MUSIK. Ein Streifzug durch 12 Jahrhunderte -  - E-Book

MUSIK. Ein Streifzug durch 12 Jahrhunderte E-Book

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Beschreibung

Wann wurde die Notenschrift erfunden, und warum ist die Musik, die wir heute im Konzertsaal hören, ohne sie nicht denkbar? Was verbirgt sich hinter dem Mythos Beethoven, wie wurde der Lkw-Fahrer Elvis Presley zum "King of Pop", und warum bezeichnete man die Cembalistin Wanda Landowska als ersten Star der "Alten Musik"? Welche Bedeutung hatten Jam Sessions für die Anfänge des modernen Jazz? Ist "Barock" ein Schimpfwort oder eine Epochenbezeichnung? Wie veränderte die Erfindung von Schallplatte, Radio, CD und Internet unseren Umgang mit Musik? Diese ungewöhnliche Musikgeschichte in Schlaglichtern bietet eine Antwort auf diese und viele andere Fragen. In rund zweihundert erzählenden Kurzkapiteln auf jeweils einer Doppelseite werden zentrale Entwicklungen, Ereignisse, Werke und Personen vorgestellt: anschaulich, verständlich und auf neuestem wissenschaftlichen Stand. Der Streifzug reicht von der frühen Mehrstimmigkeit bis zur elektronischen Musik, von Bach bis zu John Cage und Miles Davis, vom Minnesang bis zu Techno und House. Besonderheiten des Buches, die es von anderen musikgeschichtlichen Darstellungen für ein breites Publikum unterscheiden, sind die ausführliche Behandlung der Musik seit 1900 und der Einbezug von Jazz, Pop und Weltmusik. Die gesellschaftlichen und medialen Entwicklungen bieten reichlich Anknüpfungspunkte, um Musikgeschichte kurzweilig und unterhaltsam zu erzählen. Diese Geschichten bleiben im Kopf! - Weiter Horizont: Klassik, Pop, Jazz, Weltmusik, moderne Medien - Prächtige, attraktive vierfarbige Bebilderung - Geschichten, die im Kopf bleiben und Spaß machen - Ein Buch für Musikinteressierte und alle, die es werden wollen!

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Seitenzahl: 797

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Die Autoren

Claire Badiou, Max Peter Baumann, Tobias Bleek, Camilla Bork, Felix Diergarten, Marie-Agnes Dittrich, Sabine Ehrmann-Herfort, Wolfgang Fuhrmann, Roger Harmon, Martin Kirnbauer, Michael Klaper, Ricarda Kopal, Daniel Lettgen, Stefan Morent, Ulrich Mosch, Martin Pfleiderer, Jan Philipp Sprick, Peter Wicke

Gefördert von der Ernst von Siemens Musikstiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Die hervorgehobenen Fachbegriffe sind mit einem Glossar verlinkt.

eBook-Version 2019

© 2018 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel

Gemeinschaftsausgabe der Verlage Bärenreiter, Kassel, und Henschel Verlag in der E. A. Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig

Umschlaggestaltung: +CHRISTOWZIK SCHEUCH DESIGN

Lektorat: Jutta Schmoll-Barthel und Daniel Lettgen

Korrektur: Kara Rick, Eberbach

Bildredaktion: Daniel Lettgen und Diana Rothaug

Notensatz: Tatjana Waßmann, Winnigstedt

ISBN 978-3-7618-7215-4

DBV 209-07

www.baerenreiter.com

www.henschel-verlag.de

eBook-Produktion: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Antike Anfänge

Musikgeschichte (fast) ohne Musik – Die Antike

Mousike – Musik

Begleiter für Gesang und Tanz – Instrumente

Was die Zeit überdauert – Überlieferung

Musik festhalten – Schrift

Die Weltordnung in der Schmiede – Antike Musiktheorie

9. bis 14. Jahrhundert

»Christliches Zeitalter« oder »Mittelalter«? – Das 9. bis 14. Jahrhundert

Musik übermitteln – Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Die Anfänge des Schreibens von Musik – Neumennotation

Römische Liturgie im Frankenreich – Der gregorianische Gesang

Melodie als Textausdruck – Das gregorianische Offertorium »Vir erat in terra«

Unterweisung und Beurteilung statt philosophischer Anschauung – Musiktheorie

Große Kunst in kleiner Form – Trobadors, Trouvères, Minnesänger

Süßer Donner – Die Orgel

»Einträchtig auseinanderklingender Zusammenklang« – Frühe Mehrstimmigkeit

Kompositionen von bisher nicht gekannter Pracht – Das Ereignis Notre-Dame

»Nicht für das gewöhnliche Volk geeignet« – Die Motette

Ars nova – Neue Kunst im neuen Jahrhundert

Verfestigung der Formen – Guillaume de Machaut und das französische Lied

Seelenheil über den Tod hinaus – Machauts »Messe de Nostre Dame«

Endlich alles aufschreiben können – Ars subtilior

Ein strahlender Meteorit – Die Musik des Trecento

Meister Francesco – Der blinde Organist aus Florenz

15. und 16. Jahrhundert

Musik in wechselnden »Klanglandschaften« – Das 15. und 16. Jahrhundert

»Jubilierende Engel« – Neue Musik in England

Ein Gipfeltreffen? – Guillaume Dufay und Gilles Binchois

Kunst am Bau – Dufays Domweih-Motette

Immer wieder neu – Gilles Binchois und die höfische Chanson

Der große Gesang und der bewaffnete Mann – Formen der Messe

»Ein Meyster ob allen Meystern« – Conrad Paumann und die Instrumentalmusik

Die Sängerkapellen – Umschlagspunkte der Musikgeschichte

Noten-ABC – Die Erfindung des Musikdrucks

Der Kapelle des Ercole d’Este die Krone aufsetzen – Josquin des Prez in Ferrara

Ein Geschenk Gottes – Musik und Reformation

Alles aus einer Hand – Musiklehre und Musiklernen

Zwischen Hofdame und Kurtisane – Musizierende Frauen

»Al modo d’Orpheo« – Musik der Renaissance

Zum Privatvergnügen – Die Laute

»Allein und gedankenschwer« – Ein Madrigal von Giaches de Wert

»Tere«, »lere«, »chara« – Instrumentalmusik in Venedig

»Singen über dem Buche« – Improvisierter Kontrapunkt

Nicht für jedermann – Chromatik und Enharmonik

»Dies sanctificatus« – Eine Motette von Giovanni Pierluigi da Palestrina

Ein Kosmopolit in München – Orlando di Lasso

Geistliche Sinfonien – Venedig, der Markusdom und die Mehrchörigkeit

17. Jahrhundert

Aufbruch in eine neue Zeit – Das 17. Jahrhundert

Große Emotionen – Monteverdis »L’Orfeo« und der Beginn der Oper

Die Oper – Pures Vergnügen für die Eliten

Unvollkommene moderne Musik? – Monteverdi und Artusi

Theater der Leidenschaften – Die Epoche des Barock

»Zu guten Sitten und Lust dienende Lieder« – Deutsche Liedkunst um 1650

Den Verstand in den Fingerspitzen – Girolamo Frescobaldi, Organist und Cembalist

Nicht nur Gotteslob – Geistliche Musik in Rom um 1700

Von Italien geprägt – Heinrich Schütz

Musik als Klangrede – Musikalische »Figurenlehre«

Ein Italiener in Paris – Jean-Baptiste Lully

Der König tanzt – Das Musikleben am Hofe Ludwig XIV.

Der »eitle Irrtum der Männer« – Frauen im Musikleben

»Les Voix humaines« – Französische Instrumentalmusik um Marin Marais

Auf den Arm genommen – Die Violine

Der britische Orpheus – Henry Purcell

18. Jahrhundert

Zwischen »Barock« und »Klassik« – Das 18. Jahrhundert

Ein Mann für alle Jahreszeiten – Antonio Vivaldi

Galante Inder, wildes Orchester – Jean-Philippe Rameau

Genie auf geordneter Bahn – Johann Sebastian Bach

Wie ein großer Garten – Das »Wohltemperierte Klavier«

Musik mit Tasten – Das »Clavier«

Barocker Self-Made-Man – Georg Friedrich Händel

Halleluja! – »Der Messias« und Händels Oratorien

Orte der Musik – Hof, Kirche und Konzert

Repräsentanten der Aufklärung – Telemann und Mattheson

Publizistik und Polemik in Paris – Jean-Jacques Rousseau

»Die ganze wundertätige Kraft des Volkes« – Herder und das Volkslied

Moralisierung des Musiktheaters – Metastasio und die Opera seria

Antike als Maßstab – Gluck und die Opernreform

Vom »Lärmkiller« zur höchsten Gattung – Die Sinfonie

Der Revolutionär in der Einöde – Joseph Haydn

Haydn in London – Die Sinfonie mit dem Paukenwirbel

Gespräche unter Freunden – Kammermusik

Das erwachsene Wunderkind – Wolfgang Amadé Mozart

Kunterbuntes Welttheater – »Die Zauberflöte«

Tonkünstler oder Taschenspieler? – Der Virtuose und das Konzert

19. Jahrhundert

Der Aufstieg der Kunstmusik – Das 19. Jahrhundert

Schlüssel zum Werk – Die »Erfindung« der Studienpartitur

Wien – Hauptstadt des Streichquartetts

Musik als Utopie – Beethovens 9. Sinfonie

»Durch Leiden zur Freude« – Mythos Beethoven

Blick in die Werkstatt – Beethovens Skizzen

»Ruhm ohne Grenzen« – Rossini und die italienische Oper

»Phantasiereich und vielseitig« – Franz Schubert

Die Geburt des Kunstliedes – Schuberts »Gretchen am Spinnrade«

»Unendliche Sehnsucht« – Warum ist die Musik »die romantischste aller Künste«?

»Einwirkung höhrer Naturen« – Webers »Freischütz« und die romantische Oper

Mit dem Orchester eine Geschichte erzählen – Hector Berlioz’ »Symphonie fantastique«

»Eine völlige Neubelebung der Klaviermusik« – Frédéric Chopin und das Nocturne

Der Virtuose im Konzertsaal – Niccolò Paganini und Franz Liszt

Grand Opéra – Eine Oper für Paris

»Es flogen ihm hundert Herzen zu« – Mendelssohn Bartholdy in der Musikstadt Leipzig

Robert Schumann – »Romantischer« Komponist und Publizist

Aufsehenerregend und lukrativ – Adophe Sax und die »Erfindung des Saxophons«

Giuseppe Verdi – Musikalischer Botschafter Italiens

Richard Wagner – Von der Oper zum Musikdrama

Der Liebe ein Denkmal – Richard Wagners »Tristan und Isolde«

Beethovens Erben – Brahms oder Bruckner?

Sinfonische Dichtung als Programmmusik – Franz Liszt und Richard Strauss

Die »Zauberflöte« im Wohnzimmer – Bürgerliche Hausmusik

Der Walzerkönig – Johann Strauß

Die Operette – Die »kleine Schwester« der Oper?

Musikindustrie – Aus Noten werden Banknoten

Star mit Taktstock – Der Aufstieg des modernen Dirigenten

Musik im Schatten des Eiffelturms – Die Pariser Weltausstellung 1889

»In those cruel slavery days« – Kultur und Musik der Afroamerikaner

Gustav Mahler – Emotionale Abgründe an der Schwelle zur Moderne

Das Innenleben der Musik – Hugo Riemann und die Musiktheorie um 1900

Gründervater der universitären Musikwissenschaft – Guido Adler

Tin Pan Alley – Die Songfabrik

20. und 21. Jahrhundert

Zwischen Herausforderung und Gebrauchsgegenstand – Musik im 20. und 21. Jahrhundert

Mit dem Phonographen um die Welt – Speicherung und Archivierung von Klängen

Flucht aus Wagners Schatten – Debussy und die Befreiung der französischen Musik

Von der Bühne ins Wohnzimmer – Enrico Caruso und die Schallplatte

Der erste Star der Alten Musik – Wanda Landowska

Béla Bartók – Komponist und Volksliedforscher

Vom Hörensagen – Mündliche Überlieferung von Musik

Vom Varieté zum Kinopalast – Musik im Stummfilm

Die Suche nach dem »Ungesagten« – Schönbergs »Kammersymphonie« op. 9

Meilenstein der Moderne – Strawinskys »Sacre du printemps«

»Alles ist hin«? – Schönbergs Abkehr von der Tonalität

Künstlertragödie als Alpensinfonie – Richard Strauss

Von New Orleans nach Chicago – Die Anfänge des Jazz

»Reinigendes Gewitter« – Europas Komponisten im Jazz-Fieber

Gegen das bürgerliche Musikleben – Kritik und Reform des Konzerts

Befreiung durch Bindung – Die »Komposition mit 12 Tönen«

1923 – Ein Jahr im Fokus

Zum Abendbrot erklingt Beethoven – Musik im Radio

Nichts als Krach – Das Schlagzeug

»Bach mit Pocken«? – Strawinsky und der Neoklassizismus

Blick über den Ozean – Charles Ives und die amerikanische Musik

Big Bands – Der Inbegriff des Swing

Eine Oper über die Oper – Brecht und Weills »Dreigroschenoper«

Der »Herzog« des Jazz – Duke Ellington

Third Stream – Jazz erobert den Konzertsaal

Kultur in Bewegung – Tanz als Wissenssystem

Komponieren unter Stalin – Dmitri Schostakowitsch

Musik als Propaganda – Die Musikpolitik der Nationalsozialisten

»Kraft durch Freude« – Schlager unterm Hakenkreuz

Jam Sessions – Die hohe Kunst des Improvisierens

Befreiung des Klangs – Edgard Varèse

Musik aus der Retorte – Serielles Komponieren

Musik ganz ohne Töne? – John Cage und der Zufall

Elvis Presley – The King of Pop

Musik ohne Musiker – Stockhausens »Gesang der Jünglinge«

Miles Davis – »Birth of the Cool«

Auf den Spuren »fremder« Klänge – Musikethnologie

Ihrer Zeit voraus? – Musikalische Avantgarde

Dramatisierung der Bilder – Musik im Tonfilm

Avantgarde Jazz – Der Aufbruch der 1960er-Jahre

»Zustände, Ereignisse, Wandlungen« – Klangkomposition

Soundmagier am Mischpult – Tom Dowd

Jazz global – Die weltweite Ausbreitung des Jazz

Oper als »totales Theater« – Bernd Alois Zimmermann

Grenzgänger zwischen den musikalischen Welten – Leonard Bernstein

The Beatles – Aufbruch zu neuen Ufern

Noch Partitur oder schon Bild? – Grafische Notation

Neue Ordnungen braucht der Klang – Erweiterung des musikalischen Materials

Mythos einer Generation – The Woodstock Music & Art Fair

Reduzieren aufs Minimum – Minimal Music

Fusion – Die andere Seite des Jazz

»Lokale Musik, nicht von hier« oder Verschmolzenes – Weltmusik-Konzepte

Kulturübergreifende Identität – Musik der Türken in Deutschland

Blick ins Innere des Klangs – Spektrale Musik

»Anarchy in the UK« – Die Sex Pistols

Den Klang in die Hand nehmen – Wolfgang Rihm

»Da, Da, Da« – Die Neue Deutsche Welle

Klänge auf Wanderschaft – Die musikalische Eroberung des Raums

In the tradition – Jazz zwischen Museum und Avantgarde

Wer darf beanspruchen, modern zu sein? – Postmoderne

HipHop – Von der Straßenkultur zum globalen Jugendstil

House und Techno – Die elektronische Tanzmusik

Wirklichkeit gewordene Utopie – Mikrotöne

Industrielle Verwertung von Musik – Popmusik im Medienverbund

Musik 2.0 – Popmusik im Internet

Wer spielt? – Komponieren und neue Medien

Vom Besonderen zum Alltäglichen – Musik in allen Lebenslagen

Anhang

Die Autorinnen und Autoren

Namensregister

Sachregister

Einleitung

Dieses Buch bietet einen Streifzug durch 12 Jahrhunderte Musikgeschichte. Statt einer durchgehenden Geschichte, die auf Vollständigkeit zielt, werden 183 einzelne Geschichten erzählt: von Menschen und ihrer Musik, von künstlerischen Ereignissen, von Aufführungen, von Instrumenten oder von Orten, wo Musik gemacht wird – kurz: von Dingen, die für das jeweilige Zeitalter wichtig und charakteristisch erscheinen. Gleichwohl ergeben all diese einzelnen Geschichten zusammen, ähnlich einem Mosaik, ein facettenreiches Bild der Musikgeschichte, das auf dem neuesten Stand der Musikforschung Wesentliches auf anschauliche und verständliche Weise vermitteln möchte.

Warum ein »Streifzug«? Zum einen, weil mehr in kurzer Form nur schwer möglich ist – zu umfangreich ist das Gebiet, zu vielfältig sind die Phänomene, selbst wenn man sich wie hier im Wesentlichen auf Europa konzentriert. Zum anderen, weil diese Weise der Reduktion der geschichtlichen Komplexität erlaubt, Geschichte anschaulich zu erzählen. Die Form des Streifzugs lädt die Leserinnen und Leser dazu ein, sich selbst einen Weg durch das Buch zu bahnen und nach Lust und Laune zwischen den Texten hin und her zu springen.

Geschichte zu schreiben – auch einzelne Geschichten wie in diesem Buch – setzt Dokumente voraus, die uns etwas über die Vergangenheit verraten. Musik ist jedoch bekanntlich vergänglich. Und lange Zeit ließ sich, wenn sie verklungen war, allenfalls noch der Eindruck, den sie hinterlassen hatte, in Worte fassen. Die klingende Musik selbst blieb unwiederbringlich verloren. Zwei rund tausend Jahre auseinanderliegende Erfindungen haben das grundlegend geändert: zunächst im ausgehenden 9. Jahrhundert die Erfindung der musikalischen Schrift und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann jene der Klangspeicherung mit technischen Mitteln.

Gäbe es die musikalische Notation nicht, so wüssten wir heute vielleicht aus bildlichen Darstellungen, aus Beschreibungen von Zeitgenossen oder durch möglicherweise erhaltene Instrumente etwas von der Musik von vor tausend Jahren oder von den Werken Johann Sebastian Bachs und Ludwig van Beethovens. Wir hätten jedoch keine Ahnung davon, wie diese Musik aufgebaut war, geschweige denn, wie sie vermutlich einmal geklungen hat. Erst die Schrift gestattete, Musik »festzuhalten«. Die Notation erlaubt es, sich eine ziemlich genaue Klangvorstellung von Musik zu verschaffen und sie singend oder spielend zum Klingen zu bringen, selbst wenn man noch nie einen Ton von ihr gehört hat – und dies auch noch nach Jahrhunderten. Ohne die Möglichkeit, musikalische Gedanken schriftlich festhalten und ausarbeiten zu können, wären auch komplexe Musikformen wie die Vokalpolyphonie oder umfangreiche Werke wie Mozarts Don Giovanni oder Gustav Mahlers weit mehr als eine Stunde dauernde 3. Sinfonie nie entstanden. Und der im 16. Jahrhundert erfundene Notendruck schließlich hat es möglich gemacht, notierte Musik wie Bücher in Form von Drucken in großer Zahl herzustellen und zu verbreiten.

Gäbe es die zweite geschichtsmächtige Erfindung – die Klangspeicherung – nicht, so hätten wir heute keine genaue Vorstellung davon, wie Ella Fitzgerald, die Beatles oder eine ungarische Bäuerin vor 100 Jahren gesungen oder wie die Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler gespielt haben. Ohne solche Geräte wären all jene Formen der Musik, die keine Schriftlichkeit kennen – und das ist ein beträchtlicher Teil – sowie all das, was uns die Partitur eines notierten Werkes nicht verrät, zum Verschwinden auf Nimmerwiederhören verdammt. Aufnahmen erlauben uns aber nicht nur, die Volks-, Popular- und Kunstmusik der jüngeren Vergangenheit klingend zu erleben. Als »Tondokumente«, die von der Zeit ihrer Entstehung zeugen, gestatten sie auch, Geschichte und Geschichten der klingenden Musik nachzuzeichnen, etwa jene der Chopin-Interpretation, des Swing oder von musikalischen Ereignissen wie dem Woodstock-Festival.

Musikgeschichte ist kein kontinuierlicher und einheitlicher Strom. Wie die politische Geschichte, die Sozial- und die Wirtschaftsgeschichte ist auch sie geprägt von einem komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte, nicht selten verbunden mit Zufällen. Regional völlig unterschiedliche Entwicklungen mögen unvermittelt nebeneinanderstehen, »Blütezeiten« auf »Durststrecken« folgen oder plötzliche Wandlungen zu tiefen Einschnitten führen. Die Geschichtsschreibung gliederte den Verlauf der Musikgeschichte vielfach in Epochen wie Mittelalter, Renaissance, Barock, Klassik, Romantik oder Moderne. All diese Bezeichnungen, die ein herausragendes Charakteristikum als kennzeichnend für einen ganzen Zeitraum nehmen, sind aber genau deshalb in vieler Hinsicht problematisch. Das Buch ist daher unterteilt in kalendarische Zeiträume von einem oder mehreren Jahrhunderten Umfang, die – um bei der Metapher des Titels zu bleiben – kreuz und quer durchstreift werden. Renaissance, Romantik oder Moderne lassen sich so unabhängig von der Frage der Epochengliederung als historische Phänomene thematisieren.

Die 12 Jahrhunderte seit der Erfindung der Notenschrift werden mit zur Gegenwart hin zunehmender Ausführlichkeit dargestellt. Übergreifende Aspekte wie die musikalische Schrift, der soziale Ort der Musik oder die Musikinstrumente kehren dabei wieder und durchziehen das Buch als thematische Fäden von den Anfängen bis zur Gegenwart. Und immer wieder werden Musikstücke, die eine Schlüsselrolle gespielt haben, in den Mittelpunkt gerückt. Vorangestellt ist als Prolog ein Abschnitt über die Anfänge in der griechischen Antike, aus der unser Musikbegriff stammt. Da mit dem Einsatz der Klangspeicherung alle Formen klingender Musik zunehmend besser dokumentiert sind und wir deshalb auch die Geschichte von mündlich überlieferten Musikformen auf Dokumente gegründet schreiben können, ist der mit Abstand umfangreichste Teil des Buches dem 20. und 21. Jahrhundert gewidmet. Während sich die Darstellung bis zum späten 19. Jahrhundert hauptsächlich (aber nicht nur) auf den Bereich der westlichen Kunstmusik beschränkt, wird hier die Perspektive auch auf Volksmusik, Jazz und Popularmusik bis hin zur Weltmusik erweitert.

Das hier vorgelegte Mosaik einer Musikgeschichte ist nicht allein das Werk der beteiligten 18 Autorinnen und Autoren. Um es auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung ausarbeiten zu können, musste es sich zwangsläufig auf die Arbeiten zahlreicher Forscherinnen und Forscher stützen, deren Erkenntnisse in die Texte eingeflossen sind. Dem Charakter des Buches entsprechend können diese – ebenso wie die in den Texten vorkommenden Zitate – nicht im Einzelnen nachgewiesen werden. Verwendete Fachbegriffe werden in einem Glossar erklärt, auf das man durch Anklicken der Begriffe geführt wird. Wo das nicht der Fall ist, hilft das Sachregister am Ende des Buches weiter. Durch Volltextsuche finden Sie die entsprechenden Begriffe.

Tobias Bleek und Ulrich Mosch,im Sommer 2018

Antike Anfänge

Orpheus besänftigt wilde Tiere, römisches Mosaik, 4. Jahrhundert © akg-images/Hedda Eid

Musikgeschichte (fast) ohne Musik – Die Antike

Im Mittelpunkt der Musikgeschichte steht normalerweise die tatsächlich klingende Musik. Von ihr sind aus den einzelnen historischen Epochen unterschiedlich viele Zeugnisse überliefert. Wollen wir die Geschichtsschreibung zurück bis auf die Musik der Antike ausdehnen, so stoßen wir auf ein grundsätzliches Problem: Tondokumente aus dieser Zeit existieren nicht. Aber auch, was damals von Musik mittels Ton- und Rhythmuszeichen schriftlich festgehalten wurde, ist fast restlos verloren. Neben Bränden oder Kriegen dürfte daran vor allem das mit der Zeit nachlassende Interesse schuld gewesen sein.

Heute sind lediglich etwa 50 Schriftfragmente mit antiker Musik bekannt – wohlgemerkt aus rund 1500 Jahren Geschichte. Diese kleine Zahl macht zunächst einmal bewusst, wie wenig wir überhaupt von der damaligen Musik wissen. Man stelle sich vor: In 2000 Jahren würde man von Mozart nur noch ein paar Takte der Zauberflöte kennen oder aus der Popularmusik vielleicht ein paar HipHop-Beats. Im Hinblick auf die Antike scheinen wir es demnach mit einem Unding zu tun zu haben: mit Musikgeschichte (fast) ohne Musik.

Wie unbefriedigend die Lage hinsichtlich antiker Musik ist, zeigt sich, wenn man sie mit der seither entstandenen Musik vergleicht. Im frühen Mittelalter nämlich vollzog sich der »Schritt in die musikalische Schrift« ein zweites Mal, und zwar mit neuem Inhalt: dem Kirchengesang. Vor allem vollzog er sich aber auf neuer Grundlage: Man verwendete jetzt nicht mehr Buchstaben, um die Tonhöhen zu bezeichnen, sondern Neumen (später Noten), die die relative Tonhöhe andeuten. Wie wichtig die Art der Schrift für die musikalische Entwicklung war, zeigt sich am Unterschied zwischen der antiken und der seither entstandenen Musik: Die neue Grundlage führte weiter. Seit dem Mittelalter wird sichtbar, wie die Schrift zwischen Gedanken und Klang, Klang und Gedanken vermitteln kann. Dies löste eine gewaltige musikalische Entwicklung aus.

Musik und die Seele

Gemäß griechischer Legende war der Urmusiker Orpheus in der Lage, durch seinen Gesang wilde Tiere und Menschen zu zähmen. Pythagoras soll die Emotionen seiner Zuhörer durch Modus-Wechsel gelenkt haben, und Platon lehrte, dass Verlangen, Zorn und Vernunft spezifischen Intervallen entsprechen und dass durch solche Intervalle die Seele gereinigt wird und aufsteigen kann. Die spirituelle Natur von Musik war also anerkannt, und auch heute noch wird der Musik in der Musiktherapie heilende Kraft zugeschrieben.

Welche Bedeutung musikalische Schriftzeichen in der Antike überhaupt hatten, ist heute schwer einzuschätzen. Klar ist nur, dass sie nicht weiterentwickelt und deshalb schließlich fallengelassen wurden. Zugleich ging damit auch jene Musik verloren, die bis dahin als erhaltenswert empfunden worden war. Dieser Verlust ist auch im Vergleich mit den antiken Schwesterkünsten auffällig. Von der Architektur und der Skulptur jener Zeit sind zahllose Zeugnisse und Monumente überliefert: Man denke an die Akropolis in Athen oder an die antike Stadt Ephesus in der heutigen Türkei. Und noch in unserer Zeit sind die Geschäftsviertel europäischer Städte vielfach mit Zitaten antiker Architektur wie Säulen und Kapitellen geschmückt, und die Theater führen griechische Tragödien auf.

Etwas Vergleichbares hat die antike Musik nicht zu bieten. Aber auch sie wirkt nach, allerdings auf anderer Ebene, nämlich in unserem Musikbegriff. Der antike Musikbegriff beginnt mit dem altgriechischen Eigenschaftswort »mousike«, in dem das Wort »Muse« steckt. Es bestimmt das Hauptwort »téchne« (»Fertigkeit, Kunst«) näher und meint »die Gesamtheit der von den neun Musen ausgeübten verschiedenen Künste«. Im Mittelpunkt des antiken griechischen Musikbegriffs stand die Einheit von Wort (Poesie), Ton (Melodie) und Bewegung (Tanz), wie sie die Solo- und Chorlyrik einst verkörperte. Die Menschen der Antike waren ergriffen von diesen Künsten und legten darüber in Bild und Wort Zeugnis ab. Diese Dokumente gestatten uns heute zu sehen, in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen damals musiziert wurde. Und wir lesen, was die Menschen dabei empfanden und welchen Stellenwert sie der Musik einräumten. Überraschen mag heute, welch große Bedeutung der Musik damals beigemessen wurde. Musikalische Dinge konnten selbst zur Staatsangelegenheit werden.

Zum weiteren Umfeld des Musikbegriffs gehörte auch der Logos (»lógos«). Das Bedeutungsfeld dieses altgriechischen Begriffs ist äußerst breit: Es reicht von »Gespräch« (darin enthalten: »Wort«) über »Zahlenverhältnis« bis hin zu »Verstand« und »Vernunft«. Das Zahlenverhältnis 2:1 ist ein solcher Logos. Er drückt zum Beispiel das Unterteilungsverhältnis einer Saite aus, das die Oktave hervorbringt. Auf dieser Erkenntnis beruhte die antike Zahlenharmonik oder »musica«, die man damals zur theoretischen Philosophie rechnete.

Der antike Musikbegriff umfasste demnach weit mehr als der heutige. Seine Betrachtung führt uns nicht so sehr die Kontinuität vor Augen als vielmehr die Unterschiede und den Bruch zwischen damals und heute. Um uns dem Thema »Musik in der Antike« zu nähern, lassen wir uns also auf etwas Altes/Neues, etwas teilweise Fremdes ein.ΑΩ RHa

Mousikē – Musik

Die Musen, auf die unser Musikbegriff letztendlich zurückgeht, markieren zugleich den Beginn der überlieferten griechischen Dichtung im späten 8. Jahrhundert v. Chr.: Homer ruft in der Ilias die Muse an mit der Bitte, ihn zu seiner Aufgabe zu befähigen, den Trojanischen Krieg zu besingen, und nach den Beratungen der olympischen Götter singen die Musen ihnen »mit schöner Stimme« zu. In der um 700 v. Chr. entstandenen Theogonia (»Entstehung der Götter«) arbeitet Hesiod die antike Vorstellung von den Musen heraus. Ihr Vater ist Zeus, ihre Mutter Mnemosyne (»Gedächtnis, Erinnerung«). In den Musen ist also das, was wir unter Kultur verstehen, gespeichert. Hesiod teilt ihre Namen mit und gestattet uns zuzusehen, wie sie am Berg Helikon im Reigen tanzen und singen. Sie üben also verschiedene Künste zugleich aus. Der Philosoph Platon (ca. 429–347 v. Chr.) gab der Einheit dreier Musenkünste einen Namen: Als Sokrates fragt, »welche die Kunst des Saitenspiels, des Singens und des ›richtigen Schreitens‹ [Tanzens]« sei, lautet die Antwort »mousike«, jenes Wort also, von dem unser Wort »Musik« abstammt.

Die neun Musen auf einem Sarkophag aus dem 2. Jahrhundert (einige mit ihren Attributen dargestellt): Kalliope (epische Dichtung und Wissenschaft, Schriftrolle), Thalia (Komödie, lachende Theatermaske), Terpsichore (Chorlyrik und Tanz), Euterpe (Lyrik, Flöte), Polyhymnia (Gesang), Klio (Geschichtsschreibung, Schreibtafel), Erato (Liebesdichtung, Leier), Urania (Astronomie, Himmelskugel und Zirkel), Melpomene (Tragödie, tragische Theatermaske) © akg-images/Erich Lessing

Die von Platon angedeutete Vereinigung von Musenkünsten zeigt sich in der Gattung der Lyrik. »Lyrik« ist wie »Musik« ein uraltes Wort, das im Laufe der Zeit verschiedene Bedeutungen angenommen hat. Ursprünglich bezeichnete man damit strophische Dichtung, wobei nicht nur das Versschema, sondern auch die Melodie und die Tanzschritte wiederkehren. Diese Dichtung richtet sich oft an ein »Du« oder an ein »Ihr« (das heißt grammatisch an die zweite Person) und wird, begleitet von dem Saiteninstrument Lyra, gesungen. Sollte einem das vertraut vorkommen, so liegt dies daran, dass einiges an der heutigen Musik immer noch dieser Definition entspricht: Viele Popsongs – von Bob Dylans Like a Rolling Stone bis zu Rihannas Umbrella – bedienen sich dieser Anredeform, und die begleitende (akustische oder elektrische) Gitarre ist gewissermaßen die moderne Variante der Lyra.

Die früheste, lediglich in kleinen Textresten überlieferte Lyrik stammt von Sappho und von Alkaios, die im 7. Jahrhundert v. Chr. auf der griechischen Insel Lesbos lebten. Ihre Lyrik trugen sie in den Gruppen, denen sie angehörten, selbst vor. Sapphos Lyrik handelt oft von der Liebe, die des Alkaios oft von der Politik und den Freuden des Weines. Neben der von einer Einzelperson vorgetragenen Lyrik Sapphos und Alkaios’ gab es auch Chorlyrik, die jeweils von einer Gruppe einstudiert, gesungen und getanzt wurde. Einer ihrer prominenten Schöpfer war der griechische Dichter Pindaros (ca. 522–443 v. Chr.). Er feierte damit oft die Gewinner der damaligen sportlichen und künstlerischen Wettkämpfe, zu denen auch die Olympischen Spiele zählten. Die Spiele hatten eine rituell-religiöse Dimension, die in der Chorlyrik nachhallt. Ein weiterer Schauplatz der Chorlyrik war das griechische Drama (Tragödie, Komödie, Satyrspiel), bei dem ein singender und tanzender Chor das Geschehen kommentierte. Außer ein paar Fragmenten von Tragödien des Euripides (ca. 485–406 v. Chr.) hat sich aber kein einziger Ton der Einzel- und Chorlyrik erhalten. Was das Drama angeht, haben neuzeitliche Gattungen wie Oper, Oratorium oder Passion mit dem dort auftretenden Chor versucht, die Chorlyrik des antiken Dramas wiederaufleben zu lassen.

Als der römische Dichter Horaz (65–8 v. Chr.) Jahrhunderte später Strophenmodelle von Sappho und Alkaios übernahm, schuf er nicht mehr gesungene und getanzte Lyrik für Zuschauer und Zuhörer, wie es bei seinen Vorbildern der Fall gewesen war. Vielmehr war seine Dichtung im Handel erwerbbare Kunst zum Lesen. Gleichzeitig wurde ein anderer Aspekt des »mousike«-Begriffs immer mehr herausgebildet, jener der mathematischen Disziplin »musica«. Das ursprüngliche »mousike«-Ideal der Vereinigung dreier Musenkünste ist aber nie erloschen. Es lebt noch heute fort, zum Beispiel in der Flamenco- und Soulmusik oder im Auftreten von Boy- oder Girl-Groups und anderer Popmusiker. Und es wird weiter lebendig bleiben, solange Emotionen in Wort, Melodie, Saitenklang und Bewegung zum Ausdruck kommen.ΑΩ RHa

Begleiter für Gesang und Tanz – Instrumente

Musikantin mit Kithara, Tonstatuette aus Ägina, um 275 v. Chr. © akg-images/Erich Lessing

In der Antike waren vor allem Saiten- und Blasinstrumente von Bedeutung. Mit Saiteninstrumenten begleitete man den Gesang, wobei die Melodie verdoppelt wurde, mit Blasinstrumenten hauptsächlich den Tanz. Auch von einzelnen hoch entwickelten »Werken« für ein Soloinstrument wissen wir, allerdings nur aus Beschreibungen in der Literatur. Mehrstimmiges Zusammenspiel von Instrumenten ist nicht belegt.

Unter den rund 50 aus jener Epoche schriftlich überlieferten Musikfragmenten gibt es einige, die, wie man an den verwendeten Tonzeichen erkennen kann, instrumental gedacht waren und hauptsächlich als Schriftbeispiele in didaktischen Texten dienen. Antike Instrumente hingegen haben sich nicht erhalten. Zwar gibt es noch spärliche Reste, unser heutiges Wissen darüber stammt aber hauptsächlich aus literarischen Texten und aus Abbildungen auf antiker Keramik oder aus Skulpturen.

Saiten- oder Zupfinstrumente – der Bogen kam erst im Mittelalter auf – gab es in zwei Grundformen: Die Kithara war das Instrument der Berufsmusiker (etwa die Phorminx des Homer); die Lyra war das Instrument der Laien (beispielsweise der lang gestreckte Barbitos). Beiden Instrumententypen gemeinsam ist ein Resonanzkörper, von dem sich parallel zwei »Arme« erstrecken, die durch eine Querstange zusammengehalten werden. Die gleich langen Saiten aus Schafdarm sind zwischen Resonanzkörper und Querstange gespannt. Den Resonanzkörper der Kithara bildet ein Holzkasten, jenen der Lyra der Panzer einer Schildkröte. Die Finger der linken Hand des Spielers zupften die Saiten beim Melodiespiel oder dämpften einzelne Saiten, wenn die rechte Hand mit dem Plektron darüber streifte. Bis ins 8. Jahrhundert v. Chr. waren vier Saiten gebräuchlich, danach sieben, die den Tönen eines Modus entsprachen.

Während die Lyra das Instrument der Erziehung und der »Lyrik« war, traten die Spieler der Kithara, die Berufskitharöden, öffentlich auf, auch bei Wettkämpfen. Der berühmteste Kitharöde war Timotheos von Milet (ca. 450–350 v. Chr.). Er war ein Revolutionär und wagte es, bis zu zwölf Saiten auf sein Instrument zu spannen. Dies erlaubte ihm Moduswechsel innerhalb eines Stückes, eine musikalische Kühnheit, die vom Staat als sittengefährdend angesehen und daher verboten wurde. Timotheos’ bekanntestes Werk mit dem Titel Die Perser stellte die Schlacht von Salamis (480 v. Chr.) dar.

Aulosspieler, griechische Vasenmalerei, um 490 v. Chr. © akg-images/Erich Lessing

Das wichtigste Blasinstrument war der Aulos, ein Rohrblatt-Instrument phrygischen Ursprungs, bei dem zwei Rohre mit je vier Fingerlöchern gleichzeitig geblasen werden – zweistimmiges Spiel wäre also möglich gewesen, ist aber nicht belegt. Nebst der Verwendung bei Trinkgelagen (»symposia«) war das Aulos-Spiel eine Wettkampfdisziplin. Die Pythischen Spiele in Delphi gewann der Aulet Sakadas 586 v. Chr. mit einer musikalischen Darstellung des Kampfes zwischen Apollon und dem pythischen Drachen, ein Werk von für damalige Begriffe unerhörter Dramatik. Als Pythischer Nomos sollte es in die Geschichte eingehen: Dieser Nomos (hier so viel wie »Lied«, »Weise«) bildete mehrere Jahrhunderte lang das Pflichtstück bei solchen Wettkämpfen in Delphi.

Musik als Kampfdarstellung

Antike Werke mit bedeutendem Instrumentalanteil wie der Pythische Nomos des Sakadas oder Die Perser des Timotheos waren Kampfdarstellungen. Dies blieb ein beliebtes musikalisches Thema, verbunden mit dem Ausdruck nationalen Selbstbewusstseins. Man denke an Clément Janequins La Bataille (anlässlich der Schlacht von Marignano 1515) oder an Peter Tschaikowskys Ouvertüre 1812 (Erinnerung an den russischen Sieg über Napoleon).

Zu den Blasinstrumenten gehörte auch die »Hydraulis« genannte wassergetriebene Orgel. Sie wurde jedoch nicht mit den einzelnen Fingern, sondern aufgrund der Größe und Betätigungsweise der Tasten eher mit zwei Händen gespielt. Kleinere Versionen solcher Orgeln waren für den häuslichen Gebrauch bestimmt, größere wurden in Amphitheatern verwendet, um die Stimmung der Menge anzuheizen (die Heilige Katharina starb laut ihrer Märtyrerlegende, »während die Orgel donnerte«). Die Orgel bildet vielleicht das Hauptbeispiel des Nachlebens antiker Musiktradition. Denn schon früh hat die Westkirche das Orgelspiel in den Gottesdienst eingeführt, wo es sich bis heute behauptet. Viel später waren die ersten Kinos mit Orgeln ausgestattet. Und sogar in amerikanischen Baseballstadien sind sie hin und wieder zu hören. Wie in den Amphitheatern der Antike also wird die Orgel heute noch verwendet, um Emotionen zu lenken und zu steigern. Die Umstände haben sich geändert, die Rolle der Musik ist dieselbe geblieben.ΑΩ RHa

Was die Zeit überdauert – Überlieferung

In Stein gemeißelt

Die Existenz der etwa 50 altgriechischen Musikfragmente verdanken wir hauptsächlich der Robustheit ihrer Träger, Stein zum Beispiel, oder der Trockenheit der Sahara, wo Papyrus lange überdauert. Dabei ist die antike Musik möglicherweise gut weggekommen. Wird hingegen in 2000 Jahren noch etwas von den in unseren Tagen üblichen Trägern erhalten sein, von zerbröselndem Papier zum Beispiel oder von den immer schneller überholten elektronischen Datenträgern?

»Überlieferung« meint die verschiedenen Arten und Weisen, mit denen die Kenntnis von Musik von einer Person zu einer anderen gelangt. Als universal kann die mündliche Überlieferung gelten, die es immer gab und geben wird, solange eine Mutter ihrem Kind ein Lied summt. Dazugekommen sind die schriftliche Überlieferung und seit dem frühen 20. Jahrhundert jene mittels technischer Klangspeicherung. Die mündliche Überlieferung antiker Musik ist erloschen, die technische gab es noch nicht und die schriftliche beschränkt sich heute auf etwa 50 erhaltene Fragmente, die die damaligen Tonzeichen aufweisen. In einer Art »Nebenüberlieferung« zu den wenigen erhaltenen Musikfragmenten geben antike Schriftsteller Aufschluss über die Wirkung der damaligen Musik auf die Menschen.

Gut ein Drittel der antiken Musikfragmente sind Papyrusfetzen von vertonten Dramen. In der durch die Eroberungen Alexanders des Großen (356–323 v. Chr.) entstandenen griechisch geprägten Kulturlandschaft des Hellenismus, die sich von Alexandrien in Ägypten bis weit nach Osten erstreckte, fanden überall wiederkehrende Feste statt, darunter auch »musische«. Als Festplätze bauten sich zahlreiche Städte Theater. Heute nur noch leere Hülsen, waren sie damals mit der vitalen Kraft des Dramas erfüllt, vor allem der Tragödien des Euripides, die von großen Themen menschlichen Daseins handeln: von der Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft, von Schuld, Sühne und Erlösung. Aufgeführt wurden sie durch »technitai«, das waren »vereinsmäßig organisierte, von Fest zu Fest reisende und über bestimmte Dramenrollen verfügende Künstler«. Das abgebildete Fragment der Tragödie Orestes von Euripides stammt von einer solchen Papyrusrolle. Sie wurde um 200 v. Chr. angefertigt, gut 200 Jahre nach dem Tod des Euripides, als seine Werke in der ganzen hellenistischen Welt aufgeführt wurden. Der Glanz währte also lange, verging aber, und die Orestes-Rolle wurde eines Tages in Hermopolis Magna (Ägypten) »recycelt« – als Mumien-Kartonage! Durch solches »Recycling« wurde schon mancher Text für die Nachwelt gerettet.

Fragment aus Orestes von Euripides, Papyrus, um 200 v. Chr. © Österreichische Nationalbibliothek/ http://digital.onb.ac.at, Euripides, Orestes 338-44 (Pöhlmann/West), Papyrus G 02315

Die jahrhundertelange Pflege und Überlieferung antiker Dramen hing zumindest teilweise zusammen mit der Macht der damaligen Musik über die menschliche Seele. Es ist schwierig, sich anhand von Musikfragmenten eine Vorstellung von dieser Macht zu verschaffen. Antike Schriftsteller können uns aber auf die Sprünge helfen. Laut der Poetik des Aristoteles zum Beispiel bewirkt die Tragödie die »Reinigung« (Katharsis) der Zuschauer von den »Leidenschaften Mitleid und Schrecken«, die sie erregt; dabei ist die Melodie »das größte der [tragischen] ›Gewürze‹«. Und Platon, der Lehrer des Aristoteles, verbannte bestimmte »Tonarten« wegen ihrer manipulativen Kraft aus seinem Idealstaat und warnte davor, dass Änderungen der Musik Umwälzungen im Staat auslösen könnten – auch die gesellschaftliche Revolution der 1960er-Jahre ging nicht ohne Neuerungen in der Musik einher.

Alle antiken Feste, ob musisch oder athletisch, waren zur Ehre einer Gottheit gefeierte religiöse Angelegenheiten. Die jeweilige Gottheit wurde durch Hymnen verehrt. Zwei davon sind mit Tonzeichen erhalten. Dabei handelt es sich um »paianes« (altgriechisch: »feierliche Gesänge«) an Apollon, aufgeführt anlässlich der Pythischen Spiele in Delphi im Jahr 127 v. Chr. und eingemeißelt am dortigen athenischen Schatzhaus. Zugleich sind es die umfangreichsten Zeugnisse antiker Musik – übertragen in heutige Notation etwa 100 bzw. 150 Takte lang. Als vielleicht einziges antikes Musikzeugnis vollständig überliefert ist die vertonte Grabinschrift des Seikilos in Tralleis (Kleinasien, heutige Türkei) aus dem 1. Jahrhundert nach Christus. Die Töne und Rhythmen des Liedes lassen sich problemlos entziffern:

Im Gegensatz zu den meisten Fragmenten, die eher die Fremdheit damaliger Musik bewusst machen, schlägt das Seikilos-Lied mit seiner volkstümlichen Einfachheit eine Brücke zu unserem heutigen Empfinden. Und seine Botschaft – »Carpe diem!« (»Genieße den Tag!«), ausgesprochen anlässlich eines Todesfalls – ist zeitlos: »Solange du lebst, leuchte. / Trauere über nichts. / Nur kurz dauert das Leben. / Das Ende fordert die Zeit ein.«ΑΩ RHa

Musik festhalten – Schrift

Das ist kein Sehtest. Nein, es ist ein antiker Melodieabschnitt, festgehalten in der damaligen Tonschrift. Töne bezeichnete man in dieser Schrift mit griechischen Buchstaben, die auch verdreht oder auf dem Kopf stehen können und durch weitere Zeichen ergänzt werden. Für Gesang und Instrumentenspiel gab es je 70 solcher Zeichen, also jeweils 70 Tonhöhen (darunter auch Vierteltöne), die einen Gesamtumfang von drei Oktaven plus Terz bilden.

Detail aus dem Orestes-Fragment, Textausschnitt mit Tonzeichen wie im Notenbeispiel übertragen © Österreichische Nationalbibliothek/ http://digital.onb.ac.at, Euripides, Orestes 338-44 (Pöhlmann/West), Papyrus G 02315

Gesangszeichen ebenso wie die Zeichen instrumentaler Begleitung wurden über die einzelnen Silben eines Textes gesetzt. Auch instrumentale Solomusik wurde auf diese Weise aufgezeichnet. Den Rhythmus, der mit den metrischen Werten der einzelnen Textsilben zusammenhängt, deutete man durch Striche, Punkte und andere Zeichen über den Tonzeichen an.

Diese Tonschrift war vom späten 5. Jahrhundert vor bis ins 5. Jahrhundert nach Christus im griechischen Sprachraum geläufig. Wir kennen sie aus Tabellen in antiken Schriften zur Musiklehre, die Zeichen und Ton-Namen zueinander in Beziehung setzen. Wir finden sie aber auch in den rund 50 Schriftfragmenten antiker Musik, die die letzten 2000 Jahre überdauert haben. Das bereits im vorangegangenen Kapitel besprochene Papyrusfragment umfasst sechs Teilverse eines Chorlieds aus der Tragödie Orestes (Athen, 408 v. Chr.) des Euripides. Die Tragödie setzt eine Episode aus dem Mythos um den Trojanischen Krieg in Szene: Um nach Troja segeln zu können, opfert König Agamemnon seine Tochter Iphigenie. Aus dem Krieg zurückgekehrt, wird er von seiner Frau Klytämnestra aus Rache ermordet, die daraufhin ihrerseits vom gemeinsamen Sohn Orest umgebracht wird. Dieser, von Rachegeistern verfolgt, verfällt schließlich dem Wahnsinn. Der Chor singt ihm ein Lied zu, aus dem die folgenden Verse stammen:

Die Chorsänger hatten aufgrund der Tonzeichen den Tonos zu bestimmen, der den Tonraum gestaltet. Die Zeichen dieses Chorliedes gehören dem lydischen Tonos an.

Ein Tonos besteht aus mehreren Tetrachorden, die wiederum je drei Erscheinungsformen (Genera, von lateinisch »genus«: »Gattung«) aufweisen: diatonisch, chromatisch und enharmonisch. Wie bei den modernen Dur- und Moll-Tonleitern sind dabei gewisse Tonstufen veränderlich, wobei neben den uns bekannten Ganz- und Halbtönen im enharmonischen Genus auch Vierteltöne und andere Intervalle vorkommen.

Unser Chorlied ist lydisch enharmonisch oder chromatisch, wobei allerdings das Zeichen Φ (über »te«) dem diatonischen Lydisch angehört. Es handelt sich also um ein »gemischtes« Genus (das Z ist ein Instrumentalzeichen, ebenfalls diatonisch, für die Begleitung). Enharmonisch galt damals zwar als das »tragische Genus«, das also in der Tragödie bevorzugt eingesetzt wurde. Das chromatische Genus jedoch, das sich laut antiken Quellen besonders für starke Emotionen eignet, soll von Euripides erfunden und eingeführt worden sein. Aufgrund der starken Emotionen des Chorliedes sind im Notenbeispiel oben die überlieferten Schriftzeichen dem chromatischen Genus entsprechend übertragen.

Eine Erfindung mit Folgen

Die antike Tonschrift war eng an Wort und Buchstaben gebunden. Erst die »Note« als ein musikalisches Zeichen, das seinen Tonhöhenwert nur im Liniensystem erhält, hat eine autonome Tonkunst ermöglicht. Denn damit konnte man eine Melodie von den ursprünglichen Tonstufen lösen und beliebig auf andere Stufen transponieren. Diese Erfindung sollte die Grundlage für die atemberaubende musikalische Entwicklung der folgenden Jahrhunderte werden.

Für die Einheit der Musenkünste von Wort, Ton und Bewegung war die antike Tonschrift ideal. Sie war nicht auf Noten (lateinisch »notae«: »Zeichen«) gegründet, die ihren Tonhöhenwert erst im Liniensystem erhalten, sondern auf die Tonhöhe direkt angebende Buchstaben. Daher kommt sie ohne Liniensystem aus und ist »textnah«. Und sie deutet auch Bewegungen an. Denn »Arsis« und »Thesis«, das metrische Auf und Ab, wird durch einen Punkt beziehungsweise keinen Punkt markiert. Auf und Ab von was? Vom Fuß des Tanzenden und Singenden (noch heute spricht man in Bezug auf das Auf und Ab der betonten und unbetonten Silben eines Gedichts vom »Versfuß«). Die antike Tonschrift verband also die Musenkünste in harmonischer Ausgeglichenheit.ΑΩ RHa

Die Weltordnung in der Schmiede – Antike Musiktheorie

Wie der Gelehrte und Philosoph Boethius in seinem Buch De institutione musica (Grundsätze der Musik) zu Beginn des 6. Jahrhunderts nach Christus berichtet, hörte Pythagoras von Samos (um 570–480 v. Chr.) eines Tages Töne, die aus einer Schmiede erschollen und bestimmte Intervalle bildeten. Er ließ die Schmiedeeisen wiegen – die Balkenwaage war damals schon bekannt –, und ihm fiel auf, dass die verschiedenen Gewichte genauen Zahlenverhältnissen entsprechen. Auf die Saiten eines Instruments übertragen, lässt sich die Gültigkeit dieser Erkenntnis leicht nachprüfen: Die Hälfte einer Gitarrensaite zum Beispiel klingt eine Oktave höher als dieselbe Saite ungeteilt. Das Verhältnis 2:1 ergibt also eine Oktave. Jedes andere Intervall lässt sich ebenfalls in einem je eigenen Zahlenverhältnis ausdrücken.

Im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Frage, wie man zu sicherem Wissen gelangen könne, bewies diese Erkenntnis Pythagoras und seinen Nachfolgern, dass sich hinter Erscheinungen (Sinnesdaten) wie dem Oktavklang, der entsteht und vergeht, eine abstrakte, unveränderliche Ordnung verbirgt: in unserem Falle das Zahlenverhältnis (»logos«) 2:1. Dieses Verhältnis ist ewig und allein dem Verstand zugänglich. Aus einer solchen Erkenntnis geht die Definition der antiken Musiktheorie, also des antiken Faches »musica« hervor: Sie handelt von »Zahlen [Mathematik] bezogen auf Klänge [Physik]«.

Musikalische Weltordnung

Noch heute verwendet die Astrophysik Metaphern, um die Weltordnung (den Kosmos) verständlich zu machen, und die Musik scheint sich dafür wie kaum etwas anderes zu eignen. In seinem Buch The Fabric of the Cosmos (Der Stoff, aus dem der Kosmos ist, 2004) beispielsweise nimmt der Astrophysiker Brian Greene die Geige als Vorbild für die »string theory« (wörtlich: »Saitentheorie«).

Laut Boethius spiegeln die Lehren von Intervall und Tonsystem zwei weitere Zusammenhänge wider, über die die antiken Menschen ebenfalls staunten: die Bahnen der Himmelskörper und die daraus entstehende »Sphärenharmonie« (»musica mundana«) einerseits sowie die »Harmonie« des Menschenkörpers und die Abgestimmtheit seiner Teile (»musica humana«) andererseits. Diesen Komplexen gemeinsam ist die Vorstellung der glücklichen »Zusammenfügung«, die hinter dem Harmoniebegriff steckt (»harmottein«, griechisch: »zusammenfügen«) – im Großen (Makrokosmos) wie im Kleinen (Mikrokosmos).

Im Lehrplan der Kloster- und Kathedralschulen des Mittelalters wiederum bildeten die »musica« und ihre Schwesterdisziplinen Arithmetik, Geometrie und Astronomie das »quadrivium« (»Vierweg«), das zu den »artes liberales« (»freien Künsten«) gehörte und als Vorbereitung für die Philosophie diente. De institutione musica von Boethius war das bevorzugte Lehrbuch dazu, das somit lange aktuell blieb und Wissen über das antike Fach »musica« aufrechterhielt; heute existieren knapp 140 Handschriften des Buches, die vom 9. bis zum 15. Jahrhundert datieren.

Bemerkenswert ist schließlich, dass sich die antike Musiktheorie von späteren Auffassungen von Musiktheorie grundlegend unterscheidet. Die antike Musiktheorie besteht nämlich in der »Betrachtung« (»theoria«) von Zahlenverhältnissen, Intervallen und Tonsystemen, die gemäß unveränderlichen Gesetzen gestaltet und deshalb notwendigerweise so sind, wie sie sind. In späteren Zeiten dagegen kann Musiktheorie zum Beispiel vorschreiben, wie eine Melodie regelgemäß zu gestalten ist, und Konventionen aufstellen, wie Töne aufeinander zu beziehen sind. Sie handelt also von Dingen, die so oder auch anders sein können. Deshalb fällt etwa die Kontrapunkt- oder Harmonielehre je nach historischer Epoche unterschiedlich aus.ΑΩ RHa

Als Antike bezeichnet man die Kulturepoche des Mittelmeerraumes von etwa 1000 vor bis 500 nach Christi Geburt.

»Dieser Mann da, der nach der großen Macht trachtet, wird die Stadt bald umgestürzt haben; sie steht ja vor der Entscheidung …« (Alkaios)

»Lasst uns trinken! Warum warten wir auf die Lampen? Der Tag dauert nur noch ›ein Fingerbreit‹. Bringe, geliebter Junge, die großen, buntverzierten Becher!« (Alkaios)

»Komm’, göttliche Lyra, rede zu mir, werde stimmhaft …« (Sappho)

»Du bist gekommen, ich habe dich heftig verlangt;Mein Herz, das mit Sehnsucht brannte, hast du gekühlt …« (Sappho)

»Geschöpfe eines einzelnen Tages: Was ist einer? Was ist keiner? Der Mensch ist der Traum eines Schattens. Aber wann immer Zeus-gegebener Glanz kommt, so ist ein leuchtendes Licht auf den Menschen und honigsüße Lebenszeit.« (Pindaros, aus der Pythischen Ode für Aristomenes von Aigina, Gewinner im Ringen bei den Pythischen Spielen 446 v. Chr.)

Das Prinzip der Tonerzeugung mittels eines aus einem Rohrgewächs geschnittenen »Blattes«, daher der Name Rohrblatt-Instrument, hat sich bis heute erhalten. Die moderne Oboe verwendet wie der Aulos ein Doppelblatt, die Klarinette ein Einzelblatt.

Bei den Pythischen Spielen handelte es sich im Gegensatz zu den rein sportlichen Olympischen Spielen ursprünglich um künstlerische Wettkämpfe in Delphi. Mit der Zeit wurden sie auch durch athletische Wettkämpfe und Wagenrennen ergänzt. Die glanzvollen Spiele erinnerten an die Erlegung des Drachens Python durch Apollon, den Gott der Künste, und fanden jeweils zwei Jahre vor den Olympischen Spielen statt.

Ein Tonos, heute auch Transpositionsskala genannt, ist eine Tonleiter mit einer festen Abfolge von Ganz- und Halbtönen, die auf unterschiedliche Stufen transponiert erscheinen kann.

Ein Tetrachord ist eine schrittweise Folge von vier Tönen mit der Quarte als Rahmenintervall.

Die antike Musiktheorie kennt drei Genera (Mehrzahl von lateinisch »genus«): das diatonische, das chromatische und das enharmonische, die sich durch die unterschiedliche innere Gliederung eines Tetrachords unterscheiden.

9. bis 14. Jahrhundert

Die Kathedrale Notre-Dame de Paris, Baubeginn 1163, Blick ins Mittelschiff © akg-images/Rainer Hackenberg

»Christliches Zeitalter« oder »Mittelalter«? – Das 9. bis 14. Jahrhundert

Wer in unseren Tagen an die Zeit vor ungefähr 1500 denkt, dem wird dafür wohl fast unweigerlich der Begriff »Mittelalter« oder gar »finsteres Mittelalter« in den Sinn kommen: die übliche Bezeichnung für das Zeitalter zwischen der griechisch-römischen Antike einerseits, die mit dem Zerfall des Weströmischen Reiches in den Jahren 475/76 durch die Vertreibung der letzten Kaiser zu Ende gegangen war, und der Neuzeit andererseits, die im 15. Jahrhundert mit der »Renaissance« anbrach.

Mittelalter zur Unterhaltung

Seit den 1980er-Jahren erfreuen sich Mittelaltermärkte, Ritterturniere oder »Rittergelage« zunehmender Beliebtheit. Dabei spielt auch die Musik eine große Rolle. Mittlerweile hat sich eine musikalische Mittelalterszene gebildet, die dabei mit Fiedel, Drehleier, Harfe, Flöte, Krummhorn oder Schalmei aufspielt. Die Musiker erheben aber keinen Anspruch auf »historische Genauigkeit«. Oberstes Gebot ihrer »mittelalterlichen Musik« von heute ist gute Unterhaltung.

Die Dreiteilung der Geschichte mit einem »Mittelalter« zwischen Antike und Neuzeit setzte sich schon im 17. Jahrhundert allgemein durch und hat sich weithin bis heute gehalten. Sie ist aber Ausdruck des Geschichtsverständnisses jener Zeit, das den rund tausend Jahren Geschichte, die der Begriff bezeichnen soll, nicht gerecht wird. Der Begriff »Mittelalter« schließt nämlich den Blickwinkel der Nachgeborenen ein: Denn die Menschen im sogenannten »Mittelalter« konnten ja nicht wissen, dass sie angeblich in einer Übergangszeit zwischen zwei Zeitaltern lebten. Das hätte die Kenntnis des Ziels der historischen Entwicklung vorausgesetzt – eben jene Neuzeit, die unter anderem mit den großen wissenschaftlichen Entdeckungen und dem allmählichen Verschwinden der weißen Flecken auf den Landkarten verbunden gewesen wäre.

Die Menschen im »Mittelalter« verstanden ihr Zeitalter, das mit einer vollständigen Umgestaltung der politischen Geografie und der Christianisierung weiter Teile Europas einherging, jedoch anders. Für sie war es das im Glauben allen anderen Zeitaltern überlegene »christliche Zeitalter«, das mit Christi Geburt begonnen hatte und aus ihrer Sicht mit dem Jüngsten Tag enden würde. Ihre Geschichtsauffassung war theologisch, das heißt in der Bibel begründet.

Diese »heilsgeschichtliche« Auffassung ersetzten humanistische Gelehrte im 15. Jahrhundert durch eine weltliche. An die Stelle der Bibel trat bei ihnen als Bezugspunkt und Maßstab die (idealisierte) Antike, an die man anzuknüpfen versuchte und der man nacheifern wollte. Das eben vergangene Zeitalter erschien im Vergleich zur antiken Kunst und Kultur als ein zivilisatorischer Rückschritt, als ein Rückfall auf allen Gebieten menschlicher Errungenschaften: der Sprache, der Dichtung, der Architektur, der gesellschaftlichen Ordnung und nicht zuletzt auch der Technik.

Schon ein flüchtiger Blick auf diesen langen Zeitraum zwischen Antike und Neuzeit lässt erkennen, dass für die Nachgeborenen kein Grund zur Herablassung besteht. Denn mit dieser Zeit verbinden wir große menschliche Schöpfungen wie die Dichtung Dantes, die Malerei Giottos, die Philosophie von Thomas von Aquin, die überwältigende Architektur der gotischen Kathedralen oder die Vokalpolyphonie, die für die Menschen in jener Zeit im wahrsten Sinne »unerhört« gewesen sein muss.

Grundlage der Entfaltung der Vokalpolyphonie war die Erfindung der musikalischen Schrift im 9. Jahrhundert. Die Musikschrift war zwar zunächst ganz praktisch motiviert durch Reformbemühungen der Kirche in Bezug auf den Choral: Die schriftliche Festlegung sollte in der christlichen Welt eine weitgehend einheitliche Ausführung des liturgischen Gesangs sicherstellen. Die Schriftlichkeit war daher von Anfang an eng verbunden mit der Kanonisierung: der Festlegung eines Kanons von Gesängen, die von höchster kirchlicher Stelle genehmigt waren.

Die Erfindung der musikalischen Notation entpuppte sich aber aus verschiedenen Gründen bald als ein für die Musikgeschichte Europas – und später der ganzen Welt – wahrhaft epochemachendes Ereignis: Zum einen erlaubt die Notation, Musik wie ein schriftlich festgehaltenes Gedicht von seinem Schöpfer zu lösen, sie an andere Musiker zu übermitteln oder einfach aufzubewahren. Die Schriftlichkeit war daher von Anfang an verbunden mit dem Sammeln: Man trug in Codices Musikstücke zusammen, die für notierenswert, das heißt für bewahrenswert gehalten wurden. Und diese Stücke konnten als Quelle der Anregung oder als Vorlage zur weiteren Verarbeitung dienen. Zum zweiten gestattete die Notation durch Ausarbeitung von Musikstücken auf dem Pergament, die musikalische Komplexität und die kontrapunktischen Künste in bis dahin ungeahnter Weise zu steigern. Und schließlich entstand durch die überall vereinheitlichte Liturgie ein umfassender Kulturraum, der den Anfang einer gemeinsamen, schriftbasierten Musikkultur markiert – eine Errungenschaft, die der französische Historiker Jacques Le Goff auf derselben Ebene ansiedelt wie die in derselben Zeit entstehende »europäische Idee«. Die Schriftlichkeit ermöglicht daher nicht nur, noch heute Musik aus dieser Zeit zu singen oder zu spielen, die sonst unwiederbringlich verklungen wäre. Sie schuf die Grundlagen für jene eigentümliche geschichtliche Dynamik, die die europäische Musikgeschichte von der anderer Kulturen unterscheidet.ΑΩ UMo

Musik übermitteln – Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Um das Jahr 730 beschrieb der Mönch Beda Venerabilis in seiner Kirchengeschichte des englischen Volkes, wie der römische Kirchengesang nach und nach in England eingeführt wurde. So habe etwa Acca, Bischof von Hexham, den Sänger Maban zu sich kommen lassen, um hier die einstimmigen liturgischen Gesänge nach römischer Tradition zu unterrichten. Maban sei zwölf Jahre in Hexham geblieben und habe seinen Schülern sowohl neue Gesänge beigebracht als auch die ihnen bereits bekannten, die mit der Zeit verändert worden waren, wieder auf ihre ursprüngliche Form zurückgeführt.

Zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Die Abtsgeschichte des Klosters Sint-Truiden (heutiges Belgien) berichtet, dass Rodulfus (Abt seit 1108) für den liturgischen Gesang eine Handschrift in der Liniennotation Guidos von Arezzo hergestellt habe. Dafür habe er die Melodien, wie sie in seinem Kloster Tradition hatten, leicht verändern müssen. Offensichtlich reichten die notationstechnischen Mittel nicht zur Wiedergabe der Gesänge aus, sodass die Tradition den Möglichkeiten der Notation angepasst werden musste.

Bedas Kirchengeschichte ist die erste Quelle der europäischen Musikgeschichte, in der man von einer Weitergabe von Musikrepertoires von einem Ort (Rom) zu einem weit entlegenen anderen (England) erfährt. Der Bericht über den Sänger Maban lässt erkennen, dass diese Tradierung mündlich geschah. Man verfügte damals noch über keine Notenschrift, die die Übermittlung von Musik von Sänger zu Sänger hätte unterstützen oder gar ersetzen können. Schriftlich festgehalten wurden damals bestenfalls Gesangstexte.

Tatsächlich war eine rein mündliche Überlieferung von Musik in Europa seit der Antike die Regel, sodass Musik stets auswendig gelernt werden musste. Auch im Frankenreich, wo die römischen Kirchengesänge seit etwa 750 eingeführt wurden, geschah dies ohne Verschriftlichung der Musik. Erst infolge der Reformpolitik Karls des Großen, also seit dem späten 9. Jahrhundert, fing man an, Musik schriftlich festzuhalten. In den Zeugnissen vor dieser Zeit ist von musikalischer Notation noch keine Rede. Erst spätere Autoren wie Ekkehart IV. von Sankt Gallen (erste Hälfte 11. Jahrhundert), die diese Vorgänge erneut beschreiben, bringen in ihren Erzählungen musikalische Schrift ins Spiel. Diese war in der Zwischenzeit so üblich geworden, dass man ihre Verwendung auch schon in früheren Zeiten einfach annahm. Dennoch blieb Mündlichkeit weiterhin ein wichtiger Überlieferungsfaktor, da die Notation, derer man sich seit ca. 900 bediente – die sogenannten Neumen – keine genauen Tonhöhen erkennen ließen. Für das Erlernen von Gesängen oder die Aufrechterhaltung einer Tradition blieb der lebendige Kontakt zwischen Lehrer und Schüler deshalb weiterhin unersetzlich.

Allerdings bestand seit der umfangreichen Verwendung von Neumennotation ein wesentlicher Unterschied zu früher. Wenngleich es Neumen nicht erlaubten, Musik »vom Blatt« zu singen, so konnten sie doch als Erinnerungsstütze (so Hucbald von Saint-Amand im späten 9. Jahrhundert) oder als Korrekturinstanz (so Ekkehart IV.) dienen. Denn wenn man einen Gesangsvortrag mit einer Neumenaufzeichnung verglich, konnte man durchaus bemerken, ob Melodiewendungen vergessen wurden, oder auch entscheiden, ob richtig oder falsch gesungen wurde: Tonanzahl und Bewegungsrichtung einer Melodie ließen sich mithilfe von Neumen nämlich präzise und anschaulich darstellen.

Die Elfenbeintafel des späten 10. Jahrhunderts aus Lothringen zeigt einen Ausschnitt aus der gesungenen Liturgie. Die große Figur in der Mitte ist ein Bischof, der von seinen Sängern umgeben ist. Er hält ein Buch in der linken Hand, in dem der Text steht, der gerade erklingt, nämlich der Introitus (Einzugsgesang) am ersten Adventssonntag. Die Sänger können diesen Text aber nicht sehen: Sie singen auswendig. © The Fitzwilliam Museum, Cambridge

Musik war damit unabhängig von einer Aufführung verfügbar geworden. Sie blieb zwar einerseits klingendes Ereignis, konnte nunmehr aber auch dauerhaft bewahrt und betrachtet werden. Wie und warum es zu diesem weitreichenden Schritt kam, ist ungeklärt. Womöglich hat ein gesteigertes Interesse an der Musik seit den Karolingern dazu geführt, dass man sie durch Schriftlichkeit beständig machen wollte. Damit konnten Melodien wie auch die kanonischen Texte (Bibel, liturgische Gebete und Lesungen, Gesangstexte), deren Wortlaut nicht verändert werden durfte, in einer festen Form bewahrt werden. Die Neumenschrift war zu diesem Zweck bestens geeignet, denn sie erlaubte es, auch kleinste Details des Vortrags auf dem Pergament festzuhalten. Zugleich gab es schon seit dem späten 9. Jahrhundert Stimmen, die darauf drängten, Musik solle allein auf Schrift gestützt vermittelbar sein, also ohne einen persönlichen Lehrer, der die Tonhöhen beibrachte. So entwickelte der Benediktinermönch Guido von Arezzo im ersten Drittel des 11. Jahrhunderts eine Liniennotation im Terzabstand mit Schlüsselbuchstaben, die bereits unserer heutigen Liniennotation sehr ähnlich ist.

Guidos Idee hat sich bewährt und durchgesetzt, doch spielte auch weiterhin Mündlichkeit in der europäischen Musikgeschichte eine große Rolle. So wurde etwa aller Wahrscheinlichkeit nach das mehrstimmige »Notre Dame-Repertoire« (um 1200) anfangs wohl nur mündlich überliefert und erst im Laufe des 13. Jahrhunderts nachträglich verschriftlicht. Die schriftliche Darstellung von Musik ist in unserem Kulturkreis also erst ganz allmählich vom Sonder- zum Normalfall geworden.ΑΩ MKl

Die Anfänge des Schreibens von Musik – Neumennotation

Bei dem Codex aus Kloster Einsiedeln (Schweiz) handelt es sich um eine der ältesten Gesangshandschriften. Über den Textzeilen wurde ausreichend Platz für die Aufzeichnung linienloser Neumen gelassen. Zugleich gibt der Abstand zwischen den einzelnen Silben in den Textzeilen Raum für den Eintrag längerer Tonfolgen (Melismen). © Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Codex 121(1151), S. 5 (www.e-codices.ch)

Die Bezeichnung Neume für ein Notenzeichen leitet sich von griechisch »neuma« (»Wink«) her und ist erstmals im 10. Jahrhundert belegt. Der Name verweist darauf, dass Neumen dem Benutzer einer Musikaufzeichnung einen »Hinweis« auf den Verlauf geben, den eine Melodie nimmt.

Im ausgehenden 9. Jahrhundert machte sich der Mönch Hucbald von Saint-Amand ausführlich Gedanken über die Möglichkeiten der schriftlichen Darstellung von Musik. Er beschrieb dazu sowohl Neumen als auch Buchstaben- und Liniennotationen. Durch Buchstaben und geschlüsselte Linien konnten Melodien mit ihren genauen intervallischen Abständen Ton für Ton wiedergegeben werden. Die Neumennotation dagegen vermittelte mithilfe grafischer Zeichen (punkt- oder strichförmige Zeichen sowie deren Kombinationen) eine bildliche Vorstellung vom Verlauf einer Melodie, ohne die zwischen den einzelnen Tonelementen liegenden Abstände anzugeben.

Hucbald nannte die Neumen »übliche Zeichen« und die Buchstabenschrift »kunstgemäße Zeichen« (»artificiales notae«) – offenbar weil Letztere aus der »ars musica«, also aus der theoretischen Beschäftigung mit Musik heraus, entstanden sind. Die Neumen hingegen waren »üblich«, weil sich ihre Verwendung in der Musikpraxis seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts in weiten Teilen des ehemaligen karolingischen Großreiches durchgesetzt hatte. Anders als Buchstaben- oder Liniennotationen, die dem Mittelalter aus der Antike bekannt waren, stellen Neumen eine Erfindung der Zeit um 800 dar. Doch lässt sich erst rund 100 Jahre später ihre Verwendung auf breiter Basis, nämlich zur Aufzeichnung des sogenannten gregorianischen Chorals, nachweisen. Das kam einer medientechnischen Revolution gleich, denn bis zu dieser Zeit war Musik im europäischen Kulturkreis nur in ganz seltenen Einzelfällen aufgeschrieben worden.

Autoren der späten Karolingerzeit wie Hucbald gingen von einer grundsätzlichen Schreib- und Lesbarkeit von Musik aus – »dass man die Töne wird aufzeichnen und singen können nicht schlechter als Buchstaben schreiben oder lesen« (so die Musica enchiriadis, ein »Musikhandbuch« aus dem späten 9. Jahrhundert). Man sah also zwischen Musik und Sprache eine prinzipielle Vergleichbarkeit. Nach Hucbald war die eindeutige Lesbarkeit von Musik nur mit den »kunstgemäßen Zeichen« zu erreichen. Die Benutzung von Neumenschrift hingegen setzte immer die Kenntnis des genauen melodischen Verlaufs voraus, die durch einen Lehrer vermittelt werden musste. Ohne eine funktionierende mündliche Weitergabe und das stete Auswendiglernen der Musik von Generation zu Generation blieben Neumen sozusagen stumm.

Buchstabennotation: Die Melodie über »Alleluia« ist hier nicht nur mit Neumen notiert, sondern auch mit Buchstaben (i, m, p, c, f), die – anders als die Neumen – für bestimmte Tonhöhen stehen, die der Text im Folgenden erklärt. © Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Codex 169(468), S. 128 (www.e-codices.ch)

Bei der von Hucbald verwendeten Liniennotation stellt, von unten nach oben aufsteigend, jede Linie eine Tonstufe dar, deren Abstände am linken Rand mit den Abkürzungen »t(onus)« für den Ganzton und »s(emitonium)« für den Halbton angegeben sind. Die eingetragenen Textsilben stehen für die einzelnen Töne und lassen so den Melodieverlauf präzise erkennen. © Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Codex 169(468), S. 119 (www.e-codices.ch)

Trotz dieser Voraussetzung von Mündlichkeit waren es gerade die Neumen, die zur ersten musikalischen Gebrauchsschrift im europäischen Mittelalter wurden. Nach Hucbald waren sie nämlich anderen musikalischen Notationen in der Hinsicht überlegen, dass nur sie das relative Vortragstempo, die Gestaltung von Melodiebögen und Abschnitten und besondere stimmtechnische Effekte (etwa den Vortrag mit »zitternder Stimme«) festhalten konnten, was wichtige Bestandteile einer musikalischen Aufführung waren. Neumen taten das nicht nur, wie wir dies aus späteren Zeiten gewohnt sind, durch Zusatzangaben zu einem Notentext, sondern durch die Ausformung des Notenzeichens selbst. Aspekte des Vortrags von Musik galten als so wichtig, dass in der schriftlichen Wiedergabe kein Unterschied zwischen dem Verlauf einer Melodie und der Art ihres Vortrags gemacht wurde. Zwar lässt Neumenschrift das vermissen, was wir heute von einer musikalischen Aufzeichnung vor allem erwarten: die Übermittlung von Tonhöhen. Doch war die nuancierte Aufführungsweise der Musik so wichtig, dass die Neumen bis ins 11./12. Jahrhundert als das zentrale Medium der Verschriftlichung von Musik in Gebrauch blieben.

Seit ungefähr der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert begann man zunehmend, das von Hucbald angesprochene Problem, sich bei der musikalischen Aufzeichnung entweder für eine tonhöhengenaue oder für eine aufführungsgemäße Notation entscheiden zu müssen, zu lösen: Man setzte einfach Neumen auf Linien und verband so zwei ältere Prinzipien miteinander. Die Idee von einer prinzipiellen schriftlichen Darstellbarkeit von Musik, von der wir noch heute wie selbstverständlich ausgehen, wurde nicht mehr aufgegeben. Trotz zahlreicher Veränderungen und Abwandlungen bilden so die Neumen die Basis unserer modernen Notenschrift. Eine grundlegende Innovation bei der Verschriftlichung von Musik hat es seit dem frühen Mittelalter nicht mehr gegeben.ΑΩ MKl

Römische Liturgie im Frankenreich – Der gregorianische Gesang

Die um das Jahr 1000 in Sankt Gallen geschriebene Handschrift, der sogenannte Hartker-Codex, enthält zu Beginn eine Darstellung Papst Gregors des Großen. Dieser wird links auf einem Thron sitzend gezeigt, wie er von einer Taube – dem Symbol des Heiligen Geistes – die Melodien vernimmt, die er dem rechts neben ihm sitzenden Schreiber diktiert. Der Schreiber notiert sie in Form linienloser Neumen, wie sie zur Entstehungszeit der Handschrift in Sankt Gallen in Gebrauch waren. © St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 390, S. 13 (www.e-codices.ch)

Walahfrid Strabo, Abt des Bodenseeklosters Reichenau, schrieb um das Jahr 840 eine Liturgiegeschichte, in der er als einer der ersten von der Einführung des römischen liturgischen Gesangs im Frankenreich berichtete. Nach Walahfrid geschah dies um 755, als Papst Stephan II. beim fränkischen König Pippin III. Schutz vor den Langobarden suchte: Auf Verlangen Pippins hätten damals die Begleiter des Papstes den römischen Gesang ins Frankenreich gebracht, der sich seither fast überall ausgebreitet habe.

Was hier in knappen und nüchternen Worten beschrieben wird, war ein Vorgang von großer Tragweite. Nicht, dass man im Karolingerreich zuvor keine gesungene Liturgie besessen hätte. Walahfrid selbst schreibt, es habe bis zu diesem Zeitpunkt nördlich der Alpen (also in »Gallien«) eine gallikanische Kirche mit eigenen liturgischen Riten existiert. Die fränkische Musiktradition ist also durch die römische ersetzt worden. Warum die Franken sich zu einem derartigen Traditionsbruch entschlossen haben, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Jedenfalls wurde der römische Gesang durch die Franken spätestens seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert als ein Besitz betrachtet, auf den man stolz war. Man gab ihm nämlich zu dieser Zeit den Namen »gregorianischer Gesang« nach Papst Gregor I. (um 540 – 604), der zumindest als Sammler, Bearbeiter und Lehrer dieser Musik galt, wenn nicht gar als ihr Komponist. Bis heute trägt sie diesen Namen, obwohl nichts für die Richtigkeit der Legende vom Papst als ihrem Schöpfer spricht. Und nach wie vor wird sie von der katholischen Kirche als die Grundlage ihrer liturgischen Musik betrachtet und besonders in Klöstern regelmäßig gesungen.

Wie einfach oder schwierig sich diese »Romanisierung« der fränkischen Liturgie gestaltete, ist unklar. Während Walahfrid nichts von Problemen berichtet, sprechen andere Autoren von Auseinandersetzungen zwischen römischen und fränkischen Sängern um die richtige Gestalt der Melodien. Handschriften, die Melodien enthalten, sind aber erst aus der Zeit um 900 bekannt und bis ins 11. Jahrhundert hinein ausschließlich aus dem Norden des Reiches. Die Melodieüberlieferung in diesen Quellen ist sehr einheitlich, sodass zumindest auf fränkischer Seite spätestens um 900 keine Differenzen mehr bestanden.

Der römische liturgische Gesang erweist sich nicht nur als einheitlich, sondern auch als systematisch geordnet. Zum einen gibt es eine Trennung zwischen Gesängen für die Messe und solchen für das Stundengebet. Zum zweiten gibt es eine musikalische Unterscheidung zwischen Gesängen, die eine liturgische Handlung begleiten bzw. den Vortrag von Psalmen umrahmen (Antiphonen), und solchen, die auf eine Lesung folgen bzw. der Meditation dienen (Responsorien): Responsorien sind melodisch aufwendiger gestaltet als Antiphonen und enthalten umfangreiche und sängerisch anspruchsvolle solistische Verse. Und schließlich sind sogar vergleichsweise einfache musikalische Vortragsmodelle, die unterschiedlichen Texten angepasst werden können, je nach ihrem Platz im Ritus abgestuft: Am schlichtesten sind diese Modelle für den Vortrag von Psalmen, ausgeschmückter für Texte wie den Lobgesang Marias und melodisch am reichsten für die Verse von Responsorien des Stundengebets. Walahfrid zufolge war es eben diese »vernünftige Einrichtung«, die zur flächendeckenden Verbreitung und Akzeptanz der römischen Gesänge führte.

Was passiert, wenn man in der Liturgie von der Norm abweicht

Papst Leo IV. wies um die Mitte des 9. Jahrhunderts einen Abt namens Honoratus auf das Schärfste zurecht, weil er den gregorianischen Gesang vernachlässigt habe. Dafür drohte ihm der Papst mit Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft. Eine Abweichung im Gesang war also ein schwerwiegendes Vergehen, das hart bestraft werden konnte.