Mündig - Ulf Poschardt - E-Book

Mündig E-Book

Ulf Poschardt

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Beschreibung

Ohne Mündigkeit kann es keine Demokratie, keine offene Gesellschaft geben. Doch Autoritarismus, Moralismus und Technologisierung bedrohen das freie und selbstbestimmte Individuum. Neu ist, dass sich immer mehr Menschen auf diese Entmündigung freuen. Ulf Poschardt zeigt, wie wir uns die Mündigkeit als Abenteuer des Lebens bewahren können. Stehen wir vor der Rückkehr des Menschen in seine selbstverschuldete Unmündigkeit? Die Welt ist noch unübersichtlicher geworden, ihre Probleme scheinen für den Einzelnen nicht mehr durchschaubar zu sein. Die Folge davon sind die zu einfachen und falschen Antworten der Populisten, undifferenziertes Schwarz-Weiß-Denken, Rede- und Denkverbote und die Selbstentmachtung des Menschen durch den wachsenden Ausgriff von Technologie. Aber wie können wir uns unsere Mündigkeit bewahren? UIf Poschardt gibt provokante Antworten und beschreibt, wie wir Mündigkeit erleben können, als Mann und als Frau, als Konsument, als Gläubiger, als Träumer und als Rebell.

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Seitenzahl: 237

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Mündig

UlfPoschardt

KLETT-COTTA

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Teile des Buches bestehen aus einer Consommé von Texten, die in der »WELT-Gruppe« erschienen sind.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Herburg Weiland, München

Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig

Printausgabe: ISBN978-3-608-98244-2

E-Book: ISBN978-3-608-11603-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

F **** euch alle

Der mündige Träumer

Der mündige Intellektuelle

Der mündige Pädagoge

Der mündige Demokrat

Der mündige Konsument

Der mündige Mediennutzer

Der mündige User

Der mündige Unternehmer

Der mündige Unmündige

10 

Der mündige Liberale

11 

Die mündige Feier

12 

Der mündige Linke

13 

Der mündige Mann

14 

Die mündige Frau

15 

Der mündige Künstler

16 

Das mündige Leben

Der mündige Mehrheitsfähige

Dank

Für Hektor und George

F **** euch alle

Guten Tag, f**** euch alle. So müsste man erst mal durch die Tür hineinstürmen, wenn in einer Zeit, in der alles möglich ist, das Unmögliche kommt und alle auf eine magische Art mit allem überfordert sind. Die Menschheit steht, kleiner machen wir es nicht, vor einer schicksalhaften Entscheidung, sich von sich selbst zu verabschieden oder aber sich selbst upzudaten in ihrer zentralen Subjektverfasstheit. Es geht um die Mündigkeit in Zeiten ausgreifender Angebote, sich selbst unmündig zu genießen. Dank Technologien auf der einen Seite, Moral auf der anderen Seite wird daran gearbeitet, dem Einzelnen alle wichtigen Lebensentscheidungen abzunehmen oder doch so weit zu erleichtern, dass die Autonomie des Einzelnen ihre Schwere verliert.

Die Mündigkeit ist ein schwerer Begriff aus der Aufklärung, als der Ausbruch aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit die Idee einer ganzen Gesellschaft, einer europäischen Kulturelite und aller Partnernationen der Aufklärung war. Immanuel Kant, der in seiner verzagten Mündigkeit Königsberg nie verlassen hat, beantwortete die Frage, was Aufklärung sei, eben genau so: als Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Bemerkenswerter ist der übernächste, weniger bekannte Satz: »Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« Und wie um den Mut als Voraussetzung für Mündigkeit zu unterstreichen, bemühte er ein Horaz-Zitat: Sapere aude. Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen. Schon Horaz peitschte: Incipe. Fange nur an. Und Schiller nutzte es wenige Jahre nach Kant in seinen idealistischen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen.

Mündigkeit ist also nichts für Feiglinge. Und das gilt bis heute. Vielleicht ist dieser Begriff deshalb nicht so modisch und angesagt wie »Nachhaltigkeit«, »Freiheit« oder das »Soziale«. Deswegen hat das Kant-Zitat eine derart markant zeitgenössische Schärfe. Es klingt fordernd und unmissverständlich. Mündig zu sein ist gut zweihundert Jahre später einfacher und schwerer zugleich. Einfacher, weil das Wissen dank Internet eigentlich überall zu haben ist, schwieriger, weil die Welt derart komplex geworden ist. Adorno, dem der Begriff der Mündigkeit sehr wichtig war, strich bei Kant heraus, dass bei dem Idealisten Mündigkeit keine statische, sondern eine dynamische Kategorie sei. Ein Drift zwischen Kontrolle und Unkontrolliertheit, ein stetiges Sich-Emanzipieren, ein atmender Prozess. So sehr im Bildungsroman der Einzelne beim Mündigwerden beobachtet werden konnte, so sehr war es doch aufgrund des allgemeinen Aufbruchs eine ziemlich kollektive Emanzipationsbewegung. Der Wohlstand des Westens ist nicht zuletzt eine Rendite jener Mündigwerdung vieler seiner Bürger. Die Mündigwerdung ist übrigens auch der Antrieb der beiden wichtigsten Stimulanten von Wohlstandsgesellschaften: des Aufsteigers und des Migranten. Im Ideal ist die Integration in eine fremde Kultur und Gesellschaft eine Art Mündigkeitsmarathon. Deswegen ist es kein Zufall, dass wichtige Denker des Mündigen wie Adorno, Hannah Arendt oder Ayn Rand eine Migrationsbiographie haben.

Mündigkeit als eine nicht nur existenzielle, sondern auch intellektuelle Herausforderung korrespondiert in ihrem Optimismus auch mit der Wissenslandschaft und Wissensmenge. Ein Universalgelehrter wie Kant oder Hegel konnte so ziemlich alles wissen, was es in dieser Zeit an Wissenswertem gab. Es war eine überschaubare Zeit, was das Wissen der Welt betraf. Verglichen mit der Wissens- und Informationsunendlichkeit der Gegenwart eine fast gemütliche Zeit, um sich mit der Welt vertraut zu machen. Die Aufklärung war so optimistisch, weil ein Denker wie Hegel alles noch unter seinen Theoriehut bringen konnte, Ästhetik, Geschichte, Naturwissenschaften.

Einer groben Schätzung nach verdoppelte sich die Menge menschlichen Wissens zwischen 1400 und 1900, also in 500 Jahren. Von 1900 bis 1950 verdoppelte sie sich abermals, in 50 Jahren. Und danach von 1950 bis 1970, also in 20 Jahren. Als Adorno 1969 in Sachen Mündigkeit bei Kant weitermachte, war das menschliche Wissen signifikant mehr geworden, aber auch überschaubar mehr geworden. Es war noch möglich, im umfassenden Sinne mündig zu sein. Und Adorno baut – fast ohne seine negativistische Skepsis – darauf.

Anfang des 21. Jahrhunderts verdoppelte sich die Menge der existierenden Daten alle drei Jahre, wie das McKinsey Global Institute herausgefunden hat. Glücklicherweise verdoppelt sich laut dem mooreschen Gesetz auch die Komplexität integrierter Schaltkreise. Durch diese Sprünge in der Rechnerleistung besteht die Illusion, der Wissens- und Datenmengen Herr zu bleiben. Umso wichtiger wird es insbesondere für Intellektuelle und Verantwortungseliten, Nutzungs- und Bewältigungsstrukturen zu konstruieren, die Mündigkeit anders als in der idyllischen Überschaubarkeit bei Hegel und Kant in komplexeren Strukturen vorstellbar werden lassen. »Daten«, so Armin Nassehi, einer der wenigen Ritter des Komplexen, in seinem Buch Muster, »verdoppeln die Welt anders, unsichtbarer, weniger lesbar, weniger systematisch, mit weniger hermeneutischen Anleitungen« als die alte Buchwelt. Nassehi, der Realist, sieht, wie in den Selbstpraktiken des Digitalen weniger Mündigkeitskonzepte klassischer Natur als vielmehr pragmatische, soziale, ästhetische und kulturelle Motive überwiegen.

Anfang des 21. Jahrhunderts ist die Mündigkeit aufs Ungenaueste vorausgesetzt, während die Fundamente des Mündigseins still und leise erodieren. Fatal ist der wachsende Ausgriff einer schnittstellenoptimierten Technologie, die den Menschen freundlich und leise immer mehr abnimmt. Heideggers Dystopie von der Herrschaft des Gestells ist als eine Art infames Entlastungs-Spa mächtig geworden. Autos werden künftig nur starten, wenn der Fahrer nüchtern und entspannt ist, sie werden selbst das Tempolimit einhalten und auch sonst jenen idealen Verkehrsteilnehmer erzwingen, der ein freier Mensch nie sein kann und will.

Neu ist, dass sich immer mehr Menschen auf diese Entmündigung freuen. Ist das Auto noch das dynamische Etui des Einzelnen und seiner Freunde und Familie, gibt es insbesondere in Deutschland, aber auch im Rest Europas, einen Hang, sich selbst ganz in das Verwöhnfell des Staates fallen zu lassen. Was Neoliberale einst so wunderbar pietistisch angewidert als soziale Hängematte gegeißelt haben, wird in Zeiten globaler Transformationen eine Art Beruhigungsinstanz. Als Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück 2008 in der Finanzkrise in einem einzigartigen Bluff den Sparern erklärten, dass ihr Geld sicher sei, legten sie den Grundstein einer neuen Liebesbewegung hin zum Staat. Deutschland, immer schon staatsselig und -verknallt, ist seit diesem Moment in einer Art erotischer Erregtheit, wenn es um die Sicherheitssupermächte des Staates geht. Selten haben sich die Bürger so wohl gefühlt in einer Illusion, dass der Staat am Ende alles garantiert: bezahlbaren Wohnraum, jede Menge neuer Renten, nationale Champions in der Wirtschaft, gute Familien, Strom aus großgewachsenen Kindergartenpropellern und den Solarzellen in einem ideal-ewigen Sommer.

Die Entmündigung ist eine Erzählung der Etatisten und Opportunisten. Das Land der Dichter und Denker hat sich verengt beim Denken, und zwar bei allen politischen Konfessionen. Politik ist zu einem Durcheinander unterschiedlichster Populismuskonzepte geworden, denen gemeinsam ist, dass sie den Menschen für komplexe Herausforderungen einfache Lösungen anbieten. Am unterkomplexesten ist die rechte Erzählung, dass es ohne Fremde und Migration – unter lauter völkisch Gleichgesinnten – besonders gut laufen würde, weil es dann keine Gefährdungen und Herausforderungen mehr von Fremden und Anderen gäbe. Dabei ist – um es gleich ein wenig zu verraten – das Wesen des Mündigwerdens: sich mit dem Anderen und Fremden auseinanderzusetzen, um am Ende jeder Auseinandersetzung ein anderer und bewussterer Bürger, Mensch, Konsument, Christ, Naturschützer zu sein.

Die linke Erlösung sieht ähnlich aus wie die rechte. Endlich sind alle gleich oder werden gleich gemacht und wer ein bisschen mehr kann, will oder hat, wird eingebremst. Der Sozialismus ist als die ultimative Auslöschungsfantasie für individuelle Freiheit besonders für jene Milieus interessant, die sich für besonders aufgeklärt und raffiniert halten, und für superindividuell, obwohl sie einander ähneln wie kalifornische Orangen. Die einst als Fortschrittstreiber so unerlässlich herausfordernden linken und (links-)liberalen Eliten haben sich hinter Moral und Opportunismus derart entschieden verschanzt, dass sie gar nicht mehr merken, wie uniform und gleichtönig ihre vermeintliche Dissidenz daherkommt. Sie lieben Sprach- und Denkverbote, wollen anderen gern ihre Art zu leben vorschreiben und sind ganz wie ihre bürgerlichen Eltern vor allem an der Selbstrettung interessiert, eingeteilt in ein Wir, in dem gegenseitig gelobt und gehudelt wird, und die Anderen, die als rückständige Reaktionäre bestaunt und bekämpft werden. Der grüne Populismus mit seiner Untergangsbeschwörung, die überall dort ziemlich vulgär eingesetzt wird, wo die schlappen und ungenauen Argumente nicht ziehen, eifert linken und rechten Populisten in einer Sentimentalisierung des Fast-Gedachten hinterher.

Für die Soziologie, so Armin Nassehi, ist das Thema vermintes Gelände: Einerseits gilt Mündigkeit als Ziel, als regulative Idee usw., andererseits ist die Geschäftsgrundlage des soziologischen Denkens, die Grenzen individueller Autonomie bzw. mündigen Verfügens über die eigenen Bedingungen behaupten zu können. Was freilich aussieht, als sei es nicht hilfreich, ist eher ein Hinweis darauf, dass man Mündigkeit nicht einfach behaupten kann, sondern dass es entgegenkommende Bedingungen dafür geben muss. Hegels »Einsicht in die Notwendigkeit« hat Mündigkeit eigentlich immer schon kollektiviert – und es gibt Varianten, die von rechts und von links daran anschließen.

Wenn Nassehi Mündigkeit selbst bestimmen wollte, würde er es fast kybernetisch machen: Je mehr Abweichungsmöglichkeiten jemand an den Tag legt und legen kann, desto mündiger ist er: »Mündigkeit wäre die Fähigkeit, sich andere Unterscheidungen vorzustellen als die, die ohnehin erwartet werden. Es wäre die Fähigkeit, Erwartungen zu enttäuschen.«

Das ist auch die Magie des Aufsteigers und des Integrierten. Integration kann als Prozess des Zusammenfügens und Zusammenwachsens genau jene Unterscheidungsvielfalt generieren, die dann auch die zur Exklusion und Separation neigende Mehrheitsgesellschaft bereichert. Integration in ein Ideal mündiger Bürger kann dann weniger als Form der Akkulturation betrachtet werden und mehr als eine kulturelle Investition in die Komplexitätsmöglichkeiten einer liberalen Gesellschaft. Diversität ist keine Buntheitsfolklore, sondern eine Chance auf Abweichungsverstärkung, die am Ende freie Gesellschaften, die zur Integration und nicht zur Separation neigen, erfolgreicher und lebenswerter macht. Dazu gehört vor allem der Mündigkeitswille der zu Integrierenden, sich aus alten Mündigkeitsvorstellungen (wie mager auch immer sie waren in zurückgebliebeneren Kulturen) zu befreien und damit aus der kaum selbst verschuldeten Unmündigkeit. Diversität beinhaltet die Chance auf komplexere Individualitätskonzepte.

Dies ist insbesondere in Deutschland von Wert. Hier verharrt der Individualismus immer schon in einer Art geduckter Schockstarre. Thomas Mann diagnostizierte in seiner Rede über Deutschland und die Deutschen vom Mai 1945 berechtigterweise den »vertrotzten Individualismus im Verhältnis zur Welt, der sich nach innen mit einem befremdeten Maß von Unfreiheit, Unmündigkeit und dumpfer Untertänigkeit« vertrug. Die Geschichte der Unfreiheit der Deutschen, ihre politische Zurückgebliebenheit bis in das 20. Jahrhundert hinein, hatte die Mündigkeit stets nur in gedrosselten und gebremsten Ausführungen geduldet und gefordert. Dies ist trotz der erfolgreichen Demokratisierung des Landes und der Lehrjahre in der Freiheit so geblieben. Bei jeder anstehenden Krise, sei sie ökonomischer, kultureller, sozialer oder ökologischer Art, wird als Erstes die Freiheit des Einzelnen problematisiert, um dann im nächsten Schritt die Entmündigung als wohlwollende Einschränkung der Freiheit vorzubereiten.

Auch viele Liberale sehen aus, als hätten sie vor allem ein Wir. Dieses Wir vertäut den arretierten Individualismus gänzlich in den sogenannten größeren Bezügen.

Mündigkeit ist Selbstverantwortung im existenziellen Sinne, ein existenzielles Abenteuer, das man nur vermeidet, wenn man den Anspruch darauf und damit auf das mündige Selbst aufgibt. Am Ende erzieht sich jeder selbst. Mündig wird man in anderen und durch andere, aber nur ganz allein. Jeder muss sich selbst mündig machen.

Mündigmachung verträgt keine Gefälligkeiten. Sie will kein Wir als Ausgangspunkt und auch nicht als Endpunkt, sondern sieht den Einzelnen radikal in der Verantwortung, sich selbst mit größtmöglicher Offenheit den Zumutungen des Komplexen und Kontingenten auszusetzen. Er geht das Wagnis ein, sich in den Strudel der Zeit hineinziehen zu lassen. Der Mündige sehnt sich nicht nach Schubladen als »safe spaces«, sondern will sie abfackeln. Er denkt sich frei von Parteien und Koalitionskonstellationen. Er will sich als Virus in aktuelle Debatten einbringen, um sie im burroughsschen Sinne zu infizieren mit der Sehnsucht nach einem mündigen Umgang mit Ideen, Gedanken, Ästhetiken, Haltungen, Träumen. Fehler, Crashes, Massenkarambolagen, Selbstdemontagen gehören dazu. Müssen nicht sein. Können aber vorkommen.

Das Mündigwerden ist ein immerwährender Prozess. Er endet nur mit dem Tod. Er ist eine ewige Transformation. Das radikal Liberale wird als individuelle Emanzipationsbewegung verstanden – mit der sich jeder mit den Herausforderungen der Zeit konfrontiert, um zu individuellen Lösungen zu kommen.

Mündigkeit ist nicht ein inneres Anliegen des Menschen, wie Aufklärung glaubt, sondern ein kulturelles Anliegen. Die Mündigen sind auch gern unverantwortlich, wenn es darum geht, sich abseits aller Verengungen selbst zu erleben. Sie sind in einem ewigen Drift. Sie wollen aus Lust mehr riskieren als andere. Sie verachten Panikmacher und Angsthasen. Ich glaube nicht, dass es eine Angst davor geben sollte, etwas nicht zu machen, von dem man glaubt, man müsse es machen.

Natürlich geht es nicht darum, das Vernünftige mit Selbsteinschränkung in Verbindung zu bringen, zumindest nicht zwangsläufig. Es geht eher darum, die Gefahr der Vernunft als ABS für zunächst abwegige Gedanken oder Haltungen zu problematisieren. »Es gibt ja durchaus eine Form der Mündigkeit«, darauf weist Armin Nassehi hin, »die darauf verzichtet, Dinge zu tun, die man tun könnte, aber eben unterlässt, weil es so vernünftiger ist.« Wer glaubt, manisch stets mehr erleben zu müssen, verliert die Fähigkeit, auch mündig mal weniger zu erleben. Der mündige Verzicht bedeutet in der Logik des »More-is-more«: ein Mehr an Bewusstheit und Selbstaufmerksamkeit. Beides, der ewige Drift wie die vornehme Zurückhaltung, ist kompatibel mit dem Gedanken der Abweichungsverstärkung. »Ich könnte, wenn ich wollte«, so Nassehi, »muss aber nicht wollen, weil ich könnte.«

Der Mündige ist damit ständig ironiefähig. Er ist umfassend disponibel – und nie da, wo man ihn vermutet. Er kann sich und seiner Gesellschaft in seiner Fluchtneigung so fremd werden, dass er sich selbst wieder in sich und seine Gesellschaft reintegrieren muss. Am Ende lebt er in mehreren Parallelgesellschaften – ist »White Negro« (Norman Mailer), Außenseiter, Dissident und Zentrum zugleich. Kulturelle Identität ist eine Illusion, Mündige leben eine Kultur der Abstände wie das Francois Jullien so kraftvoll beschreibt – wider den Narzissmus der kleinen Differenzen in engen Gruppen. Raus aus den Traditionen, aus Dogmatismus und korrekt-angepassten Denkweisen, damit sich der Geist in neue Abenteuer stürzen kann. Es geht um Mut, und der ist ohne Freiheit und Verantwortung nicht zu denken. Und seit Perikles wissen wir: Er ist auch der steilste Weg zum Glück.

1

Der mündige Träumer

Mündig zu sein, ist ein Wunsch, seit die Neuzeit den Menschen in verträglichen Dosen in die Freiheit entlässt. Mit der Aufklärung wird aus der Ent-Entmündigung ein mitunter karg ernstes Unterfangen und bei einigen Anhängern der Mündigkeit wird dieselbe totalitär. Die Mündigkeitsdoktrin kippt in einigen Adoleszenztheorien ins Fundamentalistische. Das Andere zum Mündigen verschwindet. Schlimmer noch: Bei den ganz Ernsten und Anständigen entwickelt sich ein Autoimmunsystem, das jede Form der Unmündigkeit von innen auffrisst. Dann wird Mündigkeit in absoluter Mündigkeit entmündigt. Weil Mündigkeit in ihrer aufgeklärtesten Form auch um die eigenen Grenzen weiß. Weil ein nur mündiger Mensch weniger vollkommen als entstellt ist. Die Sehnsucht des Menschen, seine Träume, seine Verrücktheiten und Poesien, sein Spleen, seine Unbedingtheit, es wissen zu wollen, sind der Urtrieb, den eine vernünftige Zivilisation nur sehr bedingt zulässt. Beim Mündigkeitsverehrer Adorno ist die innere Unruhe beim Mündigwerden auch Ideologiekritik, weil er davon ausgehen muss, dass sich in einer freien, bürgerlichen Gesellschaft die Interessen des »Man« auch in die Mündigkeitskonzepte eingeschlichen haben.

Es gibt ein kurzes Video, das den Formel-1-Piloten Gilles Villeneuve zeigt, wie er eine Kurve für den normalen Betrachter zu schnell nimmt mit seinem Ferrari, er fliegt mehr, als dass er fährt, er driftet am Rand der Physik um die Ecke, wo andere sich immer nach Bodenhaftung sehnen. Er, wie Ayrton Senna, verweigerte der funktionalen Bodenhaftung den Respekt. Sie suchten jenen Zustand des Drifts am Rande des Beherrschbaren. Sie waren Forscher in unbekannten Bereichen der Fahrphysik. Sie zeigten Möglichkeiten auf, Linien, Kurvendurchfahrten, Bremspunkte, Angstfreiheiten, wo sie niemand anders sehen konnte. Sie waren frei, weil sie sich radikal entfernt hatten von den Wegen der Vorgänger. Sie riskierten mehr als alle anderen, um ein Zeichen zu setzen. Der Preis dafür war absolut: Beide starben.

Aber sie setzten jene Zeichen, die unvergessen sind. Mündig zu sein, heißt, im Ideal mehr verstanden zu haben, als nötig war, um sich selbst als Individuum konstant herauszufordern. Auf existenziell hedonistischer Ebene ist die Mündigmachung auch eine Strategie, dem Ennui und der Leere zu entfliehen. Mündigmachung ist eine Beschleunigung der eigenen Entwicklungsgeschwindigkeit.

Der Traum ist der alltägliche Verbündete der Utopie. Er braucht auch in aufgeklärten Gesellschaften seinen Raum. Weil nur träumende Realpolitik neue Wege gehen kann. Willy Brandt kniete vor dem Denkmal der Opfer des Nationalsozialismus, nicht weil er sich das vorgenommen hatte, sondern es war eine Art radikalpolitischer Intuition. Damit veränderte er die Geschichte des Landes, Europas und am Ende vielleicht auch der Aussöhnung der Deutschen mit all ihren Opfern und deren Hinterbliebenen. Brandts Kniefall war eine poetische Geste, die alle – auch seine engsten Vertrauten – überrascht hat. Es war vielleicht die größte Geste Nachkriegsdeutschlands, ein Inbegriff staatsmännischer Mündigkeit und gleichzeitig die Essenz der politischen Biographie Willy Brandts.

Es war ein Drift am Rande des politisch Möglichen. Zunächst verstanden diese Geste nur wenige, erst später wurde daraus ein identitätsstiftendes Symbol verantwortlicher Außenpolitik. Heute gehört dieses Bild zum Arkanum der Bundesrepublik.

Der Traum ist die unschuldige Form der Aggression gegen die Realität. Im Traum treten wir aus der Realität heraus in eine andere. Der Traum aber ermöglicht eben auch eine Transformation der Realität, weil er Wege aufzeigt, aus der Enge, den Sachzwängen, den vermeintlichen Routinen der Realität auszubrechen. Im Idealfall ist der Traum ein Drift in eine Realität der Mündigkeit, die poetischer ist als nur eine rationalistische Form des aktuellen Hier und Jetzt. Niemand, auch nicht der Mächtigste, darf in seiner Verantwortungsethik seine Träume vergessen. In jedem Haus seines Ichs muss ein Zimmer für den Traum bleiben. Ohne das Träumen stirbt die Gesellschaft. Sterben besonders satte Gesellschaften.

Mündigmachung als Extremsportart findet bei den Helden in den Filmen von Michael Mann statt. Deren Ethik und Ästhetik rechnen geradezu programmatisch mit dem Gequatsche-Kino der europäischen Avantgarden ab. Michael Mann, der feinsinnige, Ferrari fahrende Intellektuelle, war 1968 als junger Mann in Paris. Er sah alles, was die linke Avantgarde produzierte, und konnte mit den vielen Worten, dem Gefasel im französischen Kino wenig anfangen. Das waren für ihn papierene Figuren: Darsteller, Quatscher, vorlaute Kinder. Manns Helden sprechen möglichst wenig und kompensieren ihre bewusste Sprachlosigkeit mit einer Propaganda der Tat. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Das gilt natürlich auch für das Böse.

Bei Mann entscheidet sich nicht in der Lyrik, sondern im Tun der Charakter seiner Figuren. Auch seine Helden, in der Regel Polizisten, Taxifahrer oder auch mal ein Journalist, tun dies stets im Drift am Rande des Legalen und Überlebbaren. Die Guten spiegeln die Bösen. In den actionreichen Spielfilmen sind sie allesamt Berge aus Muskeln und Aggression. Ihr Intellekt liegt in der Eleganz und Intelligenz ihrer Pläne und Aktionen. Sie machen sich mündig gegen die Kriminellen, die auf eine faszinierende Art fast alles so gut können wie sie selbst, denen aber nur ein Wertegerüst fehlt und eine moralische Instanz. Sie werden von Michael Mann als Unmündige dargestellt. Auch die kühlsten, intellektuellsten Kriminellen haben jene kurzen Momente, in denen ihre absolute Unmündigkeit aufscheint. Ihre Moralarmut und Verrohung desavouieren sie. Und doch sind sie die andere Seite der Medaille der Mündigen, wie Robert de Niro dies seinem Gegenüber Al Pacino in Heat erklärt. In diesem Film ist die Linie, die Michael Mann zieht, am dünnsten. De Niro spielt den Bösen, den nur mehr ein Hauch von einem guten Cop (Pacino) trennt. Aber in jenem Moment, wo er unter schwierigsten Bedingungen fast alles erreicht hat – Geld, Frau, Flucht, alles –, entscheidet er sich für den Kampf und die Rache. Gegen jede Vernunft. Damit verrät er alles und stirbt am Ende.

Mündigkeit ist auch eine Aggression gegen die Unmündigkeit. Sie ist ein Kampf. Sie ist ein Bürgerkrieg, ein Krieg der Bürger: Mündige gegen Unmündige. Das beschreibt Michael Mann in seinen Filmen. Es ist ein Krieg weniger der Argumente als der Haltungen. Als Motor des Fortschritts siegen beim Idealisten Mann in der Regel die Guten. Aber die Narben der Auseinandersetzung bleiben. Jede Narbe ist ein Schwur, nicht aufzuhören, bis in die Besinnungslosigkeit hinein. In der blauen Staffel von Miami Vice verliert Sonny Crockett, der Undercover-Cop, fast seine Identität. Vor lauter Versteckspielen weiß er nicht mehr, wo oben und unten ist. Wo die Grenzen sind. Wo der Cop aufhört und der Verbrecher beginnt. Da scheitert der Drift, fast.

Die Gerade gab es nie im Konzept der Mündigkeit. Nur bei jenen, die sie nicht verstanden haben, um sie als Disziplinarmacht zu benutzen. Bei Kant sind die Menschen aus krummem Holz gemacht, und in nicht totalitären Denksystemen ist das Widersprüchliche, Schräge, Krumme, zwei Schritte vor, einen zurück, der Drift, die Art und Weise, wie iterativ Mündigkeitsfortschritte denkbar und vorstellbar werden. Die bürgerliche Welt ist voller Widersprüche. Eigentlich passt nichts so richtig zusammen: Glaube und Wissen, Überzeugung und Handlung, Gesprochenes und Gemeintes, Gesagtes und Getanes, Geliebtes und Begehrtes, Versprochenes und Gehaltenes. Im Traum sind wir Bürger einer idealen Welt, in der sich alle Widersprüchlichkeiten zu einer surrealen Gewissheit fügen. Wir träumen auch, weil es all das Auseinandertreiben und Zerstieben unserer Welt und unseres Alltags kittet und mit einer Richtung versieht. Im Traum ist da ein Weg.

Die Aufklärer, die selbsterklärten, ordnen und sichten alles, um dann den anderen jenen Weg zu weisen, den sie selbst aus Bequemlichkeit oder Verbitterung immer schon gegangen sind, weil ihnen in Träumen nichts mehr begegnet, was sie verstört. Die Dinge sind in der Regel unklar und widersprüchlich, aber die Denktradition der Aufklärung bietet den mündigen, autonomen Subjekten die Chance, sich dieser Widersprüchlichkeit anzunähern und in Freiheit jene Entscheidungen zu treffen, die dann zu ganz subjektiven Wegen und Strategien führen. Sie können von Außenstehenden als kerzengerade gesehen werden, wobei jedoch nur hässliche Industriekerzen wirklich gerade sind. Ein Lineal macht nicht mündig.

2

Der mündige Intellektuelle

Der mündige Intellektuelle verachtet Ideologien. Zumindest solche, die Gefolgschaft erfordern und die Preisgabe der intellektuellen Autonomie zum Wohle eines abgeschlossenen Weltbildes, das in der Postmoderne gern auch widersprüchlich und torsohaft (oder torsoseriell) daherkommen kann. Der mündige Intellektuelle hat ein stark dynamisches und performatives Verständnis von Denken und Werk. Er liefert eher Unfertiges als allzu Fertiges ab, weil ihm der »Lektor in fabula« wichtig ist. Die Bedeutung entsteht im Gebrauch und die Kunst im Auge des Betrachters. Auch hier sind die alten Hierarchien außer Kraft gesetzt, die ein klares Verhältnis von Schöpfer und Rezipienten in archaischer Weise zementiert wissen wollen.

Der mündige Intellektuelle hat einen Konsens- und Opportunismusekel. In weniger drastischer Form eine Konsens- und Opportunismusskepsis. Er versteht sein eigenes Reflexions- und Wissensniveau als Verantwortungsverpflichtung. Er ist dem Ideal des mündigen Diskurses und der mündigen Debatte verpflichtet. Er will nicht gefallen, sondern sortiert seine Anliegen entlang jener Anliegen, die in den entscheidenden gesellschaftlichen Debatten jeweils zu kurz kommen. Er bleibt sich nur in der ersten Ableitung treu, ganz konkret ist er ein Balancekünstler, der seine Mündigkeit je nach Bedürftigkeit gesellschaftlicher Debatten auslebt. Seine Differenziertheit folgt strategischen Überlegungen. Wie der Beifahrer eines Motorradgespanns muss er seine eigene Position relativ zum Kurs des Ganzen definieren.

Ein mündiger Intellektueller hilft den Debatten beim Drift, anstatt sie vorschnell in gerade Bahnen zu schubsen. Er macht es Debatten stets schwerer, als es sein müsste, wenn die Sehnsucht nach einfachen, unterkomplexen Lösungen groß wird. Er will spielen und zieht sich aus dem Spiel zurück, wo die Schwingungen verloren gehen. Die Neigung von Debatten, auch in sozialen Netzwerken, sich im Zweifel in manichäischen, bipolaren Weltbildern zu sortieren, raubt ihm die Lust, weiter mitzumachen. Die Rolle des mündigen Intellektuellen ist blockfrei, gern widersprüchlich bis zur Verkennung.

Der mündige Intellektuelle misstraut sich selbst. Er kommt nie bei sich an und ist dabei ganz bei sich. Er hat den kartesianischen Zweifel zum Lebensprinzip erhoben und versteht nicht, warum es Indifferenz gibt. Wie das geht, zwischen radikalem Zweifel, Sehnsucht nach Autonomie und gleichzeitigem Annehmen gesellschaftlicher Akzeptanz, wird je nach innerer wie äußerer Lage justiert. Wie bei einem Rennwagen ist sein Fahrwerk genau einstellbar. Je feiner es justiert werden kann, umso besser die Straßenlage in den Debatten und die Traktion aus den Argumentationskurven hinaus.

Der mündige Intellektuelle ist neugierig und scheut sich vor Wiederholungen, außer wenn es um den Kern der Dinge geht: Freiheit, Demokratie, Fortschritt, Nachhaltigkeit, Tempo. Das Private ist immer privat. Das eigene Leben ist nicht Teil des Debattenzirkus, wenn nur das Leben der »persona«. Eine Art Kulissenschieberei.

Der mündige Intellektuelle freut sich, wenn er helfen kann. Aber es geht auch ohne jede gesellschaftliche Relevanz mal um das Tauchen in Nischen. Was dann aber auch abgeleitet helfen kann. Er hat kein Problem damit, sein Denken und Schreiben, auch seine mediale Bühnenshow als Werkzeug, als Material, als etwas sehr Prosaisches und wenig Heiliges benutzt zu sehen. Selbstpathos ist lächerlich. Im Gegenteil: Jeder weiß, dass die Existenz eben auch ein Karneval ist, das Denken eine Clownerie, das Schreiben ein Gezappel. Role Models für diese antiheroisch heroische Intellektualität sind Marcel Duchamp, Francis Picabia oder ganz aktuell Slavoj Žižek.

Picabia, der Leichtfüßigste unter ihnen, warnte, das Andersdenken per se zu verklären. Es sei kein Zeichen der Intelligenz. Oft genug sei dies nur Show und Oberfläche. Der Verwandlungskünstler will beim Entdecken von bislang versteckten Geheimnissen für seine Kunst »jeden Einfluss und alle ererbten und zeitgenössischen Konventionen ausschließen: nicht gut und nicht böse, hoch oder niedrig, krumm oder gerade, unendlich oder bestimmt«. Dann geht es in die Transzendenz der Mündigkeit. »Man muss umherschweifen wie die Sterne, die sich nicht darum kümmern, Sterne zu sein, und ihrem Sternenschicksal folgen, ohne darüber nachzudenken.«

Der mündige Intellektuelle schwankt in seinen Niveaus. Er geht high und low. Er fühlt sich im plebejischen Vulgäridiom so wohl wie in der philosophischen Endpirouette. Er bleibt flexibel auch in der Art der Ansprache, weil sie selbst rekurrieren kann auf unterschiedliche Epochen der Mündigmachung. Der verspielte Intellektuelle ist beides: Zeichen freier Gesellschaften und in Zeiten aufziehender Verhärtung auch ein Widerstandscharakter. Je ernster sich die Debatten aufschäumen, umso zwanghafter gilt das Gebot der Zerstörung des Ernstes.

Dass Intellektuelle mit Mündigkeit spielen können, ist das Verdienst jener unzähligen Vorgänger, die über Jahrhunderte das Prinzip Mündigkeit gegen einen Strom gleichgültig unmündiger Denker entwickelt haben. Ohne Loyola, Descartes, Hobbes und Kant wäre das alles kaum möglich.

Jean-Luc Godard ist mit Adorno und Duchamp der größte Intellektuelle des 20. Jahrhunderts. Er ist nicht der einzige Clown, aber er ist es besonders gern. In Prénom Carmen zeigt er nicht nur, welche Phänomenologie der weiblichen Brust ihn obsessiv umtreibt, sondern vor allem, für was für einen Witz er sich selbst hält: Zigarre rauchend, als Insasse einer Anstalt, missbraucht für Verbrechen, einen Ghettoblaster am Ohr, dazu »Dies ist meine Kamera« sagend. Godard, Anfang der Achtzigerjahre schon vom Feuilleton heiliggesprochen, arbeitet gegen sich: gegen sein Frühwerk, seine linksradikale Phase, gegen alles, und er schlägt dabei dennoch eine Schneise der Zuversicht in eine Kultur der Einebnung.

Für Immanuel Kant war – wie bereits erwähnt – der Mensch aus »so krummem Holze« gemacht, dass daraus »nichts ganz Gerades gezimmert werden« könne. Dies hat Godard, der Schweizer Calvinist, radikalisiert, indem er den Intellektuellen aus besonders krummem Holze geschnitzt sah. Das Gerade hasste er mehr als jeder Rennfahrer, der sich nur in den Kurven beweisen kann und will.

Jean-Luc Godard, der Freund schneller Autos und rasanter Pointen, der ewige Revolutionär aus dem Schweizer Städtchen Rolle, kippt in seinem späten Spätwerk jede Gewissheit in ein monströses Mahlwerk der Dekonstruktion. Seine Werke aus dem frühen 21. Jahrhundert sind in ihrer Radikalität der symphonischen Zerstückelung und Rekonstruktion nur mehr schwer zu übertreffen. Entrückt allen überkommenen Vorstellungen davon, wie Filme oder auch audiovisuelle Essays funktionieren sollten, knüpft der bald 90-jährige Godard kathedralengroße Bilderteppiche voller Sinn- und Wertefetzen.