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»Eine nachtschwarze Hommage an die Träume – vor allem an die bösen. Mysteriös und temporeich.«Kai Meyer Tagsüber kellnert Isra im Varieté und ist den Launen ihrer Gäste ausgesetzt. Doch des Nachts ist Isra mächtig. Dann schleicht sie sich in fremde Schlafzimmer, um Träume zu stehlen und diese in schaurige Albträume zu verwandeln. Lisanne Surborg hat ein phantastisches Drama um eine Heldin geschaffen, die alles daransetzen muss, nicht in der dunkelsten Seite der Nacht verloren zu gehen. Isra ist ein Nachtalb, und Nachtalbe können nicht träumen. Doch sie sind auf Träume angewiesen wie Menschen auf das Sonnenlicht. Wenn Isra nachts ihre Opfer heimsucht, stiehlt sie zuerst deren Lichtträume. Dann verknüpft sie die tiefsten Ängste der Schlafenden zu einem Albtraum, der Angst und Schrecken auslöst. Vor Kurzem galt Isra noch als großes Talent in der Traummanipulation. Sie ist eine Meisterin der Komposition von Traumsequenzen. Doch seit einer ihrer Albträume einen Träumer zu Tode geängstigt hat, droht sie aus der Albgesellschaft ausgeschlossen zu werden. Und dann nimmt sie auch noch einen verbotenen Klartraum auf. Halluzinationen gewinnen Macht über ihren Alltag. Als einem weiteren ihrer Träumer ein Unglück widerfährt, steht Isra an einem Abgrund…
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Seitenzahl: 451
Veröffentlichungsjahr: 2025
Lisanne Surborg
Nachtlügen
Klett-Cotta
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Hobbit Presse
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J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH
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Cover: Birgit Gitschier, Augsburg
unter Verwendung mehrerer Abbildungen von ©shutterstock/Valedi
Gesetzt von C.H.Beck Media Solutions
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-96647-3
E-Book ISBN 978-3-608-12406-4
Tosender Applaus hallte durch den Saal. Auf der Bühne wartete die Artistin, bis das Publikum sich beruhigte. Dann erst setzte sie zu ihrem Finale an: Sie stieg eine Leiter hinauf und testete mit gespielter Besorgnis das Stahlseil, das sich in zwei Metern Höhe straff von der einen Bühnenseite zur anderen spannte. Unter den begierigen Blicken des Publikums ließ sie sich ein Einrad reichen.
Im Saal roch es nach verschüttetem Sekt, nach Nachos und den Miesmuscheln, die die Frau an Tisch zwölf bestellt hatte. Vereinzelt leuchteten Smartphone-Displays auf, während die Künstlerin ihr Einrad auf dem Drahtseil platzierte.
Isra lehnte an einer goldenen Säule. Hätte sie nicht die weiße Bluse getragen, sie wäre wohl mit den Schatten verschmolzen.
Das Publikum sog kollektiv die Luft ein, als Amira einen Fuß auf die Pedale setzte, sich auf das Einrad hebelte und hektisch mit den Armen ruderte. Sekunden später brandete abermals Applaus auf, und sie radelte in die Mitte des Drahtseils.
Das war der Einsatz für den Pantomimen, der just an Isras Säule vorbeischlüpfte, in den Publikumsraum sprang und einzelne Gäste gestenreich um ihre Schuhe bat.
Dieser Teil der Show war vielen Menschen sichtlich unangenehm. Männer senkten den Blick, einige Frauen täuschten vor, etwas in ihrer Handtasche zu suchen. Einmal war das Publikum so unwillig gewesen, dass Isra beide Schuhe hatte abtreten müssen. Diese Form der Kooperationsbereitschaft hatte sie in ihrem Arbeitsvertrag zusichern müssen.
Heute fanden sich Freiwillige. Ein paar Sektselige aus der Premiumloge zogen sich begeistert ihre Slingbacks und Budapester von den Füßen. Sie jubelten ausgelassen, während Amira auf ihrem Einrad mit den Schuhen jonglierte.
Die Leute klatschten, und Isra klatschte mit. Sie sah wie ein Mensch aus, und wenn sie sich auch so verhielt, würde niemand die Täuschung durchschauen.
Neben ihr tauchte eine weiße Bluse auf. »Ein Gast hat sich über dich beschwert«, sagte Leyla. »Tisch drei. Er sagt, du hast ihm das Falsche gebracht und dich nicht dafür entschuldigt.«
»Ich hab ihm gebracht, was er bestellt hat.«
»Und du hättest ihm das, was er nicht wollte, zu spät gebracht.«
»Hätte er denn das, was er nicht wollte, lieber sofort gekriegt?«
»Kannst du ihm einfach sagen, dass es uns leidtut, und ihm ’ne Knabberschale auf den Tisch stellen? Es tut uns leid. Wir-Form.«
Ihr lag eine Erwiderung auf der Zunge, aber Leyla wäre die falsche Adresse. Außerdem hatte sie wenig Geduld mit Isra. Zu Recht, wahrscheinlich. Über Isra beschwerte sich jede Woche jemand, und jedes Mal musste Leyla ihr zur Seite stehen und die unzufriedene Kundschaft besänftigen. Dass man Isra nicht einfach rauswarf, lag vermutlich nur am Personalmangel.
»Ich hole die Knabberschale.« Sie stieß sich von der Säule ab und ging in Richtung Küche.
Auf der Bühne verbeugte sich gerade Amira – noch immer auf dem Einrad sitzend. Dann verschwand sie zwischen den roten Samtvorhängen. Während der Pantomime die geborgten Schuhe zurückbrachte, steuerte Isra auf Tisch drei zu.
»Wir möchten uns für das fälschlich servierte Jever entschuldigen. Die hier geht aufs Haus.«
Keiner der vier Männer sagte etwas, als sie die Schale mit pikanten Nüssen und kleinen Salzbrezeln auf den Tisch stellte. Der Mann, der sich beschwert hatte, hob eine Augenbraue, als erwartete er, dass sie reumütig den Rückzug antrat. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig. Er trug eine protzige Uhr, ein zu enges Hemd und viel zu viel Gel im Haar. Wahrscheinlich ein Geschäftsmann, Bank- oder Finanzsektor.
»Darf’s noch etwas sein?«, fragte sie, ohne zu lächeln. Bier, Sekt oder vielleicht ein schöner, warmer Becher Urin?
»Manche haben wohl kein Trinkgeld nötig.« Er zog die Schale zu sich heran und wandte sich demonstrativ der Bühne zu.
Langsam, um den Männern möglichst lange die Sicht zu versperren, sammelte Isra am Nebentisch einige leere Gläser ein und brachte sie in die Küche.
Amiras Zwischenakt war witzig und unterhaltsam, gut geeignet, um das Publikum nach der Pause wieder in die Show zurückzuführen. Der Auftritt, der jetzt folgte, hatte eine gänzlich andere Wirkung.
Von der Decke hingen zwei bodenlange Tücher. Der goldgelbe Stoff schimmerte im Licht der Scheinwerfer und erinnerte Isra auf eine surreale Weise an Wasser.
Der Mann, der die Bahnen teilte, trug Schwarz. Er war muskulös, auf eine wendige Art, weder besonders groß noch besonders breit. Bei der Premiere hatte sie noch gedacht, dass er zwischen den glänzenden Stoffmetern ein wenig verloren wirkte.
Aus den Lautsprechern erklang der einzelne, langgezogene Ton einer Geige, der Isra Abend für Abend eine Gänsehaut bescherte.
Sie ignorierte die erhobene Hand einer Frau, die um ihre Aufmerksamkeit bat.
Der Mann auf der Bühne warf den Kopf in den Nacken, wickelte sich die Stoffbahnen um die Unterarme und erhob sich in einem Strudel aus Gold in die Höhe. Seine Präsenz schwappte wellengleich bis in die letzte Reihe, während er kopfüber um die eigene Achse wirbelte.
Nur beiläufig registrierte sie, dass nun auch die Frau, die unbedingt etwas hatte bestellen wollen, die Hand sinken ließ und zur Bühne starrte.
»Isra.« Neben ihr atmete Leyla geräuschvoll aus. »Könntest du bitte noch zwanzig Minuten so tun, als wäre dir dieser Job nicht scheißegal?«
»Nur zwanzig Minuten?«
»Ja, nach dem Abkassieren kannst du von mir aus ’ne Fresse ziehen. Deine Fans an Tisch drei kassiere besser ich ab. Die kriegen noch einen Gutschein für die Bar und schreiben uns dann hoffentlich keine miese Bewertung.«
Isra nickte. In dem Fall würde sie sogar länger als zwanzig Minuten durchhalten.
Sie riss sich von der Performance los und lächelte, während sie die restlichen Gläser einsammelte. Nachdem der Vorhang gefallen war und die meisten Gäste an der Garderobe anstanden, wischte sie sorgfältig die Tische ab.
Immer wenn sie zwischen Küche und Publikumsraum hin- und herlief, warf sie einen Blick durch die offenen Türen und quer über den Flur zur Bar. Die Gelfrisur war immer noch da.
Isra beendete ihre Schicht und verabschiedete sich knapp von Leyla, nicht ohne deren Argwohn über den plötzlichen Wandel in ihrer Arbeitsmoral zu bemerken. Sie knöpfte ihren schwarzen Mantel zu und verließ das Varieté. Draußen ging sie nur wenige Schritte weit, bevor sie sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einen tiefen Hauseingang zurückzog.
Sie vergrub die Hände in den Manteltaschen, ließ den Hals schützend zwischen die Schultern sinken und wartete. Obwohl es erst September war, schnitt ein eisiger Windstoß durch ihre Jeans. Als ihre Nase zu tropfen begann, wischte sie mit dem Handrücken darüber. Aus schmalen Augen beobachtete sie durch die großen Fenster der Bar, wie sich die vier Männer endlich zum Gehen aufmachten.
Sie traten auf die Straße, fröstelnd, aber laut und strotzend vor biergestütztem Selbstbewusstsein. Zwei gingen nach links, zwei nach rechts.
Geräuschlos löste Isra sich aus ihrem Versteck. Sie verfolgte zwei der Männer durch die Innenstadt, bis es schließlich nur noch einer war.
Er ging ohne Eile und ohne sich ein einziges Mal umzusehen. Der Alkohol schützte ihn vor der Kälte; die Tatsache, dass er ein Mann war, vor allem anderen. Er stolperte breitbeinig vor sich hin, als gehörte die Straße ihm. Die Schlüssel klimperten erst in seiner Hand, als er seine Zigarette vor einem Hauseingang ausgedrückt hatte.
Isra hielt die Tür fest, bevor sie hinter ihm ins Schloss fallen konnte. Im Kopf zählte sie bis fünfzehn und lauschte auf die Geräusche im Treppenhaus. Bei Altbauten wie diesem musste sie vorsichtig sein, denn jede Holzstufe knarrte, und die Wohnungstüren waren so hellhörig, dass ein unbemerktes Kommen und Gehen unmöglich war. Zum Glück hatten sich die meisten Bewohner so sehr an diese Geräusche gewöhnt, dass sie dabei kaum aufhorchten.
Sie schlüpfte ins Haus, gerade als der Mann seine Wohnungstür aufschloss. Ein Blick hinauf ins Treppenhaus. Blasse Schatten tanzten über das lackierte Geländer, dann schlug oben eine Tür zu. Zweiter Stock, links.
Das Licht ging aus.
Isra zog ihr Smartphone aus der Manteltasche und prüfte die Adresse, doch es gab keinen Eintrag. Gut so.
Sie stieg die halbe Treppe zur Kellertür hinab und ließ sich langsam auf eine der Steinstufen sinken. Andere Albe hätten jetzt gelesen, einen Podcast gehört oder die Zeit anderweitig sinnvoll genutzt. Isra lehnte sich mit dem Rücken gegen die kalte Wand, schloss die Augen und lauschte ihrem rasenden Herzschlag.
Der erste Traum, den ich stahl, war ein Glücksgriff.
Ich erinnere mich an Omas Hand auf meiner Schulter und an den Lavendelduft ihres Parfums, der für mich Zuhause bedeutete.
Eine Welle der Euphorie erfasste mich, als ich die Augen aufschlug und die Finger der schlafenden Patientin auf dem weißen Baumwollbezug ablegte.
Ich war mit ihr durch die Ranken eines wilden Gartens geklettert, hatte faustgroße Beeren gekostet und eine Schaukel aus Schlingpflanzen und Krepppapier geflochten. Letzteres war zusammengesackt und im Matsch versunken, sobald mein Starkregen eingesetzt und den Himmel über dem Garten verdunkelt hatte. Unter meiner Träumerin hatte sich der Boden aufgetan. Das Hohngelächter des Windes war mir fast genauso gut gelungen wie die gewisperten Entmutigungen der Grashalme, an denen die Träumerin sich festgehalten hatte. Der krönende Abschluss war meine Riesenspinne gewesen.
Voll Stolz begann ich zu erzählen, doch Omas Stimme ermahnte mich sanft. »Du bist noch nicht fertig. Fang den Traum.«
Meine Hand schnellte in die Tasche meines Nachthemds, zog die Phiole hervor und hielt sie der Patientin unter das rechte Nasenloch. Dabei gab ich acht, keines der vielen Kabel zu berühren, die mit Pflastern an ihren Schläfen, auf der Brust und überall sonst klebten. Offiziell waren weder Oma noch ich hier.
Einen Moment später sickerte eine klare Flüssigkeit aus der Nase der Frau, kaum genug, um den Boden eines Wasserglases zu benetzen. Ich fing jeden einzelnen Tropfen auf, verschloss die Phiole und steckte sie wieder in meine Tasche.
»Horch auf ihren Atem«, sagte Oma. »Was hörst du?«
Konzentriert kniff ich die Augen zusammen und spürte mich in den Rhythmus hinein. Etwas daran irritierte mich. »Sie wacht bald auf, oder?«
»Ja. Wie bald?«
»In … dreißig Sekunden?« Mein Hochgefühl verebbte, meine Schultern sanken hinab. »Ich wollte eigentlich zwei Minuten.«
»Es sind noch achtzehn Sekunden. Manchmal kommen die Dinge anders als geplant. Was nun?«
Ich beugte mich vor. Gespannt beobachtete ich das Mienenspiel der Frau, die sich gerade durch meinen allerersten Albtraum kämpfte. Ich hatte mir so viel Mühe gegeben, die Handlung fein an ihren Lichttraum angeknüpft und meine Angstakzente mit Bedacht gesetzt. Am liebsten wäre ich neben ihrem Bett stehengeblieben, um sie direkt nach dem Erwachen nach ihrem Urteil zu fragen.
Aber das war natürlich Irrsinn.
»Wir müssen gehen.« Ich trat einen Schritt zurück, fand Omas Hand und zog sie mit mir auf den Flur, bevor ich die Tür hinter uns sorgsam ins Schloss drückte.
Oma und ich gingen den dunklen Flur des Schlaflabors entlang. Die schummrige Nachtbeleuchtung reichte für Menschen gerade so aus, um im Notfall den Weg nach draußen zu finden. Wir dagegen sahen jede einzelne Blume, die meine Schwester und ich in den letzten Sommerferien auf die Wand gemalt hatten.
Ich kannte das Labor so gut wie unser Haus. Oma arbeitete häufig nachts, und damit wir nicht unbeaufsichtigt zuhause blieben, hatte sie für uns eines der Patientenzimmer eingerichtet.
Als wir eintraten, saß meine Schwester auf der Bettkante. Ihre Füße steckten in flauschigen Hausschuhen, die Hände klemmten unter ihren Oberschenkeln.
»Hast du’s hingekriegt?«, fragte sie.
Zur Antwort hob ich stolz die Phiole empor.
Meine Schwester presste die Lippen zusammen. Ihr erster Versuch war nicht geglückt, aber sie hatte mir nicht erzählt, woran sie gescheitert war. Selbst Wochen später nicht.
Oma wartete, bis ich in mein Bett geklettert war, dann deckte sie mich zu. Ihr Lavendelduft stieg mir in die Nase, während ich meine Phiole entkorkte und den zarten Glasrand an die Lippen setzte.
Ich zögerte. Suchte den Blick meiner Schwester, doch sie sah auf den Boden. Suchte den Blick meiner Oma, die ermutigend nickte.
Der Lichttraum, den ich der Patientin gerade gestohlen hatte, perlte auf meine Zunge.
Bevor ich die Augen schloss, sah ich zu, wie Oma meine Schwester bei der Hand nahm und sie auf den Flur führte.
Dann entfaltete der Traum seine Süße, bettete meinen Kopf aufs Kissen und zog mich in das Abenteuer, das ich gerade erst in einem fremden Kopf erlebt hatte.
Wie in den meisten Altbauten führten hübsche Flügeltüren zu den Wohnungen. Diese hier waren weiß gestrichen, mit großzügigem Buntglaseinsatz.
Isra war darauf vorbereitet, den Kantenriegel zu ziehen, aber die Tür ließ sich mit ein wenig Kraft aufdrücken. Das klappte in fünf von acht Fällen; in Altbauten jedenfalls.
Sie betrat die Wohnung, schob die Flügel hinter sich zusammen und streifte die Stiefelsohlen auf der Türmatte ab.
Der Flur ging hinter einer halbhohen Wand ins Wohnzimmer über. Die Straßenlaterne vor den Fenstern tauchte alles in ein gelbliches Licht.
Erwartet hatte sie eine seelenlose Sammlung von Möbeln mit glänzender weißer Oberfläche. Geschmacklos, aber teuer. Doch die Gelfrisur überraschte sie mit einer grünen Eckcouch, einem kleinen Biotop von Farngewächsen und einem großen Ölgemälde. Es zeigte das abstrakte Bild von etwas, das ein Brunnen sein mochte, tief und dunkel. Isra gefiel es auf Anhieb.
Ein Blick auf die Jacken und Schuhe bestätigte ihre Vermutung, dass er allein wohnte. Gut, sie war zu müde, um heute Nacht noch mal von vorne zu beginnen.
Isra zog ihren Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Ihre Hände waren klamm, aber wenigstens nicht mehr so schwitzig wie noch vor ein paar Wochen. Sie schlich über leise seufzendes Parkett durch den Flur, blickte ins Bad und in ein Arbeitszimmer, bevor sie hinter der letzten Tür das Schlafzimmer fand.
Der Mann lag auf dem Bauch, auf der rechten Seite des Bettes.
Es gab Studien dazu, welche Bettseite sich für wen am besten eignete. Angeblich waren Linksschläfer glücklicher als Rechtsschläfer. Und laut Feng Shui sollten Frauen links und Männer rechts schlafen, damit sich ihr Yin und Yang ideal zu ergänzen vermochten.
Isras Erfahrung nach hatten die Schlafgewohnheiten der Menschen eher mit der Platzierung von Fenstern, Türen und Möbeln zu tun. Erst recht in einem so kleinen Zimmer wie diesem hier.
Sie horchte nach dem Atemrhythmus, bevor sie sich näher heranwagte. Früher hatte sie gedacht, dass das hier der gefährlichste Moment war, denn die Schlafenden könnten einfach aufwachen und sie entdecken. Heute wusste sie, dass es schlimmer war, wenn sie nicht aufwachten.
Strähnen gegelten Haars hingen dem Mann ins Gesicht. Unter dem Gewicht seines Kopfes wurde seine untere Wange auf dem Kissen derart hochgequetscht, dass sie gegen den kurzen Wimpernkranz stieß.
Isra ging vor ihm in die Hocke und beobachtete das Zucken seiner Lider. REM-Phase. Als wollte er ihr einen Gefallen tun.
Sie ließ den Blick über seinen Nachttisch schweifen. Ein Glas Wasser, zwei Tablettenblister und ein dünnes Buch, mit dem Einband nach oben aufgespreizt. Abtauchen. Von Apnoe bis Zentralnervensystem. Auf dem Cover reckte ein Typ in voller Tauchmontur einen Daumen nach oben.
Sie sog die Luft tief in die Lungen und versuchte, ihr wummerndes Herz zu beruhigen. Dann griff sie nach der Hand ihres Gastgebers, der den Druck reflexartig erwiderte. Sekunden später war sie in seinem Kopf.
Sie sah einen Traum, so inspirierend wie eine Stromrechnung.
Ihr Gastgeber befand sich in einem Büro. Er saß auf einem Drehstuhl an einem ausladenden Schreibtisch. Zu beiden Seiten seines Computers waren dicke Ordner aufgereiht; jeder davon war grau. Er hackte unablässig auf die Tastatur ein und starrte auf den Bildschirm, in dessen Oberkante ein Gerät mit Zeigern eingelassen war.
Isra beugte sich vor. Es sah aus wie das Tachometer eines Autos. Die rote Nadel zitterte im Höchstbereich.
Vom Flur drang Lachen durch die angelehnte Tür, dann das Zischen und Gluckern einer Kaffeemaschine. Irgendwo sirrte ein Faxgerät.
Isra wartete ab und hoffte, dass das hier vielleicht der Auftakt zu einem Abenteuer sein würde. Sie hatte schon Träume geerntet, die im Alltag begonnen und im Weltall geendet hatten. Doch je länger ihr Gastgeber tippte, desto gewisser wurde die Erkenntnis: Isras Wunsch nach Rache hatte sie ins Schlafzimmer eines Mannes ohne jeden Funken Fantasie geführt.
Sie atmete tief ein und presste ihm den trägen Lichttraum aus dem Kopf.
Schlagartig verstummten die Geräusche auf dem Flur. Im Büro wurde es dunkel. Nicht stockfinster, eher fahl wie während der Winterdämmerung. Als einzige Lichtquelle bestrahlte der grelle Bildschirm das Gesicht des Träumers, ließ ihn blinzeln, ließ ihm die Augen tränen. Doch er tippte unablässig weiter, füllte Zeile für Zeile. Die Tachonadel zuckte gegen den Anschlag.
Isra sah ihm über die Schulter und begutachtete die langen Zahlenfolgen, die er schrieb.
3 849 183 503 957 820
0 192 538 592 375 044
5271 …
Zufällig und sinnlos, jede Wette. Sie pustete ihm ins Ohr.
Ein irritierter Blick nach oben, kurz. Zu der Stelle in der Dunkelheit, wo gerade noch die Tür zum Flur gewesen war. Zurück zum Bildschirm.
7493055918376467
Er musste das Tempo halten, um seine Spitzenposition zu verteidigen. Er war der Schnellste, der Genaueste und der Beste. Er würde gewinnen.
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Das Klackern auf der Tastatur schwoll zu einem unangenehmen Stakkato an. Auf dem Bildschirm erschienen in rasender Geschwindigkeit neue Zahlenfolgen. Die Nadel klebte am Anschlag der Anzeige, und auf der Stirn des Mannes glänzten Schweißperlen.
4730029174859382
Das könnte ein neuer Rekord werden. Tempo halten, Tempo halten.
9830217349503778
Mit dem Schnippen zweier Finger brach Isra die Tachonadel ab.
6332019 –
Manipulation!
Die Hände auf der Tastatur erstarrten. Kein Ausschlag, keine Produktivität. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine Falte. Er presste die Lippen aufeinander, zog die Schultern hoch.
3598417548900342
Er musste weiterkämpfen. Sie konnten ihm Steine in den Weg legen, aber das würde ihn nicht aufhalten. Er war der Beste und er würde es ihnen allen beweisen. Tempo halten. Tem …
Isra hatte keine Lust mehr auf seine Gedanken. Sie schob sie beiseite und schüttelte missbilligend den Kopf, obwohl er sie nicht sehen konnte.
Während er wie besessen auf die Tastatur einhackte, stieß sie ihm den Bildschirm um. Der kippte auf die Rückseite und strahlte die Decke an.
Sie schnippte ein zweites Mal. Der Bildschirm flackerte, erlosch, und dort, wo eben noch endlose Zahlenfolgen zu lesen gewesen waren, tat sich jetzt ein gähnendes Loch auf. Tiefschwarz wuchs es über den Bildschirmrand hinaus und fraß die Tastatur. Statt eines Schepperns ertönte das dunkle Glucksen von Wasser. Das Echo verklang.
Isra gab der Stille Zeit, sich auszudehnen.
Reglos blickte der Mann in das Loch, das eben noch sein Arbeitsplatz gewesen war. Dann, langsam, rollte er auf seinem Drehstuhl nach hinten. Floh.
Und Isra entschied sich um. Sie hatte vorgehabt, ihn in das Loch zu stürzen, ihn im Wasser ums Überleben kämpfen zu lassen. Aber nun bevorzugte sie die Symbolik, ihn in seinem Büro ertrinken zu lassen.
Mit einer Kraft, die die Wände vibrieren ließ, schoss eine Fontäne schwarzen Wassers aus dem Schacht. Sie durchnässte den Mann von der Frisur bis zu den Schuhen. Er klammerte sich an die Lehne, zog die Beine an und stellte sich wackelnd auf die Sitzfläche. Wieder sah er sich nach der Tür zum Flur um, doch die hatte Isra längst entfernt.
Das Wasser stieg schnell, riss seinen Stuhl um und zerrte an ihm.
Sie ließ ihn zappeln. Eine Weile sah sie zu, wie er gegen ihre Strömungen kämpfte und versuchte, an die Wände zu klopfen. Er schrie ein paar Mal um Hilfe, also ließ sie eine kleine Welle über sein Gesicht hinwegrollen und lauschte seinem Röcheln.
Das Wasser reichte jetzt fast bis zur Decke. Es war schwarz und zäh wie Öl. Darin bewegte sich etwas, das sie schon erwartet hatte. Ein Wesen mit Klauen und Zähnen, das sich ihrem Träumer interessiert näherte. Das Monster mit den Spinnenbeinen, das sie vor Jahren erschaffen hatte. Ihr Monster.
Aber heute hatte sie andere Pläne.
Der Mann ruderte wild mit den Armen, prustete, spuckte Wasser aus. Sie beschloss, ein Detail einzubauen, und ließ einen silbernen Pokal an seinem Gesicht vorbeitreiben. Dann zog sie ihn unter Wasser.
Isra löste ihre Hand aus der ihres Gastgebers.
Er hatte sich halb auf den Rücken gedreht. Schweiß stand auf seiner Stirn, die Brust hob und senkte sich schnell, und unter seinen Lidern kullerten die Augen im Kreis.
Sie schob zwei Finger in ihre Hosentasche und zog eine filigrane Glasphiole hervor. Ihre Großmutter hatte ihr letztes Jahr einen neuen Satz geschenkt, aber nachdem die Phiolen alle zerbrochen waren, benutzte sie die Fläschchen von Parfumproben, die sie aus den Magazinen und Illustrierten örtlicher Kioske gerissen hatte.
Sie zog den kleinen Stopfen, hielt dem Mann das Gläschen ins Gesicht und fing die drei Tropfen klarer Flüssigkeit auf, die ihm aus der Nase rannen.
Ein schwacher Lichttraum war noch immer besser als nichts.
Sie verschloss die Phiole, steckte sie ein und erhob sich. Ihr blieb noch etwa eine Minute, bis er aufwachen und um Atem ringen würde. Eher hatte sie es nicht erlaubt.
Ihr Blick fiel auf das Buch, das sie inspiriert hatte. Sie griff nach dem Wasserglas daneben und kippte es vor dem Bett aus. Dann stellte sie es an seinen Platz zurück.
Isra verließ das Schlafzimmer, ging über das glänzende Parkett zurück zur Wohnungstür und zog ihren Mantel an. Die Hand auf der Klinke erlaubte sie sich, für ein paar Sekunden noch das Gemälde über der Couch zu bewundern.
Dann keuchte im Schlafzimmer jemand auf, und sie schlüpfte aus der Wohnung.
Auf dem Weg nach Hause wärmte sie der Gedanke, dass ihr Gastgeber am Morgen in eine Pfütze treten und sich an das schwarze Wasser in ihrem Albtraum erinnern würde.
»Du bist ein Albtraum, Frau«, sagte er, ohne zu wissen, dass er zum ersten Mal mein wahres Wesen erkannt hatte. Und zu was machte es ihn, den Mann, der einen Albtraum liebte? Zu einem Masochisten. Zu einem Romantiker. Zu meinem ewigen Gastgeber.
Aus: »The Art of Nightmare« von Elvira Ogolgo, Biografie
Isra zerbröselte das Brötchen in der Tüte. Sie saß auf einem von zwölf Steinquadern, die den Platz zwischen dem imposanten Rathaus und einem gläsernen Konsumpalast umrahmten. Unter den missbilligenden Blicken einer älteren Frau bestreute sie das Kopfsteinpflaster mit Krümeln.
Wie aus dem Nichts erschienen die Tauben.
Sie wuselten gurrend um Isra herum, ein Meer aus asphaltfarbenen Federn. Hektisch pickten sie nach den Krümeln.
Ihr fiel der weiße Fleck im Gewimmel auf. Eine verirrte Hochzeitstaube, die sich jetzt mit ihren Artgenossen in der Stadt um Pizzareste stritt.
Etwas zog an ihrem Schnürsenkel. Das Gefieder der grauen Straßentaube, die danach hackte, wirkte struppig und ölig. Als Isra sich vorbeugte, erkannte sie, dass dem Vogel ein Fuß fehlte. Wahrscheinlich durch ein Stück Schnur oder Draht abgetrennt.
Sie griff in die Tüte und riss ein Stück vom zweiten Brötchen ab. Vorsichtig schnippte sie es der Taube hin und hielt die anderen auf Abstand, bis das Tier sich mit seiner Beute in die Luft erhoben hatte.
Isra warf einen Blick auf die Rathausuhr. Sie schob sich die Hände unter die Oberschenkel, die feuchten Flächen an den Jeansstoff gepresst. Es wäre vernünftig, den Rest des Brötchens selbst zu essen, aber sie rührte es nicht an.
Nach fünf Minuten riss sie es in Fetzen, die sie wie blasses Konfetti auf dem Steinklotz zurückließ. Sie stopfte die leere Papiertüte in den Rucksack und stand auf.
Die Tauben fielen über die Gabe her. Für einen Moment hüllten ihre Körper den Quader ein und erschufen die Illusion, der Stein wäre zum Leben erwacht.
Isra trug den Rucksack über einer Schulter, weil der zweite Riemen vor ein paar Wochen gerissen war. Sie betrat das Rathaus, äußerlich ein herrschaftlicher, an eine Festung erinnernder Bau, von innen ein Labyrinth aus Fluren.
Das Gebäude beherbergte Ämter aller Art. Es war ein so hoch verzweigter Verwaltungstrakt, dass vermutlich niemand – nicht einmal der Hausmeister – einen Überblick über alle Etagen hatte. Das war der Grund, weshalb sich zwischen dem Bürgeramt, dem Standes-, dem Sozial- und dem Wirtschaftsamt ein unscheinbarer Gang verbarg, den niemand betrat, der hier nicht explizit einen Termin wahrzunehmen plante.
Isra kannte den Weg. Sie ging ihn jede Woche.
Im fünften Stock hielt sie auf eine Glastür zu. An der Wand daneben hatte jemand ein Schild angebracht, das in serifenlosen Lettern das Amt für reversible energieausgleichende Maßnahmen auswies.
REM. Wie die Schlafphase, in der Menschen träumten.
Sie schlüpfte durch die Glastür auf den Flur, von dem ein Dutzend Büros abgingen. Zwischen den Türen reihten sich gepolsterte Holzstühle aneinander, damit diejenigen, die mit ihrem Nummernzettel in der Hand warteten, niemandem im Weg standen.
Heute war es recht leer. Eine Frau mit Kurzhaarschnitt scrollte auf ihrem Smartphone, weiter hinten saß ein Mann, der in sein Taschenbuch vertieft schien.
Isra musste keine Nummer ziehen.
Sie atmete tief ein und klopfte mit den Fingerknöcheln ans Türblatt.
Rajani Khan erwartete sie bereits in ihrer Sitzecke. Der Versuch, dem behördlichen Büro eine Art Wohlfühlatmosphäre zu verleihen, war an zwei schwarzen Ledersesseln und einem Glastischchen gescheitert. Auf dem Tisch stand stets ein Teller mit drei Keksen, die Isra nie anrührte, und sie fragte sich, ob es immer dieselben waren.
»Isra!« Rajani lächelte und entblößte spitze, kleine Zähne. Sie trug das dunkle Haar so kurz, dass es kaum mehr als ein Schatten auf ihrer Kopfhaut war. Ein silberner Ring glänzte in ihrem Nasenflügel, drei weitere an den Fingern. Sie war in einen großgemusterten Blazer gehüllt. Ihr violettes Kleid darunter reichte fast bis zum Boden. Das Amt für reversible energieausgleichende Maßnahmen konnte sich noch so sehr um Unauffälligkeit bemühen; es versagte jeden Morgen, wenn sie das Gebäude betrat.
Isra schloss die Tür hinter sich, zog ihren Mantel aus und legte ihn über eine Stuhllehne. Sie drückte die ausgestreckte Hand und setzte sich auf den Sessel mit Blick aus dem Fenster. Den Rucksack klemmte sie sich zwischen die Stiefel.
Rajani nahm ihr Notizbuch mit den scharfen Metallkanten zur Hand, ohne es jedoch aufzuschlagen. »Wie war deine Woche?«
Isras Mund fühlte sich trocken an. »Normal.«
Sie sank gegen das Polster. Die Sitzfläche war für sie zu lang, die Lehne zu kurz. Egal, wie sie saß, sie hatte immer das Gefühl, sich etwas abzuschnüren. »Es ist nichts Besonderes passiert. Also, nichts Schlimmes.«
»Hattest du diese Woche keine Sorge, dass etwas schiefgehen könnte?«
Sie zuckte die Achseln. »Nicht wirklich. Es ist ja seitdem nichts Schlimmes mehr passiert.«
Rajanis Fingernägel trommelten einen Takt auf den Ledereinband des Notizbuchs, der nach Ungeduld klang. Früher oder später würde sie es aufschlagen und Isra Antworten auf die immergleichen Fragen abverlangen. Je später Rajani dazu kam, desto weniger Zeit würde ihr bleiben.
»Das Bild …« Isra räusperte sich und deutete mit dem Kinn zu der wandfüllenden Fotografie hinter dem Schreibtisch. »Hast du das mitgebracht, oder war es schon vor dir hier?«
Rajani wandte sich um, als hätte sie vergessen, dass dort überhaupt ein Bild hing.
»Bedeutet es dir was?«, fragte Isra.
»Ja, sicher.« Rajani sprach langsam. Ihr Zeigefinger und der beringte Daumen drückten sich um eine Metallkante zusammen. »Das Bild gehört zu meinem Arbeitsalltag. Mein Büro ist ein vertrauter Ort für mich. Das bedeutet Sicherheit und geht ein bisschen in die Richtung, über die wir letzte Woche gesprochen haben, oder? Stützpfeiler im Leben. Etwas, das uns Halt gibt, wenn wir schwierige Phasen durchmachen. Für manche ist das eine Routine wie die Dusche am Morgen oder der Tee am Abend. Für mich ist es meine Arbeit, und in einem erweiterten Sinne auch dieses Bild.«
Isra zog die Nase kraus. »Meinst du, der Künstler hat sich gedacht: Cool, mein Foto vom Rathausturm ist entwickelt. Hoffentlich landet es mal als mentaler Stützpfeiler in irgendeinem Büro?«
»Vielleicht. Und wenn nicht der Künstler, dann die Stifterin.«
»Wer?«
»Deine Großmutter. Orphea hat bei der Renovierung vor zwei Jahren Bilder für das ganze Amt zu Verfügung gestellt.«
Isra sagte nichts.
Rajani schlug die Beine übereinander und lehnte sich ein wenig vor. Es war ihr anzusehen, wie stolz sie auf diese Überleitung war. »Deine Hausaufgabe war, dir ein Telefonat mit ihr vorzustellen. Wie hat es geklappt?«
»Ich hab’s nicht gemacht. Vergessen.«
Rajani sah Isra mit bohrendem Blick ins Gesicht. »Ich würde dich gern darin bestärken, den Kontakt wieder aufzunehmen.«
»Ach was.«
»Und – ich wiederhole mich – wir müssen in diesen Terminen langsam ein bisschen vorankommen. Meine Berichte zu deinen letzten Sitzungen haben im Aufsichtsrat für Irritation gesorgt, um es vorsichtig auszudrücken.«
Die Irritation dürfte vor allem bei Rajani selbst liegen. Isra wusste schon lange um Rajanis Karriereambitionen. Gut möglich, dass sie Isras Fall nur angenommen hatte, weil sie sich mit erfolgreichem Abschluss einen Aufstieg in die politischen Sphären von REM erträumt hatte.
»Wenn ich zu dem Schluss komme, dass du nicht kooperierst, werden wir zu anderen Mitteln greifen.« Rajanis Lächeln kühlte ab. »Kennst du unsere Gewahrsamsräume im Untergeschoss?«
»Hab davon gehört …« Isra sah an ihr vorbei aus dem Fenster. Von hier ließen sich die Dächer der umliegenden Gebäude erkunden; die Metallleitern, die Balken hinter historischen Fassadenelementen, Schornsteine, Luken und versteckte Terrassen.
Meistens half der Anblick gegen die Enge in ihrer Brust.
»Du siehst heute blasser aus als sonst«, sagte Rajani.
Isra winkte ab. »Ich hab gestern einen schwachen Lichttraum geerntet.«
»Einen Trantraum?« Ein Kugelschreiber klickte, das Notizbuch klappte auf. »Bei einem Stammträumer?«
»Nein, ich war gestern woanders. Hab mich verschätzt.«
»Das passiert manchmal.« Rajani blickte sie unverwandt an. »Vor ein paar Wochen hast du erzählt, dass du früher gut darin warst, die richtigen Leute auszusuchen.«
»Schon.« Sie zuckte die Achseln. »Gestern halt nicht.«
Rajani nickte. »Und der Schauertraum?«
»Ein Original. Wie immer.«
»Es ist nicht verwerflich, einfach mal auf einen Klassiker zurückzugreifen, wenn man nicht so gut beisammen ist.«
»Ich bin gut beisammen.« Sie senkte das Kinn auf die Brust, studierte ihren Rucksack mit dem abgerissenen Riemen, und war sich nicht sicher, ob sie gerade gelogen hatte.
»Warum nutzt du keine Musterträume?«
»Ich brauche keine. Ich hab Ideen, immer.«
»Die Muster haben sich bewährt. Sie können uns Sicherheit geben. So wie das Bild, das für mich ein –«
»Stützpfeiler ist. Ich weiß.«
»Beschreib mir deinen Traum.«
Isra rutschte auf dem Lederpolster hin und her. »Der Typ war ein Gast im Varieté. Er hat was ganz Dünnes geträumt, ging um Leistung im Büro. Aber auf seinem Nachttisch lag ein Sachbuch zum Tauchen, also habe ich ihn ertrinken lassen.«
In Rajanis Gesicht geschah etwas, das Isra nicht gefiel. Es gab ihr das Gefühl, eine Taube zu sein, die gerade Rajanis Krümel gefressen hatte.
»Glaubst du denn, er hat eine konkrete Angst vor dem Ertrinken?« Wieder klickte der Kugelschreiber.
Isra zögerte kurz und bereute es sofort. »Der Typ will tauchen lernen. Ein bisschen Angst vor dem Ertrinken wird ihm helfen, sich da unten nicht zu überschätzen.«
Rajani lächelte. »Reden wir doch ein bisschen übers Ertrinken.«
»Ja, das wäre doch nett«, sagte Isra trocken.
»Hinter dem Ertrinken stehen in der Traumsymbolik einige psychische Zustände, über die wir bei unseren Treffen schon geredet haben.« Rajani machte eine Pause, um Isra Gelegenheit zu geben, darauf zu reagieren. Als nichts passierte, sprach sie weiter. »Schon Freud hat sich mit der Symbolik des Ertrinkens beschäftigt. Er sieht darin zum Beispiel unterdrückte sexuelle Wünsche.«
»Freud sieht überall unterdrückte sexuelle Wünsche.«
Rajani fuhr fort, als hätte sie Isra gar nicht gehört. »Aber auch Konflikte oder Traumata. Für einige Psychologen ist Ertrinken ein Symbol für den Wunsch nach Wiedergeburt, nach einem Neuanfang. Andere interpretieren es als einen Ausdruck von Machtlosigkeit und den Wunsch, die Kontrolle über das eigene Leben zurückzuerlangen. Und deine Großmutter deutet das Ertrinken als einen Hinweis auf eine emotionale Krise.«
Isra nickte unverbindlich. Der schwache Lichttraum klopfte unangenehm gegen ihre Schläfen. Sie hatte gehofft, dass die heutige Sitzung sie weniger anstrengen würde.
Rajani setzte sich auf. »Was ich daraus ableite: Überwältigung. Stress. Emotionale Konflikte. Angst vor Kontrollverlust.«
»Hat mein Träumer bestimmt alles«, sagte Isra.
»Wunsch nach Rettung.« Rajani stapelte Notizbuch und Stift auf ihrem Schoß und blickte Isra an wie eine Ärztin, die gute Neuigkeiten zu verkünden hatte. »Meinst du, der Traum vom Ertrinken war unterbewusst vielleicht gar nicht für deinen Träumer, sondern für dich?«
»Ich brauche keine Rettung«, sagte Isra. »Ich bin ja nicht in Gefahr.«
Rajani nickte auf die ihr eigene Art, die eigentlich ein Kopfschütteln war. »Orphea könnte dir helfen, wenn du deine Scham ihr gegenüber überwindest.«
»Nein.«
Rajani seufzte. Isra seufzte auch.
»Was ist mit deinem Mitbewohner …« Wieder schlug Rajani das Notizbuch auf. »Adrik? Wenn du von ihm erzählst, klingt es immer, als würdest du zu ihm aufsehen.«
»So weit würde ich nicht gehen.«
»Wie zu einem großen Bruder.«
Isra zuckte die Achseln. »Ein bisschen, kann sein. Aber er zieht bald weg. Er ist Abteilungsleiter in so einem IT-Unternehmen. Irgendwie kriegt er nebenbei auch seine Lichtträume, eine Fernbeziehung und den Großteil des Haushalts auf die Reihe.«
»Wie fühlst du dich damit?«
»Gut. Manchmal wäscht er meine Wäsche mit.«
»Ich kann mir vorstellen, dass er sehr organisiert ist. Vielleicht benutzt er hin und wieder Musterträume?«
»Kann sein.«
»Kennst du die Studien, die deine Großmutter letztes Jahr veröffentlicht hat? Dass Musterträume deutlich einfacher zu kontrollieren sind als Originale?«
»Deutlich ist eine krasse Übertreibung. Es kommt vor allem auf den jeweiligen Alb an.« Isra schob das Kinn vor und suchte zum ersten Mal Rajanis Blick. Die Frau hatte Nerven, eine Studie anzuführen, an der Isra selbst mitgewirkt hatte. »Und ich rede nicht über Orphea.«
»Denkst du nicht, dass du alles versuchen solltest, um die Kontrolle über deine Träume zu behalten?«
»Ich hab immer Kontrolle.«
Ein paar Sekunden lang sagte keine von beiden etwas. Dann knickte Isra ein. »Fast immer.«
Rajani neigte den Kopf wie ein Raubtier, das den Fluchtweg seiner Beute abschätzte. »Ich verstehe, dass du dich zu einem gewissen Teil über deine originalen Albträume definierst. Ich denke aber auch, dass es gerade nicht der richtige Weg für dich ist.«
»Wenn du ein Mensch wärst, hättest du wahrscheinlich Psychologin oder Therapeutin werden können.«
»Ich bin ein Mensch.« Die spitzen Zähne blitzten auf.
»Definitionssache.«
»Ich bin ein Mensch«, wiederholte Rajani. »Und ich bin auch ein Alb.«
»Kann ich jetzt gehen?«
Rajanis Lippen wurden schmal, eine horizontale Falte teilte ihre Stirn. »Eigentlich haben wir noch ein paar Minuten. Und ich würde gern noch über Paul –«
»Ich hab Kopfschmerzen.« Isra drückte ihren Rücken fester und fester an die Lehne, bis sie glaubte, dass eines von beiden gleich brechen würde.
Derweil blätterte Rajani durch das Notizbuch auf ihrem Schoß. Natürlich würde die Lehrerin die Stunde beenden, nicht die Schülerin.
Endlich schlug Rajani das Buch zu, blickte auf und lächelte wieder. »Bis nächste Woche. Dann reden wir nochmal über die Schamgefühle gegenüber deiner Großmutter.«
Traumernte, die
Ab dem Alter von etwa drei Jahren sind Albe aufs Träumen angewiesen. Da sie selbst keine Träume erschaffen können, ernten sie diese von träumenden Menschen. Der Alb ersetzt den Lichttraum durch einen eigens geschaffenen Schauertraum und träumt den Lichttraum hernach selbst.
Die meisten Albe fühlen sich mit drei bis fünf Träumen pro Woche wohl. Selten kommen Albe mit nur einem Traum pro Woche aus.
Während eine traumlose Nacht für Albe normalerweise kein Problem darstellt, können zwei traumlose Nächte in Folge bereits zu starken körperlichen und psychischen Beschwerden führen. Häufige Beschwerden sind Sinnestäuschungen, Migräne und andere Kopfschmerzarten, temporäre Lähmungen, Schwindel, Übelkeit, Ängste, Konzentrationsschwäche, Kraftlosigkeit und Haarausfall.
Auszug aus dem offiziellen Regelwerk von REM
Erleichterung durchströmte Isra, als sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte. Jetzt, wo der Termin vorüber war, sehnte sie sich nach heißem Kaffee und irgendeinem klebrigen Gebäck.
Am Anfang hatte sie gedacht, dass ihr diese Gespräche helfen würden. Aber nach einem Jahr waren sie dem Grund für Isras Ausfall keinen Schritt nähergekommen. Musterträume schienen das Einzige zu sein, was Rajani noch einfiel, um dafür zu sorgen, dass Isra im Traum nie wieder die Kontrolle verlor.
Ausfallende Zähne, Verfolgungen und die niemals endende Prüfung waren die gängigsten der billigen Fertigträume, in die kein Alb eigene Gedanken investieren musste.
Isra wollte etwas erschaffen, jede Nacht von Neuem, auch wenn es sie anstrengte. Sie wollte nicht reproduzieren, sondern einen Schrecken schaffen, der ihre Träumer noch tagelang beschäftigte.
Albträume waren das Einzige, was sie wirklich gut konnte.
»Hey.« Jemand berührte sie von hinten an der Schulter.
Isra wirbelte herum, traf den Mann mit ihrem Rucksack und wich einen Schritt zurück.
Er hob entschuldigend die Hände und grinste.
Hinten, auf einem der Stühle im Flur, lag das Taschenbuch, in dem er vorhin gelesen hatte. Sie hätte richtig hinsehen sollen.
Sie griff nach der Klinke zum Treppenhaus. »Hast du mir wieder aufgelauert?«
Roshan zog einen Papierschnipsel mit einer Nummer aus der Hosentasche. »Ich warte seit drei Stunden, dass sie mich aufrufen. Nicht jeder kriegt hier einfach so einen Termin.«
Sie hob eine Augenbraue. »Ich würde dir meine Termine sofort abtreten, wenn ich dürfte.«
Er lachte laut und herzlich. Ein Geräusch, das nicht auf diesen Gang zu gehören schien. Seine Zähne schimmerten hell und in seinen Augenwinkeln traten kleine Fältchen hervor.
Bei ihrer ersten Begegnung hatten sein Charisma und seine offene Art sie für ihn eingenommen. Heute war sie vorsichtiger.
»Du redest mit Rajani Khan, oder? Hat ihr Ego ziemlich aufgeblasen, dass sie dir zugeteilt wurde. Ist das mehr Therapie oder Verhör, was sie mit dir veranstaltet?«
Isra tat, als würde sie nachdenken, dann drückte sie die Klinke runter und zog die Tür auf. »Das geht dich einen Scheiß an, wirklich.«
In seinen dunklen Augen funkelte es. Er folgte ihr nonchalant ins Treppenhaus. »Ich finde, wir sollten uns mal unterhalten und ein paar Ideen austauschen.«
»Ich finde, du solltest weiter in deinem Buch lesen und auf deinen Termin warten.«
»Wir wissen beide, dass ich heute keinen Termin mehr kriege. REM sucht eh nach Vorwänden, um mich in Gewahrsam zu nehmen. Die wollen sich nicht mit meinen Vorschlägen beschäftigen.«
»Geht mir ähnlich«, sagte Isra.
»Glaub ich nicht. Nicht, wenn du mir mal kurz zuhören würdest.« Er ließ ihr keine Wahl. »Dieser ganze spießige Behördenscheiß, das fühlt sich so falsch an, oder? Albträume sind was Wildes – warum kontrollieren wir sie dann zu Tode? Wir müssen nicht so leben. Ich hab eine Gemeinschaft, Nachtigall, ein bisschen außerhalb –«
»Du hast mir schon zigmal ungefragt von deiner Nachtigall erzählt.« Sie drehte sie zu ihm um. »Ehrlich: Lies lieber dein Buch. Wir verschwenden gerade beide unsere Zeit.«
Roshan verstummte.
Die Chance ließ sie sich nicht entgegen. Sie stürmte die Stufen hinunter, nahm mehrere auf einmal.
»Hey, Traumtöterin!«
Sie erstarrte.
Er hatte es durchs Treppenhaus gerufen. Durch ein Treppenhaus im Rathaus, wo normale Leute ein und aus gingen. Sie beugte sich über das Geländer und starrte wütend zu ihm hinauf.
Er erwiderte ihren Blick. In seinen Mundwinkeln lag ein Schmunzeln. »Grüß deine Schwester von mir.«
Isra stieß sich vom Geländer ab und verließ das Rathaus zügigen Schrittes. Als sie an dem Steinquader vorbeikam, auf dem sie vorhin gesessen hatte, las sie eine einzelne Taubenfeder auf. Dann schlug sie den Weg zu ihrer Lieblingsbäckerei ein.
Etwa jeder zehnte Mensch träumt in Schwarz-Weiß. Um auch ihnen visuell gerecht zu werden, sind Filme aus der Stummfilmzeit sowie frühe Tonfilme eine ratsame Inspirationsquelle. Sie lehren uns viel über Kontraste und Graustufen.
Aus: »Die Farben der Träume« von Dr. Orphea Abenroth
In: Somnium. Journal of Sleep Research. Ausgabe 79
Ganz oben auf dem Geschirrberg, den sie auf ihren Armen balancierte, schlitterte eine Schale im Takt ihrer Schritte hin und her. Isra behielt sie peripher im Blick, weil sie sich das, was darin schwappte, garantiert nicht auf die Bluse schmieren wollte.
Sie hatte noch nie als Gast eine Varieté-Show besucht. Deshalb konnte sie sich nicht vorstellen, was die Leute an Tisch zwanzig dazu bewogen hatte, die Reste in der Knabberschale mit Bier aufzugießen und mit Kaugummi zu garnieren.
Leyla nahm ihr das Geschirr ab, sobald Isra die Küche erreichte. Sie wollte stattdessen ein fertiges Tablett aufnehmen – zwei Weinschorlen, zwei Aperol Spritz, drei Weizen –, als ein stechender Schmerz durch ihren Arm fuhr.
Sie sog die Luft durch ihre zusammengepressten Zähne und trat einen Schritt zurück, weg von dem Tablett mit den randvollen Gläsern.
»Alles okay?« Gegen die Anrichte gelehnt, spreizte Leyla eine goldene Haarklemme und versenkte sie in dem schweren Knoten in ihrem Nacken. In ihrem Blick lag eine Aufmerksamkeit jenseits von Höflichkeit oder Empathie. Dieser Ausdruck war Isra schon bei der Vorstellungsrunde an ihrem ersten Tag aufgefallen, auch wenn sie erst nach einer Weile erkannt hatte, was Leyla tatsächlich empfand, wenn sie Isra gegenüberstand: Misstrauen.
Leyla konnte unmöglich ahnen, was Isra nachts trieb, aber ihre Instinkte sorgten dafür, dass sie in ihrer Nähe niemals unachtsam war.
»Krampf«, sagte Isra. »Glaub ich.«
»Streck’ die Finger ein bisschen, dehn’ die Muskeln. Aber vorsichtig. Und iss vielleicht was von der Käseplatte, die vorhin zurückkam.«
»Warum kam sie zurück?«
»Weil das Chutney den Parmesan berührt hat.« Leyla verdrehte die Augen, bevor sie das Tablett mit den Getränken von der Anrichte hob und damit im Saal verschwand.
Isra beugte ihren Arm, befühlte die harten Muskelstränge und gab sich Mühe, sie zu lockern. Das hatte sie davon, dass sie gestern aus Rachsucht entschieden hatte. Es hatte ihr einen Traum beschert, so dünn wie Leitungswasser und so nahrhaft wie Pappe. So hatte er im Übrigen auch geschmeckt.
Heute Nacht würde sie wieder einen ihrer Stammträumer aufsuchen. Menschen, deren Träume wild und gedankenreich und deren Wohnungen vertraut und leicht zugänglich waren.
Sie hatte sich zehn Menschen registrieren lassen. Bürokratisch, aber notwendig, wie Orphea sagen würde. Für diese zehn trug Isra die Verantwortung. Ihre Adressen zu besuchen, war für andere Albe unter Strafe verboten. Isra hatte zu koordinieren, wann sie ihnen welche Träume schenkte, musste darauf achten, dass sie Einzelne nicht zu häufig heimsuchte und war – außerhalb der Gedankenwelt – dazu verpflichtet, die Privatsphäre zu wahren. Letzteres nahm sie nicht so genau.
Ein guter Albtraum sprach die tiefsten Ängste an, und ihre Ängste waren das Persönlichste, was Menschen in sich trugen. Wie könnte Isra da auf Muster zurückgreifen?
Vom Saal her drangen Gelächter und Applaus herein. Die Intensität ließ keinen Zweifel daran, dass Amira gerade mit Schuhen jonglierte.
Isra kaute auf einem Stück Parmesan und führte ein wenig Smalltalk mit dem Koch, vorrangig über das Wetter und seine Katze. Währenddessen ging sie in Gedanken ihren Stamm durch. Zehn Frauen und Männer, die so fantasievoll und abwechslungsreich träumten, dass sie sich am nächsten Tag oft pappsatt und rundum glücklich fühlte. Wer von ihnen war heute Nacht am ehesten allein und am unwahrscheinlichsten verreist?
Sie verschluckte sich und hustete kurz. Neun Frauen und Männer. Es waren nur noch neun.
Isra wischte sich die Hände an der Hose ab, zog die Schultern hoch und ging in den Saal. Der Krampf im Arm hatte sich gelöst, dafür pochte ein dumpfer Kopfschmerz hinter ihrer Stirn.
Sie räumte zwei Tische ab und kam mit einem Lappen aus der Küche zurück, um die Cola aufzuwischen, die ein Gast umgekippt hatte. Die braune Flüssigkeit, die im Zwielicht des Saals vom Tisch tropfte, erinnerte sie an Blut. Für einen Augenblick fühlte sich der nasse Lappen zwischen Isras Fingern an wie eine tote Hand.
Als der Colatrinker sich bedankte, lächelte sie mechanisch, und ein einzelner Geigenstrich stellte die Härchen auf ihren Armen auf. Sie wandte den Blick zur Bühne, sie konnte nicht anders.
Zwischen den Stoffbahnen drehte sich ein Körper so schnell, dass er vor ihren Augen verschwamm. Er hing kopfüber, das Tuch umschlang seinen Knöchel und die goldenen Längen formten eine Spirale um ihn.
Isra hatte kaum mehr als ein paar Worte mit ihm gewechselt. Sie wusste, dass er Marek hieß und einer der glücklichen Künstler war, die für mehr als eine Show verpflichtet worden waren. In der vergangenen Saison hatte sie ihn im Reifen und am Chinesischen Mast gesehen, und beides hatte sie beeindruckt.
Sich noch immer um die eigene Achse drehend, streckte er den Oberkörper aus der Spirale, kam in die Waagerechte und erinnerte sie an eine Schwalbe im Flug.
Applaus, fast andächtig, das Publikum war offenbar ergriffen.
Scheinbar mühelos glitt er am Tuch hinauf, wickelte sich ein und aus, so schnell, dass Isras Blick kaum folgen konnte.
Er spielte mit den Akzenten des Streichduetts, spielte mit den Erwartungen des Publikums. Jeder Handgriff saß, jedes Element gelang. Aber das war es nicht, was Isra so gefiel.
Aus dem Lappen tropfte Cola auf den Teppich. Wahrscheinlich blockierte sie jemandem die Sicht, wie sie hier mitten zwischen den Tischen stand.
Das Publikum hauchte Laute des Staunens, als Marek kopfüber einige Meter in die Tiefe rutschte, bis er in einen komplizierten Knoten fiel, den er um Hüfte und Oberschenkel gewickelt hatte. Er federte daraus hervor – den Knoten unvermittelt lösend – und bog sich in eine Figur, die sich die meisten im Saal nicht einmal im Traum hätten vorstellen können.
Währenddessen starrte Isra ihm ins Gesicht. Was dort geschah, war für sie das Spannendste an der gesamten Show. Sein breites Lächeln verlieh dem Auftritt Leichtigkeit, wo sonst Anstrengung gewesen wäre. Von dem Moment an, da er die Tücher ergriff, verband er sich mit dem Publikum. Warf Blicke in die Menge und hielt sie. Sobald die Musik erklang, begann er zu leuchten.
Sie sah die Freude in seinen Augen, wenn sich das Scheinwerferlicht darin fing, und traf eine Entscheidung.
Nicht aus Rache diesmal, sondern aus Begeisterung.
Der gesunde menschliche Schlaf wird in folgende Phasen unterteilt: Einschlafphase, Leichter Schlaf, Tiefschlaf, REM-Schlaf bzw. Traumschlaf und gelegentliche Wachphasen.
Diese bilden einen Schlafzyklus, wobei einzelne Phasen wie der Leichte Schlaf für gewöhnlich häufiger als einmal pro Zyklus auftreten. In einer Nacht durchläuft der Mensch in der Regel vier bis sieben Schlafzyklen.
Pro Zyklus kann von einer REM-Phase ausgegangen werden. Die REM-Phase des ersten Zyklus dauert in der Regel nur wenige Minuten. Mit jedem folgenden Zyklus verlängert sich die REM-Phase, weshalb jungen Alben empfohlen wird, diese wahrzunehmen. Eine frühe, kurze REM-Phase erfordert Geschick, Präzision, Geschwindigkeit und Erfahrung.
Auszug aus dem offiziellen Regelwerk von REM
Seine Wohnung lag im Hochparterre auf der Hinterhofseite, und er schlief bei gekipptem Fenster. Das war fast zu einfach.
Halb hatte sie befürchtet, dass Marek als Künstler vielleicht eine extravagante und bizarre Nachtroutine pflegen könnte, doch nach allem, was sie draußen auf dem Fensterbrett mitbekam, ging er direkt duschen und dann zu Bett.
Sie lauschte seinem Herzschlag und seiner Atmung. Gleichmäßig und langsam. Tiefschlaf.
In ihrem Rucksack befanden sich die üblichen Werkzeuge, sowohl für Türen als auch für Fenster. Doch heute Nacht brauchte sie nur die eigene, schmale Hand, die durch den Spalt reichte und den Griff drehte.
Lautlos glitt Isra ins Innere.
Ihre Fingerspitzen suchten nach der Lücke in den schweren Vorhängen, dann schob sie sich hindurch und betrat ihre Bühne.
Marek schlief auf einer Matratze, deren Lattenrost direkt auf dem Boden lag. Auf der Wandseite türmten sich verschiedenförmige Kissen. Die Bezüge und das Laken passten nicht zueinander.
Zahlreiche Risse und Astlöcher durchzogen die honigfarbenen Dielen. Sie knarrten und bogen sich unter Isras Schritten, während sie sich im Rhythmus seines Herzschlags durch das Zimmer bewegte, über die Häkeldecke auf einem Korbsessel strich und durch die ungeöffneten Briefe auf dem Sekretär blätterte. Versicherung, Verträge, behördliche Anträge, Krankenkasse; nichts, was sie weiter interessierte.
Anders als die Skizzen, die er mit Reißzwecken an die Tapete geheftet hatte. Schwarze Kohlestriche auf dickem Papier.
Isra schaltete die kleine Lampe auf dem Sekretär an, um die Zeichnungen betrachten zu können.
Der Schemen eines Menschen, in Schatten und Schlieren, mit gehobenen Augenbrauen, als wäre er selbst überrascht, dass der Rest seines Gesichtes fehlte.
Ein weißes Pferd, das Maul zu einem Angstschrei geöffnet, während sein Rumpf in einer Wand feststeckte.
Eine Hand, die aus dem Waldboden spross und eine Krähe auf dem ausgestreckten Zeigefinger hielt.
Zwei Bienen, die Flügel gebrochen, die Beinchen zusammengerollt.
Eine Frau mit einem Geweih an den Schläfen und Haselnüssen statt Augen.
Ein Mann, dem drei Pinsel wie Spieße aus dem nackten Bauch ragten.
Isras Blick wanderte zum Bett. So viel Dunkelheit hatte sie ihm gar nicht zugetraut.
In ihrer Hosentasche steckte die Taubenfeder, die sie nach ihrem REM-Termin aufgelesen hatte. Sie hätte eine schöne Erinnerung auf dem Nachttisch abgegeben, perfekt für einen Schauertraum mit Vogelleitmotiv. Aber Marek hatte keinen Nachttisch, und sie glaubte nicht, dass Vögel das Richtige für seinen Albtraum waren.
Auf einer Kommode standen eine benutzte Teetasse und eine kleine Braunglasflasche, deren Etikett Isra vertraut war. Melanuit, ein pflanzliches Schlafmittel.
Sie zog Bücher aus dem schmalen Regal neben der Tür und studierte die Titel; die meisten waren nicht auf Deutsch. Da war ein Bildband, der sie ansprach, Ghost & Goddess: Er zeigte surreale Fotografien und Gemälde in Pastell- und Sepiatönen.
Sie hatte ihn kaum aufgeschlagen, als sie die Veränderung in Mareks Atemfrequenz bemerkte. Geräuschlos stellte sie das Buch zurück.
Er schlief auf der Seite, eine Hand unter dem Kissen, die andere auf dem Laken zu einer lockeren Faust geschlossen. Das kinnlange Haar umrahmte in noch feuchten Strähnen sein Gesicht. Auf der Bühne trug er es stets zu einem kleinen Knoten am Hinterkopf gebunden.
Isra setzte sich auf den Matratzenrand und beobachtete das Zucken unter seinen Lidern. Sie streckte die Beine aus, legte die Knöchel übereinander und beugte sich vor. Sanft schob sie ihre Finger zwischen seine.
Das Erste, was sie wahrnahm, war die schneidende Kälte. Schon der erste Atemzug brannte tief in ihrer Nase, und die feuchte Luft, die sie ausatmete, umfing sogleich ihre Wimpern, um darin zu gefrieren.
Der Boden schwankte, und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, wo sie sich befand. Sie stand an Deck eines Eisbrechers oder Expeditionsschiffes, das friedlich über die See schaukelte. Die Schrauben und Streben des Metallkolosses knarrten bei jeder Welle, die den Bug traf.
Etwas an dem Klang kam ihr vertraut vor. Es war das Echo ihrer Schritte durch das Schlafzimmer, bevor sie sich zu Marek gesetzt hatte. Menschen tendierten dazu, Umgebungsgeräusche in ihre Träume einzubauen.
Sie hielt das Gesicht in den Wind und atmete eisige, klare Luft ein. Um sie herum herrschte Nacht, doch es war nicht dunkel.
Isra stützte sich mit beiden Händen auf die Reling und legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel strahlte in leuchtenden Farben. Lichtbänder in Grün, Blau und Pink mischten sich über ihr zu einem surrealistischen, sich fortwährend selbst erneuernden Gemälde. Seine Farben flossen ineinander und verblassten, nur um an anderer Stelle wieder zu entstehen, zu wachsen und zu einem Spektakel aufzublühen.
Es war die Art von Schönheit, in der Isra sich für Stunden verlieren konnte. Mit Mühe riss sie sich von dem Anblick los.
Sie suchte das Schiff ab und fand Marek am Bug, wo das Meer Gischt und Schaum aufs Deck spie. In Jeans und Winterjacke stand er mit dem Rücken zu ihr, trotzdem gab sie ihre Gestalt auf.
Sie war eine Beobachterin, körperlos und unsichtbar. Weder Schauspielerin noch Statistin, sondern Regisseurin.
Außer ihnen beiden war niemand hier.
Sie gönnte ihm noch einen Moment, sah zu, wie einige Eisberge vorbeitrieben, während sich der Himmel lila färbte. Dann presste sie ihm den Traum aus dem Kopf.
Im ersten Moment geschah nichts. Das Schiff trieb gemächlich über die eisigen Wellen und ächzte gelegentlich unter dem eigenen Gewicht.
Als ein tiefes Donnergrollen vom Horizont heranrollte, hob Marek fast unmerklich den Kopf. Sie ließ ihm Zeit, sich zu wundern. Dann erst riss sie das lila Lichtband entzwei und schälte den Himmel von seiner Welt.
Die Schwärze war vollkommen.
Für ihn jedenfalls. Isra sah, wie er zögernd eine Hand von der Reling löste. Wie er sich umwandte, nach Erklärung oder Licht suchte.
Sie zog die erste Schraube aus dem Schiffsrumpf. Tief unter ihnen knackte es, bevor das langgezogene Kreischen von Metall die Dunkelheit erfüllte.
Marek tastete sich mit vorgestreckten Händen über das Deck, wahrscheinlich auf dem Weg zur Kommandobrücke. Er würde sie nicht erreichen. Vorher würde Isra ihn entweder über die Reling schubsen oder die Brücke sprengen.
Sie zupfte Nieten und Schrauben aus dem Schiffsbauch wie Nadeln von einer Pinnwand. Wieder kreischte Metall, mehrstimmig diesmal. Das Summen der Maschinen verstummte, und als die sanfte Vibration unter dem Deck erstarb, fühlte selbst Isra sich unendlich allein und verloren.
Marek drehte sich einmal um die eigene Achse. Er hatte die Brauen zusammengeschoben und die Augen verengt. Irritiert, sicher. Aber keineswegs so verängstigt, wie es ihr angemessen erschien.
Isra türmte einen gewaltigen Eisberg im Wasser auf. Sie aktivierte ein einzelnes Licht am Rumpf, damit Marek das Verderben kommen sah, in das sein Schiff trieb.
Der Berg stieg vor seinen Augen höher und höher aus dem Wasser, überragte bald die Brücke und dehnte sich in die Breite aus, bis er eine unausweichliche Eiswand bildete. Sie schuf bedrohliche Kanten und Spitzen, formte das Eis wie Ton.
Noch ein paar Herzschläge bis zur Kollision.
Doch obwohl die weiße Wand sein gesamtes Blickfeld ausfüllte, rührte Marek sich nicht vom Fleck. Er stand vollkommen schutzlos zwischen Bug und Brücke. Fernab von der Reling schien er einfach abzuwarten.
Im nächsten Moment krachte das Schiff gegen den Eisberg. Der Aufprall warf Marek von den Füßen, und er landete im Sand.
Isra blinzelte.
Salz benetzte ihre Lippen. Über ihre Schultern kroch die wohlige Wärme der Sommersonne. Sie schwamm inmitten eines bunten Fischschwarms und fühlte tausend winzige Flossen über ihre Beine streifen. Weit und breit war kein Eisberg zu sehen.
Die himmellose Nacht, das kollidierende Schiff, die sich auftürmenden Eismassen hatten sich unvermittelt in eine malerische Küste verwandelt.
Sie gab den Körper auf, in den sie sich vor Schreck geflüchtet hatte, und stieg als Teil der Atmosphäre aus dem Meer auf.
Marek saß am Strand. Er trug die gleiche Jeans wie gerade auf dem Schiff, doch die rote Jacke war einem weißen T-Shirt gewichen. Mit den Händen formte er Kugeln aus Sand; schmückende Elemente für die kleine Burg, deren Türme und Zinnen mit Algen und Muscheln verziert waren. Das alles wirkte, als säße er schon seit Stunden hier.
Isra sah sich um. Die Polarnacht hätte eine weitaus geeignetere Albtraumkulisse abgegeben, aber wenn er unbedingt am Strand spielen wollte, sollte ihr das recht sein.
Tief aus dem Boden drang ein feuchtes Gurgeln. Ganz allmählich färbte sich die Burg dunkel. Zuerst schien es, als könnte der Sand die Flüssigkeit binden, die von unten heraufstieg. Doch dann sank das erste Türmchen zusammen und sackte schließlich ab.
Ein karmesinrotes Rinnsal trat aus den Resten einer Schießscharte und lief die muschelbesetzte Fassade hinunter. Sekunden später blutete die Sandburg aus jedem Fenster und jeder Tür. Tiefes Rot rann in den flachen Wassergraben, trat über und verschlang schließlich die ganze Burg.