?“

„Wenn es nicht zu viel verlangt ist: Können Sie schon etwas über Todesursache und Todeszeitpunkt sagen?“

„Die Todesursache sieht doch jedes Kind. Diesem Herrn hat jemand den Schädel eingeschlagen. Der Todeszeitpunkt ist vor der Obduktion nur sehr vage anzugeben.“

„Und das wäre?“

„Zwischen 22 und 2 Uhr. Mehr kann ich jetzt noch nicht sagen.“

„Und wann kann ich mit Ihrem Bericht rechnen?“

„Morgen früh.“

„Früher geht nicht?“

„Ich kann auch nur arbeiten.“

„Natürlich! Aber wäre wenigstens der genaue Todeszeitpunkt früher zu ermitteln? Das ist für uns die wichtigste Information.“

„Ihr Polizisten seid elende Quälgeister. Gute Arbeit braucht ihre Zeit. Ich will sehen, was sich machen lässt. Versprechen kann ich aber nichts.“

„Ich danke für Ihre Mühe im Voraus.“

Travniczeks Blick blieb noch eine Weile auf den Toten gerichtet. Der Kontrast zwischen dem ausgesprochen schönen, leicht femininen Gesicht und der klaffenden Hirnschale war erschütternd. An seine Kollegin gewandt, sagte er leise mit resignierter Stimme: „Ich weiß nicht, ich bin schon ziemlich lange in diesem Geschäft, aber gewöhnen kann ich mich an solche Bilder wohl nie. Wie geht es Ihnen dabei?“

Martina Lange schüttelte nur stumm den Kopf. Auch sie hatte der Anblick des Getöteten tief getroffen. Es fiel ihr schwer zu sprechen.

„Wissen Sie“, fuhr Travniczek fort. „Je länger ich mich mit dem Phänomen Mord beschäftige, je mehr Mordopfer, teilweise grauenhaft zugerichtet, ich gesehen habe, umso entscheidender wird für mich die Frage: Wie unendlich viel muss in der Seele eines Menschen zerstört worden sein, damit er zu so einer Tat fähig wird? Haben wir es nicht letztlich nur mit Opfern zu tun? Kein Kind wird als Mörder geboren.“

Er riss seinen Blick von dem Getöteten los und wandte sich wieder an seine Kollegin: „Lassen wir besser das Philosophieren und machen uns an die Arbeit. Befragen Sie doch den Finder der Leiche. Ich mache mich in der Zwischenzeit über die Spurenlage schlau. Wer hier ist Breithaupt?“

„Der kleine Dicke dort am Brunnen“, entgegnete Martina Lange und machte sich auf die Suche nach dem Jogger.

Breithaupt war gerade im Gespräch mit zweien seiner Mitarbeiter. Travniczek trat von hinten an ihn heran und tippte ihm leicht auf die Schulter. Schneller, als man es bei seiner Körperfülle erwartet hätte, drehte der sich um und rief: „Oh, haben Sie mich erschreckt! Ich dachte schon, die Leiche sei von den Toten auferstanden und wollte mich umarmen. Aber wer sind Sie und was wollen Sie?“

„Travniczek, Joseph, Hauptkommissar. Ich führe die Ermittlungen, nachdem ich vor etwa einer Stunde die Leitung der hiesigen Mordkommission übernommen habe.“

„Ja, richtig. Der alte Bamberger ist ja in Pension gegangen. Schade, das war ein doller Kerl, kann ich Ihnen sagen. Wenn wir mal nach Dienstschluss im Goldenen Hecht gelandet waren, hat er uns alle unter den Tisch gesoffen. Da treten Sie ein schweres Erbe an.“

„Was das betrifft, mache ich mir keine Sorgen, auf diesem Gebiet habe ich keinerlei Ambitionen, mit Bamberger zu konkurrieren. Aber erst einmal zu diesem Fall. Was können Sie jetzt schon zur Spurenlage sagen?“

„Sie haben ja wirklich Pech – oder ist es vielleicht Glück –, dass Sie zu Ihrem Start hier gleich so einen heftigen Fall aufgeladen bekommen. Also, wir haben bis jetzt schon Folgendes. Der Täter hat das Opfer zwischen der Grotte dort und dem Brunnen offenbar von hinten mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Tatwaffe – bis jetzt Fehlanzeige. Er hat ihn dann in den Brunnen gezogen und versucht, das Blut auf dem Boden mit Kies zu bedecken, aber völlig unzureichend, so dass sofort klar war, wo die Tat geschehen ist. Was haben wir bei dem Opfer gefunden? Leider nichts, was auf seine Identität hinweist. Er hatte nur ein Schlüsselbund und – wohl gemerkt – eine Pistole bei sich, eine Sportwaffe. Zwischen Tatort und Fundort der Leiche im Brunnen lag ein merkwürdiges Elektronikteil. Irgendwie selbstgebastelt. Ist mir noch nicht ganz klar, wofür es gut ist. Es dürfte irgendetwas mit einem Sender zu tun haben. Müssen wir erst im Labor genau untersuchen. Mehr haben wir leider noch nicht.“

„Aber das ist doch schon eine ganze Menge“, bedankte sich Travniczek und suchte nach seiner Kollegin. Sie trat von der Seite an ihn heran und meinte: „Die Befragung des Finders der Leiche war wenig ergiebig. Er hat sie beim Joggen im Brunnen liegen sehen, ist furchtbar erschrocken und steht etwas unter Schock. Aber dass er mit der Tat irgendetwas zu tun hat, erscheint mir denkbar unwahrscheinlich. Ich habe ihn aber auf jeden Fall für morgen in die Direktion bestellt, um ein Protokoll zu erstellen.“

„Gut“, sagte Travniczek. „Dann sind wir ja hier erst einmal fertig und können zurück ins Büro.“

Nach einigen Metern hielt Travniczek noch einmal an und schaute zurück. Sein Blick blieb an der Figur des Vater Rhein hängen.

„Sehen Sie sich dieses Gesicht an, Frau Lange. So traurig, wie der dreinschaut, hat der sicher alles gesehen, was hier letzte Nacht passiert ist. Da hätten wir auf jeden Fall einen Zeugen.“

„Na ja“, warf Martina Lange ein, „allerdings ist es ein steinharter Bursche. Aus dem wird man nicht leicht etwas herausbringen.“

„Aber wenn Sie Ihren Charme spielen lassen, werden Sie ihn doch sicher erweichen können. Und dann wird er alles vor Ihnen ausbreiten.“

„Ich weiß nicht. Ich mag ja Komplimente, aber da überschätzen Sie mich jetzt doch wohl ein wenig.“

„Da bin ich aber enttäuscht von Ihnen. Von einer guten Polizistin hätte ich nun schon erwartet, dass sie so etwas kann.“

„Also, dann ein Vorschlag zur Güte. Wir machen Arbeitsteilung. Sie sorgen dafür, dass dieser Herr morgen auf der Direktion erscheint, und ich nehme ihn dann ins Kreuzverhör, und da wird er alles sagen, was wir wissen wollen. Im Übrigen: Der Mann liegt hier schon seit fast vierhundert Jahren. Und da hat er schon sehr viel gesehen. Auch die Zerstörung des Schlosses lief vor seinen Augen ab. Sein trauriger Blick hat sicher nicht nur mit dem Mord heute zu tun.“

Kapitel 5

OGott, o Gott –was für einAlptraum!– es ist nicht wahr – Gottfried ist nichtweg– er istimUnterricht – aber die Schule hat angerufen –er ist nicht gekommen– der Mann von der Notrufzentrale– Gottfried vermisstmelden –aufdemPolizeirevier Nord–wie komm ich zur Furtwänglerstraße?–DossenheimerLandstraße,dann Berliner Straße –dann links abbiegen–darf man dort abbiegen?–ich bin völlig durcheinander –kannich überhaupt fahren?–das gab es noch nie –inall den Jahren– mein Gottfried war da –immer –hat mir geholfen–für alles gesorgt –wenn ich nicht weiter konnte – wenn alles schwarz war –wenn ichihnvor mirsah –diesenScheißkerl –hat mein Leben ruiniert–vierzehnJahreist dasher –undimmer nochPanik – er steht plötzlich vor mir – obwohl er weit weg ist–hoffentlich tot –und jetzt istauchGottfried weg – einfach weg – das kann nicht sein – erlässt mich nichtim Stich –wenn ihm was zugestoßen ist – dasistdas Ende – alleinkann ichnicht – – wo ist der verdammte Autoschlüssel?–durch die ganze Wohnungbin ichgerannt – er ist nirgends – – gestern Abend–alles wie immer –wieder seine Kopfschmerzen – wie so oft –er ist in den Wald – den er so liebt–danngeht es ihm besser– – da hängt er ja–woer hingehört –so durcheinander– ich schaffe es nicht-dieeinfachsten Dinge– –er ist nichtnach Hause gekommen–so war es ja oft–habgar nichts gemerkt – nichts Böses gedacht –– unddannruft die Schule an–eristnicht gekommen– und jetzt zur Polizei –hoffentlich finde ichdie–der Mannin der Notrufzentrale –einunfreundlicherKerl…

***

Elvira Wolters, eine unscheinbare kleine Frau von einundvierzig Jahren, verließ völlig konfus ihre Wohnung in der Mühltalstraße 150 und schlug die Wohnungstür hinter sich zu, ohne abzuschließen. Ihr Wagen, ein dunkelblauer VW-Golf, stand vor der Haustür. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nur mit Mühe die Wagentür aufschließen konnte. Sie setzte sich hinter das Steuer ohne sich anzuschnallen, und es gelang ihr erst nach mehreren Versuchen, den Zündschlüssel in das Schlüsselloch zu stecken und das Auto zu starten. Viel zu schnell fuhr sie in Richtung Handschuhsheim27 Zentrum.

***

Warum muss ich da hin?–konnten die keinen schicken?–wenn ich so durcheinander bin–es passiert noch ein Unfall –ich muss mich beruhigen – auf den Verkehr achten –das kann gar nichtwahrsein –alles ganz harmlos –nicht immer die Nerven verlieren – jetzt nach rechts zur Tiefburg28–wenn er nicht ehrlich ist?– wenn er nicht im Wald schläft? – irgendwas anderes macht?–das darf ich nicht denken –er ist immer gut zu mir – und zu den Kindern – sein Ein und Alles – er ist ehrlich –doch, doch, ganz bestimmt– aber dasglaubt mir kein Mensch – dasNachts-im-Wald-Schlafen– die halten mich für verrückt –mit einer anderen ist er durchgegangen – die nicht so spinnt – werden sie denken –die Polizei überzeugen?–aber wie? –erist einso guter Mensch – das müssen die glauben –wenn doch was passiertist?–das darf ich nicht denken – Gedanken werden wahr – was wird aus den Kindern?–vor allem Sebastian – der Papa ist sein Gott–wiekann ich ihn schützen?– lieber Gott, hilf–sagmir, dass nichts – ––

***

In diesem Moment gab es einen lauten Knall. Sie war ohne auf die rote Ampel zu achten viel zu schnell in die Kreuzung zur B 3 hineingefahren, und dabei prallte ein Motorrad mit hoher Geschwindigkeit gegen ihr linkes Vorderrad, schleuderte über ihren Kühler, überschlug sich mehrmals und zertrümmerte krachend einen Metallzaun, der die Fahrbahn vom Gehsteig abgrenzte. Der Fahrer schlug mit dem Rücken auf der Fahrbahn auf, rutschte auf dem Asphalt weiter und wurde erst von der Bordsteinkante gestoppt. Elvira Wolters in ihrem Golf drehte sich zweimal um ihre eigene Achse, donnerte mit der Fahrerseite unter lautem Klirren der berstenden Fensterscheiben gegen einen Oberleitungsmast in der Mitte der Straße und drehte sich weiter auf die Straßenbahngleise, wo eine im gleichen Moment aus nördlicher Richtung heranfahrende Bahn trotz kreischender Bremsen nicht mehr zum Stehen kommen konnte, den Golf im Heck traf und ihn weiter auf die Gegenfahrbahn schob. Dort krachte ihm ein weißer Audi, dem durch die Straßenbahn die Sicht auf den Unfall versperrt war, fast ungebremst in die rechte Flanke, stellte sich quer zur Fahrbahn und ein hellblauer Renault Twingo, der dem Audi zu dicht gefolgt war, konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und fuhr seinem Vordermann auf Höhe der Fahrertür in die Seite. Weitere Fahrzeuge kamen mit quietschenden Bremsen noch rechtzeitig zum Stehen.

Für einen kleinen Moment war es völlig still. Dann hörte man Schreien und Rufen. Viele Menschen, die an der nahen Haltestelle auf die Straßenbahn warteten oder die am Hans-Thoma-Platz und den benachbarten Straßen zu Fuß unterwegs waren, liefen zur Unfallstelle um zu sehen, was da genau passiert war. Schnell wuchs die Zahl der Gaffer, aber es machten sich sofort auch einige Passanten daran, den Verletzten zu helfen.

Ein junger Mann eilte zu dem Motorradfahrer, der reglos am Boden lag, und sprach ihn an. Als der nicht reagierte, öffnete er die Bindung des Sturzhelms, fasste an die Halsschlagader und konnte sich überzeugen, dass er zumindest noch lebte. Er lief zu einem dunkelroten Ford Escort, der in der Dossenheimer Landstraße gleich hinter Elvira Wolters gefahren war, und fragte nach einer Decke. Der Fahrer, der den Schreck über den schweren Unfall noch nicht verdaut hatte, suchte eine Weile verwirrt in seinem Kofferraum und konnte dann eine finden. Der junge Mann nahm sie dankend an, ging zum Motorradfahrer zurück, brachte ihn mit kundigen Griffen auf der Decke in stabile Seitenlage und deckte ihn zu. Mehr konnte er im Moment nicht für ihn tun.

Einige bemühten sich um Frau Wolters. Sie konnten sehen, dass sie aus einer Platzwunde am Kopf stark blutete, aber sie konnten nicht zu ihr gelangen, weil sich an dem völlig ramponierten Golf keine Tür mehr öffnen ließ. Da aber die Glasscheibe der Fahrertür beim Aufprall gegen den Oberleitungsmast gänzlich herausgeflogen war, versuchte eine Frau wenigstens, die Verletzte anzusprechen, aber sie reagierte nicht, obwohl sie nicht wirklich bewusstlos zu sein schien. Dennoch blieb die Frau bei ihr und griff durch das Fenster nach ihrer Hand, um sie in ihrer Not nicht alleine zu lassen.

Die Fahrer der beiden zuletzt in den Unfall verwickelten Fahrzeuge waren dank Airbag unverletzt geblieben. Sie waren ausgestiegen und sich sofort lautstark in die Haare darüber geraten, wer den Unfall verschuldet hatte. Es drohte handgreiflich zu werden, bis die Beifahrerin aus dem Renault die Streithähne mühsam trennen konnte und dabei auch noch versuchen musste, ihren kleinen Sohn zu trösten, der sich wohl sehr weh getan hatte oder zumindest fürchterlich erschrocken war.

Mittlerweile hatte auch der vom Schock kreidebleiche Fahrer der verunglückten Straßenbahn die Türen geöffnet. Langsam stiegen die Fahrgäste teils ziemlich benommen aus. Einige waren wohl leichter verletzt. Jemand rief um Hilfe, weil im hinteren Teil des Zuges eine alte Frau schwer gestürzt war und nicht mehr aufstehen konnte.

Unter den vielen passiv am Rande stehenden Zuschauern entspannen sich heftige Diskussionen über den Unfallhergang. Jeder glaubte genau gesehen zu haben, wie es passiert war, nur – fast jeder hatte etwas anderes gesehen. Da hörte man aus der Berliner Straße das Martinshorn von mehreren Fahrzeugen. Sekunden später trafen ein Notarzt- und zwei Krankenwagen ein.