Nachrichten von Mr Dean - Katharina Wolf - E-Book

Nachrichten von Mr Dean E-Book

Katharina Wolf

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Beschreibung

"Kannst du bitte noch Hochprozentiges, Nougatschokolade und Tampons mitbringen? Habe alles davon bitter nötig!" Wenn eine derart wichtige SMS bei einem Wildfremden landet statt bei der besten Freundin, kann das ja nur im Chaos enden. So lernt Ruby durch einen Zahlendreher "James Dean" kennen, dessen Nachrichten zwischen Jobfrust und Familienärger zu ihrem Tageshighlight werden. Doch kann man sich wirklich in geschriebene Worte verlieben? Ruby stellt fest: Sie kann. Allerdings in einen alles andere als perfekten Mann.

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Nachrichten von Mr Dean

KATHARINA WOLF

© 2018 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Covergestaltung: Claudia Toman | Traumstoff Coverdesign

Lektorat & Korrektorat: Tatjana Weichel | Wortfinesse

Ebook Formatierung von Sky Global Services

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-345-6

Besuchen Sie unsere Webseite:

amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

FÜR ALLE, DIE IMMER EIN SCHLECHTES GEWISSEN HABEN, WEIL SIE SO OFT AM HANDY HÄNGEN

INHALT

TEIL 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

TEIL 2

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

TEIL 3

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Epilog

TEIL 1

KAPITEL 1

»Ich hasse es hier«, murmelte ich leise vor mich hin, während ich mich mit dröhnendem Kopf durch die Excel-Tabelle scrollte, die mich heute schon den halben Morgen quälte. »Ich hasse, hasse, hasse es!«

Tabellen, und insbesondere große Tabellen, die fast nur aus Zahlen bestanden, waren so gar nicht mein Ding. Um nicht zu sagen, lieber würde ich mit einem Leoparden ringen oder mich in eine Grube voll Schlangen werfen. Aber leider waren weder Raubtiere noch Reptilien zugegen und selbst wenn, würde ich dadurch meine Miete leider auch nicht bezahlen können. Dazu benötigte ich das Gehalt, zu dem mir dieser trockene und extrem nervige Job verhalf. Es war zum Verzweifeln.

Im Hintergrund hörte ich das leise Gemurmel meiner Kollegen sowie das Brodeln und Gluckern der Kaffeemaschine, was mich daran erinnerte, meinem Chef schnellstmöglich den nötigen Koffeinnachschub zu bringen. Lieber Eigeninitiative zeigen, als dass er mich wutschnaubend daran erinnern musste. Der alte, fette Choleriker.

Das Vibrieren meines Handys neben mir auf dem Schreibtisch riss mich aus meinen düsteren Gedanken. Ein Blick auf das Display ließ mich aufstöhnen. Mum. Warum? Warum ich? War ich denn nicht schon gestraft genug? Ich fuhr mir mit den Fingern durch mein Haar, dass eh schon wild in alle Richtungen abstand. Diese verdammten, zu allem Überfluss auch noch feuerroten Locken. Noch ein Grund, warum ich meine Mutter verfluchte. Es waren wahrlich nicht die besten Gene, die sie mir vererbt hatte. Bis auf einen simplen Zopf oder ein Tuch, welches sie mir aus dem Gesicht hielt, konnte ich selten etwas mit meinen Haaren anstellen, und wenn ich morgens aufstand, sah ich meist aus wie ein gerupftes Huhn.

Ich atmete kurz durch und drückte auf den grünen Hörer, um das Gespräch anzunehmen.

»Ja, Mum?«

»Was bist du denn schon wieder so angenervt?«, keifte sie direkt zurück, ohne Rücksicht auf Verluste.

»Ich bin arbeiten und habe Kopfweh. Was ist los?« Sie schnaubte und schien sich am anderen Ende der Leitung erst einmal sammeln zu müssen.

»Ich habe hervorragende Neuigkeiten für dich.«

Mir schwante Böses. Sie würde doch nicht etwa ... »Ich habe mit Christhilde gesprochen. Und – halt dich fest – wir haben ein Treffen organisiert.«

Sie hatte es tatsächlich getan.

»Ihr habt nicht wirklich ein Blind Date zwischen euren Kindern arrangiert?«

»Alleine würdet ihr das doch eh nicht hinbekommen. Und ihr Christopher ist so ein guterzogener und intelligenter junger Mann. So jemanden findest du nicht einfach so auf der Straße oder in den komischen Kneipen, in denen du dich sonst so rumtreibst.«

»Bedeutet guterzogen und intelligent eigentlich gleichzeitig, dass er fettiges Haar und ein Doppelkinn hat?«

»Ruby! Nicht in diesem Ton. Christopher ist äußerst ansehnlich. Im Übrigen habe ich dich auch als intelligent und äußerst kunstinteressiert beschrieben. Christhilde meinte, er wäre sehr angetan von den Fotos und würde sich auf ein Treffen freuen. Du könntest wenigstens Danke sagen.«

Sie erwartete Dankbarkeit? Dachte sie denn wirklich, dass ich mich über dieses Arrangement freuen würde? Und von welchen Bildern sprach sie, um Gottes Willen? Wir waren doch hier nicht im Mittelalter, wo Ehen zwischen zwei Königshäusern arrangiert wurden. Außerdem war ich nicht so ein hoffnungsloser Fall, dass ich nicht auch alleine auf einen netten Kerl treffen könnte. Dieser ominöse Christopher musste nun aber denken, dass ich unter normalen Umständen keinen abbekam. Das war alles so unglaublich peinlich. Mum verstand es einfach nicht! Leider hatte ich weder Lust noch Kraft, mich mit ihr anzulegen. Ich zog eh immer den Kürzeren.

»Und was nun? Habt ihr direkt alles ausgemacht? Ort? Uhrzeit?«

»Das werdet ihr wohl noch alleine schaffen.« Ich rollte mit den Augen. Wie nett, dass sie uns zumindest DAS zutraute. »Christopher hat deine Handynummer und wird sich bei dir melden«.

Da war ich ganz anderer Meinung. Wenn dieser Kerl ein normaldenkendes menschliches Wesen war, würde er das nicht tun. Aber ich hielt lieber meinen Mund.

»Okay, Mum, ich muss jetzt weiterarbeiten. Hier ist einiges los.« Da meine Mum keine Ahnung hatte, was ich den lieben langen Tag im Büro tat, klackerte ich ein wenig auf meiner Tastatur herum und raschelte mit einem Bogen Druckerpapier. Das klang hoffentlich beschäftigt genug.

»Noch einen schönen Tag, Liebes, und vergeig die Verabredung nicht. Das wäre mir Christhilde gegenüber sehr peinlich.«

»Verstanden, keine spontanen Stripeinlagen und Champagnerduschen in der Öffentlichkeit.«

»Ruby!«

Ich legte auf, lehnte mich in meinem Schreibtischstuhl zurück und betrachtete für einen kurzen Moment die Zimmerdecke. Ich hatte Bauch- und Kopfschmerzen. Die Kopfschmerzen begleiteten mich schon die ganze Woche. Der Bauch tat meist dann weh, wenn mir etwas Unerfreuliches bevorstand. Früher, zu Schulzeiten, war das ein Chemie- oder Lateintest. Heute waren es Meetings mit meinem Boss. Anscheinend aber auch Blind Dates, die nur in einem Desaster enden konnten. Mir war schlecht.

Ohne Vorwarnung wurde die Tür meines Büros aufgeworfen und knallte an den Schrank daneben. Ich zuckte zusammen und verschluckte mich an meiner eigenen Spucke. Als ich heftig husten musste, bemerkte ich Anna, die in der Tür stand und mich lauthals auslachte.

»Boah Anna, ich bin fast gestorben, so sehr hast du mich erschreckt. Klopf doch an oder komm wenigstens so rein, dass man nicht direkt denkt, die Kavallerie greift an.«

»Ich wusste, dass ich dich kalt erwische«, prustete sie und hielt sich weiter den Bauch vor Lachen.

Ich blickte sie einige wenige Sekunden böse an, bevor auch ich ein Kichern nicht mehr unterdrücken konnte. Anna hatte so eine Wirkung. Sie war ein echter Wirbelwind und strahlte immer gute Laune aus. Sie passte noch weniger in diese verdammte Spießer-Firma als ich. Trotzdem schien sie komischerweise nicht halb so unzufrieden zu sein. Entweder hatte sie sich mit ihrem Schicksal einfach abgefunden oder die Arbeit in der Personalabteilung machte ihr am Ende sogar wirklich Spaß.

Anna kam auf ihren hohen Hacken zu meinem Schreibtisch stolziert und ließ sich auf dem Stuhl mir gegenüber nieder. Ihre Handtasche fiel achtlos neben ihr zu Boden. In ihrem Bleistiftrock und der schmalen, dunkelblauen Bluse wirkte sie klassisch sexy und sehr elegant zugleich. Wie ich in Rock und High-Heels aussah, konnte man noch am ehesten mit einem plumpen Bauern an Karneval vergleichen.

»Fertig für die Mittagspause?«

»Keine Chance.« Ich seufzte. »Die Quartalsabrechnungen stehen an, und ich kämpfe mich den ganzen Morgen schon durch diese Tabelle. Ich seh nur noch Karos vor mir.«

»Du willst durcharbeiten?«

»Ich habe noch einen Apfel in der Schublade, und ich glaube, irgendwo müsste auch noch ein Müsliriegel rumliegen. Ansonsten werde ich mich mit Kaffee dopen und versuchen, Herrn Peters einmal in meinem Leben nicht zu enttäuschen.«

»Gib‘s auf. Das wird dir nicht gelingen. Sein ganzes Leben ist eine Enttäuschung. War es schon vor dir. Der wüsste gar nicht, wie er mit erfreulichen Nachrichten umgehen sollte.«

»Das heitert mich so gar nicht auf.«

Anna zuckte mit den Achseln, erhob sich und kramte in ihrer Handtasche.

»Hier ist übrigens meine neue Handynummer. Mein iPhone hat sich gestern in die Toilette verabschiedet. Leider war nichts mehr zu retten. Ich hab jetzt eins, das wasserfest ist.« Ich betrachtete den zerknitterten Zettel und legte ihn neben die Tastatur auf den Schreibtisch.

»Verdammt. Ist denn jetzt alles weg? Alle Bilder, Nummern und Spiele-Highscores?«

»So ziemlich alles.« Trotzdem grinste sie und zuckte ein weiteres Mal unbeeindruckt mit den Achseln. Ich bekam allein bei dem Gedanken daran einen Schweißausbruch. Ich sollte schleunigst meinen ganzen Kram auf den PC kopieren. Leider dachte man an Datensicherung ja erst, wenn es zu spät war. Ohne mein Smartphone war ich sowas von aufgeschmissen.

»Weißt du, manchmal ist es ein Segen, einfach mal alles hinter sich zu lassen und neu zu beginnen. Ein Handy mit gerade einmal zehn gespeicherten Nummern hat etwas unglaublich Beruhigendes. Als habe man all den unnötigen Ballast abgeworfen.«

Diese abgeklärte Gelassenheit bewunderte ich so an ihr. Denn genau das war eine Eigenschaft, die mir fehlte. Ich konnte nicht so einfach abschließen und neu beginnen. Meine Gedanken schweiften oft zu dem, was ich verloren hatte. Kurz dachte ich an Alex, an sein Lächeln und die vielen Versprechungen, die er nicht gehalten hatte, bevor ich mich selber ermahnte und meine Aufmerksamkeit wieder Anna schenkte.

»Überanstrenge dich nicht. Später musst du fit sein. Das mit dem Filmabend steht doch noch, oder?«

»Klar. Du kommst um sieben zu mir, ich besorge Filme und Popcorn.«

»Yeah, das wird ein Spaß! Ich geh dann mal zum Bäcker und besorge mir was zu essen.«

»Bis später.«

Sie schloss die Tür zum Glück sanfter, als sie sie geöffnet hatte. Ich warf einen Blick in die oberste Schublade meines Rollcontainers und fischte einen Müsliriegel mit Schokoüberzug aus dem hintersten Eck. Ich hatte schon schlimmere Arbeitstage gehabt. Solange ich noch was Süßes hatte, gab es Hoffnung.

Kurz vor fünf fuhr ich den Computer herunter und machte Feierabend. Herr Peters war auf irgendeinem Termin außer Haus, und so konnte ich verschwinden, ohne dass er mir den täglichen Denkzettel mit nach Hause gab. Gut so. Immerhin wollte ich heute Abend Spaß haben.

Im Supermarkt direkt um die Ecke hielt ich an und besorgte das Nötigste für unseren gemütlichen Filmabend. Sekt für Anna, Bier für mich. Mit dem süßen Blubberwasser konnte ich selten etwas anfangen. Das lag womöglich an meinen schottischen Wurzeln. Bier und Whiskey waren bei uns eine eigene Kultur. Trotz meiner ewigen Dauerdiät wanderten natürlich auch Chips und Popcorn in den Einkaufswagen. Zu einem Filmabend gehörte nun mal einfach unvernünftiger Süßkram. Sonst machte es ja nur halb so viel Spaß.

Während ich meine Einkäufe in die Wohnung in den ersten Stock trug, spürte ich mein Handy in der Hosentasche vibrieren. Ich klemmte mir die Handtasche kompliziert zwischen die Beine, schloss die Haustür auf, schmiss sie und die Einkaufstüten auf den Küchentresen und kramte hektisch nach meinem Handy. Beim Wort Mum auf dem Display konnte ich ein lautes Aufstöhnen nicht unterdrücken. Was war denn nun schon wieder?

»Ja?« Ich bemühte mich nicht einmal, freundlich zu klingen.

»Hat er sich schon gemeldet?« Auch sie hielt wohl gerade nichts von Begrüßungsfloskeln. Ich seufzte absichtlich gut hörbar auf. »Entschuldige bitte das Interesse an deinem Leben.« Sie hatte es gehört.

»Nein, Mum, er hat sich noch nicht gemeldet. Ich bin mir aber sicher, dass dich Christlinde auf dem Laufenden halten wird.«

»Christhilde.«

»Was?«

»Sie heißt Christhilde, und sie weiß auch nicht mehr.«

»Was auch immer, ich bin gerade erst heimgekommen und hab noch einiges zu tun.«

»Bekommst du Männerbesuch?«

Ich kannte das Problem meiner Mutter.

Seit ich mein Abitur in der Tasche hatte, drängte sie mich dazu, mir einen gutverdienenden Gatten zu suchen und ihr endlich Enkelkinder zu schenken. Alles andere schien ihrer Meinung nach Zeitverschwendung zu sein. Als Frau studieren, und dann auch noch Alte Geschichte und Archäologie? Da hätte ich ja auch gleich Taxi fahren können.

So viel Spaß mir das Studium auch gemacht hatte, in dem Punkt musste ich ihr leider recht geben – was ich niemals offen aussprechen würde. Ich wollte zwar auf keinen Fall in naher Zukunft schon eine Familie gründen, aber mit meinem hart erarbeiteten Bachelor kam ich auch nicht weiter.

Heidelberg war eine wunderbare Stadt, und in der Region gab es einige Museen. Die stellten nur alle momentan niemanden ein. Eine Zeit lang hatte ich bei Stadtführungen Touristen durch die engen Gassen der Heidelberger Altstadt geführt. Es hatte mir Spaß gemacht, mit den vielen unterschiedlichen Menschen aus allen Teilen der Welt Kontakt zu haben und ihnen die schönsten Fleckchen meiner Heimatstadt zu zeigen. Denn Heidelberg hat noch viel mehr zu bieten als das bekannte Heidelberger Schloss. Jede kleine Gasse hat ihre eigene, spannende Geschichte, und es war meine Aufgabe gewesen, diese weiterzugeben und am Leben zu erhalten. Ich hatte in dieser Zeit auch selbst viel dazugelernt. Nicht nur Historisches, auch über den Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen. Ich hätte diesen Job wirklich gerne weitergemacht, aber der Verdienst reichte leider nicht zum Leben.

Seitdem saß ich in dieser Versicherung fest, war der persönliche Lakai meines Chefs, ließ mich regelmäßig anschreien und erledigte Arbeiten, die ich hasste und wahrscheinlich mehr schlecht als recht erledigte. Auch wenn ich mir Mühe gab und gut eingearbeitet worden war, ich bemerkte sehr häufig, dass ich für diesen Job einfach nicht geschaffen war. Und warum tat ich mir das Tag für Tag an? Nur, um meine Miete und die Nebenkosten zu bezahlen. Was war das eigentlich für ein Leben?

»Also ja?« Die neugierige Stimme meiner Mutter holte mich aus meinen trüben Gedanken.

»Nein, Anna kommt vorbei.«

»Ach so.« Die Enttäuschung war deutlich zu hören.

»Also, vielleicht sehen wir uns ja Sonntag, bis dann.« Ich legte schnell auf. Die eigene Unzulänglichkeit war nur noch durch die Vorwürfe anderer zu toppen. Klasse. Ich freute mich immer mehr auf ein paar stumpfsinnige Filme und viel Bier, um die ganzen Sorgen zu ertränken.

Schnell kramte ich in meiner Handtasche nach dem Stück Papier, das mir Anna heute gegeben hatte. Die grauen Schlieren des eh schon total zerknitterten Zettels erinnerten mich daran, dass mir vor einiger Zeit ein Lidschatten in der Tasche regelrecht explodiert war und ich mir nun seit Wochen regelmäßig vornahm, alles von Grund auf zu reinigen. Wieder etwas, was ich nicht auf die Reihe bekam. Ich tippte die Nummer in mein Handy und speicherte sie unter »Anna neu« ab. Dann schrieb ich ihr eine SMS.

KANNST DU BITTE NOCH HOCHPROZENTIGES, NOUGATSCHOKOLADE UND TAMPONS MITBRINGEN? HABE ALLES DAVON BITTER NÖTIG!

Denn wenn alles scheiße lief, war es nicht verwunderlich, wenn man zuerst Bauchkrämpfe und dann auch noch seine Tage bekam.

Keine zehn Sekunden später bekam ich als Antwort ein lachendes Smiley mit Tränen in den Augen geschickt. Wenigstens sie hatte Grund zum Lachen.

Als Anna um 19.03 Uhr an der Tür klingelte, waren zwei Pizzen mit extra viel Käse bereits im Ofen, und auf dem Wohnzimmertisch stapelten sich die anderen Sünden. Bei einer schnellen Recherche über besonders dumme Komödien hatte ich mich unter anderem für Hey Mann, wo ist mein Auto entschieden. Immerhin mit Ashton Kutcher, also zumindest etwas fürs Auge.

Wortlos reichte mir Anna eine Flasche Wodka und schaute sich begeistert um.

»Das wird ja eine Fressorgie!«

»Gegen ein gepflegtes Besäufnis hätte ich auch nichts, um ehrlich zu sein.«

»Ist was passiert?«

»Nur das Übliche. Mein Chef hält mich für eine Versagerin, meine Mutter denkt, ich bekomme keinen ab, und mein Freund hat mich wegen einer anderen verlassen.«

»Sag bloß, du trauerst immer noch diesem Vollhorst nach?« Natürlich tat ich das.

»Ich hab eben viel in die Beziehung gesteckt und mir mehr erhofft.«

»Er ist ein Ehebrecher! Ich hab dir von Anfang an gesagt ...«

»Lass stecken!«

Ich winkte ab. Da ich ihre Meinung schon kannte, machten weitere Diskussionen schlichtweg keinen Sinn. Sie hatte ja recht. Das änderte aber nichts daran, dass Alex mir das Herz gebrochen hatte. Ein Jahr lang war ich nicht mehr gewesen als seine Frau für besondere Stunden. Zu Hause wartete das liebe Eheweib mit dem Abendessen und den Kindern. Ich war sein Abenteuer, und er versprach mir all das, was ich hören wollte.

Er wollte seine Frau verlassen.

Sich mit mir eine Zukunft aufbauen.

Ich atmete jedes seiner Worte ein, und sie ließen mich die Monate durchhalten, in denen nichts geschah. Ich wollte ihm glauben. Ich war sowas von naiv.

Er hatte sich - wie von Anna prophezeit - für seine Frau entschieden und mir eines Tages einfach den Laufpass gegeben. Ohne Vorwarnung. Ohne auch nur einmal zurückzuschauen.

Er hatte keine meiner Tränen verdient. Und trotzdem konnte ich sie nicht zurückhalten. Zwei Wochen lang war ich kaum ansprechbar gewesen. Auch jetzt spürte ich ein verräterisches Prickeln in der Nase und schniefte geräuschvoll.

Es war über ein halbes Jahr her. Ich war längst über diesen Idioten hinweg und empfand auch nichts mehr für ihn. Es waren der Verrat und die Demütigung, die mich bis heute nicht losließen. Ich straffte meine Schultern und verdrängte die düsteren Gedanken an den Mann, der mich verletzt hatte.

»Egal jetzt. Wir haben Wodka!«

»Das ist mein Mädchen!«

Vier Stunden und zwei stumpfsinnige Filme später tat uns der Bauch vom vielen Lachen weh, und wir waren dank des vielen Alkohols kaum mehr in der Lage, zusammenhängende Sätze zu sprechen. Als Anna dann auch noch vom Sofa fiel und dabei zwei Flaschen Bier umwarf, beschlossen wir, diesen Abend nun offiziell für beendet zu erklären. Anna rief sich ein Taxi und war eine Viertelstunde später auf dem Nachhauseweg.

Ich räumte ein bisschen von dem Chaos weg und schüttelte den Kopf. Der Teppich war von Bier durchtränkt.

»Na toll, Anna, was ne Sauerei.« Ich breitete zwei Geschirrhandtücher auf dem Fleck aus und wankte Richtung Badezimmer. »Und Tampons hast du mir auch keine mitgebracht, du Miststück«, murmelte ich und musste gleichzeitig kichern.

Schnell putzte ich mir die Zähne, knotete mein lockiges Haar zu einem dicken Zopf und warf mich in ein viel zu großes und schon total löchriges Nirvana-Shirt. Damit kuschelte ich mich in mein Bett und stellte erleichtert fest, dass sich das Zimmer nicht um mich drehte. Anscheinend war der Alkohol, den ich intus hatte, kein totaler Hirnkiller gewesen.

Bevor ich jedoch die Augen für meinen hoffentlich wohltuenden Schönheitsschlaf schloss, schaute ich ein letztes Mal auf mein Handy. Eine neue Nachricht.

UND? HAST DU ALLES ERHALTEN? ODER GAB ES EIN BLUTIGES MASSAKER?

Von ‚Anna Neu‘.

Selbst in meinem derzeitigen Zustand bemerkte ich, dass da etwas faul war.

HÄ?

Wenig intelligent antwortete ich.

DU HATTEST VORHIN DARUM GEBETEN UND NAJA ... WIE ES SCHEINT, WAR ICH WOHL DER FALSCHE ANSPRECHPARTNER.

WER ZUM TEUFEL BIST DU?

Schlagartig war ich wieder fit und setzte mich auf. Ich verstand gerade nur Bahnhof.

EIN GEHEIMNISVOLLER FREMDER.

ICH BIN GLAUB ZU BETRUNKEN, UM DARAUF GEISTREICH ZU ANTWORTEN, DESHALB LASSE ICH ES LIEBER FÜR HEUTE MAL GUT SEIN, antwortete ich und wollte das Handy wieder auf meinen Nachttisch legen, als es ein weiteres Mal vibrierte.

Ich las das OKAY, DANN BIS MORGEN und legte das Handy wieder zur Seite. Keine Ahnung, wer da auf der anderen Seite der Leitung war und was er wollte. Aber aus irgendwelchen Gründen brachte mich dieses vermeintliche Missverständnis gerade zum Grinsen.

... oder es war der Wodka. Es war mit Sicherheit nur der Wodka.

KAPITEL 2

Als ich kurz vor acht im Büro ankam, war ich vollkommen durch den Wind. Zu gerne hätte ich direkt nach dem Aufwachen Anna angerufen. Leider wusste ich nicht, wie. Denn wie es schien, antwortete mir ja von ihrer angeblich neuen Nummer ein völlig Fremder. Oder erlaubte sie sich einen Scherz mit mir? Zuzutrauen wäre es ihr. Ich wollte einfach nur Klarheit.

Ich ließ meine Handtasche neben dem Drehstuhl zu Boden fallen und wählte bereits Annas Büro-Durchwahl, bevor ich mich hingesetzt oder gar die Jacke ausgezogen hatte. Anna arbeitete zwei Stockwerke über mir, wir liefen uns daher nicht gerade häufig über den Weg, verabredeten uns allerdings regelmäßig zur gemeinsamen Mittagspause. Ich ließ es gefühlte einhundert Mal bei ihr klingeln. Ausgerechnet heute kam sie anscheinend erst später. Klasse. So viel hatten wir auch wieder nicht getrunken, dass sie erst mal ihren Kater auskurieren musste.

Ich setzte mich und versuchte mich zu sammeln. Was war schon dabei? Dann war das eben eine unbekannte Person, mit der ich die letzten Nachrichten ausgetauscht hatte. Er kannte mich nicht, ich kannte ihn nicht. Also war es auch egal, dass ich mich eventuell ein wenig blamiert hatte. Eventuell auch ein wenig sehr. Ich schüttelte den Kopf. Hatte ich tatsächlich einen völlig Fremden um Tampons gebeten? Das war eigentlich an Komik kaum zu überbieten! Ich kicherte und griff direkt ein weiteres Mal zum Telefonhörer, um Annas Büronummer zu wählen. Ich musste ihr diese lustige Story einfach sofort erzählen. Ungeduldig gab ich nach dem dritten Tuten auf. Dann halt nicht. Ich kramte mein Smartphone aus der Handtasche und las mir die SMS mit dem Unbekannten noch mal durch.

Wer er wohl war? Wie kam ich überhaupt darauf, dass es sich um einen »Er« handelte? Die unbekannte Nummer könnte genauso gut zu einer Frau gehören. Andererseits. Nein. Solche Sprüche kamen eindeutig nur von Männern. Außerdem hatte er sich als »Fremden« und nicht als »Fremde« bezeichnet.

Ich starrte noch einige Sekunden auf seine letzte SMS und gab mir dann einen Ruck. Ich begann zu tippen und klickte auf Senden.

OKAY, NOCHMAL VON VORNE: WER ZUM GEIER BIST DU? Direkt und unverfälscht. That’s me.

Ich musste keine Minute auf eine Antwort warten.

JAMES DEAN!

WIE DER FILMSTAR?

KLAR!

Ich rollte mit den Augen. Was war denn das für ein Freak? Da schien ja einer ein ziemlich übertriebenes Selbstwertgefühl zu haben. Noch wahrscheinlicher war allerdings, dass es sich um einen dicken Geek handelte, der den ganzen Tag nur vorm PC saß, World of Warcraft zockte und sich wünschte, auch nur annährend so auszusehen wie der frühere Schauspieler und Frauenschwarm. Gerade als ich genauso eine bissige Nachricht verfassen wollte, ging schon wieder die nächste von ihm ein.

UND DU?

Ich überlegte nicht lange. Es gab nur einen Namen, der in Frage kam.

MERIDA!

SO WIE DIE DISNEY-PRINZESSIN?

JAP. SEHE IHR ERSCHRECKEND ÄHNLICH.

Einen Moment später setzte ich mit einer weiteren Nachricht nach.

WAHRSCHEINLICH MEHR ALS DU JAMES DEAN!

DAS KANN SEIN ;-)

Ich kicherte kurz und entschloss mich dann, schnell den PC hochzufahren und meinen Kalender zu checken. Wenn Herr Peters sah, dass ich hier grinsend minutenlang am Handy hing, würde es wieder ein Donnerwetter geben, und das noch vor dem ersten Kaffee. Ohne mich!

Ich ging meine E-Mails durch, notierte mir einige Aufgaben auf meiner niemals enden wollenden To-Do-Liste und entschloss mich dann, eine Kanne Kaffee zu kochen. Immerhin war auch das eine meiner vielen undankbaren Aufgaben, die ich ohne zu murren erledigte. Tag für Tag.

Nachdem ich mir meinen ersten metaphorischen Einlauf für den Tag eingefangen hatte (der Kaffee war zu schwach, der Muffin zu trocken, die Exceltabelle zu unübersichtlich, mein Korrekturlesen um einiges zu langsam, und überhaupt würde ich ja so gar nichts zu seiner Zufriedenheit erledigen), vibrierte mein Handy und bewegte sich brummend über meinen Tisch.

Eine WhatsApp-Nachricht von einer unbekannten Nummer. Was war denn momentan los? Langsam wurde es unheimlich.

Ich klickte auf die Nachricht und wünschte mir im selben Augenblick, ich hätte es gelassen.

HALLO RUBY, HÄTTEST DU HEUTE ABEND ZEIT? LG CHRISTOPHER

Christopher, der Sohn von Christlinde oder wie diese Frau nochmal hieß. Das Blind Date. Der Typ hatte sich tatsächlich gemeldet. Fast musste ich lachen. Zum Glück hatte er mir über WhatsApp geschrieben, denn so konnte ich direkt auf sein Profilbild klicken und ihn genauer betrachten: Mann im Regencape im Wald. Okay. Das war wenig aussagekräftig. Ich konnte nicht mal seine Haarfarbe erkennen. Aber zumindest schien er kein kompletter optischer Reinfall zu sein. Höchstens ein Exhibitionist im Regencape, der anderen Leuten in Parks und auf Waldlichtungen auflauerte.

Ich seufzte. Dann würde ich der Sache einfach mal eine Chance geben. Ich antwortete recht reserviert, und wir klärten in ein paar kurzen Nachrichten Ort und Uhrzeit ab.

Wir verabredeten uns für 19 Uhr in dem italienischen Restaurant Da Vinci. Davon hatte ich zumindest nur Gutes gehört, und so würde mich eine ordentliche Lasagne hoffentlich über eventuell peinliches Schweigen hinwegtrösten.

Ich lehnte mich in meinem Bürostuhl zurück und schloss kurz die Augen, um mich zu sammeln. Ich bekam schon wieder Kopfschmerzen. Womit hatte ich das alles eigentlich verdient?

Ich beugte mich wieder nach vorne und starrte auf meine Tastatur. Irgendwie lief momentan einiges nicht so, wie ich es gerne hätte. Ich arbeitete für eine Firma, die ich hasste, sah aber momentan keinen anderen Ausweg, außer wieder zu meiner Mutter zu ziehen. Und DAS war nun wirklich keine gute Alternative. Außerdem war ich Single. Und wenn ich ehrlich sein musste, auch schon viel zu lange. Wahrscheinlich lag es an mir. Ich war zu wählerisch - aber leider auch nicht gerade ein Magnet für Akademiker und attraktive, intellektuelle Kerle. Vielmehr sprachen mich, wenn ich mal angesprochen wurde, nur Vollpfosten an! Oder eben verheiratete Männer, so wie Alex einer war.

Freak-Magnet. Den Spitznamen hatte mir Anna gegeben. Und ich hatte ihn auch redlich verdient. Stolz war ich darauf aber nicht. Ich hätte ja wirklich gerne einen Freund. Einen hübschen, süßen Kerl, mit dem ich gut auskam, der mich unterstützte, der vielleicht die gleichen Interessen hatte wie ich. Der vielleicht studiert hatte. Nicht mehr zu Hause bei Mutter wohnte, groß und gut gebaut war. Dunkelhaarig durfte er gerne sein und ... stopp! Ich hatte tatsächlich viel zu hohe Ansprüche. Immerhin war ich nicht gerade ein Victoria Secret-Model. Vielmehr konnten sich zwei Victoria Secret-Models hinter mir verstecken. Sie müssten sich nur etwas bücken, da sie mich wohl mit meiner sehr durchschnittlichen Körpergröße locker überragen würden.

Am ehesten passten die Adjektive »interessant« oder »besonders« zu mir. Ich war nicht wirklich eine Schönheit im klassischen Sinne. Ich hatte lockiges, viel zu wildes Haar, das zudem auch noch leuchtend rot war. Naturrot wohlgemerkt. Eine schreckliche Kombination aus Mutter (lockige Haare) und Vater (rote Haare). Heute trug mein schottischer Dad Glatze, aber ab und an ließ er sich einen Dreitagebart (ebenfalls rote Haare) stehen. Ihm und meinen von ihm vererbten schottischen Wurzeln hatte ich auch meine blasse Haut und die Sommersprossen zu verdanken. Leider war das nicht jedermanns Sache. Durfte ich überhaupt Ansprüche haben oder würde ich mit meinem Getue für immer alleine bleiben?

Ich griff nach meinem Handy und klickte auf das SMS-Symbol.

WAS TREIBST DU SO? ICH DENKE GERADE ÜBER DEN SINN DES LEBENS NACH.

Warum ich ihm schrieb, einem fremden Mann, von dem ich nichts wusste? Keine Ahnung. Aber vielleicht gerade deshalb. Oberflächlichkeiten spielten bei uns momentan keine Rolle. Eigentlich spielte nichts eine Rolle, da wir uns nicht kannten.

HÖRT SICH NACH DEPRI-STIMMUNG AN! EINE DER MEISTGESTELLTEN FRAGEN, WIE MIR SCHEINT. HAST DU DENN SCHON EINE ANTWORT GEFUNDEN?

Ich grinste. Anscheinend hatte der Kerl sein Handy genau wie ich immer in Reichweite bei sich liegen. Verrückt.

DAS ÜBLICHE: HEIRATEN, HAUS BAUEN, KINDER KRIEGEN ...

AHA, WIE ALT UM GOTTES WILLEN BIST DU DENN?

Prompte Antwort von James Dean.

LAUT MEINER MUTTER GENAU IM RICHTIGEN ALTER, UM MICH ENDLICH FORTZUPFLANZEN. ABER EIGENTLICH GERADE MAL 23.

OH GOTT ... DAS IST DOCH NOCH VIEL ZU JUNG, UM SICH EINE FAMILIE ANS BEIN ZU BINDEN.

Ich lachte auf. Das sah ich ähnlich. Ich hätte zwar gerne einen Freund, aber Hochzeit und Kinder sah ich momentan noch gar nicht. Mein Leben war doch vollkommen ungeregelt. Beruflich war bei mir alles ungewiss. Ich wusste ja nicht mal, ob ich hier in Heidelberg bleiben würde oder ob ich irgendwann gezwungen sein würde, für einen Job umzuziehen. Heutzutage musste man ja flexibel sein. Selten wartete der Traumjob direkt vor der Tür auf einen. Außerdem wollte ich es mir momentan auch einfach nicht nehmen lassen, spontan Party zu machen, wenn ich Lust darauf hatte.

Es klopfte, in der gleichen Sekunde öffnete sich die Tür und meine Kollegin Frau Müller blieb wie angewurzelt stehen. Sie musterte mich abschätzig und machte aus ihrer Verachtung keinen Hehl.

»Frau McAllister? Machen Sie eigentlich auch noch was anderes, außer stundenlang am Handy zu hängen? Dafür werden Sie nicht bezahlt!« Ich konnte kaum eine Entschuldigung nuscheln, da war die Hexe auch schon wieder verschwunden. Wahrscheinlich würde sie direkt petzen gehen. Aber dieses Geschleime kam bei unserem Boss ja anscheinend wunderbar an. Immerhin war Frau Müller ja eine seiner Lieblinge. Sie konnte ihm scheinbar besonders gut in den fetten Arsch kriechen. Ich sollte schleunigst meine To-Do-Liste abarbeiten und Herrn Peters nicht noch mehr Gründe auf dem silbernen Tablett präsentieren, um mich rauszuwerfen.

Die Mittagspause verbrachte ich heute wie so oft mit Anna, die nun auch endlich von den Toten auferstanden war. Mit dicker Sonnenbrille trotzte sie der Mittagssonne und ihrem lästigen Kater. Hatte sie wirklich so viel mehr als ich getrunken? Wir betraten ein kleines Café, das sich ganz in der Nähe unseres Arbeitsplatzes befand und setzten uns in eine der hinteren Nischen. Nachdem wir mit Kaffee und Bagels versorgt waren, ging es nun darum, das Wichtigste zu klären.

»Moment mal Ruby, noch mal langsam, damit auch ich es verstehe. Wer hat dir geschrieben?«

»Woher soll ich das denn wissen? Ich kenne den Typen nicht. Immerhin antwortet er doch von deiner angeblich neuen Nummer.«

»Oh Gott, schrei doch nicht so.« Anna kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken und kramte dann hektisch in der Tasche nach einer Kopfschmerztablette, die sie direkt nahm und mit ihrem Milchkaffee hinunterspülte. »Von meiner Nummer? Kann nicht sein. Gib mal dein Handy!«

Ich reichte ihr mein Smartphone und beobachtete, wie sie mit ihrem Daumen hin und her wischte.

»Ha, da ist der Fehler. Da gehört eine 5 hin, keine 6. Du hast eine Ziffer falsch eingegeben. Ich korrigiere es dir gleich ...«

»Warte, gib erst mal her!« Ich riss ihr das Handy aus der Hand und speicherte die falsche Nummer schnell unter dem Namen »James Dean« ab, bevor ich es ihr wieder zurückgab. »Gib deine Nummer einfach neu ein.« Anna grinste mich anzüglich an und hob eine Augenbraue. »Hat da jemand noch etwas vor? Vielleicht mit einem gewissen geheimnisvollen Unbekannten?«

»Naja, einfach nicht mehr melden wäre doch auch wirklich unhöflich. So bin ich nicht erzogen.«

»Ja, klar ...« Anna lachte und fasste sich dann mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Schläfen. »Boar, brummt mir der Schädel. Nächstes Mal bleiben wir bei Softdrinks. Das hochprozentige Zeug ist nichts für mich. Aber dir scheint es ja gut zu gehen ...« Ich nickte, biss hungrig in meinen Bagel und leckte mir mit der Zungenspitze etwas Frischkäse vom Mundwinkel.

»Das sind meine schottischen Gene«, murmelte ich mit vollem Mund. »Nun kommen wir aber zu einem wichtigeren Thema. Eventuell brauche ich dich heute Abend für eine spontane Rettungsaktion.«

»Sag bloß, der Typ hat sich gemeldet.« Ich nickte nur stumm. »Ruby hat heute Abend ein Blind Date. Wie aufregend!«

»Du kennst den Plan. Wenn ich dir eine leere SMS schicke, dann rufst du mich an und faselst irgendwas davon, dass du dringend ins Krankenhaus musst oder so. Also irgendwas, damit ich einen plausiblen Grund habe, abzuhauen.«

»Null Problemo. Aber sei mal nicht ganz so pessimistisch. Wer weiß, vielleicht ist es der Eine.« Ich zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe.

»Ich bezweifle, dass ein Typ, den meine Mutter gut findet, auch nur annähernd meinem Geschmack entspricht. Die findet ja auch Howard Carpendale stark.«

»Da hast du natürlich auch wieder recht.«

HEUTE ABEND ERWARTET MICH DER BLIND-DATE-HORROR.

Ich schrieb die SMS an Mr Dean mit der linken Hand, während ich mit der rechten das Glätteisen durch einige Haarsträhnen zog, um irgendetwas mit meinen Haaren anzustellen - und dabei natürlich kläglich scheiterte. Es dampfte und zischte. Aber ansonsten tat sich nichts. Also schaltete ich das Gerät wieder aus. Dann sah ich eben aus wie immer: Wie ein aufgeplatztes Sofakissen. Ich seufzte beim Blick in den Spiegel und wollte mich gerade mit etwas Mascara meinen Wimpern widmen, als mein Handy laut rappelnd auf dem Waschbeckenrand vibrierte.

SO SCHLIMM? WIRD SCHON KEIN MASSENMÖRDER SEIN., war die Antwort von Mr Dean, die mich aufseufzen ließ.

WÄRE MANCHMAL ZU BEVORZUGEN. DANN HÄTTE DAS DATE WENIGSTENS EIN SCHNELLES ENDE.

Als Antwort bekam ich ein Smilie, dem vor Lachen die Tränen aus den Augen schossen. Ein Kichern entwich mir.

MELDE DICH DOCH EINFACH SPÄTER NACH DEM DATE BEI MIR, DAMIT ICH WEIß, DASS ALLES OKAY IST. Seine nächste Nachricht stimmte mich fast schon verlegen. Wir kannten uns ja eigentlich nicht so gut, dass er sich um mich sorgen musste. Ich zuckte mit den Achseln, ließ mein Handy in meiner Handtasche verschwinden und bearbeitete mein Gesicht ausgiebig mit Make-up, Mascara, Eyeliner und Rouge. Fertig.

Dann zog ich mein dunkelblaues Lieblingskleid an, das mit den weißen Schwalben am Saum. Mit dem Trenchcoat über dem Arm kontrollierte ich ein letztes Mal den Inhalt meiner Handtasche und machte mich dann auf den Weg.

In der Straßenbahn auf dem Weg zum Da Vinci hoffte ich inständig, dass es sich bei Christopher vielleicht doch einfach um einen netten Kerl handelte und nicht um einen Langweiler oder Vollfreak. Ich würde den Abend doch wohl irgendwie überstehen ...

Circa zwei Stunden später musste ich mir eingestehen, dass ich den Abend auch deutlich schlechter hätte verbringen können. Christopher war wirklich nett, er studierte Medizin, sah recht gut aus und hatte wie ich eine Vorliebe für Tiramisu. Und: Er war stockschwul. Im Gegensatz zu seiner Mutter hatte ich das bereits nach zwei Minuten vermutet und war mir nach zehn Minuten mehr als sicher! Er erzählte mir von seiner Mutter, die immer wieder Verkupplungsversuche startete, weil sie einfach nicht einsehen wollte, dass er sich sein Leben anders vorstellte als sie. Da hatten wir zumindest eines gemein. Auch meine Mum wünschte sich für mich ein anderes Leben.

Er hatte sich bislang noch nicht offiziell geoutet, weil er ihre Meinung kannte und wusste, dass sie tief religiös - und leider so gar nicht weltoffen und tolerant war. Viel zu groß war seine Angst vor ihrer Reaktion, und so spielte er dieses Spiel einfach mit.

Wir aßen beide viel und tranken gemeinsam eine Flasche Rotwein. Es war ein wirklich netter Abend, und wir gingen freundschaftlich auseinander. Zum Abschied bekam ich zwei Küsschen auf die Wangen, und wir versprachen uns, das zeitnah zu wiederholen. Immerhin hatten wir Spaß gehabt, und unsere Mütter wären auch höchst erfreut.

Im Taxi auf dem Weg nach Hause schrieb ich zuerst Anna eine SMS.

ENTWARNUNG! WAR ERSTAUNLICH NETT. ABER ICH BIN NICHT SEIN TYP. DAS DÜRFTE WOHL EHER RYAN GOSLING SEIN, WENN DU VERSTEHST ...

Danach schrieb ich an James Dean.

LEBE NOCH. WAR KEIN KETTENSÄGENMÖRDER, DAFÜR EIN NETTER, ÄUßERST SCHWULER MEDIZINER.

Beinahe zeitgleich gingen ihre Antworten ein. Von beiden bekam ich ein lachendes Smilie. Ich brach in schallendes Gelächter aus, und der Blick des Taxifahrers im Rückspiegel bewies, dass es durchaus Menschen gab, die mich für irre hielten und hofften, den Abend ohne Kettensägenmassaker hinter sich zu bringen.

KAPITEL 3

Wie verbrachte eine junge Frau am besten ihren Freitagabend? Die meisten waren wahrscheinlich auf einer Party oder tanzten in einer Disko mit ein paar Männern, auf der Suche nach dem einen, mit dem sie ein paar angenehme Stunden verbringen konnten.

Ich hingegen genoss es, einfach früh im Bett zu liegen, eine Keksdose neben mir auf der Matratze, einer Tasse heißen Kakao in der Hand und einer total dämlichen Frauenzeitschrift auf dem Schoß. Die Familiengeschichte der Kardashians, der neue Lover von irgendeiner Prinzessin aus einem Königshaus, welcher Bikini-Typ sind Sie, 5 Kilo verlieren in 14 Tagen ... Das waren die vielversprechenden Schlagzeilen. Total dämlich. Jede halbwegs intelligente Frau wusste, dass einem da ein Bär nach dem anderen aufgebunden wurde, aber es war eben unterhaltsam. Genau wie Talkshows und Bauer sucht Frau. Wenn ich mich intellektuell verausgaben wollte, dann las ich Kafka.

Mein großes Bücherregal bewies, dass mein Geschmack sehr breit gefächert war. Von Goethe und Hans Magnus Enzensberger bis hin zu Tolkiens Werken und der gesamten Twilight-Reihe von Stephenie Meyer fand man hier eigentlich alles. Ansonsten kam ich mit Trash ganz gut klar, und nicht selten verabredeten Anna und ich uns für eine neue Folge Frauentausch, nur um uns am Ende tierisch über die Teilnehmer aufzuregen - oder uns kaputtzulachen.

Mein Handy vibrierte. Ich griff danach, öffnete einhändig die eingegangene SMS und trank gleichzeitig einen Schluck meiner Schokomilch.

WAS TREIBST DU?

James Dean erkundigte sich nach mir. Wie auf Knopfdruck bildete sich ein monströses Grinsen in meinem Gesicht.

ICH TRINKE KAKAO, ESSE SCHOKOKEKSE UND LESE FRAUENKRAM.

SHADES OF GREY?

Ich grunzte vor Lachen. Hätte er mich das mal vor ein paar Wochen gefragt. Da hätte er mit seiner Vermutung sogar goldrichtig gelegen.

NE, DAS HAB ICH SCHON LÄNGST GELESEN. MOMENTAN IST ES EINFACH EINE FRAUENZEITSCHRIFT.

Ich schoss ein Foto von dem bunten Cover, das irgendein Model im Bikini zierte, und schickte es ihm.

HÜBSCHE BETTWÄSCHE, antwortete er prompt, und ich schaute skeptisch um mich. War das Ironie? Das war so ziemlich die günstigste Bettwäsche, die man bei IKEA kaufen konnte. Ein einfaches blaues Muster auf weißem Grund.

ERNSTHAFT?

KLAR!

Mit seiner Antwort ging ein Bild ein, und ich lachte laut auf. Es war ein Bild, das ungefähr aus der gleichen Perspektive geschossen war wie meins - und es war genau die gleiche Bettwäsche darauf zu sehen.

HAHA, WIE LUSTIG. DU BIST ALSO AUCH IKEA-FAN?

ICH LIEBE VOR ALLEM DIE HOTDOGS. ES GEHT NICHTS ÜBER LEERE KALORIEN.

Seine Aussage brachte mich zum Grinsen. Ziemlich sympathisch. Ich mochte Menschen, die es wie ich genossen, einfach mal etwas Leckeres zu essen und sich nicht dauernd unnötig kasteiten.

AMEN!

Dazu sendete ich ein Foto von einem Schokokeks in meiner Hand.

UND? WILLST DU AUCH 5 KILO IN 14 TAGEN VERLIEREN?

Kurz musste ich überlegen, woher jetzt diese Anspielung kam und ob meine Finger auf dem Keks-Foto besonders fett aussahen. Dann erinnerte ich mich aber an die Schlagzeilen auf dem Cover der Zeitschrift.

ICH WÜRDE GERNE 15 KILO IN 14 TAGEN ABNEHMEN, ABER DAFÜR MÜSSTE ICH MIR EIN BEIN AMPUTIEREN.

SCHLAGFERTIGE ANTWORT. Es folgten noch ein paar lachende Emoticons.

HAST DU SCHON DEN GROßEN PARTNER-TEST GEMACHT?

Fragte er mich so auf eine dezente Art und Weise, ob ich Single war?

NOCH NICHT. LUST?

KLAR.

Ich stellte meine Tasse auf dem Nachttisch ab, blätterte auf Seite 21 und startete mit der ersten Frage.

HABT IHR EUREN PARTNER SCHON MAL BETROGEN ODER WURDET IN DER VERGANGENHEIT SCHON MAL BETROGEN?

Ich tippte die Frage ab und wartete auf seine Antwort. Sie kam schnell.

WEDER NOCH, DU?

ICH WURDE BEREITS BELOGEN UND BETROGEN.

DAS IST SCHADE. Er antwortete mit einem traurigen Emoticon.

STIMMT!

Ich seufzte, biss in meinen Keks und spülte mit einem Schluck Kakao nach. Ich wollte auf das Thema nicht näher eingehen. Sonst würde ich wieder emotional werden. Also ging ich direkt weiter zu Frage zwei.

KÖNNT IHR AUF ANHIEB FÜNF POSITIVE DINGE ÜBER EUREN PARTNER SAGEN?

GEHT‘S JETZT EIGENTLICH GERADE UM UNS BEIDE?

Er überraschte mich mit dieser Frage. Gleichzeitig war das doch ziemlich lustig. Immerhin kannten wir uns nicht. Die Antworten könnten also interessant werden.

KLAR, LASS MAL HÖREN.

DU BIST LUSTIG, HAST TOLLE BETTWÄSCHE, DU ISST GERNE KEKSE ÄHM ...

Ich wartete geduldig auf zwei weitere positive Eigenschaften von mir.

DEINE FINGERNÄGEL SIND ROT LACKIERT. ALSO BIST DU BESTIMMT FEURIG UND LEIDENSCHAFTLICH IM BETT.

Ich prustete und verschluckte mich an meinem Kakao. Mr Dean war ja ganz schön direkt. Ich mochte das, dieses Flirten auf Distanz. Zumal er dabei nicht schmierig war, eher lustig.

DAS WAREN KEINE 5, DA FEHLT NOCH WAS.

FRAG MICH IN EIN PAAR WOCHEN NOCHMAL. BESTIMMT WEIß ICH DANN 10 POSITIVE DINGE VON DIR!

ABGEMACHT!

Ich lächelte in mich hinein und konnte nichts dagegen tun, dass sich ein Kribbeln in mir ausbreitete. Es machte einfach Spaß, mit ihm zu schreiben, und es freute mich, dass es ihm wohl genauso ging. Anscheinend hatte er nicht vor, den Kontakt demnächst abzubrechen. Das war irgendwie schön zu wissen und fühlte sich wie ein Versprechen an. Mal sehen, ob er es auch halten würde oder ob er sich wie viele Männer vor ihm als Lügner oder Schwätzer enttarnen würde.

HABT IHR BEI FILMEN DEN GLEICHEN GESCHMACK?

Die dritte Frage.

KLAR! DIE KLEINE SCHOTTISCHE PRINZESSIN STEHT AUF DISNEY, WER NICHT?

GUTE ANTWORT.

Und gut gekontert. Schnell tippte ich weiter.

IST EUER SEXLEBEN AUSGEGLICHEN?

Ich kicherte kindisch. Man könnte meinen, ich wäre fünfzehn.

HALLO? KEIN BISSCHEN. DU HAST MICH JA NOCH NIE RANGELASSEN!

DU MICH JA AUCH NICHT, DU PRÜDER KERL.

James Dean antwortete mit einem beleidigten Smilie, das mir die Zunge herausstrecke.

KÖNNT IHR MIT EUREM PARTNER ÜBER EURE SEXUELLEN WÜNSCHE SPRECHEN?

War die fünfte Frage, die mir, sobald ich auf Senden geklickt hatte, rote und glühende Wangen bescherte. Was tat ich hier nur?

WIR KÖNNEN ES JA MAL VERSUCHEN, ERZÄHLE MIR MAL VON DEINEN GEHEIMEN WÜNSCHEN UND SEHNSÜCHTEN ;-)

War das schon Sexting? Machten wir gerade Sex per SMS? Es ging ziemlich in die Richtung. Und irgendwie gefiel es mir. Dieser verrückte Test.

DAS HÄTTEST DU WOHL GERNE ... ALS OB ICH JEDEM DAHERGELAUFENEN TYPEN MEINE SEXUELLEN INTERESSEN UNTER DIE NASE REIBEN WÜRDE ...

MMMMHH ... MIR DÜRFTE MAN SO EINIGES DAVON UNTER DIE NASE REIBEN ;-)

Ich fächerte mir Luft zu und knabberte hektisch an einem Keks. Mein komplettes Dekolleté war voller Krümel, aber das war gerade nebensächlich.

WIE LÄUFT NACH EINEM STREIT DIE VERSÖHNUNG AB?

LASS UNS NOCH MAL ÜBER DEINE GEHEIMEN SEXUELLEN WÜNSCHE SPRECHEN. DAMIT KLAPPT DANN AUCH DIE VERSÖHNUNG!

Seine Antwort war mehr als gelungen.

HABT IHR GEMEINSAME FREUNDE?

OH MANN, DAS BRICHT UNS DAS GENICK. WIR HABEN NUR UNS UND UNSERE HANDYS.

HABT IHR SCHON MAL ERNSTHAFT DARÜBER NACHGEDACHT, DIE BEZIEHUNG ZU BEENDEN?

Ich schickte nun einfach Frage um Frage weiter und sog seine Antworten auf. Es machte höllischen Spaß. Beim Lesen verschlang ich einen Keks nach dem anderen, ohne es zu bemerken.

NIEMALS. DIE LETZTEN TAGE MIT DIR WAREN VIEL ZU SCHÖN.

DAS STIMMT.

Ich bereute meine Zustimmung schon fast. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, einen Fehler zu machen und diesen Mann zu schnell an mich heran zu lassen. Was total seltsam war, da ich ihn faktisch ja gar nicht an mich heranließ. Wir schrieben ja nur miteinander. Aber ...

UND NUN? SIND WIR EIN TRAUMPAAR?

Ich verschwieg, dass da noch knapp zwanzig weitere Fragen waren, die ich ihm noch nicht geschickt hatte und wir somit noch nicht mal die Hälfte des Tests durchhatten.

100%. ROMEO UND JULIA KÖNNTEN SICH GLATT NE SCHEIBE VON UNS ABSCHNEIDEN, SO MEGA GUT PASSEN WIR ZUSAMMEN.

WUSSTE ICH‘S DOCH. DIE ZWEI TOTEN SCHLAGEN WIR LOCKER! Ich nickte, ganz ungesehen für mich, und stimmte ihm somit zu. Und das war total krank, denn ich kannte ihn gar nicht. Genauso gut konnte ein 75-jähriger, fetter Kerl am anderen Ende der Leitung sitzen und sich einen Spaß daraus machen, mit mir Nachrichten auszutauschen. Liest man ja immer wieder von.

DAS HAT SPAß GEMACHT, SOLLTEN WIR IRGENDWANN WIEDERHOLEN. ICH HALTE MAL AUSSCHAU NACH NEUEN PSYCHOTESTS.

GERNE. Seiner Antwort schickte er ein Emoticon mit geröteten Wangen hinterher. SO, SCHOTTISCHE PRINZESSIN, ICH MACH DANN MAL DIE ÄUGLEIN ZU UND TRÄUME VON DEINEN SEXUELLEN VORLIEBEN.

ICH HAB DIR KEINE EINZIGE GENANNT. Ich grinste bei meiner Verteidigung wie eine Wahnsinnige, was er zum Glück nicht sehen konnte. Seit wir begonnen hatten, diesen Test zu machen, war mein Grinsen immer breiter geworden. Was machte dieser Kerl nur mit mir?

DAS SPIELT KEINE ROLLE, ICH HABE EINE SEHR AUSGEPRÄGTE UND BILDHAFTE FANTASIE ;-)

Zum Glück wusste er nicht, wie ich aussah. Der Gedanke, dass er sich mich beim Sex vorstellte, würde mich ansonsten beschämen.

Wahrscheinlich würde es mich auch nervös machen. Und verlegen.

Und extrem geil.

KAPITEL 4

Das Gute an Samstagen war ganz klar, dass ich nicht arbeiten musste und ausschlafen konnte. Seit ich allerdings meine eigene Wohnung hatte, nutzte ich diese freie Zeit trotzdem auch für unerfreuliche Aufgaben. Heute war zum Beispiel ein großangelegter Putztag an der Reihe. Meine Wohnung hatte eine Grundreinigung bitter nötig. Der Badezimmerboden klebte, im Kühlschrank war mir vor einigen Tagen eine Ketchupflasche ausgelaufen, und die Fenster hatten nach einem langen Winter eine Reinigung wirklich verdient. Immerhin zwitscherten die Vögel morgens schon wieder um die Wette, und die Bäume begannen langsam zu grünen. Wäre schön, wenn ich das auch von meiner Wohnung aus sehen könnte.

Ich hatte gerade das Küchenfenster geputzt und auch gleich die vertrockneten Pflanzen vom Fensterbrett entsorgt, als mein Telefon klingelte. Wohlbemerkt: Das Festnetztelefon! Das bedeutete, es war entweder meine Mutter oder meine Oma. Ansonsten rief mich niemand zu Hause an. Überhaupt sprach man doch heutzutage kaum mehr miteinander. Selbst mein Vater, der seit einigen Jahren wieder in Schottland lebte, zog es vor, mich nur noch über WhatsApp anzuschreiben oder mir dort Sprachnachrichten zu schicken. Fast alle meine Freunde nutzten die App - außer Anna. Die hatte was dagegen, ihre persönlichen Daten an ein amerikanisches Unternehmen weiterzugeben. Mir machte das hingegen so gar nichts aus. Was Facebook noch nicht über mich wusste, hatten Amazon und Google schon längst herausgefunden. Ich trocknete mir die Hände ab, warf das Geschirrhandtuch nachlässig auf den Küchentresen und ging zum Telefon.

»McAllister«, meldete ich mich.

»Schätzchen, Deine Mama.« Wusste ich es doch.

»Was gibt`s?«

»Störe ich dich gerade bei etwas Wichtigem?«

»Ich räume auf.«

»Ich halte dich auch nicht lange auf. Ich wollte dir nur erzählen, dass Christhilde mich gerade angerufen hat und dass du wirklich einen wunderbaren Eindruck auf ihren Christopher gemacht haben musst. Er hat sehr von dir geschwärmt ...«

Ich setzte mich an den Esstisch und schaltete auf Durchzug. Christopher schien sein Versteckspiel weiter aufrechterhalten zu wollen oder hatte einfach keine Lust auf Diskussionen. Ab und an versuchte ich den Redeschwall von meiner Mum mit einem bestätigenden »Mhm« zu unterstreichen, so dass sie wusste, dass ich noch da war und ihr aufmerksam zuhörte. In Wirklichkeit holte ich mein Handy aus meiner Jeans, um mal eben meine Facebook-Timeline zu checken. Doch dann sah ich auf dem Display, dass mir James Dean geschrieben hatte.

GEHEIMNISVOLLE DISNEY-PRINZESSIN, WIE HEIßT DU EIGENTLICH WIRKLICH?

Oh, James Dean wollte wohl langsam Details. Ziemlich schade. Die Anonymität war irgendwie nett. Mal was anderes. Ich fühlte mich wohl, so wie es war.

WARUM WILLST DU DAS WISSEN?

AUS INTERESSE. EINFACH SO. IRGENDWIE MÖCHTE ICH WISSEN, MIT WEM ICH STÄNDIG SCHREIBE.

DU ZUERST. Bevor ich meine Identität preisgab, wollte ich erst mal alles über ihn wissen, und dann würde ich mir gut überlegen, ob und wie ich antworten würde.

OKAY, MEIN NAME IST JOHANNES HOFFMANN UND ICH WOHNE IN BERLIN. PUUUH, JETZT IST ES RAUS ;-)

Ich sprintete zum Laptop und ließ auf halbem Weg das Telefon fallen. Verdammt, meine Mum.

»Ruby? Ruby? Ist alles okay? Bist du noch dran?«

»Sorry Mum, mir ist nur eben das Telefon aus der Hand gerutscht.« Ich klappte meinen Laptop auf, setzte mich an meinen Schreibtisch und googelte in Windeseile „Johannes Hoffmann Berlin“. Die Suchmaschine spuckte in 0.54 Sekunden 427.000 Ergebnisse aus.

Die Bildersuche war nicht eindeutig. Viele junge und auch alte Männer in schwarz-weiß, teilweise sogar aus einer anderen Zeit. Johannes Hoffmann war wohl ein Allerweltsname. Verdammt. Ich ging zurück zu den Suchergebnissen und fand darunter auch zwei Facebook-Profile. Das Erste zeigte einen dunkelhaarigen Kerl, der mit einem Hund für ein Selfie posierte, das andere einen blonden, etwas rundlichen Kerl im Schalke Trikot. Ich stieß ein stummes Gebet gen Himmel aus. Bitte nicht der Schalke-Typ!

»Ruby, was hältst du denn jetzt von Mittagessen morgen bei mir?« Ach ja, meine Mum war ja auch noch da.

»Super Idee. Soll ich etwas mitbringen?«

»Du könntest ja einen netten Nachtisch für uns ...«

»Mach ich, Mum, wir sehen uns morgen!« Ich legte schnell auf und scrollte mich durch die beiden Facebook-Profile. Ich war so aufgeregt, dass mein Zeigefinger während des Scrollens zitterte.

GIB‘S ZU! DU GOOGELST MICH!

Die nächste Nachricht von James, der nun Johannes hieß.

ACH WAAAAAAAAAS ...

DAS IST GEMEIN! E