Nachrichten von Nirgendwo - William Morris - E-Book

Nachrichten von Nirgendwo E-Book

William Morris

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Beschreibung

Nachrichten von Nirgendwo” (engl. “News From Nowhere”), eines der bedeutendsten englischen Werke zum Thema Utopie, ist die Geschichte von William Guest, einem Viktorianer, der eines Morgens im Jahr 2102 aufwacht und eine Gesellschaft vorfindet, die sich bis zur Unkenntlichkeit in ein pastorales Paradies verwandelt hat, in dem alle Menschen in glückseliger Gleichheit und Zufriedenheit leben. “Nchrichten von Nirgendwo” ist ein sozialistisches Meisterwerk, eine Vision einer Zukunft ohne Kapitalismus, Isolation und Industrialisierung.

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Seitenzahl: 305

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WILLIAM MORRIS

 

 

 

 

NACHRICHTEN VON NIRGENDWO

 

 

 

 

 

Roman

NACHRICHTEN VON NIRGENDWO wurde im englischen Original (“News from Nowhere”) zuerst beginnend im Jahr 1890 als Reihe im Commonweal Journal in Großbritannien veröffentlicht.

Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

1. Auflage 2022

 

V 1.0

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

ISBN 978-3-96130-520-9

 

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Nachrichten von Nirgendwo

Impressum

Einleitung zu dem Roman

Diskussion und Nachtruhe

Ein Morgenbad

Das Gästehaus und das Frühstück

Ein Markt am Wege

Kinder auf der Strasse

Ein bißchen »Shopping«

Trafalgar Square

Ein alter Freund

Handelt von Liebe

Fragen und Antworten

Die Regierungsformen

Wie das Leben eingerichtet ist

Über Politik

Wie die Geschäfte besorgt werden

Über den fehlenden Reiz zur Arbeit in der kommunistischen Gesellschaft

Mittagsmahl in der Markthalle von Bloomsbury

Wie der Umschwung kam

Der Anfang des neuen Lebens

Die Rückfahrt nach Hammersmith

Den Fluß aufwärts

Einer, der die alte Zeit lobt

Der zweite Tag

Der dritte Tag auf der Themse

Das Ende der Fahrt

Ein altes Haus unter neuen Menschen

Der Anfang des Festes ˗˗ das Ende

Eine kleine Bitte

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Zu guter Letzt

EINLEITUNG ZU DEM ROMAN

Ja, wo liegt ˗ Nirgendwo? Nun, wo soll es liegen? Welches Nirgendwo? Welches von den vielen Taufend und Hunderttausend, Millionen und Billionen Nirgendwo, die es gegeben hat, gibt und geben wird, solange der Mensch etwas anderes ist als eine selbsttätige Maschine, als ein Selfaktor von Fleisch und Blut? Hat doch jeder Mensch sein Nirgendwo ˗ und die meisten nicht bloß eines, sondern mehrere, viele. Und das einzige, was wir über die Lage von Nirgendwo wissen, ist, daß es nicht da liegt, wo wir sind und wo wir glauben.

Nirgendwo, das ist die Welt der Wünsche, der Träume, der Ideale. Die Fee, welche dem großäugigen Kind die Leidens˗ und Glücksgeschichte Schneewittchens und des Aschenputtels erzählt, sie kommt von Nirgendwo; die Musen, welche dem Jüngling den Hippogryphen satteln »zum Ritt ins alte romantische Land«, sie kommen von Nirgendwo; der Halbgott, den die Jungfrau, die Halbgöttin, nein Göttin, die der Jüngling sich sehnsuchtsvoll zugesellt, sie wohnen in Nirgendwo; die Ruhe, die Sorgenlosigkeit, die dem arbeitenden Manne, dem arbeitenden Weibe während des nie rastenden Kampfes um das Dasein als Fata Morgana vorgaukelt, sie wohnt in Nirgendwo; und der Siegeslorbeer, nach dem der sterbende Fechter schaut ˗ er winkt aus Nirgendwo.

Nirgendwo, das Land der Wünsche, der Träume, der Ideale, der Zukunft. Das Land der Zukunft, die kommende Zeit. The good time coming ˗ »die gute kommende Zeit« des gegenwartsmüden Arbeiters. In die Zukunft flüchten sich die Wünsche. Alles Schöne und Gute, das die Gegenwart mit rauher Hand zurückweist, flieht in die schrankenlose, unbegrenzte, allem und allen Raum bietende, schimmernde Zukunft.

Immer weiter dringt der Menschengeist vor, Reich um Reich erobert er, doch niemals hat er genug; ungeduldig ˗ und wäre das Reich noch so groß ˗ läßt er den Blick über die Grenze hinwegschweifen, will wissen, welche neuen Reiche der morgige Tag ihm erschließen wird.

Aber ein Schleier verhüllt, was hinter der Grenze liegt. Mehr als ein Schleier ˗ denn durch einen Schleier kann man doch wenigstens Umrisse ahnen ˗, es ist ein Vorhang, ein dicker, schwerer, eiserner Vorhang. Ihn zu heben, durch irgendeine Spalte hindurchzugucken, wen gelüstete es nicht? Bon der Köchin, die den zukünftigen sehen will, bis zum politisierenden Sancho Pansa, der vor Neugierde platzt, ob er im Zukunftsstaat auch sein Leibessen in genügender Menge und Güte bekommt, hat jeder und jede ˗ wenigstens zuzeiten, das heißt wenn Zeit dazu ist ˗ ein brennendes Verlangen, den Schleier der Zukunft zu lüften, den dicken, schweren, eisernen Vorhang zu heben.

Mancher hat gesagt, es sei ihm gelungen. Er nannte sich Prophet, und verlegte sich aufs Prophezeien. Im großen und ganzen haben sie kein Glück gehabt, die Propheten und Prophezeier. Indes ihr Geschlecht ist noch nicht ganz ausgestorben, wenn auch die Überbleibsel etwas auf den Hund gekommen sind wie so viele alte Herrschergeschlechter.

Namentlich der Wetterprophet und der politische Prophet sind in argem Verruf; allein das Prophetentum hat eine geheimnisvolle Anziehungskraft, so daß die Zahl derer nicht alle wird, die das von ihm untrennbare Martyrium der Lächerlichkeit voll Heldenmut auf sich nehmen.

Sich die Zukunft ausmalen ˗ das Zukunftsland schauen, den Zukunftsstaat, die Wunderwelt von Nirgendwo, wen lockte es nicht? Aus der Vergangenheit die Zukunft herauslesen ˗ wer hätte es nicht versucht? Und wer betrachtet gleichgültig die Versuche, auch wenn er die Unmöglichkeit kennt? Alle Schilderungen der mit dem Vorhang der Zukunft bedeckten Wunderwelt Nirgendwo haben deshalb einen magischen Reiz und erfreuen sich allezeit großer Beliebtheit und Volkstümlichkeit. Und nun jetzt, in dieser brodelnden, gärenden Gegenwart, wo eine Welt in Kindes˗ und Todesnöten ist und eine neue Welt sich hervorringt ˗ wer brennt nicht, zu wissen, was der morgige Tag bringt? Gerade in Zeiten der Auflösung, des Wechsels, der Umgestaltung, der gesellschaftlichen und staatlichen Neugeburt ist der Hang zu Wanderungen ins Land Nirgendwo, das auf Griechisch Utopia heißt, am lebhaftesten.

Und einen Vorteil hat jeder Zukunftsstaat ˗ ganz abgesehen von dem Vergnügen, das er uns bereitet ˗, er ist unser Staat, er ist so, wie wir ihn wollen und wünschen.

Seit der Amerikaner Bellamy uns in seinem »Rückblick«, der in Wirklichkeit ein Vorblick ist, das Jahr 2000 gezeigt hat, sind die »Utopien« ˗ die Schilderungen des Landes Nirgendwo ˗ wie Pilze aus dem Boden hervorgewachsen. Meistens schale, talentlose Nachahmungen. Indes auch tüchtige. Und die »Kunde von Nirgendwo« von allen wohl die tüchtigste. Ein Dichter hat sie geschrieben, ein echter Dichter; und der echte Dichter ist sprichwörtlich ein Seher, also gewissermaßen Prophet von Natur und Beruf. Und dazu ist William Morris, der Gründer der »Sozialistischen Liga«, an welche sein Zukunftsgedicht sich anschließt, ein Sozialdemokrat vom Scheitel zur Sohle. Er gibt uns seinen »Zukunftsstaat«, das heißt den Zukunftsstaat, wie er, aus einer Klubsitzung kommend, in einer geistig anregenden Wintersnacht mit Dichter˗ und Seherblick ihn geschaut hat.

Über die Dichtung selbst nur zwei Worte. Sie hat ihre Erklärung in sich. Der Schauplatz ist das heutige London mit seiner Nachbarschaft ˗ und wer sich in den Örtlichkeiten zurechtfinden will, dem raten wir, sich eine Karte der englischen Weltstadt, oder besser der Weltstadt ˗ denn es gibt nur eine, und sie heißt London ˗ nebst deren Umgebungen anzuschaffen. Das wäre ein trefflicher »Führer« für das »Nirgendwo« unseres William Morris. Und wer William Morris noch nicht kennt, der lernt ihn kennen aus seinem Nirgendheim. Da ist er wie er leibt und lebt, mit seiner romantischen Liebe zum »präraffaelitischen« Mittelalter, mit seinem romantischen Haß gegen die Maschinen und seiner etwas »anarchistischen« Freiheit und Selbstherrlichkeit des Individuums. Auf diese letztere Eigenschaft mache ich namentlich die manchesterlichen Leierkastenmänner mit der Gassenhauermelodie des »Zwangsstaats« aufmerksam. Im Nirgendwo unseres Morris herrscht der schönste »Individualismus« ˗ da kann jeder nach seiner Fasson selig werden, und wem die Morrisschen Häuser und Einrichtungen nicht gefallen, der mache sich andere.

 

DISKUSSION UND NACHTRUHE

Drüben in unserem Klub, berichtet ein Freund, erging man sich eines Abends in einer sehr lebhaften Diskussion über den »Zukunftsstaat« ˗ wie es nach der Revolution in der Welt aussehen würde; und mehrere Genossen Zeichneten in mehr oder weniger kräftigen Umrissen die voll entwickelte sozialistische Gesellschaft, so wie sie sich dieselbe vorstellten.

Verhältnismäßig ˗ erzählt unser Freund ˗ verlief die Diskussion ruhig genug und in schönster Ordnung) die Anwesenden waren sämtlich an öffentliche Versammlungen und an Debatten nach Vorträgen gewöhnt: und wenn sie auch nicht gerade aufeinander hörten (was von ihnen kaum zu verlangen war), so redeten sie doch auch nicht alle auf einmal, wie es in der gewöhnlichen guten Gesellschaft zu geschehen pflegt, wenn ein Thema, das sie interessiert, zur Sprache kommt. Es waren sechs Personen zugegen, die selbstverständlich ebenso viele Parteigruppen vertraten und von denen vier stark anarchistischen, aber sehr verschiedenen Anschauungen huldigten. Der Vertreter der einen »Gruppe«, den unser Freund genau kennt, verhielt sich anfangs ziemlich einsilbig, ließ sich jedoch in das Gespräch hineinziehen und ereiferte sich allmählich derart, daß er schließlich in heftigem Tone jeden Andersdenkenden für einen Narren erklärte. Darob erhob sich ein großer Tumult, auf den nach einer Weile zur Abwechslung eine Ruhepause folgte. Diese ward von besagter »Person« dazu benutzt, den Anwesenden freundschaftlichst eine geruhsame Nacht zu bieten und sich alsdann auf den durch eine westliche Vorstadt führenden Heimweg zu machen, zu welchem Zweck sie sich des uns von der Kultur aufgenötigten und zur Gewohnheit gemachten Verkehrsmittels der unterirdischen Eisenbahn bediente. Als der erwähnte Parteimann mit seinen mürrischen Reisegefährten mißvergnügt in diesem Dampfbad, einem Wagen der unterirdischen Eisenbahn schmorte, ließ er, in selbstvorwurfsvoller Stimmung, alle unwiderleglichen und sieghaften Argumente vor sich aufmarschieren, von denen er in der Diskussion keinen Gebrauch gemacht hatte, obgleich sie vor der Nase lagen. Allein er war mit dieser Gemütsverfassung bereits zu vertraut, um sich lange von ihr quälen zu lassen, und nach einer flüchtigen Verstimmung über seinen ˗ gleichfalls gewohnheitsmäßigen ˗ Mangel an Selbstbeherrschung blieben seine Gedanken an dem Hauptgegenstand der Erörterungen haften, ohne daß seine Verdrossenheit und sein Mißbehagen gewichen wären.

»Wenn ich nur einen Tag der neuen Zeit erleben könnte,« sagte er sich, »nur einen einzigen Tag!«

Er hatte diesen Wunsch noch nicht ausgewünscht, als der Iug an seiner Station hielt, von wo er fünf Minuten zu seinem oberhalb einer häßlichen Kettenbrücke am Themseufer gelegenen Hause zu gehen hatte. Er stieg aus und murmelte immer noch recht verdrießlich vor sich hin: »Wenn ich ihn nur erleben könnte! Nur einen einzigen Tag!« Er war aber noch nicht viele Schritte gegangen, so fühlte er ˗ wie unser Gewährsmann berichtet ˗, daß alles Mißbehagen, alle Unruhe plötzlich von ihm wich.

Es war eine schöne Frühwinternacht und die Luft gerade scharf genug, um nach der Hitze des Klublokals und dem muffigen Dunst des Eisenbahnwagens erfrischend und belebend zu wirken. Der Wind, der etwas nach Nordwest umgesprungen war, hatte den Himmel rein gefegt bis auf ein paar helle Lämmerwölkchen, die in schnellem Zuge dahinflatterten. Der junge Mond hing seine Sichel hinter die wirren Zweige einer stattlichen alten Nüster, und bei seinem Anblick wurde dem Wanderer zumute, als befände er sich gar nicht in einer rußigen Vorstadt Londons, sondern auf einem freundlichen, heiteren Stück Landes.

Er wanderte geradeswegs zum Flußufer und verweilte ein wenig, um über die niedere Mauer nach dem mondbeschienenen Fluß zu schauen. Die häßliche Brücke gewahrte der Wanderer nicht oder achtete ihrer nicht, einen flüchtigen Augenblick ausgenommen, in welchem ihm auffiel, daß die Lichterreihe stromabwärts nicht zu bemerken war. Darauf schritt er seinem Hause zu und schloß auf, und sowie er die Türe hinter sich zudrückte, verschwand jede Erinnerung an die glänzende Logik und den Seherscharfsinn, durch welche die Zukunftsstaatsdiskussion sich ausgezeichnet hatte, und von dieser selbst blieb keine Spur, außer einer verschwommenen, wie eine Vorfreude empfundenen Hoffnung auf Tage der Ruhe, des Friedens, der Unschuld und heiter lächelnder Menschenfreundlichkeit.

Von dieser Stimmung beherrscht zog er sich rasch aus und eilte ins Bett, um seiner Gewohnheit gemäß zwei Minuten später in Schlaf zu versinken. Seiner Gewohnheit zuwider erwachte er aber bald darauf in jener wunderlich munteren Verfassung, wie sie selbst gute Schläfer zuweilen kennen lernen, einer Verfassung, in der all unsere Lebensgeister sich aufs äußerste anspannen, während die ganzen Jämmerlichkeiten, die uns je beunruhigt, jeder Schimpf, jeder Verlust, den wir je erfahren, sich der Erwägung unserer geschärften Lebensgeister aufdrängen.

In diesem Zustand verharrte er so lange, bis er fast Freude daran hatte, bis die lange Reihe seiner verflossenen Torheiten ihn zu ergötzen begann und die deutlich von seinem inneren Auge geschauten Wirrnisse sich zu einer unterhaltenden Geschichte ordneten.

Er hörte eins schlagen, dann zwei, dann drei, worauf er abermals einschlief. Bald jedoch erwachte er wiederum aus diesem Schlafe und erlebte nun dermaßen überraschende Abenteuer, daß unser Freund, dem er sie erzählte, sich verpflichtet glaubt, sie den Genossen und einem größeren Publikum mitzuteilen. Allein er zieht vor, sie in der ersten Person zu erzählen, als ob er sie selber erlebt hätte, und das wird ihm um so leichter, als er die Empfindungen und Wünsche des Kameraden, von dem ich rede, besser versteht als irgend jemand anders auf Erden.

 

EIN MORGENBAD

Gut also; ich erwachte und fand, daß ich die Bettdecke abgeworfen hatte, was in Anbetracht der Hitze und des brennenden Sonnenscheins nicht verwunderlich war. Flugs sprang ich auf, wusch mich und fuhr in die Kleider, aber in einer nebligen halbwachen Stimmung, als ob ich wer weih wie lange geschlafen hätte und das Gewicht des Schlafes nun nicht abzuschütteln vermöchte. Ich nahm es als selbstverständliche Tatsache an, daß ich mich zu Hause in meinem Zimmer befände, und dachte nicht daran, mich dessen zu vergewissern.

Als ich angezogen war, fand ich es so heiß, daß ich nicht nur aus der Stube, sondern auch aus dem Hause flüchtete. Köstliche Erquickung durch die frische Luft und den angenehmen Wind war meine erste Empfindung, die zweite, als mein Bewußtsein zurückkehrte, maßloses Staunen, denn als ich mich abends zuvor zu Bette begab, war es Winter gewesen, und jetzt bekundeten die grünbelaubten Bäume am Ufer, daß es Sommer war, und zwar allem Anschein nach ein herrlicher, Heller Frühjunimorgen. Aber kein Zweifel, die Themse war da, glitzernd im Sonnenschein und mit nahezu höchstem Wasserstand wie abends zuvor, wo sie im Mondschein geglitzert Halle.

Noch immer war ich meiner Schlaftrunkenheit nicht völlig Herr, und ich hätte mich deshalb überall schwer zurechtgefunden; und so kann man sich vorstellen, daß ich nicht wenig verdutzt war, trotz des vertrauten Anblicks der Themse. Mir war schwindlig und sonderbar zumute, und da ich mich erinnerte, daß viele Leute hier ein Boot zu mieten und in der Mitte des Stromes ein Schwimmbad zu nehmen pflegten, so beschloß ich desgleichen zu tun. Es scheint zwar sehr früh zu sein, sagte ich mir, aber bei Biffins finde ich doch wohl jemand, der mich überseht. Allein ich kam gar nicht bis zu Biffins, weil ich in diesem Augenblick gerade vor mir, meinem Hause gegenüber, eine Bootlände bemerkte, genau an der Stelle, wo mein Nachbar nebenan eine hingebaut hatte,’ freilich erkannte ich diese nicht recht wieder, so verändert schien sie mir. Indes ich ging stracks drauf zu, und richtig, zwischen den leeren Booten am Lande lag da ein Mann ausgestreckt, in einem breiten, bequemen Kahn, der entschieden für Badende bestimmt war. Er winkte mir zu und bot mir einen guten Morgen, als hätte er mich erwartet, und so sprang ich ohne weitere Redensart hinein und ging dran, mich für mein Schwimmbad hurtig aus den Kleidern zu schälen, während er ruhig fortruderte. Beim Dahinfahren blickte ich unwillkürlich in das Wasser und konnte nicht umhin zu bemerken:

»Wie klar das Wasser heute morgen aussieht!«

»So?« meinte er; »das ist mir nicht aufgefallen. Die Flut trübt es immer ein bißchen.«

»Na,« sagte ich, »ich hab’s bei halber Ebbe schon recht schlammig gefunden.«

Er erwiderte nichts, sah aber überrascht aus, und da er gerade hielt und ich mich all meiner Kleider entledigt hatte, sprang ich ohne weiteres ins Wasser. Natürlich wandte ich den Kopf gegen die Flut, sobald ich ihn wieder über Wasser hatte. Meine Augen suchten unwillkürlich nach der Brücke, und was ich erblickte, brachte mich derart aus dem Gleichgewicht, daß ich mit den Armen auszuholen vergaß und pustend unter Wasser geriet. Als ich wieder in die Höhe kam, steuerte ich stracks auf das Boot zu, denn es drängte mich unwiderstehlich, ein paar Fragen an den Fährmann zu richten, so verblüfft hatte mich das, was ich vom Stromesspiegel aus erblickt hatte, als das Wasser mir aus den Augen war. Meine Schlaftrunkenheit hatte sich ganz gelegt, und ich war wieder im Vollbesitz meiner geistigen Spannkraft und Klarheit.

Nachdem ich die Treppe, die der Fährmann niedergelassen hatte, heraufgeklettert war, wobei er mir die Hand helfend entgegenhielt, ließen wir uns von der starken Flut etwas nach Chiswick hintreiben. Bald aber ergriff er die Ruder, drehte das Boot herum und sagte: »Ein kurzes Schwimmvergnügen’: Sie finden das Wasser heute nach Ihrer Reise wohl zu kühl? Soll ich Sie sogleich ans Land bringen oder möchten Sie vor dem Frühstück lieber nach Putney hinunter?«

Ich starrte ihn an; diese Sprache im Munde eines Fährmanns aus Hammersmith! Das war unbegreiflich. »Bleiben wir noch,« antwortete ich, »ich möchte mich ein wenig umsehen.«

»Gut,« erwiderte er; »in seiner Weise ist’s hier so schön wie weiter oben in Barn Elms, wie’s denn zu dieser Frühstunde überall schön ist. Es freut mich, daß Sie so zeitig aufgestanden sind; es ist kaum fünf.«

Wenn mich der Anblick der Stromufer in Erstaunen gesetzt hatte, so tat es der meines Fährmanns nicht minder, nun’ ich ihn mit klarem Verstand und offenen Augen zu mustern imstande war.

Es war ein hübscher, stattlicher junger Mann, dessen Augen so liebenswürdig und freundlich blickten, wie ich es bis zur Stunde noch bei keinem Menschen gesehen hatte, so vertraut mir auch später dieser Ausdruck wurde. Im übrigen war mein Ferge dunkelhaarig, mit bräunlicher Gesichtsfarbe, wohlgebaut, stark und offenbar an Muskeltätigkeit gewöhnt, jedoch ohne irgendwelche Spur von Plumpheit und rohem Wesen, und dabei von einer Sauberkeit, die dem feinsten Gentleman Ehre gemacht hätte. Sein Anzug glich keiner mir bekannten Werktagstracht und hätte sich recht wohl auf einem Gemälde aus dem Leben des vierzehnten Jahrhunderts als Kostüm finden können; er bestand aus dunkelblauem, allerdings schlichtem Tuch, jedoch von feinstem Gewebe und ohne das kleinste Fleckchen. Ein brauner Ledergurt umschlang die Taille, den eine aus Damaszenerstahl kunstvoll ziselierte Schnalle schloß. Kurzum, mein Ferge glich auffallend einem kräftigen und feinen jungen Herrn, der zum Sport den Fährmann spielte; und dieser Annahme neigte ich mich auch zu.

Ich fühlte, daß ich etwas sagen musste, und so deutete ich auf ein paar helle, mit Flaschenzügen und Haken versehene Plankengerüste, welche längs des Ufers aufgerichtet waren, und fragte: »Was geschieht denn damit? Wenn wir uns auf dem Ian befänden, so würde ich glauben, daß da Netze für den Lachsfang gelegt werden, so aber...«.

Er lächelte: »Nun, das geschieht ja eben. Wo Lachs ist, gibt’s auch Lachsnetze, ob’s nun Tay oder Themse ist; aber die Netze werden natürlich nicht immer gelegt. Man kann doch nicht alle Tage Lachs essen.«

Ich wollte fragen: »Ist denn dies wirklich die Themse?« war aber vor Staunen sprachlos und ließ meine Augen verdutzt nochmals oftwärts nach der Brücke und von da nach den Ufergestaden Londons schweifen, und da gab’s wahrlich zum Verwundern mehr als genug. Denn obwohl sich eine Brücke über den Strom spannte und Häuser am Strande waren, hatte sich doch über Nacht alles merkwürdig verändert. Die Seifensiedereien mit ihren rauchspeienden Schornsteinen waren verschwunden, die Bleiwerke fort, und der Westwind trug von Torneycroft kein Schmiede˗ und Hämmergetöse mehr herüber. Und die Brücke! Geträumt mochte ich wohl von solch einer Brücke haben, aber ihresgleichen hatte ich nie, auch nicht in einem Bilderprachtwerk gesehen, selbst der Ponte Vecchio in Florenz konnte sich mit ihr nicht vergleichen. Sie bestand aus massiven, kühn geschwungenen Steinbogen, reizvoll, ebenso leicht und anmutig wie stark, unter denen der gewöhnliche Schiffsverkehr leicht durchging. Über der Brüstung ragten zierliche und phantastische Bauten hervor, die wie Läden oder Marktbuden aussahen und mit gemalten und vergoldeten Wetterfahnen und Türmchen besetzt waren. Der Stein war etwas wettergefärbt, zeigte jedoch keine Spur jener Nuhschicht, mit der ich gewohnt war jedes Londoner Gebäude, das über ein Jahr alt ist, überzogen zu sehen. Mit einem Worte, die denkbar wundervollste und wunderbarste Brücke!

Der Ruderer bemerkte, wie ich die Augen weit aufriß, und als wolle er meine Gedanken beantworten, sagte er:

»Eine hübsche Brücke, was? Die Brücken stromaufwärts, die doch viel kleiner find, sehen kaum zierlicher aus und die stromabwärts kaum großartiger und stattlicher.«

»Aber wie alt ist sie denn?« fragte ich fast widerwillig, meine innere Scheu überwindend.

»O, nicht sehr alt,« erwiderte er, »sie ist im Jahre 2003 gebaut oder wenigstens eröffnet worden. Vorher stand nur eine einfache Holzbrücke da.«

Dieses Datum verschloß mir die Lippen, als wäre mir ein Schloß vorgehängt, denn ich begriff, daß etwas Unerklärliches vorgegangen war und daß ein unvorsichtiges Wort mich in ein Chaos von Kreuzfragen und krummen, gewundenen Antworten verwickeln würde.

So versuchte ich denn möglichst unbefangen dreinzuschauen und meine Blicke gleichgültig über die Stromufer gleiten zu lassen, trotz der wunderbaren Veränderungen, die ich bis zur Brücke und darüber hinaus, sagen wir bis zu den Seifenfabriken wahrnahm. In einiger Entfernung vom Fluß erhob sich auf beiden Ufern eine Reihe reizender niedriger und nicht sehr großer Backsteinhäuser mit Ziegeldächern, die höchst wohnlich und behaglich aussahen und ganz den Eindruck machten, als ob sich ein recht frohgemutes Leben in ihnen tummle. Ein fortlaufender Garten erstreckte sich von ihnen bis an den Rand des Wassers, und ein üppiger Blumenflor sandte seine köstlichen Duftwellen über den sich kräuselnden Strom; hinter den Häusern ragten mächtige Bäume empor, meistens Platanen, und bis nach Putney zu sah der Strom aus wie ein von blumigen Waldufern umsäumter See, so dicht standen die Bäume. Unwillkürlich rief ich aus:

»Wie froh bin ich, daß Barn Elms nicht verbaut ist!«

Kaum waren jedoch die Worte dem Zaum meiner Jahne entflohen, so errötete ich über meine Albernheit, und mein Gefährte sah mich mit einem Halblächeln an, das ich zu verstehen glaubte. Um meine Verlegenheit zu bemänteln, sagte ich: »Fahren Sie mich jetzt gefälligst ans Ufer, ich möchte gerne frühstücken.«

Er nickte, drehte den Kahn mit einem scharfen Ruderstoß, und im Nu befanden wir uns wieder an der Bootlände. Er sprang hinaus, ich folgte ihm, und es wunderte mich keineswegs, als er stehen blieb, wie um das unvermeidliche Nachspiel zu erwarten, mit welchem jeder einem Mitbürger geleistete Dienst abzuschließen pflegt. Ich steckte auch sofort die Hand in meine Westentasche und fragte: »Wie viel?« obwohl ich mich des unbehaglichen Gefühls nicht erwehren konnte, daß ich mein Geld vielleicht einem Gentleman anbot.

Mit erstaunter Miene fragte er zurück: »Wie viel? Ich verstehe nicht recht. Meinen Sie vielleicht die Flut? Sie muss bald um sein.«

Verlegen stotterte ich: »Bitte, nehmen Sie mir meine Frage nicht übel, ich wollte Sie nicht beleidigen, aber was bin ich Ihnen schuldig? Wie Sie sehen, bin ich ein Fremdling und kenne Ihre Gebräuche und Ihr Geld nicht.«

Damit holte ich eine Handvoll Geld aus der Tasche, wie man’s in fremden Ländern zu tun pflegt. Und bei dieser Gelegenheit wurde ich gewahr, daß die Silbermünzen die Farbe eines gußeisernen Ofens angenommen hatten.

Er sah immer noch erstaunt aus, aber keineswegs beleidigt, und betrachtete das Geld mit offenbarer Neugierde.

Nun, dachte ich, er ist also doch ein Fährmann und überlegt sich, wie hoch er gehen kann. Mag er mich immerhin ein bißchen übers Ohr hauen, einem so prächtigen Burschen nehm’ ich’s nicht übel. Ich wäre gar nicht abgeneigt, ihn mir auf einen oder zwei Tage zum Führer zu nehmen, weil er ein so aufgeweckter Mensch ist.

Da sagte mein neuer Freund nachdenklich: »Jetzt weiß ich, was Sie meinen. Sie glauben, daß ich Ihnen einen Dienst geleistet habe, und dafür halten Sie sich für verpflichtet, mir etwas zu geben, was ich meinerseits einem Nachbarn auch nur dann zu geben habe, wenn er mir einen besonderen Dienst geleistet hat. Ich habe von so etwas gehört, aber nichts für ungut, uns erscheint das als ein recht lästiger und umständlicher Brauch. Wie Sie sehen, ist das übersetzen und Wasserfahren mein Beruf, den ich für einen jeden ausübe, der meine Dienste wünscht: mir dafür etwas schenken zu lassen, wäre doch mehr als sonderbar. Und wenn mir erst einer etwas gibt, will es der zweite und dritte auch tun, und Sie werden mir’s hoffentlich nicht verübeln, wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht wüßte, wie ich so viel Freundschaftspfänder und Liebesgaben unterbringen sollte’!«

Und er lachte so laut und lustig auf, als hielte er es für einen äußerst possierlichen Scherz, daß man ihm zumute, eine Bezahlung für seine Arbeit anzunehmen.

Ich fragte mich, ob dieser Mensch, trotz seines gesunden, blühenden Aussehens, etwa nicht ganz richtig im Kopfe sei, und angesichts des tiefen und reißenden Stromes, an dem wir uns befanden, hatte es etwas Tröstliches für mich, zu wissen, daß ich ein guter Schwimmer bin. Er fuhr jedoch sehr ruhig und gar nicht wie ein Tollhäusler fort: »Was Ihre Münzen betrifft, so sind sie wohl merkwürdig, aber nicht sehr alt. Sie scheinen aus den Regierungszeiten der Königin Viktoria zu stammen, und Sie könnten sie irgendeinem dürftig ausgestatteten Museum überlassen. Unseres hat solcher Münzen genug, und außerdem eine ziemlich reichhaltige Sammlung Münzen aus früherer Zeit, von denen viele recht hübsch sind, während die aus dem neunzehnten Jahrhundert sich durch plumpe Geschmacklosigkeit auszeichnen, nicht wahr? Wir besitzen eine Münze von Eduard III., die den König in einem Schiff darstellt mit kleinen Leoparden und einer Girlande von zart getriebenen Schwertlilien rings um den Vollbord. Wie Sie sehen,« sagte er lächelnd, »bin ich Arbeiten aus Gold und edlen Metallen nicht abhold, diese Schnalle hier habe ich mir in jüngeren Jahren selber gefertigt.«

Ich mag ihn etwas scheu angesehen haben, denn ich konnte meine Zweifel an seiner Zurechnungsfähigst nicht unterdrücken. Genug ˗ er brach kurz ab und sagte freundlich: »Aber ich sehe, daß ich Sie langweile, und bitte um Entschuldigung. Denn, geradeheraus gesagt, man merkt, daß Sie ein Fremder sind und aus einem Lande kommen, das dem unsrigen sehr unähnlich sein muss. Deshalb scheint mir’s ratsam, daß Sie sich mit den Einrichtungen unseres Landes nicht in überstürzender Hast, sondern allmählich bekannt machen. Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich zum Führer in dieser neuen Welt wählen möchten, da Sie der Zufall just auf mich stoßen ließ. Freilich mühte ich es als eine große Liebenswürdigkeit Ihrerseits auffassen, denn wohl ein jeder würde einen ebenso guten und gar mancher einen besseren Führer abgeben, als ich sein werde.«

Nach Irrsinn schmeckte diese Rede nun gerade nicht, und außerdem konnte ich ihn ja leicht abschütteln, wenn er schließlich sich dennoch als verrückt erweisen sollte. So erwiderte ich denn: »Ihr Anerbieten ist sehr gütig, aber ich könnte es nur annehmen, wenn Sie mich entsprechend bezahlen ließen«, wollte ich eigentlich fortfahren, da ich aber nicht an das Irrenhaus anstreifen wollte, so fuhr ich lieber fort, »wenn Sie mich nicht befürchten ließen, daß ich Sie Ihrer Arbeit oder Ihrem Vergnügen entziehe.«

»Darüber seien Sie außer Sorge,« erwiderte er. »Ich erweise im Gegenteil einem meiner Freunde, der meine Arbeit zu übernehmen wünscht, einen großen Gefallen. Es ist ein Weber aus Yorkshire, der sich einerseits mit Weben, andererseits mit mathematischen Studien ˗ beides Hausbeschäftigungen ˗ überarbeitet hat. Und da wir sehr befreundet sind, hat er sich, um Arbeit im Freien zu erlangen, an mich gewandt. Also, wenn Sie glauben, mich brauchen zu können, so bitte ich, über meine Dienste zu verfügen.«

»Freilich«, fuhr er fort, »habe ich mich bei guten Freunden strömaufwärts zur Heuernte angesagt. Bis dahin haben wir aber mehr als acht Tage Zeit, und überdies könnten Sie mich auch dahin begleiten. Sie würden die Bekanntschaft sehr angenehmer Menschen machen und hätten Gelegenheit, auf unseren Wanderfahrten in Oxfordshire allerhand Beobachtungen anzustellen. Wenn Sie das Land kennen zu lernen wünschen, ließe sich Ihnen schwerlich etwas Besseres vorschlagen.«

Ich konnte nicht umhin, ihm meinen Dank auszusprechen, wie immer die Sache ablaufen mochte, und er fügte eifrig hinzu: »Gut, das wäre abgemacht. Ich werde sofort bei meinem Freunde Vorsprechen, der wie Sie im Gasthaus wohnt, und wenn er noch nicht auf ist, so sollte er’s an diesem schönen Sommermorgen doch sein.«

Damit zog er ein kleines silbernes Jagdhorn aus dem Gürtel und blies zwei oder drei scharfe, aber wohlklingende Töne. Gleich darauf kam aus dem Hause, das an der Stelle meiner alten Wohnung stand (später mehr davon), ein anderer junger Mann und schlenderte auf uns zu. Er sah weder so wohl aus, noch besah er einen so stattlichen Wuchs wie mein Ruderfreund ˗ sein Haar war rötlich, seine Gesichtsfarbe blaß, seine Gestalt nicht gerade kräftig, aber auch seinem Gesicht fehlte nicht der glückliche und freundliche Ausdruck, der mir bei seinem Freunde aufgefallen war. Als er lächelnd an uns herankam, entdeckte ich mit Vergnügen, daß ich meinen Fergen getrost von jedem Verdacht des Irrsinns freisprechen dürfe, denn niemals haben sich zwei Verrückte vor einem Gesunden so benommen, wie diese zwei es getan haben. Der Anzug des Neuangekommenen war vom selben Schnitt wie der meines Freundes, nur daß die hellgrüne Farbe des kurzen Oberrocks mit einem auf die Brust gestickten Goldzweig und ein Gürtel aus Silberfiligran dem Anzug einen noch heiterern Charakter verliehen.

Der Neuangekommene bot mir sehr höflich guten Tag und, seinen Freund freudig begrüßend, sagte er: »Nun Dick, wie steht’s heut morgen? Werde ich meine Arbeit bekommen, oder vielmehr deine Arbeit? Ich träumte heut nacht, wir wären oben auf dem Strom und fischten.«

»Schon recht, Bob,« sagte mein Ferge; »du nimmst meine Stelle ein, und wenn dir’s zu viel wird, so sieh dich nach George Helling um; er wohnt hier nebenan und hält Umschau nach einem ordentlichen Stück Arbeit. Dieser fremde Herr erweist mir die Ehre, mich zu seinem Führer in unserem Landstrich zu erwählen, und wie du dir denken kannst, lasse ich mir diese schöne Gelegenheit nicht entschlüpfen. Du könntest dich demnach gleich nach dem Boot aufmachen. Lange vorenthalten hätte ich dir’s ohnehin nicht, da ich mich in ein paar Tagen zur Heumahd zu stellen habe.«

Der andere rieb sich vergnügt die Hände, wandte sich zu mir und sagte freundlich: »Sie beide treffen es heute glücklich, Sie, Nachbar, und Dick ˗ ein guter Tag steht Ihnen bevor wie mir. Sie täten aber beide gut, sogleich mit mir einzutreten und sich etwas vorsetzen zu lassen. Sie könnten vor lauter Vergnügen das Mittagbrot vergessen. Sie kamen wohl gestern abend im Gasthaus an, als ich schon zu Bette war?«

Ich nickte zustimmend, um einer längeren Erklärung auszuweichen, die zu nichts geführt und, wie ich fühlte, meinen Zweifeln doch kein Ende gemacht hätte. Und so schritten wir drei der Tür des vor uns liegenden Gasthauses zu.

DAS GÄSTEHAUS UND DAS FRÜHSTÜCK

Ich blieb etwas hinter den anderen zurück, um einen Blick auf das Haus zu werfen, das, wie ich bereits sagte, an der Stelle meiner ehemaligen Wohnung stand.

Es war ein längliches Gebäude, das seinen Giebel von der Straße abwandte und dessen hohe, mit plastischem Schmuck versehene Fenster sich in der vor uns aufsteigenden Wand ziemlich lief hinabzogen. Es war ein sehr stattlicher Bau aus roten Ziegeln mit einem Bleidach, und hoch über den Fenstern lief ein Figurensims in Terrakotta, der vortrefflich ausgeführt und mit einer Kraft und Eindringlichkeit entworfen war, wie ich sie nie zuvor in der modernen Kunst bemerkt hatte. Ich erkannte augenblicklich den dargestellten Gegenstand, der mir wahrhaftig vertraut genug war.

Eine Minute genügte, das alles in mir aufzunehmen, denn schon hatten wir die Schwelle überschritten und befanden uns in einer Halle mit marmornem Mosaikboden und einem offenen Holzdach. Auf der von dem Fluß abgewendeten Seite waren keine Fenster, doch unter Schwibbogen, durch deren einen mir ein Blick nach dem Garten entgegenlachte, gelangte man in andere Zimmer ˗ und eine weite Wandfläche über diesen Bogen war mit heiteren Fresken bemalt, die ähnliche Gegenstände behandelten wie der Fries draußen. Die ganze Halle war stattlich gefügt und von gediegenem Material.

In diesem angenehmen Aufenthalt, den ich sofort als Halle oder Saal des Gästehauses erkannte, schwebten drei junge Frauen hin und her. Da sie die ersten ihres Geschlechts waren, die ich an diesem ereignisreichen Morgen erblickte, betrachtete ich sie natürlich sehr genau und fand sie mindestens gleich gut wie die Gärten, die Baukunst und die Männer. Auch ihr Anzug fesselte meine Aufmerksamkeit, und ich fand, daß sie sittsam in ihre Gewänder gehüllt, nicht mit Putzkram bepackt, kurz wie Frauen gekleidet und nicht wie Lehnstuhle aufgepolstert waren, wie ich dies bei den meisten Frauen unserer Zeit gesehen. Ihr Anzug bildete ein Mittelding zwischen der altklassischen Gewandung und den einfacheren Formen der Kleidung aus dem vierzehnten Jahrhundert, ohne indes eine Nachahmung beider zu sein. Die Stoffe waren der Jahreszeit angemessen leicht und hell. Die Frauen zu betrachten war ein Genuß, so heiter und glücklich strahlten ihre Gesichter, so wohlgebaut und ebenmäßig, so durchaus kräftig und gesund waren ihre Gestalten. Hübsch war jede, die eine sogar schön und von klassischen Zügen. Sie kamen sofort fröhlich auf uns zu, und ohne erheuchelte Schüchternheit reichten mir alle drei die Hand, als sei ich ein von langen Reisen heimgekehrter Freund. Freilich bemerkte ich, daß sie verstohlen meine Tracht musterten, denn ich hatte meine Kleider von gestern abend an und war mein Lebtag kein Mensch, der sich elegant anzuziehen verstand.

Auf ein paar Worte Roberts, des Webers, entfernten sie sich, um geschäftig für die Befriedigung unserer Wünsche zu sorgen, kamen dann zurück und führten uns an der Hand zu einem Tische, den sie in dem behaglichsten Winkel des Saales für uns zum Frühstück gedeckt hatten. Als wir Platz genommen, schlüpfte die eine von ihnen durch eines der Schwibbogenzimmer und kehrte bald darauf mit einem üppigen Strauß Rosen zurück, die an Farbe, Duft und Größe mit denen, die in Hammersmith wuchsen, nicht zu vergleichen waren, sondern eher den Erzeugnissen eines alten Landgartens glichen. Von da eilte sie in die Speisekammer und erschien mit einem zartgeschliffenen Glase, in das sie die Rosen tat, um es in der Mitte unseres Tisches aufzustellen. Eine zweite, die gleichfalls davongeeilt war, brachte ein großes Kohlblatt mit Erdbeeren gefüllt, von denen einzelne kaum reif waren, und sagte, während sie dieselben auftrug: »Da, bevor ich heute früh aufstand, dachte ich noch dran. Als ich aber den Fremden in dein Boot steigen sah, Dick, vergaß ich’s wieder. Da sind mir denn ein paar Amseln zuvorgekommen, aber einige sehen immerhin so gut aus, wie sie in Hammersmith überhaupt zu finden sind.«

Robert streichelte ihr freundlich den Kopf, und wir machten uns über das Frühstück her, das wohl einfach, aber vortrefflich zubereitet und allerliebst hergerichtet und aufgetragen war. Das Brot zumal, das in allen Arten und Formen vor uns stand, vom etwas derben, schwarzen Landbrot, das ich am liebsten esse, bis zu den dünnen Stengeln von Weizenkruste, wie man sie in Turin vorgesetzt bekommt, mundete mir außerordentlich.

Ich steckte die ersten Bissen in den Mund, als mein Blick auf eine geschnitzte und vergoldete Inschrift im Getäfel fiel; ein wohlbekannter Name fesselte mich und ich las:

»Gäste und Nachbarn, an der Stelle dieser Gasthalle befand sich einst der Vortragssaal der Sozialisten von Hammersmith. Trinkt ihrem Gedächtnis ein Glas! Mai 1962.«

Wie ward mir, als ich diese Worte las! Meine Züge verrieten vielleicht, wie tief bewegt ich war, denn die beiden Freunde sahen mich neugierig an, und eine Weile herrschte Schweigen zwischen uns.

Der Weber, dem der Fährmann an gesellschaftlichem Schliff entschieden überlegen war, unterbrach die Pause mit der etwas verlegenen Frage: »Wir wissen nicht, wie wir Sie nennen sollen, Gast. Ist es erlaubt. Sie nach Ihrem Namen zu fragen?«

»Ei nun,« erwiderte ich, »das zu entscheiden fällt mir selber schwer. Nennen Sie mich immerhin Gast, das ist ja auch ein Familienname, und fügen Sie den Vornamen William zu, wenn’s Ihnen recht ist.«

Dick nickte mir freundlich zu: über das Gesicht des Webers glitt aber ein Schatten von Unruhe und er sagte: »Sie nehmen meine Frage hoffentlich nicht übel, allein woher kommen Sie eigentlich? Meine Neugier beruht auf guten, auf wissenschaftlichen Gründen.«