Nächster Halt Walding - Karen Sommer - E-Book

Nächster Halt Walding E-Book

Karen Sommer

0,0

Beschreibung

Gerade als Hannah feststellt, dass sie schwanger ist, gerät ihre Welt gänzlich aus den Fugen: Ihr Stiefbruder möchte sie gegen ihren Willen mit einem ihr unbekannten Mann verheiraten. Sie erkennt, dass ihr keine andere Möglichkeit bleibt, als zu fliehen. Per Zufall landet sie in Walding, einem Dorf in den Voralpen. Onkel Toni und seine Freunde erklären sich sofort bereit, der Gestrandeten zu helfen und so zieht Hannah kurzerhand bei Simon auf seinem Bauernhof ein.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 213

Veröffentlichungsjahr: 2020

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Karen Sommer

Nächster Halt Walding

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt

- 1 -

- 2 –

- 3 –

- 4 –

- 5 –

- 6 –

- 7 –

- 8 –

- 9 –

- 10 –

- 11 –

- 12 –

- 13 –

- 14 –

- 15 –

- 16 –

- 17 –

- 18 –

- 19 -

- 20 -

- 21 -

- 22 -

- 23 -

- Epilog –

Impressum neobooks

Inhalt

Karen SommerNächster Halt Walding

Eine Kardinalschnitte trocknet Tränen und fördert Glücksgefühle.Eigene Feststellung

- 1 -

Auch der zweite Blick auf das Stäbchen in ihren Händen änderte rein gar nichts. Zwei blaue Striche. Schwanger. Das konnte doch gar nicht wahr sein. Es war nur eine Nacht gewesen. Nacht? Eher einige Momente Unachtsamkeit. Hannah war so betrunken gewesen. Ein Mal. Jahrelang hatte sie sich gegen ihn gewehrt. Aber ein Fehler und schon wurde man bestraft. Obwohl Strafe vielleicht ein hartes Wort war. Das Baby konnte doch nichts für seinen Vater.

Verzweifelt saß Hannah auf dem WC-Sitz und ihre Gedanken überschlugen sich. Was sollte sie nur tun? Schwanger! Was würde ihre Mutter dazu sagen? Wahrscheinlich hatte sie ja selber Schuld. Wie sollte es nur weiter gehen?

In den letzten Monaten, Jahren hatte sie den Kopf in den Sand gesteckt, aber das war nun vorbei. Sie musste, wollte kämpfen. Für sich. Für das Baby. Zuerst hieß es, den Schwangerschaftstest gut verstecken, damit ihn niemand fand. Sie wollte dieses Baby. Sanft streichelte Hannah über ihren noch nicht vorhandenen Bauch. Sie musste ungefähr in der sechsten Woche sein. Obwohl es völlig irrational war, freute sie sich über das Baby. Vermutet hatte sie die Schwangerschaft ja schon. Das WC war morgens aufgrund ihrer Übelkeit ihr neuer bester Freund geworden.

Felix klopfte energisch. „Komm in mein Büro! Ich muss dir etwas sagen!“

„Ja, bin sofort da“, beeilte sich Hannah noch zu sagen. Ihre Hände zitterten. Ahnte er etwas? Hatte sie jemand mit dem Test beobachtet? Hannah stand auf und überlegte, wo sie ihn verstecken sollte. Sie schob das Stäbchen ganz nach hinten in den Kasten unter dem Spülbecken, eingewickelt in ein altes Putztuch. Sie musste unbedingt später damit verschwinden. Sie bürstete noch einmal durch ihre schulterlangen braunen Haare.

„Pokerface, Hannah! Du kannst das! Schultern zurück! Du hast auch die letzten Jahre überlebt!“ Ihr Spiegelbild blickte unsicher zurück.

„Hannah, das ist mein Freund Heinz. Du wirst ihn nächsten Monat heiraten.“

Hannah prallte zurück. Sie hatte diesen schmierigen Freund schon einige Male gesehen. Heinz lümmelte etwas übergewichtig im zweiten Sessel im kleinen Büro und taxierte Hannah von oben nach unten. Seine Sonnenbrille hatte er dafür auf die Nasenspitze geschoben und grinste lüstern. Seine strähnigen Haare hingen ungewaschen bis zum Hemdkragen. An seinem Hals baumelte eine dicke Goldkette. Hannah wurde übel.

„Was? Warum? Wir kennen uns gar nicht!“ Hannah blickte Felix verwirrt entgegen.

„Ihr werdet euch schon kennenlernen, mit der Zeit. Und warum? Das braucht dich nicht zu kümmern.“ Seit dem Tod ihres Stiefvaters lebte Felix zügellos und ohne jegliche Konsequenz. Ihre Mutter und sie huschten wie Schatten durch das Haus. Felix überwachte und kontrollierte jeden Schritt der beiden. Er funkelte sie nun böse an.

„Heinz hast du ja nun gesehen. Damit ist es beschlossen. Heute Abend geht ihr beiden mal miteinander aus und dann passt das. Den Hochzeitstermin gebe ich dir noch bekannt. Du kannst gehen.“

Hannah torkelte aus dem Büro, lehnte sich schwer gegen die Wand und ließ sich daran hinunter gleiten. Sie stand so unter Schock, dass sie erst spät erkannte, dass sie die Tür hinter sich nicht ganz geschlossen hatte.

„Also sind wir uns nun einig. Du bekommst meine Schwester und dann haben wir die leidige Geldangelegenheit aus der Welt geschafft.“

„Felix, ich weiß nicht. Es ist doch mehr oder weniger Menschenhandel, was du hier betreibst. Und was wird deine Mutter dazu sagen?“

„Stiefmutter. Die musst du selbstverständlich dazu nehmen. Die bleibt nicht in diesem Haus. Du kannst sie ja in einem Pensionistenwohnheim oder so ähnlich abladen. Und Hannah. Das wird schon. Sie braucht Beschäftigung. Und die wirst du ihr ja bieten.“ Felix lachte schmutzig.

Hannah konnte nicht glauben, was sie gehört hatte. Das war nun der Höhepunkt. Er „verkaufte“ sie. Wahrscheinlich übernahm dieser Heinz wieder einige Spielschulden von Felix. Die Installationsfirma ihres Stiefvaters war mittlerweile hoch verschuldet. Und das Haus auch. Felix hatte alles geerbt. Ihre Mutter hatte zwar ein Wohnrecht, aber sie war nur geduldet und ihrem Stiefbruder ausgeliefert. Nach ihrer Ausbildung zur Konditorin ging die kleine Bäckerei in Konkurs und ihr Stiefvater drängte sie nicht, eine neue Stelle zu suchen. Dann wurde ihre Mutter kränklich und so beschloss Hannah, sie zu unterstützen und blieb fortan Zuhause.

„Ihren Treuhandfond teilen wir uns. Sie weiß nichts von dem Geld und das belassen wir auch so.“

Hannah rappelte sich mühsam hoch. Treuhandfond? Sie besaß Geld? Eigentlich hatte sie kein Geld. Felix stattete sie monatlich mit einem Taschengeld aus, das gerade so für ihre persönlichen Bedürfnisse reichte.

Langsam ging sie zu ihrem Zimmer. Auf ihrem Bett versuchte sie die Gedanken zu ordnen. Sie sollte heiraten. Jemanden, den sie gar nicht kannte. Damit Felix weniger Schulden hatte.

Sie hatte Geld. Irgendwo. Auf einem Treuhandkonto. Wie kam es zu dem Geld? Wie kam sie zu dem Geld? Das wäre eine Möglichkeit für einen Neustart.

Mit dem Baby. Weit weg von Felix.

Sie wollte ihre Mutter befragen. Die müsste eigentlich irgendwas wissen.

Ihre Mutter bügelte im Wintergarten die Hemden von Felix.

„Mutter, das ist nicht deine Arbeit. Dafür hat Felix eine Putzhilfe.“

„Aber sie bügelt sie nicht so ordentlich und Felix wird dann immer wütend.“ Auch ihre Mutter fürchtete sich vor dem Zorn von Felix.

„Mutter, es ist was passiert. Felix möchte, dass ich seinen Freund heirate. Bald.“

Die Hand ihrer Mutter stand still. Furcht und Schrecken blitzten in ihren Augen auf. Aber sie versteckte diese Gefühle sofort wieder.

„Ach, Kind. Wirklich? Kennst du den Freund auch schon?“

„Ich kenne ihn gar nicht! Und ich werde ihn auch nicht heiraten!“

„Pst. Sonst hört dich Felix. Warum möchte er dich verheiraten?“

„Ich habe diesen Menschen nur kurz gesehen und er war mir sofort unsympathisch!“

„Ja, aber was willst du dagegen unternehmen. Du weißt, dass wir auf Felix mehr oder weniger angewiesen sind. Und du hast ja sonst nichts und auch keinen anderen Freund. Möchtest du dem Ganzen nicht eine Chance geben?“

Hannah zwang sich ihre verkrampften Fingern zu lockern und atmete mehrmals tief ein und aus.

„Nein, Mama. Du hast ein Wohnrecht. Ich bin gerade noch so geduldet. Und so kann es nicht weitergehen. Felix hat da etwas von Geld für mich erwähnt. Weißt du etwas darüber?“

Ihre Mutter zuckte merklich zusammen. „Geld? Nein. Also, du weißt, dass wir nichts besitzen und froh sein müssen, hier bleiben zu können.“

Nach der Hochzeit ihrer Mutter mit ihrem Stiefvater hatte dieser die gesamten Finanzen übernommen. Ihre Mutter hatte ihm völlig vertraut und sich in die Rolle des Hausmütterchens gefügt. Aber Hannah wollte und konnte nicht mehr so weiterleben. Sie wollte leben. Atmen. Frei sein. Sie wusste, dass auch ihre Mutter wirklich nichts darüber wusste.

Felix war der Sohn ihres Stiefvaters. Aber er wurde auch von ihrer Mutter anfangs wie ein Halbgott hochgehoben. Sie fügte sich jedem seiner Wünsche unterwürfig. Für ihre Mutter war das Wort des Hausherren oberstes Gesetz. Sie hinterfragte keine Anordnung und ergab sich ihrem Schicksal. Aber war das auch die Zukunft für Hannah? In ihrem Innersten wusste sie, dass Gott für sie ein anderes Schicksal bestimmt haben musste. Dies konnte nicht ihr Schicksal sein.

Der Halbgott steckte seinen Kopf in den Wintergarten. „Da bist du. Um sieben holt dich Heinz ab. Du machst dich ordentlich zurecht. Nicht immer in diesem Schlapperlook. Sexy und willig! Ich möchte von Heinz keine Klagen über dich hören.“ Er schüttelte drohend seinen Zeigenfinger.

„Felix, lass uns noch einmal darüber reden.“

Felix holte tief Luft und seine Augen begannen zu funkeln. Sie kannte diesen Blick zur Genüge. „Worüber reden? Du hast nichts, du kannst nichts, du bist nichts. Ich weiß, was für dich gut ist. Fertig. Wir haben nichts mehr zu besprechen. Du tust, was ich dir sage.“

Hannah nickte blass und eingeschüchtert. Ihre Mutter zitterte am ganzen Körper. „Hannah, also, dein Bruder meint es doch nur gut mit dir.“

„Genau, Hannah, hör auf deine Mutter.“ Felix äffte ihre Mutter nach. „Um sieben bist du fertig.“

- 2 –

Der Februar zeigte sich grau in grau. Kein Schnee in Sicht. In Wien sah man noch weniger Schnee als im restlichen Österreich. Die Villa ihres Stiefvaters befand sich am Stadtrand und verfügte über einen üppigen Garten. Einmal im Monat erledigte ein Gärtner die groben Arbeiten. Die beiden Frauen versorgten die Blumenbeete und Rabatte. Hannah nutzte jede freie und unbeobachtete Minute, um Streifzüge durch die Umgebung zu machen. Sie liebte es, spazieren zu gehen. Seltene Momente, um sich frei und lebendig zu fühlen.

Seufzend zog sie ein schwarzes, hochgeschlossenes Etuikleid aus dem Kasten, das ihre Figur betonte, jedoch kaum Einblicke gewährte. Bewusst entschied sie sich dafür, um diesem Heinz nicht zu viel Hoffnung zu machen. Ihr dunkler Wintermantel verhüllte sie gänzlich und ließ keine Zweifel, dass Hannah nicht das geringste Interesse zeigte. Heinz kam fast pünktlich an.

„Na, du Hübsche. Wollen wir gleich zu mir heim oder willst du was essen?“

Hunger verspürte sie keinen, aber zu ihm wollte sie auf keinen Fall. „Ich hätte doch Lust, irgendwo einen Happen zu essen.“ Diese Lügen galten sicher nicht als Lügen, da es absolute Notlügen waren. Und essen wollte sie definitiv nichts. Sie musste einfach die Zeit totschlagen, damit Felix nicht sofort bemerkte, dass sie an einer anderen Lösung arbeitete.

In einem dunklen italienischen Restaurant saßen die beiden an einem etwas zu kleinen Tisch. Hannah hatte sich absichtlich nicht auf die Bank gesetzt, sondern den Stuhl gewählt. Heinz bestellte für sie beide. Pizza Diabolo. Sie mochte weder scharf noch Salami. Sie bevorzugte vegetarisch. Als Hannah Einwände aufwarf, schaute er sie nur böse an und fuhr mit der Bestellung fort. Er legte ständig seine fleischige Hand auf ihre und versuchte sie zu betatschen, wo auch immer es ging. Der Chef bemühte sich um Heinz. Scheinbar war er in diesem Lokal ein oft gesehener Gast.

Hannah rutschte immer weiter weg, was dieses Ekelpaket als Aufforderung sah, näher zu rücken. Sie zwang sich zu einem verkrampften Lächeln und zählte die Minuten, bis sie wieder nach Hause konnte.

„Und, Schnurli, wir werden es nett haben, wenn wir verheiratet sind. Brauchst dich um nichts zu kümmern. Ich mach das dann für dich.“

Schnurli! Ein passender Name für die Katze aber nicht für einen Menschen, dem man Zuneigung zeigen möchte.

„Ich heiße Hannah.“

„Weiß ich doch, Schnurli.“ Er tätschelte beruhigend ihre Hand.

Die Unterhaltung bestritt Heinz ganz alleine, um sich selbst zu loben. An Hannah zeigte er kein Interesse.

Auf der Heimfahrt versuchte er, sie zu überreden, auf einen Absacker zu ihm zu kommen.

Hannah lächelte ihn freundlich entgegen: „Ich bin gerade unpässlich, da ginge jetzt sowieso nichts.“

Säuerlich blickte Heinz nach vorne und brachte sie auf direktem Weg zu ihrem Haus, ließ sie aussteigen und raste davon.

Die Hoffnung, nicht auf Felix zu treffen, erwies sich als trügerisch. Leise schloss sie die Tür hinter sich. Felix riss seine Bürotür auf. „Schon zurück? Hast du es ihm nicht besorgt?“

Hannah blickte nervös auf ihre Füße.

„Was bist du doch für ein Trampel! Er ist meine Garantie, dass deine Mutter in diesem Haus bleiben kann! Und du bist in keiner Weise dankbar oder hilfsbereit! Ich schmeiße deine Mutter auf die Straße, wenn du mit Heinz nicht ins Bett hüpfst!“ Und er wackelte schon wieder mit dem Zeigefinger vor ihrem Gesicht.

„Meine Mutter hat ein lebenslanges Wohnrecht.“

Seine Hand hatte sich nicht kommen sehen. Die Wucht der Ohrfeige riss ihren Kopf nach hinten.

„Bist du irre! Das ist mein Haus. Ich bestimme, wer hier wohnt und was hier passiert. Der Alte hat mir nichts mehr zu sagen. Der liegt unter der Erde.“

Die Faust landete direkt unterhalb der Rippen. Er traktierte sie mit mehreren Schlägen. Hannah sank auf die Knie und rollte sich am Boden zusammen. Ihr einziger Gedanke galt dem Baby. Felix trat noch einige Mal mit dem Fuß nach ihr und verschwand dann aus dem Haus. Sie hörte seinen SUV bei der Abfahrt aufheulen.

Sie wusste nicht, wie lange sie dort am Boden gelegen hatte. Eine sanfte Hand streichelte über ihren Rücken.

„Hannah?“

„Mama, wir müssen weg. Wir können hier nicht mehr bleiben.“ Heiser brachte Hannah einige Worte hervor.

„Aber wo sollen wir denn hin? Wir haben niemanden und nichts. Und wenn er uns findet, dann wird es nicht gerade leichter.“

Hannah setzte sich mühsam aus. Ihr ganzer Körper schmerzte. Sie nahm ihre Mutter an den Schultern.

„Mama, er will mich mit seinem Freund verheiraten! Gegen meinen Willen! Er unterdrückt dich und mich! Er hält uns als seine Haussklaven! Mama, das ist nicht mehr normal! Er verspielt Haus und Hof.“

„Hannah, du musst ihn verstehen. Er hatte eine schwere Kindheit, als seine Mutter verstarb. Und ich dann mit dir hier einzogen bin.“

„Eine schwere Kindheit? Er war auf Rosen gebettet. War meine Kindheit denn nicht gleich schwer?“ Hannahs Vater verstarb plötzlich, als sie neun gewesen war.

„Das ist anders. Eine Mutter ist eine Mutter und kann nicht ersetzt werden. Ich verstehe dich. Aber ich weiß nicht, wie ich uns helfen könnte.“

Fassungslos starrte Hannah ihre Mutter an.

„Ilse hat mir neulich beim Einkaufen von einer Seniorenwohngemeinschaft etwas außerhalb erzählt. Sie wird dort hingehen. Ich könnte dort auch unterkommen. Aber wir brauchen eine gute Lösung für dich Hannah. Ich möchte dich nicht alleine lassen.“ Hannah seufzte schwer.

„Lass gut sein. Mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen. Mir fällt bestimmt was ein. Geh wieder ins Bett.“

Traurig stand ihre Mutter auf. „Man bekommt im Leben nicht immer das, was man sich erträumt und was einem von irgendwelchen Romanschreibern vorgegaukelt wird. Als Frau muss man sich einfach fügen.“ Mit hängenden Schultern ging ihre Mutter den Gang hinunter.

Hannah erkannte, dass ihr gemeinsames Leben mit Felix und ihrer Mutter hier enden musste. Ohne lange darüber nachzudenken, betrat Hannah das Büro ihres Bruders. Wenn sie wegwollte, brauchte sie Geld und wenn es Unterlagen über das erwähnte Geld irgendwo gab, dann hier.

Ihr Körper schmerzte. Das linke Auge schwoll bereits zu. Ihre Rippen stachen bei jedem Atemzug. Und dennoch wusste Hannah, dass diese Nacht ihre letzte in diesem Haus sein musste.

Sie schaltete die Schreibtischlampe an und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Sie begann, den Schreibtisch systematisch zu durchsuchen. Nichts. Kein Hinweis. Nur unbezahlte Rechnungen. Ihre persönlichen Dokumente fand sie in der untersten Lade. Die nahm sie beiseite.

Der Kasten war versperrt. Es dauerte einige Minuten, bis sie das Schloss mit einer umgebogenen Büroklammer geöffnet hatte. Ordner über Ordner. Bestelllisten. Buchhaltung von ihrem Stiefvater.

Von Felix fanden sich keine neuen Unterlagen. Es sah fast aus, als ob die Firma mit dem Tod ihres Stiefvaters zum Stillstand gekommen war. Eigenartig? Dabei war es immer ein gut gehendes Unternehmen gewesen.

Ein schmales Kuvert im obersten Regal weckte schließlich Hannahs Neugierde. Schmerzend griff Hannah danach und wusste sofort, dass sie hier fündig werden würde.

Es waren Unterlagen vom Notar, Dr. Weinhub. Es war eine Kopie des Testaments ihres Stiefvaters. Hannah überflog die Unterlagen. Sie verstand nur die Hälfte des Geschriebenen. Aber eines las sie deutlich heraus: Es gab ein Bankkonto, für sie eingerichtet, über dessen Geld sie ab ihrem 21. Geburtstag verfügen konnte. 40000 Euro. Nur für sie. Bei der Hausbank. Sie konnte einfach darauf zugreifen. Glaubte sie zumindest. 40000 Euro. Ihr Geld. Das Geld für eine gemeinsame Zukunft für das Baby und sie. Und auch eine Chance für ihre Mutter. Auch für sie gab es ein Konto mit Geld.

Nachdenklich schob sie die Papiere wieder ins Kuvert zurück und räumte alles wieder zusammen. Sie kontrollierte noch einmal, ob sie keine Spuren hinterlassen hatte. Hannah hatte schon ihre Hand am Türgriff, als sie einem inneren Instinkt folgte. Sie ging zurück und entnahm dem Kuvert das Testament. Sie kopierte es fein säuberlich auf dem einfachen Drucker im Büro ihres Stiefbruders. Die Kopien nahm sie mit.

In ihrem Zimmer zog sie sich vorsichtig aus und begutachtete die blauen Flecken, die sich schön langsam breit machten. Ihre Rippen leuchteten dunkellila, Oberschenkel und Oberarm genauso. Im Gesicht war die Wange noch gerötet. Über dem Auge begann sich ein Veilchen abzuzeichnen.

Sie wollte nur mehr weg. Nach vorne sehen. Sie duschte, zog sich sorgfältig an und packte in eine Reisetasche die wichtigsten Dinge ihres Lebens. Papiere. Ein wenig Kleidung. Das Notizbuch mit den gesammelten Rezepten. Viel besaß sie nicht.

Sie musste weg. Hannah erkannte, dass der Weg von Felix nicht ihr Weg sein konnte. Sie hatte viel zu lange gewartet.

Sie legte sich noch kurz hin und stellte sich den Wecker an ihrem Handy, um rechtzeitig wach zu werden.

- 3 –

„Liebe Mama, ich liebe dich über alles und bin dir für alles dankbar, was du in meinem Leben für mich getan hast. Aber ich weiß, dass ich nicht mehr in diesem Haus bleiben kann. Ich flehe dich an, dich in Sicherheit zu bringen. Verlass dieses Haus, solange es noch geht. Sag Felix auf keinen Fall, wohin du gehst. Versuch dich mit Dr. Weinhub zu treffen. Der kann dir helfen. Bitte! Tu es für mich. Ich melde mich, sobald ich etwas für mich gefunden habe und hole dich dann zu mir. In Liebe Hannah“

Den kurzen Brief schob sie unter der Türe in das Zimmer ihrer Mutter.

Sie schlich mit der Reisetasche in der Hand in die Küche. Essen konnte sie nichts. Ihre morgendliche Übelkeit stellte sich bereits wieder ein. Sie trank einige Schlucke Kräutertee, sah sich noch einmal um und wusste, dass sie nie mehr zurückkommen würde. Solange ihr Stiefvater gelebt hatte, war dieses Haus eine Art Heim gewesen. Er war gut zu ihrer Mutter und ihr auch. In der Schule zeigte sie sich nicht überbegabt, hatte jedoch auch nie Probleme. Hannah liebte danach ihre Ausbildung zur Konditorin und stellte sich ihre Zukunft in den schillerndsten Farben vor. Da war die Welt noch in Ordnung. Der plötzliche Tod erschütterte ihre Welt in den Grundfesten.

Johannes Riesenberger beäugte die Kundin durch die Auslage bereits interessiert. Sie saß bereits seit einer halben Stunde vor der Bank und wartete scheinbar auf die Öffnung. Dunkle Sonnenbrillen verdeckten ihre Augen. Obwohl kein Sonnenstrahl am Himmel zu erkennen war. Er hatte sie bisher noch nie gesehen. Er schloss die Sicherheitstür auf und sah aus den Augenwinkeln, dass sie sich erhob.

„Guten Morgen.“

„Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“

„Ich glaube, es gibt ein Konto auf meinen Namen und ich möchte davon Geld abheben.“

Johann blinzelte verwirrt. „Sie GLAUBEN, ein Konto zu besitzen? Wissen Sie das denn nicht?“

„Es wurde von meinem Stiefvater für mich eingerichtet und ich habe erst vor kurzem davon erfahren.“

„Können Sie mir die betreffende Kontonummer nennen?“ Mittlerweile war er überzeugt, dass es ein Irrtum sein musste.

Hannah versuchte ihre nervösen Hände unter der Tischplatte zu verstecken, die sie von dem netten Bankbeamten trennte. Dieser suchte in seinem Computer nach ihrer Nummer.

„Ah ja, Frau Neuhart. Ich habe ihr Konto gefunden. Wenn Sie sich ausweisen können, dann steht einer Abhebung nichts mehr im Weg.“

Hannah zeigte ihren Pass vor, der bereits vor einem Jahr abgelaufen war. Hoffentlich sah der Bankbeamte nicht zu gründlich nach. Führerschein hatte sie keinen, denn Felix war überzeugt, dass sie keinen benötigen würde.

„Es scheint alles in Ordnung zu sein. Wie viel Geld darf ich für Sie bereitstellen?“

„Alles.“

„Alles! … Alles? … Ich weiß jetzt nicht … Das ist jetzt etwas überraschend. So große Beträge müssen vorher angekündigt werden. Kann ich Ihnen vielleicht weniger anbieten?“

Verwirrt und enttäuscht blickte Hannah den Beamten an.

„Wie viel können Sie mir denn auf einmal mitgeben?“

„Ich kann Ihnen jetzt gleich 10000 Euro zur Verfügung stellen. Und dann morgen den Rest. Wir sind eine kleine Filiale und haben nicht so viel Geld gelagert.“

„Morgen … Ich nehme die 10000 Euro jetzt mit.“

Morgen war ihr scheinbar zu spät? Johannes Riesenberger erkannte, wenn eine Frau Probleme hatte. Wer benutzte schon eine Sonnenbrille im Winter. Außerdem bewegte sie sich ganz steif. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen.

„Ich nehme an, Sie wollen Urlaub machen. Urlaub von ihrem Zuhause? Ich kenne da einen ganz tollen Ort. Sehr abgeschieden. Klein. Und niemand fragt nach.“

Er erkannte, dass Hannah Interesse hatte. Obwohl sie es nicht zu offensichtlich zeigen wollte, lauschte sie aufmerksam.

„Walding. In den Voralpen. Mit der Westbahn und dann mit dem Autobus bequem zu erreichen. Der Zug fährt zu jeder Stunde. Und Autobus gibt es mehrmals pro Tag. Überlegen Sie es sich. Es ist ein Geheimtipp, den ich niemandem verrate.“

Hannah starrte ihn irritiert an. „Danke.“ Warum hatte er ihr das erzählt? Sie musste weg. Sie hatte noch keinen Plan. Sie brauchte zuerst Geld. Für sich. Für das Baby. Für ihre Mutter. Hoffentlich hatte diese die Warnung verstanden und brachte sich in Sicherheit.

Der Bankbeamte brachte das Geld in einem neutralen Kuvert.

„Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute. Ich würde mich freuen, wenn wir uns einmal wiedersehen. An einem schöneren Tag.“

Es war schön. Hannah schöpfte Hoffnung. Sie hatte Geld. Und eine Chance auf ein neues Leben.

Ratlos stand Hannah vor der Bankfiliale. Was tun? Wohin? Sie hatte keine Freundinnen mehr, zu denen sie hätte gehen können. Felix hatte sie alle vergrault. Entweder hatte er sie beleidigt oder versucht zu verführen. Mit der Zeit sind alle fern geblieben. Verwandte hatte sie auch kaum.

Besser wäre es, weit weg zu gehen. Sie hatte ja nun ein wenig Geld. Obwohl sie sich bisher kaum um Geld kümmern musste, wusste sie, dass das Geld nicht lange reichen würde. Sie brauchte einen Job. Eine billige Bleibe. Unauffällig. Und am besten weit weg von Felix.

Vielleicht hatte der Bankbeamte Recht. Walding. Sie hatte noch nie davon gehört. Aber es hörte sich friedlich an. Warum nicht! Sie suchte im Handy nach dem Ort. Wie sie schon gehört hatte. Mit dem Zug und dann mit dem Bus. Vielleicht nicht die beste Wahl. Aber die derzeit einzige. Entschlossen ging sie zum Westbahnhof.

- 4 –

„Was heißt, sie ist nicht hier? Wo soll sie sein! Du suchst sie jetzt und wenn Hannah hier auftaucht, kann sie was erleben!“

„Felix, sie ist nicht mehr da. Ich weiß nicht, wann sie weg und wo sie hingegangen ist.“

„Ich hatte jetzt genug Geduld mich euch beiden. Ihr hattet alles, was man sich wünschen kann. Aber ihr habt es nicht geschätzt. Du wolltest es so! Du packst jetzt deine Sachen und ich suche dir eine Seniorenheim.“

„Aber Felix, ich habe hier ein Wohnrecht.“

„So lange zu lebst. Möchtest du wirklich hier bleiben? Dann wird es ein kurzes Wohnrecht.“

Felix lief wütend aus dem Zimmer und zückte sein Handy.

Maria saß blass auf der Couch. Sie war so froh, dass Hannah der Hölle entkommen war und hoffte, dass sie sich bereits weit weg befand. Und Felix sie niemals finden würde. Sie würde schon durchkommen. Vielleicht wäre ein Seniorenheim für sie gar nicht so schlecht.

Sie ging schon mal ihre Sachen packen und suchte im Telefonbuch nach diesem Dr. Weinhub. Den Brief von Hannah hatte sie wohlweislich zerrissen und im WC hinunter gespült und gegenüber Felix verschwiegen.

Am Westbahnhof herrschte das übliche Treiben. Menschen rannten zum Zug und vom Zug zur U-Bahn. Hannah sah verwirrt zu den verschiedenen Anzeigetafeln. Bahnsteig und Zugnummer zu finden, erwies sich als nicht so einfach. Dies war ihre erste Zugfahrt, die sie allein bestreiten wollte. Und das mit 22 Jahren. Der Zug würde erst in zwanzig Minuten abfahren. Hannah bummelte durch den Bahnhof. Sie war nervös und innerlich zerrissen. Tat sie das richtige? Ging es ihrer Mutter gut? Sie war so versucht, anzurufen. Einzige ihre Angst, dass Felix zum Telefon ging, hielt sie davon ab. Aber ein Anruf konnte ja nicht schaden. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer der Villa.

Schon beim ersten Läuten wurde abgehoben. „Hallo.“

„Mama, ich bin’s. Mir geht es gut.“

„Hannah, Gott sei Dank. Geh weg und melde dich irgendwann mal bei mir. Ich werde auch noch heute das Haus verlassen. Ich kann nicht lange reden. Felix sucht bereits nach dir. Wirf das Handy weg. Ich liebe dich. Und wenn du mich suchst: Meine letzte Ehe war wunderschön, aber es gab auch noch ein anderes Leben.“

Noch bevor Hannah etwas antworten konnte, war die Leitung tot. Was sollte der letzte kryptische Satz? Ein anderes Leben?

Wirf das Handy weg? Warum? Es war ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Ihr Stiefvater hatte es ihr gekauft. Im Fernsehen hatte sie schon mal gehört, dass man damit Personen orten konnte. Ihre Mutter hatte wahrscheinlich Recht. Im Vorbeigehen entsorgte sie es in dem Papierkorb neben einem Schnellimbiss. Ihr Herz pochte. Schnellen Schrittes machte sie sich auf den Weg zum Bahnsteig. Das Ticket trug sie bereits in ihrer Manteltasche bei sich.

Der Zug war spärlich besetzt. Hannah hatte das Abteil für sich alleine. Die Landschaft zog unbemerkt an ihr vorbei. Mit jedem Kilometer wurde ihr leichter ums Herz. Sie dachte an das Baby. Der Start mochte etwas holprig sein, aber sie würde alles versuchen, um dem Baby ein echtes Leben zu ermöglichen. Keine Gefangenschaft. Keine Zwangsehe.

Und im selben Moment stieg ihre Angst vor dem Unbekannten. Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Hätte sie Felix noch umstimmen können? Was würde aus ihrer Mutter werden? War sie in Sicherheit? Was sollte aus ihr werden? Und ihrem Baby? Der erneute Gedanke an das Baby überzeugte sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken wie in einem Ringelspiel.