Murphy gegen die Dämonen der Dämmerung: Dunkle Rituale - Antje Ippensen - E-Book

Murphy gegen die Dämonen der Dämmerung: Dunkle Rituale E-Book

Antje Ippensen

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Beschreibung

David Murphy kämpft erneut gegen die Dämonen der Dämmerung, doch diesmal ist sein Gegner stärker und gerissener als erwartet ….
Jeremiah ist einer von ihnen und er hat sich zum Ziel gesetzt, das Werk seines Bruders John fortzusetzen und zu einem erfolgreichen Ende zu führen …
»Jeremiah, der bärtige Finsterling, lächelte in der Dunkelheit, ein seelenloses Lächeln, das eine Vielzahl von Zähnen entblößte.
Vor mehreren Jahren war es ihm vergönnt gewesen, einen Blick in das BUCH zu werfen. Geleitet und beschützt hatte ihn dabei JEMAND, der sich damals noch HÜTER DER OPALE nannte. Aber damals wie heute trug er Priesterkleidung. Nur, dass sein Name jetzt so geheim war wie … wie der Tag des Jüngsten Gerichts.
Das BUCH hatte Jeremiah DIE GABE geschenkt. Er war fortan in der Lage, aus einem Teil seines Bewusstseins das TIER entstehen zu lassen und dieses TIER dort hinzuschicken, wo immer er wollte …
Und so konnte er das Kind riechen … es war ganz nah … es kam näher und näher …«

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Antje Ippensen & Markus Kastenholz

 

 

 

Dunkle Rituale

 

Murphy gegen die Dämonen der Dämmerung

 

 

 

 

Horror-Roman 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

Neuausgabe

Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv 

Cover: © Steve Mayer nach Motiven, 2023 

Korrektorat: Bärenklau Exklusiv

 

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Dunkle Rituale 

Murphy gegen die Dämonen der Dämmerung 

1. Kapitel – Begegnungen 

2. Kapitel – Camouflage 

3. Kapitel – Verwirrungen 

4. Kapitel – Entdeckungen 

5. Kapitel – Blutbad 

6. Kapitel – Finsternis und Licht 

7. Kapitel – Auf der anderen Seite 

8. Kapitel – Seelenfeuer 

9. Kapitel – Schattenränder 

10. Kapitel – Grausamkeiten 

11. Kapitel – Verfinsterung 

Weitere Murphy-Bände sind lieferbar oder befinden sich in Vorbereitung 

 

Das Buch

 

 

 

David Murphy kämpft erneut gegen die Dämonen der Dämmerung, doch diesmal ist sein Gegner stärker und gerissener als erwartet…

Jeremiah ist einer von ihnen und er hat sich zum Ziel gesetzt, das Werk seines Bruders John fortzusetzen und zu einem erfolgreichen Ende zu führen …

»Jeremiah, der bärtige Finsterling, lächelte in der Dunkelheit, ein seelenloses Lächeln, das eine Vielzahl von Zähnen entblößte.

Vor mehreren Jahren war es ihm vergönnt gewesen, einen Blick in das BUCH zu werfen. Geleitet und beschützt hatte ihn dabei JEMAND, der sich damals noch HÜTER DER OPALE nannte. Aber damals wie heute trug er Priesterkleidung. Nur, dass sein Name jetzt so geheim war wie … wie der Tag des Jüngsten Gerichts.

Das BUCH hatte Jeremiah DIE GABE geschenkt. Er war fortan in der Lage, aus einem Teil seines Bewusstseins das TIER entstehen zu lassen und dieses TIER dort hinzuschicken, wo immer er wollte …

Und so konnte er das Kind riechen … es war ganz nah … es kam näher und näher …«

 

 

***

Dunkle Rituale

 

Murphy gegen die Dämonen der Dämmerung

 

1. Kapitel – Begegnungen

 

Es war stockdunkel in dem alten, tropfenden Kellergewölbe, aber weder die Ratten noch der einzige menschliche »Bewohner« benötigten Licht. Letzterer saß bewegungslos in einer Ecke, verschmolz mit der Dunkelheit ringsum.

Kannst du mich hören, mein Bruder? Jeremiah formte diese Worte in Gedanken so deutlich wie möglich, doch diese Fähigkeit war ihm nun einmal nicht gegeben – er konnte keinen mentalen Kontakt mit John aufnehmen, hatte es noch nie gekonnt. Es lag nicht nur an den Gefängnismauern, die John umschlossen. Nein, ohne Hilfe konnte es nicht gelingen. Und es war vielleicht auch nicht notwendig. JEMAND hatte ihm gesagt, dass er seinen Bruder bald wiedersehen und ihn in die Arme schließen können würde … Bald. Sehr bald.

Jeremiah spürte ein erwartungsvolles Kribbeln und Zucken in seiner linken Hand, auch und gerade in den zwei fehlenden Fingern. Das war sehr passend, denn mehr oder weniger hatte er diese Verstümmelung John zu verdanken – oder seiner eigenen Ungeschicklichkeit. John war es gewesen, damals in Montana, der ihn in die Geheimnisse des Sprengstoffes eingeweiht hatte. Dabei blieben Unfälle nun einmal nicht aus … Ja, es war einfach ein Unfall gewesen.

Ich führe Johns Werk fort, dachte Jeremiah, wie schon so oft. Und nun sah es so aus, als würde er es sogar vollenden können. In den letzten Tagen war Jeremiah jedoch ein wenig beunruhigt gewesen. Nicht nur, dass die beiden Schnüffler das Kind immer noch bei sich hatten und es offenbar beschützten – nein, auch dem Bengel war es gelungen, sich seinem Zugriff zu entziehen.

Bis dahin waren die Dinge unter Kontrolle gewesen. Es hatte Jeremiah Spaß gemacht, wochenlang mit dem Journalistenpaar zu spielen, sie zu täuschen, in die Irre zu führen und ihnen immer wieder eine Nasenlänge voraus zu sein. Manchmal war er ein wenig erstaunt über die Zähigkeit und – scheinbare? – Furchtlosigkeit, mit der diese beiden ganz gewöhnlichen Menschen sich auf seine blutige Fährte geheftet hatten.

JEMAND hatte ihm das vorausgesagt; auch, dass sie sich durch Warnungen nur noch mehr angestachelt fühlen würden, weiterzumachen. JEMAND wollte sie haben, den Mann wie auch die Frau – warum, das wusste Jeremiah nicht genau. Aber er ahnte so manches; schon seit dem Zwischenfall im FBI-Hauptquartier in Manhattan, als irgendwo jener verhasste Name aufgeblitzt war: der Name David Murphy. Im Bewusstsein der Frau? Des Mannes? Unwichtig. Fest stand, dass die zwei auf eine gewisse Weise auch dem ORDEN dienten, und das war Grund genug, sich etwas ganz Besonderes für sie auszudenken

Nachdem ihnen der rötliche Stein in die Hände gespielt worden war, war alles noch viel einfacher gewesen. Jeremiah hatte sich schon darauf gefreut, das Paar endgültig in seinen Bann zu ziehen – und dann das! Ein einfaches Wort der Kleinen hatte genügt, um die Frau davon zu überzeugen, den Stein nicht wieder anzufassen. So jedenfalls musste es gewesen sein.

Jeremiah stieß einen ärgerlichen Knurrlaut aus, der hohl von den Wänden seines selbstgewählten Verlieses widerhallte. Tief in seinen Eingeweiden regte sich der Hunger wie ein wildes Tier, aber er bezwang diese Empfindung mit einiger Mühe, denn es war schließlich kein gewöhnlicher Hunger.

Der elende Sparrow! Hätte er das Kind nicht entkommen lassen, müsste er, Jeremiah, sich nicht mit diesem Problem hier herumschlagen. Doch nun kam seine Stunde. Als sein geteiltes Bewusstsein wieder in ihn zurückfloss und sich mit der anderen Hälfte vereinigte, wusste er, dass das Kind jetzt wieder allein war – und es rannte genau in die richtige Richtung. Vermutlich würde ihm nicht sehr viel Zeit bleiben.

Jeremiah kämpfte darum, sich aufraffen zu können – doch sogleich erwachte wieder der entsetzliche Hunger. Er MUSSTE seinem Magen erst einmal eine bekömmliche Speise zuführen – ah! Am besten, er verband das Angenehme mit dem Nützlichen!

Jeremiah, der bärtige Finsterling, lächelte in der Dunkelheit, ein seelenloses Lächeln, das eine Vielzahl von Zähnen entblößte.

Vor mehreren Jahren war es ihm vergönnt gewesen, einen Blick in das BUCH zu werfen. Geleitet und beschützt hatte ihn dabei JEMAND, der sich damals noch HÜTER DER OPALE nannte. Aber damals wie heute trug er Priesterkleidung; nur, dass sein Name jetzt so geheim war wie … wie der Tag des Jüngsten Gerichts. Jeremiah dachte gern in biblischen Vergleichen. Das war etwas, das er nie abgelegt hatte, ebenso wie eine Reihe anderer Angewohnheiten, wie sie einem HEILIGEN MANN geziemten – obwohl er doch schon in früher Jugend von der hellen auf die dunkle Seite übergewechselt war.

Das BUCH hatte Jeremiah DIE GABE geschenkt. Er war fortan in der Lage, aus einem Teil seines Bewusstseins das TIER entstehen zu lassen und dieses TIER dort hinzuschicken, wo immer er wollte. Allerdings war er selbst währenddessen zur Bewegungslosigkeit verdammt, und der Hunger des TIERES übertrug sich auf ihn selbst, vor allem dann, wenn es ungesättigt blieb – was jedoch nicht oft der Fall war. Es war anstrengend und erschöpfend, DIE GABE anzuwenden, aber auch höchst effektiv … nichts rief den Schwarzen Schrecken so zuverlässig hervor wie das TIER. Außerdem besaß es höchst geschärfte Sinne; besonders die Nase war unvergleichlich, und was das TIER auch wahrnahm, es übertrug sich sogleich auf Jeremiah. Und so konnte er das Kind riechen … es war ganz nah … es kam näher und näher …

Das BUCH! Jeremiah schloss kurz die Augen, denn er sah es auf einmal vor sich – soweit er wusste, befand es sich schon längst nicht mehr im Besitz seines Mentors mit dem Geheimnamen … wo mochte es sein?

Gleich riss er die Augen wieder auf. Um des Erwachens der Schwärze willen, er durfte jetzt nicht einschlafen! So rasch es ihm möglich war, entzündete er eine violette Kerze, und das scharfe Aufflammen des Streichholzes und das Leuchten des Wachsstabes stachen ihm fast schmerzhaft in die Augen. Schwerfällig stand er auf, die Kerze in der Hand. Er wusste, dass man ihn auch den verrückten Alten nannte, aber nun, da das Licht sein bärtiges Gesicht erhellte, war zu erkennen, dass er keineswegs alt war. In seinem langen Bart befand sich noch keine Spur von Grau.

Vor sechsunddreißig Jahren waren er und sein Bruder John in Ezra, Montana, geboren worden – 1963, im Jahr der Seuche. Man hatte sie von ihren Eltern und voneinander getrennt, dies aber sorgfältig vertuscht – erst später erfuhren sie, warum und zu welchem Zweck. Als die beiden Jungen sechs Jahre alt wurden, brachte man sie wieder zusammen.

Die Stadt Ezra sollte sich nie wieder völlig von der Seuche erholen. Eine ihrer Folgen war, dass sich eine hysterische Religiosität unter den Bewohnern ausbreitete. Ansätze dazu hatte es schon immer gegeben.

Ezra lag in einem unwirtlichen Tal, fast ganz umschlossen von schroffen Gebirgszügen und undurchdringlichen Bergwäldern und seit Generationen von einem ganz bestimmten Menschenschlag bevölkert: Holzfällern und Fallenstellern und ihren Nachkommen, die sich in Einsamkeit und inmitten starker Naturgewalten häufig in einen grimmigen Glauben hineinsteigerten. Ihr Gott war nicht nur ehrfurchtgebietend, ER war schreckenerregend.

So kam es, dass John und Jeremiah schon in zartem Alter an Gebets- und Erweckungsversammlungen teilnahmen, in denen es nicht selten wie in einem Tollhaus zuging. Nach 1963 schossen schwärmerische Sekten und fanatische Religionsgruppen in Ezra wie Pilze aus dem Boden … und auf einer dieser Versammlungen waren John und Jeremiah zum ersten Mal dem HÜTER DER OPALE begegnet. ER predigte nicht, sondern saß stets nur ungerührt, regungslos, in schwarze Gewänder gehüllt, inmitten der tobenden Menge – einzelne Gläubige bekamen in ihrer Ekstase hin und wieder Krampfanfälle und wälzten sich zuckend am Boden –, aber SEINE Aura war die eines Priesters von hohem Rang.

Als die Brüder alt genug waren – etwa dreizehn – hatte er sie nicht mehr nur beobachtet oder gelegentlich mit ihnen gesprochen, sondern sie in seine persönliche Obhut genommen. Es war ungefähr zu dem Zeitpunkt, wo sich herausstellte, dass John ein verkappter Feuerteufel war – so sehr er auch glaubte, es sei Sünde, und so oft er sich selbst auch dafür geißelte – er hatte den unwiderstehlichen Drang, Dinge anzuzünden und sich am Schein der wilden Flammen zu entzücken.

Jeremiah war sein gehorsamer Vasall bei all dem, denn er betete seinen – um Minuten älteren – Bruder an. Irgendwann reifte in John die Idee, sein Verlangen müsse eine Gottesgabe sein, und er müsse sie nach dem Willen des HERRN einsetzen. Er wurde täglich geschickter im Umgang mit Benzinbomben und Dynamit, zu dem ihm der HÜTER Zugang verschaffte. Und dieser bestärkte John in seinem Glauben … doch nach und nach lenkte er ihn in eine andere Richtung.

Er sah die Brüder durchbohrend an. Ihr seid bereit für das Licht, aber seid ihr auch bereit für die Finsternis? Sie ist die größere Herausforderung, glaubt mir. Und wer sie beherrscht, besitzt die größte Macht. Ihr HERR verlangt von euch die gleichen Dienste, verspricht aber reicheren Lohn. 

Jeremiah, der, im Gegensatz zu seinem so unheimlich begabten Bruder, einem naiveren, schlichteren Glauben anhing, wagte es anfangs ab und zu, zu widersprechen. Er wies auf all die rechtschaffenen Männer Gottes hin, die er predigen gehört hatte, und die er zum Teil sogar verehrte.

Daraufhin lachte der HÜTER und meinte: Ein Prediger ist nur so gut wie seine Taten, mein Sohn. Wobei das Wort gut bei ihm einen geradezu obszönen Klang hatte. All diese Männer Gottes – was TUN sie? Sie bringen Menschen dazu, die Augen zu verdrehen und wie getretene Hunde zu jaulen, mit Schaum vor dem Mund! Wofür? Um dereinst ins HIMMELREICH einzutreten, mag die Welt auch verkommen und verderben? Ihr und ich, meine Söhne, wir haben eine AUFGABE, und wir haben sie HIER zu erfüllen. 

Nach und nach wurden Jeremiah und John eingehüllt vom Charisma des HÜTERS und stellten keine zweiflerischen Fragen mehr. Im Grunde war es nur ein Austausch der Namen. Der HERR der Finsternis verlangte den gleichen Gehorsam wie der Gott der Bibel. Aber der Erstere verlangte auch TATEN, die in die Barbarei der Welt einschlagen sollten wie Blitze … und er versprach konkrete Dinge, versprach sie für die NAHE ZUKUNFT.

Seine Diener, fast so mächtig wie er, würden auf die Erde niederkommen … gewaltige globale Umwälzungen standen bevor … und gleichzeitig würde er mit Feuer und Schwert auch alles ausrotten, was der Alte Gott ebenfalls ablehnte: Hurerei, Unzucht, Abtreibung, unreine Genüsse, schmutzige Worte, Zerstörung der Umwelt und vieles mehr. Ja, genau betrachtet gab es überhaupt keinen Unterschied zwischen den beiden, abgesehen von der größeren Machtfülle des HERRN der Finsternis.

John wie auch Jeremiah gewöhnten sich an, IHN einfach den HERRN zu nennen; und das war auch der Grund, warum in all den Verhören, denen man John nach seiner Verhaftung unterzogen hatte, niemals aufgefallen war, dass er keineswegs ein typischer fanatischer Christ war. Die Verhörer kamen gar nicht auf die Idee, dass mit DEM HERRN jemand anderer gemeint sein könnte.

Jeremiah und John entwickelten, je mehr sie heranwuchsen, ein starkes Doppelleben, von dem ihre beschränkten Pflegefamilien nichts ahnten; der HÜTER jedoch wusste alles darüber. Er war ihr wirklicher Vater.

Jeremiah hatte sich jedoch so manches Mal gefragt, wie dieser Vater es zulassen konnte, dass sein Bruder Jahr um Jahr in einer Todeszelle schmachten musste, nachdem er nichts anderes getan hatte, als den Willen des HERRN zu erfüllen … nun jedoch war er ganz ruhig.

Es nahte der Tag der RACHE, der Tag der WIEDERKEHR – oft malte Jeremiah sich aus, wie entsetzt und verblüfft der Henker und seine Gehilfen sein würden, wenn beispielsweise im Hinrichtungsraum ein Monster erscheinen würde, das die Giftkapsel verschlang, ehe sie platzen konnte. Und das wäre erst der Anfang …

Der bärtige Finsterling blies die Kerze aus. Dann machte er sich daran, das Gewölbe zu verlassen. Sein Hunger brüllte und tobte in ihm.

 

*

 

Der Autoschrotthändler Charlie Pitts hatte keine Ahnung, dass sich unter seinem baufälligen Häuschen ein solides, atombombensicheres Kellergewölbe befand. Zu gut getarnt war die Falltür, die zwischen Fußboden und Keller lag, und die doppelt gesicherten Stahltüren, die nach außen führten, waren von armdicken, meterhoch wuchernden Silberdisteln zugewachsen. Außerdem war Erde nachgerutscht, sodass das Häuschen selbst beinahe zu versinken drohte. Und dann gab es noch einen geheimen unterirdischen Gang, von dem Charlie erst recht nichts ahnte …

Als der Schrotthändler diesen Besitz pachtete, hatte er nie genügend Interesse aufgebracht, um alles genau zu kontrollieren. Er pflegte das Anwesen auch niemals. Seine Leidenschaft waren Schrottautos und Dosenbier. Nach einem langen Arbeitstag betrank er sich meistens die halbe Nacht hindurch, um dann in einen schweren Schlaf zu fallen. Er sollte zu den wenigen Opfern Jeremiahs gehören, die überhaupt nicht mitbekamen, was mit ihnen geschah – was man gewissermaßen als »Glück« bezeichnen konnte.

Es ging schnell. Jeremiah öffnete die Falltür, die geradewegs in den winzigen Flur des Häuschens führte, zog sich geschmeidig hoch und verlor keine Zeit. Der brüllende Hunger beherrschte sein Denken und lenkte ihn zielgenau zu der kleinen Schlafkammer. Trotz der Dunkelheit erkannte Jeremiah sofort den Bierbauch Charlies, der sich unter der Decke hob und senkte. Er beugte sich über ihn, und der Schrotthändler schnarchte ruhig weiter, bemerkte nichts von dem grinsenden bärtigen Gesicht, hörte nicht das schabende Geräusch eines Jagdmessers, das aus dem Gürtel gezogen wurde.

Jeremiah lief das Wasser im Mund zusammen; sein Speichel tropfte auf den Mann herab. Nicht einmal das vermochte Charlie Pitts aus seinen bierseligen Träumen zu reißen – dann allerdings erstarb sein Schnarchen in einem kläglichen Röcheln, als die Klinge des Jagdmessers seine Kehle durchtrennte. Das war alles.

Rohes Fleisch! Ganz egal, sein Hunger war übermächtig. Gerade wollte Jeremiah zubeißen, als JEMAND sich meldete: Die Stimme erklang, wie gewöhnlich, direkt in seinem Hirn, aber sie flackerte seltsam schwach wie ein schlecht eingestellter Radiosender.

PROBLEME … IN EZRA … MUSS SOFORT DORTHIN – DU MUSST ES ALLEIN SCHAFFEN. ICH … VERLASSE MICH AUF DICH, MEIN SOHN … 

Beunruhigt hielt Jeremiah einen Moment lang inne. Aber dann senkte er sein Gebiss endlich in die langersehnte Speise; ein schreckliches Krachen und Reißen erklang, und die Nacht schien noch schwärzer zu werden.

Trotz seiner Gier achtete Jeremiah sorgfältig darauf, ein anderes Ziel nicht aus der Peilung zu verlieren.

 

*

 

»HARRY!«, wollte Inali schreien, aber die Stimme versagte ihr vor lauter Glück; sie brachte nur ein tonloses Krächzen hervor. Sie flog auf ihren geliebten Freund zu – da stand er, nur wenige Schritte vom baufälligen Eingangstürchen zum Ort der braunen Autos entfernt, und er sah noch genauso aus wie – damals. Ah, so lange ist es doch gar nicht her … schalt sie sich selbst, aber ihr wurde jetzt erst klar, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Mit Jubel in den Augen warf sie sich in seine Arme.

Harry hatte, im Gegensatz zu ihr, seine Stimme nicht verloren, und als er seine Freundin sah, nahm er keine Rücksicht auf die Nachtruhe der Bewohner ringsum. »INALI!«, schrie er, und endlich konnte er sie wieder in den Armen halten und küssen –sein Herz schlug wie ein Schmiedehammer vor Freude. Er sah ihre dunklen Augen glücklich strahlen, als er ihr den kleinen Beutel aus Känguruhleder wieder um den Hals legte. Irgendwie drängte es ihn, das sofort zu tun … 

Für diesen Moment des Wiedersehens vergaß Inali, dass sie gerade eben noch auf der Flucht gewesen war vor einem entsetzlichen – WESEN (entsetzlich musste es sein, nach den Geräuschen, die es von sich gegeben hatte); und sie vergaß auch ihre beiden neuen Freunde. Nur ganz kurz. Eine entscheidende Minute lang.

Dies genügte Jeremiah, um sich von seiner Mahlzeit loszureißen, vorzustürmen und die Haustür aufzureißen. Er rannte den unordentlichen kurzen Kiesweg entlang und SAH SEIN ZIEL GREIFBAR NAHE VOR SICH.

Gerade jetzt kam der bleiche, fast noch volle Mond hinter einer Wolke hervor und übergoss die Szenerie mit einem helleren Schein als zuvor die trüben Straßenlaternen von Two Bridges. Dessen Bewohner schienen einen todesähnlichen Schlaf zu haben. Niemand hörte Harrys und Inalis Entsetzensschreie.

Ihrer beider Wiedersehensglück wurde zu Asche und Grauen, als sie einen riesigen Mann auf sich zulaufen sahen, dessen ganze untere Gesichtshälfte samt Vollbart von Blut und Fleischfetzen bedeckt war. Er grinste ein schreckliches rotglänzendes Grinsen, gab aber keinen Laut von sich. Seine funkelnden Augen waren auf Inali gerichtet, und ehe Harry auch nur eine einzige Bewegung machen konnte, hatte der blutbespritzte Riese seine Freundin an sich gerissen und ihm selbst einen derben Stoß versetzt, sodass er in den Rinnstein flog.

»NEIN!!!«, schrie Harry in höchster Qual.

Will und Coletta hörten seinen Schrei, und sie erreichten den Ort des Geschehens gerade noch rechtzeitig, um mitanzusehen, wie ihr Schützling, die kleine Inali, von einem furchterregenden Hünen wie ein Sack über die Schulter geworfen und fortgeschleppt wurde – den Kiesweg entlang. Krachend schlug die Tür des Schrotthändlerhäuschens hinter ihm zu.

Will Clovis packte den Jungen an der Schulter und keuchte: »Bist du Harry Long?«

»Keine Zeit, Will!«, rief Coletta schrill, »wir müssen ihm nach! Inali retten!« Sie rannten auf das Haus zu.

Harry starrte dem Paar wie betäubt hinterher. Er konnte es nicht fassen, dass ihm seine Freundin so schnell ein zweites Mal entrissen worden war. Tränen des Schocks und der Verzweiflung brannten in seinen Augen, als er sich aufraffte und hinter Will und Coletta herstolperte.

Sie fanden das Kellergewölbe (nachdem sie voller Grauen den Anblick einer zerfleischten Leiche hatten ertragen müssen – bei Gott und allen Heiligen, ist es etwa DAS, was meiner Inali bevorsteht?! schrie es in Harry), aber nur sehr wenige Menschen auf der Welt wären in der Lage gewesen, jenen durch dämonische Magie getarnten und versiegelten geheimen Ausgang zu entdecken – jenen Ausgang, der in ein gewaltiges unterirdisches Labyrinth führte.

Will Clovis vermutete, dass es einen solchen gab: Auf seinem eiligen Rückzug hatte der X-Bomber mit seinem gewaltigen Stiefel eine Ratte zermalmt, und sein blutiger Fußabdruck führte bis genau vor eine äußerst massive Wand.

David Murphy wüsste jetzt sicher weiter … ich nicht. Will seufzte und drehte sich dann zu seinen beiden Begleitern um.

Der Junge war schneeweiß im Gesicht; er stand wie ein Häufchen Elend da.

»Ich … ich … ich … hätte vorsichtiger sein müssen!«, stammelte er.

»Wir finden Inali«, sagte Coletta tröstend, obwohl sie ähnlich fühlte – auch sie machte sich bitterste Vorwürfe und empfand den Verlust des kleinen Mädchens wie einen Schnitt ins Herz.

»Übrigens, das ist mein Partner Will Clovis, und ich heiße …«

»Coletta«, sagte Harry abwesend. »Ich weiß. Inali … Inali sandte mir Nachricht über Sie beide. Kurz bevor wir uns trafen. Sie …«

Er brach in Tränen aus und schluchzte hemmungslos, bis Will ihn etwas rau am Arm schüttelte und ihn anfuhr: »Hör mal zu, Harry, das hilft jetzt gar nichts! Du musst uns alles erzählen, was du weißt, und wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um sie zu finden. Also reiß dich zusammen. Sei ein Mann!«

»Bravo, Will«, ließ sich Coletta sarkastisch vernehmen. Aber auf den Jungen schienen Wills harte Worte Eindruck zu machen. Er schnäuzte sich, und in seinen blauen Augen flackerte etwas Hoffnung auf.

Clovis betrachtete ihn kühl. Kleine irische Rotznase, dachte er. Er sieht genau aus wie ein windiger halbwüchsiger Betrüger, der mit Whiskyschmuggel aufgewachsen ist. Ein Kerl, der sich bei alleinstehenden alten Frauen einschmeichelt und sie dann beklaut. (Will hatte genau ins Schwarze getroffen; tatsächlich war Harry Long mit genau dieser Masche unterwegs gewesen, bevor er Sela und Laguna kennenlernte und zum Hehler »aufstieg«.)

»Inali und ich, wir … wir kommen aus Australien«, begann Harry. »Wir sind auf der Flucht. Ich hatte gehofft, wenn wir erst einmal hier wären, in den Staaten, hätten wir den … die Verfolger abgeschüttelt, aber in New York schnappten sie Inali. Sie rissen sie von mir weg …« Er schwieg einen Moment. »Verflucht, Sela hätte mir mehr erzählen müssen! Dann hätte ich verdammt noch mal gewusst, wie ich uns hätte schützen können.«

Coletta horchte auf. »Sagtest du ›Sela‹?«, vergewisserte sie sich. Harry nickte, während Will seine Gefährtin verständnislos musterte.

»Sela Ruapehu.«

Harry runzelte einen Moment die Stirn, dann nickte er abermals. »Ihr Nachname wurde irgendwie selten erwähnt. Aber er stimmt; sie ist Halbmaori, ihr Vater hieß so …«

»Die Jim-Tark-Story!«, rief Will aus, bei dem der Groschen nun auch gefallen war.

»Will, das kann kein Zufall sein. – Du und Inali, Harry – habt ihr wirklich zu dieser berüchtigten Bande gehört?« Missbilligung schwang in Colettas Stimme mit, und Harry begriff sofort, warum.

 »Ja, Ma’am. Aber … also Inali und ich, wir haben nie mitgemacht bei Raubzügen, Banküberfällen und so. Und wir wollten sowieso aussteigen, schon lange wollten wir das. Aber dann wurde Sela verhaftet … und die Bullen hatten einen echten Hass auf sie. Sie sah schrecklich aus, als … Well, sie schaffte es abzuhauen und kam zu unserem Versteck, um uns zu warnen. Und es … es war mehr als Bullenhass … aber sie erzählte uns – nicht genug.«

Immer hastiger sprudelten die Worte aus Harry hervor. Es war eine große Erleichterung, endlich jemandem davon erzählen zu können – fast wie eine Beichte.

»Inali wusste schon da mehr als ich … oder sie ahnte es – sie hat diese Fähigkeit, ihre Traumzeit ist sehr stark, sie SIEHT so viele Dinge … das war auch ihre Aufgabe in der Bande gewesen. Seitdem sie Sela und Laguna beriet, gelang den beiden alles, was sie nur anpackten … uns allen, meine ich. Inali … Inali hatte Angst. Sie sprach darüber, aber es klang alles so wirr … Sie erzählte mir etwas von Schatten und einer bösen Macht und – na ja, ich … habe es nicht so ernst genommen. Aber ich hätte es tun sollen!«

»In der Tat.« Will sah den Jungen streng an und streute noch Salz in dessen Wunden. »Ja, das hättest du. Denn deine kleine, magisch begabte Freundin hatte durch und durch recht. Womit wir es hier zu tun haben, Junge, sind DÄMONEN. Und das ist keine Metapher oder sonst irgendein Blödsinn – es sind real existierende Dämonen, nicht abstrakter als du oder ich, Junge – sie und ihre menschlichen oder halbmenschlichen Diener: DAS ist es, worum es hier geht. Ich weiß, wovon ich rede: Coletta und ich sind schon mehr als einmal in den verpesteten Dunstkreis dieser Kreaturen geraten. Sie sind tödlich, sie sind erbarmungslos – nein, mehr als das. Und sie haben ein Ziel. Sie sind die verdammt noch mal entschlossensten Bastarde, die es gibt, und wenn du deine Freundin jemals lebend wiedersehen willst, JUNGE – dann solltest du alles an Grips und Mut zusammennehmen, was du hast, und dein feiges Nicht-Hinsehen solltest du dir als Erstes abgewöhnen, und zwar für immer! Verstehst du, was ich dir sage, HARRY LONG?«

Harry konnte den Herausgeber von SUPERNATURAL & ANCIENT CULTURES nur sprachlos anstarren. Endlich senkte er den Kopf; seine Schultern bebten, und Will vermutete (mit einer gewissen Verachtung), dass die blauen Augen des Bengels schon wieder in Tränen schwammen. Coletta hielt sich abwartend im Hintergrund.

»Du kannst natürlich«, fuhr Will Clovis mit schneidender Stimme fort, »dich auch achselzuckend abwenden und dir sagen: ›Was geht mich diese ganze Scheiße überhaupt an?‹ – Wenn du dich uns aber anschließen willst, um Inali zu retten, dann müssen wir alle an einem Strang ziehen.«

Der Junge blickte wieder auf. Seine Augen waren trocken. Immerhin. Seine Gesichtsmuskeln arbeiteten heftig.

»Will …«, begann Coletta nun. »Ich will ja nicht vorlaut erscheinen, aber wäre es nicht besser, diesen unerfreulichen Ort zu verlassen, in unser Auto zu steigen und …«

»Du hast absolut recht, Schatz!«, fiel ihr Chef und Geliebter ihr ins Wort. »Wie fast immer. Man weiß ja nie – wenn dieses lausige Nest doch aus seinem Dornröschenschlaf erwacht und einen Streifenwagen hier vorbeischickt – dann könnte es schwierig werden, den Cops glaubhaft zu machen, dass wir rein gar nichts mit dieser zerfetzten Leiche dort oben zu tun haben.«

Er sah Harry scharf an. »Meinst du nicht auch, Junge?«

Der Ex-Hehler der Maraalii-Bande straffte sich. »Ja Sir!«, sagte er, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er zum ersten Mal ein SIR ehrlich meinte – aufrichtig und respektvoll. Der Blick, den er Will Clovis zuwarf, verriet fast so etwas wie Verehrung.

Coletta beobachtete die beiden, und trotz der schrecklichen Ereignisse der letzten Minuten konnte sie sich ein leises Lächeln nicht verkneifen.

Sie verließen das in nächtlichem Schweigen daliegende Haus des Autoschrotthändlers Charlie Pitts und begaben sich auf dem kürzesten Weg zum Parkplatz des Motels.

Harry trabte ein paar Schritte hinter ihnen, und so nutzte Coletta die Gelegenheit, um ihrem Will zuzuraunen: »He Boss, das war nicht übel.«

Er sah sie erstaunt an. »Was meinst du, Baby?«

Sie antwortete nicht direkt, sondern lächelte, dass ihr die Grübchen kamen. »Ich glaube, du wärst ein guter Vater«, meinte sie dann beiläufig. »Vorausgesetzt, das Kind kommt im Alter von 14, 15 zur Welt und ist ein Sohn.«

Will klappte den Mund auf. Totale Verblüffung malte sich auf seinem Gesicht.

»Jedenfalls ist das alles, was ich bis jetzt sagen kann«, fügte Coletta noch hinzu, kniff ihn schelmisch in die Wange und sprang dann zur Beifahrerseite des Fords. Er stand da, die Autoschlüssel in der Hand. »Los geht’s, großer Meister!«, rief seine Partnerin und klopfte gegen die Scheibe.

Nicht lange darauf hatten sie Two Bridges hinter sich gelassen und hielten an auf einem Feldweg. Will war Richtung Westen gefahren, ohne dass sie weiter darüber sprechen mussten.

Harry war es, der nach einer Weile die Frage stellte, wohin sie denn wollten. Er fühlte sich gleichzeitig leergelaufen und aufgewühlt, und über diesen widersprüchlichen Emotionen lag auch noch der Nebel leichter Verwirrung. Alles, was er wirklich wusste, war, dass er diesen beiden fremden Leuten einen ganzen Haufen Geheimnisse über sich und seine Leute anvertraut hatte – er, Harry Long, der stets misstrauische, vorsichtige, der aalglatte und geschmeidige Hehler der Maraalii – ausgerechnet er, der lügen konnte wie gedruckt – für den Lügen geradezu wie Atmen war.

Coletta und Will hatten die Innenbeleuchtung des Wagens eingeschaltet und beugten sich über eine Karte. Harry, der über die Sitzlehnen hinweglugte, glaubte zumindest, dass es eine Karte war.

Aber auf seine Frage antworteten die beiden nicht. Stattdessen fragte Coletta ihn nach seiner Möglichkeit, mit Inali geistigen Kontakt aufzunehmen.

Inali hat ihnen auch vertraut, dachte Harry erstaunt. Kein Wunder eigentlich – sie holten sie aus der Bude dieses Sparrow heraus und – 

»Ich – ähm – von mir aus geht’s nicht, Ma’am«, erwiderte er.

»Du brauchst mich nicht ›Ma’am‹ zu nennen«, sagte sie mit leisem Lachen. »Coletta genügt.«

»Also, nur sie kann mir fliegende Bilder senden, wenn Sie verstehen, was ich meine … Coletta. Aber wenn dieser … dieser KERL ihr das Amulett weggenommen hat, dann …«

»Du meinst, so wie Sparrow es tat. Du hast das Amulett bei ihm gefunden und konntest es ihr geben – vorhin?« Das war Clovis’ immer noch harte Stimme.

»Ja«, sagte Harry. »Ich hätte es lieber behalten sollen … denn es genügt, wenn einer von uns beiden es hat – sie spürt es, wenn ich es habe, und dann …«

»Moment mal! Kann Inali wirklich nur dann Verbindung mit dir aufnehmen, wenn das Amulett bei ihr oder bei dir ist?«

»Nun ja, Sir … Ich weiß es nicht ganz genau. Es gibt ihr Kraft, wissen Sie? Inalis Selbstvertrauen ist nicht sehr groß. Aber ich glaube, ihre Gabe ist im Grunde in ihr, und es genügt, wenn sie es wirklich will. Bloß … wenn man sie einschüchtert – oder sogar schlägt … dann zieht sie sich zurück.«

»Dieser Sparrow hat sie wie einen Hund behandelt«, warf Coletta finster ein. »Sie war voller Peitschenstriemen, als wir sie – fanden.«

Harry krümmte sich leicht und verfärbte sich. »Ich hab das befürchtet«, flüsterte er.

»Nun gut«, sagte Clovis rau. »Also schau dir das hier an, Harry. Wir haben zwei Gründe, die uns vermuten lassen, wohin er will, unser alter Finsterling, und … Harry? Was ist los?«

Der Junge war zusammengezuckt, und jetzt presste er Daumen und Zeigefinger an seine Nasenwurzel. Coletta begriff; sie stieß ihren Will an und bedeutete ihm, ruhig zu sein. »Inali«, flüsterte sie nur.

Wenig später atmete Harry Long tief durch und lächelte sogar schwach. »Sie … sie lebt! Sie sandte mir … unser Erkennungszeichen. Ist nur eine Farbe – Himmelblau – und sie kam aus westlicher Richtung.«

»Er lässt es also zu«, knurrte Will. »Das gefällt mir nicht.«

»Ja, es ist anzunehmen, dass er davon weiß und es unterdrücken könnte, wenn er wollte«, stimmte Coletta zu.

»Das kann nur bedeuten, dass er WILL, dass wir ihm folgen. So wie schon die ganze Zeit zuvor.« Clovis fingerte am Zündschlüssel herum, wie er es immer tat, wenn er nervös war. Dann packten seine Hände das Lenkrad, sein Gesichtsausdruck war voller Grimm.

»Aber diesmal machen wir ihm einen Strich durch die Rechnung! Du kennst doch die Fabel vom Hasen und vom Igel, Coletta?«

Sie nickte und grinste. Harry blickte verwirrt von ihr zu ihm, und Will hielt dem Jungen abermals das Papier unter die Nase.

»Davon weiß er nichts, unser X-Bomber – ich bin fast sicher. Wir erhielten dies von einem Freund. Unsere Nachforschungen ergaben, dass die Linie von Kansas City nach Nevada führt – genau genommen zu einem ganz bestimmten Ort: Area 51, wenn dir diese Bezeichnung etwas sagt, Harry. Und es gibt unseres Erachtens noch einen Grund, warum er anschließend nach Arizona will: Sein Bruder sitzt in Phoenix in einer Todeszelle. Soll bald hingerichtet werden. Wann ist der Termin, Coletta?«

»Am 11. August, glaube ich.«

Harry blickte wie hypnotisiert auf das Papier, das wie ein ganz normales Thermofaxblatt aussah … er sah eine schwarze Schlangenlinie, darunter eine in groben Strichen ausgeführte Karte des Mittleren Westens und Südwestens der USA, und … plötzlich stieß er einen erstickten Laut des Erstaunens aus.

Wills und Colettas Augen hefteten sich ebenfalls auf das Papier. Eben noch war da eine völlig normale Tintenstrahl-Linie eingezeichnet gewesen – jetzt leuchtete sie in einem düsteren Rot, und genau unter ihr war noch eine zweite sichtbar, wie eine Art Echo oder ein Phantombild. Eine rötliche Doppelschlange wand sich über das Blatt bis ins Herz Arizonas hinein … Dann erlosch diese Vision wieder. Aber sie hatten sie alle drei gesehen.

»Inali«, stieß Harry hervor, »das war meine Inali. Sie …« Er schluckte, holte tief Luft und sagte dann in völlig verändertem Ton – ernst und fest –: »Mister Clovis, Sir … Coletta – ich habe nachgedacht und ich will bei Ihnen bleiben. Ich werde mit Ihnen bis zum Schlund der Hölle gehen, um Inali zu finden. Denn Sie müssen wissen: Ich liebe Inali.«

Clovis nickte. »Gut«, sagte er knapp. »Dann sind wir ein Team.« Seine Finger trommelten kurz auf dem Lenkrad herum, und dann fügte er hinzu: »Dieses mordende Monster will, dass wir ihm folgen wie Hunde auf der Rennbahn dem Stoffkaninchen – immer da lang, wo er es will, bis er die Falle um uns herum zuschnappen lässt – aber wir schlagen ihm ein Schnippchen. Wir werden direkt von A nach B gehen, d.h. fliegen. So gelangen wir zu einem für ihn unerwarteten Zeitpunkt zur Area 51. Und wenn wir erst einmal dort sind … es gibt immer Mittel und Wege, auch solche, die einen in das geheimste und verschwiegenste Areal dieses Landes bringen. Inzwischen wirst du, Coletta, weiter Informationen sammeln. Nach dem, was diesem armen Schwein in Two Bridges zugestoßen ist, lässt sich vermuten, dass unser X-Bomber noch weitere ›Gelegenheitsmorde‹ auf dem Gewissen hat. Außerdem solltest du noch eine E-Mail an Jim Tark schicken, Schätzchen …«

Er ließ den Motor an und startete schneidig. Sein Zorn auf Harry Long war verflogen – er vermutete sowieso, dass sich so einiges in ihm aufgestaut hatte, was sich entladen musste –ja, so einiges, was nicht direkt mit dem Jungen zu tun hatte – doch nun war er wieder Will Clovis, jeder Zoll ein Reporter auf der Jagd nach einer Story. Im Grunde wusste er natürlich, dass dies hier längst viel mehr war als das …

»Ein guter Mann, dieser Agent Mulker. Kann nur hoffen, dass er und seine Partnerin heil aus dieser Sache herauskommen …«, sagte Will nach einer Weile versonnen.

Sie fuhren eine lange Zeit, und in ihrem Rücken begann sich bereits das Morgengrauen auszubreiten wie eine perlfarbene Decke, als Harry eine Frage wagte.

»Wenn wir ein Team sind, Mister Clovis, dann wäre es vielleicht gut, wenn Sie mir von Ihren Erfahrungen und Erlebnissen berichten würden.«

»Stimmt.« Will nickte Coletta zu, und sie war es, die dem Jungen alles erzählte, was sich ereignet hatte.

Harry schwieg lange Zeit. Er brauchte eine Weile, um all das zu verdauen.

»Coletta«, begann er schließlich mit gedämpfter Stimme, »was glauben Sie, warum … wozu … er meine Inali haben will … dieser …«

Diesmal antwortete Will. »Irgendein barbarischer, dämonischer Kult. Ein Ritual. An einem ganz bestimmten Tag. So grausig es auch klingt: Inali ist vermutlich auserwählt, ein Opfer zu sein. Ein besonderes Opfer. Und da der verrückte Alte sich nicht mit Kleinigkeiten abgibt, wird er vermutlich zugleich ein riesiges Feuerwerk entfachen und der Welt einen Schock verpassen, von dem sie sich nur schwer erholen wird … Bedenken wir immer, dass er keinesfalls ein Einzelgänger ist. Ich könnte mir vorstellen, dass Agent Mulker gerade dabei ist, zu den Wurzeln des Übels vorzustoßen – und die liegen in der Vergangenheit.«

»Im Jahr 1963, um genau zu sein«, ergänzte Coletta sachlich. Aber ihre Hände lagen verkrampft in ihrem Schoß. »Zur Zeit der Babyseuche.«

»Er IST vielleicht doch ein Einzelgänger«, folgerte Harry. »Aber es gibt MÄCHTE, die hinter ihm stehen – die genau diese Eigenart für sich ausnutzen.«

Verblüfft lauschte er seinen eigenen Worten. Noch vor wenigen Tagen hätte er sich niemals vorgestellt, so etwas im Brustton der Überzeugung aussprechen zu können.

»Dieses Fax, Coletta … unterzieh es mal der Sanburne-Spiegelmethode, wenn wir das nächste Mal Halt machen.« Bei diesen Worten griff Will nach einer Zigarette, und Harry rief spontan: »Ich mach das schon, Sir.« Beinahe feierlich zündete er für Clovis eine Zigarette an und reichte sie ihm.

Er begriff es selbst noch nicht ganz, aber er vertraute den beiden. Gemeinsam würden sie es schaffen.

 

*

 

Der Greyhound tauchte in den langen Tunnel ein, und Agent Mulker öffnete die obersten zwei Knöpfe seines Hemdes, weil ihn auf einmal ein Gefühl der Beklemmung überkam. Dies war der einzige ausgebaute Zugang zur Kleinstadt Ezra, die eingeschlossen zwischen schroffen Bergen lag; ansonsten gab es, wie Mulker erfahren hatte, nur noch einen schmalen Gebirgspfad, der ebenfalls in die Stadt hinein und aus ihr herausführte. Mit dem Greyhound kam man von Süden her, erreichte eine gewundene Straße und fuhr auf ihr bis zu den ersten Blockhäusern und Wellblechhütten von Ezra.

Der Himmel war düster und bedeckt, aber irgendwie glaubte Mulker, dass er sich hier auch bei strahlendem Sonnenschein nicht wohlfühlen würde. Ezra und seine unmittelbare Umgebung gehörten zu den Orten, die immer düster wirken.

Mit wachsendem Unbehagen sah Mulker die vernachlässigten Wiesen links und rechts der Straße. Die zweite Heuernte hätte längst eingebracht sein müssen … anscheinend hatten die Bewohner Ezras Wichtigeres zu tun.

Außer dem FBI-Agenten saßen nur noch drei, vier verhutzelte alte Leute im Bus. Er hatte sie unauffällig gemustert, aber nichts Ungewöhnliches an ihnen feststellen können. Trotzdem fühlte er sich verfolgt und beobachtet … es war schon sonderbar, sich vor den eigenen Kollegen in Acht nehmen zu müssen.

Er wusste nicht, ob man ihm etwa schon auf der Spur war … während seiner langen Fahrt hierher hatte er oft herumgerätselt, was oder wer hinter dem seltsamen Verhalten seines Chefs und der anderen stecken mochte. Konnte er überhaupt noch jemandem trauen – außer Callis? Diese Gedanken hatten ihn dazu gebracht, sich versteckt zu halten, die Verkehrsmittel häufig zu wechseln auf seiner Reise und sich überhaupt wie ein flüchtiger Verbrecher zu benehmen …

Urplötzlich hatte sich sein Leben radikal verändert. Und dies war mehr als eine Verschwörungsphantasie. Ihm war auch der Einfall gekommen, dass es damals, vor sechsunddreißig Jahren, hier in Ezra ähnlich gewesen sein musste: Auch damals hatte das FBI eine höchst zwielichtige Rolle gespielt, um es einmal vorsichtig auszudrücken.

Aber viel schlimmer als der Verfolgungswahn waren die Träume … die – Erinnerungen. Immer wieder und wieder, sobald Agent Mulker die Augen schloss, sah er Beulah Potter vor sich, hingeschlachtet und auseinandergenommen wie das Opfer eines grausigen Kultes. Und dieses – Monster musste sie kurz darauf tatsächlich ganz und gar verschlungen haben. Eine andere Erklärung gab es nicht für ihr »Verschwinden«.

Warum hatte es ihn, Mulker, wohl verschont? Vielleicht war es einfach schon satt, dachte der FBI-Agent zum hundertsten Mal. KEIN sehr heroischer Gedanke. Und dann dachte er zum tausendsten Mal: Hoffentlich hat dieser Clovis meine Nachricht bekommen. 

Schwerfällig rumpelte der Greyhound-Bus über die »Hauptstraße« Ezras, die fast nur aus Schlaglöchern bestand. Vor dem Postamt, das zugleich städtische Einrichtungen beherbergte, war die Fahrt zu Ende, und Mulker verließ den Bus, sobald dieser mit einem Schnaufen zum Stehen gekommen war. Er rief sich alle Details ins Gedächtnis zurück, die er über die Stadt wusste, und machte sich dann eilig auf den Weg zu »M.s Coffeehouse«, wo er Agent Callis zu treffen hoffte.

Das Postamt war eins der wenigen Gebäude aus Naturstein in Ezra; in ihm befanden sich unter anderem auch die öffentliche Bücherei und das Stadtarchiv.

Das junge Mädchen, das sich zwischen den bis an die Decke reichenden, staubigen Bücherregalen hin- und herbewegte, machte den etwas unsicheren Eindruck eines Fremdlings, und dieser Eindruck täuschte nicht: Moaire Molden war fremd in der Stadt Ezra; sie suchte im Rahmen einer Projektarbeit nach Informationen über das Phänomen »Bewohner in isolierten Gegenden«.

Gleich zu Beginn der Semesterferien war sie von Atlanta hierhergereist und hatte sich in die Arbeit gestürzt. Zwar hatten ihre Kommilitonen sie bestürmt, doch lieber etwas Lustiges mit ihnen zu unternehmen, nach Florida zu fahren oder sich die Westküste anzuschauen, doch die attraktive junge Frau hatte seltsamerweise alle Freizeitangebote strikt abgelehnt.

Sie hatte gehofft, dass die einsame Projektarbeit hier »am Ende der Welt« sie ablenken würde von gewissen Geschehnissen, die noch gar nicht so lange zurücklagen.

Aber wenn man sich Moaire Molden näher anschaute, merkte man, dass sie nicht nur etwas unsicher wirkte, sondern ausgesprochen nervös, beinahe fahrig. Beispielsweise kaute sie Fingernägel – und diese schlechte Angewohnheit hatte sie eigentlich schon im Alter von acht Jahren abgelegt.

Mit einem Seufzer und einem leichten Knall klappte Moaire einen dicken Wälzer über die Geschichte Ezras zu. Nein, es hatte einfach keinen Zweck. Heute konnte sie sich überhaupt nicht konzentrieren, und sowieso trug die düstere, beklemmende Atmosphäre der altertümlichen kleinen Stadt nicht zu ihrer Entspannung bei.

Sie hätte sich nicht träumen lassen, dass es in den hypermodernen USA so etwas geben konnte, obwohl sie natürlich von den Amish wusste und anderen Religionsgemeinschaften, die darauf bestanden, im vorigen Jahrhundert zu leben.

---ENDE DER LESEPROBE---