Nachts schweigt das Meer / Dunkel leuchten die Klippen / Kalt flüstern die Wellen - Drei Scilly-Krimis in einem Band - Kate Penrose - E-Book

Nachts schweigt das Meer / Dunkel leuchten die Klippen / Kalt flüstern die Wellen - Drei Scilly-Krimis in einem Band E-Book

Kate Penrose

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Beschreibung

Kate Penrose nimmt uns mit auf die atmosphärischen Scilly-Inseln vor Cornwall. Zwischen rauer See und eingeschworener Inselgemeinde ermittelt Detective Inspector Ben Kitto, der Ruhe sucht und Verbrechen findet. Entdecken Sie drei Scilly-Inseln in drei Bänden. Nachts schweigt das Meer (Scilly-Inseln 1): Detective Inspector Ben Kitto wollte bei seiner Rückkehr auf die Scilly-Inseln eigentlich nur zur Ruhe kommen. Soweit der Plan. Doch bereits bei der Ankunft auf seiner Heimatinsel Bryher wird die 16-jährige Laura Trescothick vermisst und kurz darauf ermordet aufgefunden. Ben meldet sich freiwillig, die Ermittlungen zu übernehmen, aber bald hat er mehr Verdächtige, als ihm lieb ist. Darunter auch Menschen, die er sein Leben lang kennt und die ihm viel bedeuten. Denn in der kleinen Inselgemeinschaft auf Bryher gibt es dunkle Geheimnisse. Und der Täter kann jederzeit erneut zuschlagen. Dunkel leuchten die Klippen (Scilly-Inseln 2): An einem klaren Morgen Mitte Mai will DI Ben Kitto seinem Onkel Ray in dessen Bootsbaubetrieb aushelfen. Doch dann wird Ben zu einer Höhle vor der rauen Küste Trescos gerufen. Dort treibt der leblose Körper einer Frau im Wasser. Jude Trellon, eine erfahrene Profitaucherin und Tochter des örtlichen Tauchlehrers, wurde an den Felsen festgebunden und ertrank. Wer hatte ihr aufgelauert, um sie kaltblütig zu ermorden? Und warum unternahm Jude mitten in der Nacht einen Tauchgang in der Höhle, die bei Flut zur tödlichen Falle werden kann? Ben Kitto gerät schnell in die gefährlichen Untiefen einer Ermittlung, die ihn beinahe selbst das Leben kosten wird. Kalt flüstern die Wellen (Scilly-Inseln 3): Eigentlich sollte Detective Inspector Ben Kitto an diesem Abend das traditionelle Feuerwerk zur Bonfire Night überwachen. Aber dann macht ein grausiger Fund auf der Insel St. Agnes vor Cornwall jegliche Feierstimmung zunichte. In der Asche einer Feuerstelle werden menschliche Überreste entdeckt. Ben Kitto stoppt sofort den Schiffsverkehr zu den Nachbarinseln und stellt die achtzig Bewohner von St. Agnes unter Hausarrest. Denn der Täter befindet sich noch immer auf der Insel. Und seine Botschaft ist eindeutig: Alle Eindringlinge sind dem Tode geweiht.

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Ähnliche


Kate Penrose

Nachts schweigt das Meer / Dunkel leuchten die Klippen / Kalt flüstern die Wellen

Drei Scilly-Krimis in einem Band

 

Aus dem Englischenvon Birgit Schmitz

 

Über dieses Buch

 

 

Kate Penrose nimmt uns mit auf die atmosphärischen Scilly-Inseln vor Cornwall. Zwischen rauer See und eingeschworener Inselgemeinde ermittelt Detective Inspector Ben Kitto, der Ruhe sucht und Verbrechen findet. Entdecken Sie drei Scilly-Inseln in drei Bänden.

 

Nachts schweigt das Meer (Scilly-Inseln 1): Detective Inspector Ben Kitto wollte bei seiner Rückkehr auf die Scilly-Inseln eigentlich nur zur Ruhe kommen. Soweit der Plan. Doch bereits bei der Ankunft auf seiner Heimatinsel Bryher wird die 16-jährige Laura Trescothick vermisst und kurz darauf ermordet aufgefunden. Ben meldet sich freiwillig, die Ermittlungen zu übernehmen, aber bald hat er mehr Verdächtige, als ihm lieb ist. Darunter auch Menschen, die er sein Leben lang kennt und die ihm viel bedeuten. Denn in der kleinen Inselgemeinschaft auf Bryher gibt es dunkle Geheimnisse. Und der Täter kann jederzeit erneut zuschlagen.

 

Dunkel leuchten die Klippen (Scilly-Inseln 2): An einem klaren Morgen Mitte Mai will DI Ben Kitto seinem Onkel Ray in dessen Bootsbaubetrieb aushelfen. Doch dann wird Ben zu einer Höhle vor der rauen Küste Trescos gerufen. Dort treibt der leblose Körper einer Frau im Wasser. Jude Trellon, eine erfahrene Profitaucherin und Tochter des örtlichen Tauchlehrers, wurde an den Felsen festgebunden und ertrank. Wer hatte ihr aufgelauert, um sie kaltblütig zu ermorden? Und warum unternahm Jude mitten in der Nacht einen Tauchgang in der Höhle, die bei Flut zur tödlichen Falle werden kann? Ben Kitto gerät schnell in die gefährlichen Untiefen einer Ermittlung, die ihn beinahe selbst das Leben kosten wird.

 

Kalt flüstern die Wellen (Scilly-Inseln 3): Eigentlich sollte Detective Inspector Ben Kitto an diesem Abend das traditionelle Feuerwerk zur Bonfire Night überwachen. Aber dann macht ein grausiger Fund auf der Insel St. Agnes vor Cornwall jegliche Feierstimmung zunichte. In der Asche einer Feuerstelle werden menschliche Überreste entdeckt. Ben Kitto stoppt sofort den Schiffsverkehr zu den Nachbarinseln und stellt die achtzig Bewohner von St. Agnes unter Hausarrest. Denn der Täter befindet sich noch immer auf der Insel. Und seine Botschaft ist eindeutig: Alle Eindringlinge sind dem Tode geweiht.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Über die Autorin und die Übersetzerin

 

Kate Penrose kennt die Scilly-Inseln vor der Küste Cornwalls wie ihre Westentasche. Seit Kindertagen verbringt sie fast jeden Sommer dort und ist jedes Mal aufs Neue fasziniert von dem atemberaubenden Naturparadies. Die Idee für eine Krimiserie mit diesem einzigartigen Schauplatz kam ihr spontan bei einem Restaurantbesuch, und aus ein paar hastig hingekritzelten Stichworten auf der Speisekarte wurde einige Monate später der erste Insel-Krimi. Kate Penrose, die auch unter dem Namen Kate Rhodes schreibt, lebt mit ihrem Mann, dem Autor David Pescod, in Cambridge am Ufer des River Cam.

 

Birgit Schmitz hat Theater und Literatur studiert und arbeitete einige Jahre als Dramaturgin. Heute lebt sie als Literaturübersetzerin, Texterin und Lektorin in Frankfurt am Main.

Kate Penrose

 

Nachts schweigt das Meer

Ein Krimi vor der Küste Cornwalls

Für meine Mutter Wendy Rhodes, eine großartige Englischlehrerin, die mir das Lesen beigebracht und meine Leidenschaft für Bücher geweckt hat.

Laura stiehlt sich aus dem Bett, während der Rest der Insel noch im Schlaf liegt. Um sechs Uhr steht sie in der Küche, starrt in die spätwinterliche Dunkelheit hinaus und stopft sich Toast in den Mund. Als sie das Cottage verlässt, schlägt ihr der Nordwind ins Gesicht und bläst ihre blonden Haare über die Schultern nach hinten. Sie hat ihre ganzen sechzehn Lebensjahre hier verbracht und braucht nur einmal kurz zum Himmel hochzuschauen, um zu wissen, wie das Wetter wird. Über dem Gweal Hill taucht ein pinkfarbener Streifen auf. Laura erklimmt den schroffen Hang und achtet darauf, dass das Farnkraut und die rauen Gräser ihr nicht die Strumpfhose zerreißen. Der Duft des Salzwassers hellt ihre Stimmung sofort auf. Als sie klein war, hat ihre Mutter sie Wasserratte genannt, weil sie lieber in den Wellen geplanscht hat, als an Land herumzulaufen. Der Ausblick von der Hügelkuppe erstreckt sich in endlose Ferne: dreitausend Kilometer Meer und schaumgekrönte Wellen, so weit das Auge reicht. Sie öffnet den Mund, um das Salz zu schmecken und frische Luft einzusaugen, während unten riesige Brecher den Strand überspülen. Bald wird sie sich von hier verabschieden, nur noch ein Sommer auf der Insel, dann kann sie die Flügel spreizen. Im August werden sie Partys feiern und am Strand tanzen, trunken vor Erleichterung, die Heimat hinter sich lassen zu können. Aber jetzt muss sie sich erst einmal auf die anstehende Aufgabe konzentrieren.

Sie holt die Taschenlampe aus ihrem Versteck unter einem Felsen, doch als sie auf die Bucht dreißig Meter unter ihr hinabschaut, ist die Brandung zu gefährlich für anlandende Boote. Mächtige Sturzwellen rollen heran und ziehen sich wieder zurück; so laut wie Applaus kracht das Wasser gegen den Granit. Erst als Laura sich umdreht, löst sich eine Gestalt aus dem Halbdunkel. Dieses Lächeln kennt sie gut. Sie erwidert es und lächelt noch, als ein plötzlicher Schmerz ihre Brust durchzuckt. Die Taschenlampe gleitet ihr aus der Hand. Sie streckt die Arme aus, greift aber ins Leere, fällt nach hinten. Nicht das Meer ist das Letzte, was sie sieht, sondern die dunkle Insel, auf der sie zur Welt kam. Deren gezackte Silhouette gräbt sich vier Sekunden später, als ihr Kopf wie eine dünne Eierschale an den Felsen zerschmettert, in ihre Netzhaut ein. Die Strömung zerrt sie weg, ihre langen Haare wirbeln durchs Wasser. Der Tag bricht an. Ihr Körper dreht sich mit jeder Welle. Der Mörder beobachtet sie vom Rand des Kliffs aus und findet, dass sie tot noch schöner ist als lebendig. Aus der Ferne könnte man fast meinen, sie wäre Meerjungfrau.

1

Ich bin nicht in der besten Verfassung, als das Taxi mich am Kai von Penzance absetzt. Meine Kopfschmerzen sind im Nachtzug von London nach Cornwall mit mir gereist. Ich habe mein Gesicht in kaltes Wasser getaucht, eine Handvoll Nurofen geschluckt und ein englisches Frühstück gegessen, aber noch immer sehe ich dieses Flimmern vor den Augen. Die Meeresluft ist eisig; kaum zu glauben, dass heute der erste März ist und in wenigen Wochen der Frühling beginnt. Shadow wirft mir einen bösen Blick zu, als ich Rucksack, Kamera- und Reisetasche fallen lasse und auf eine Bank sinke. Der Hund, den ich vor sechs Wochen geerbt habe, macht ausnahmsweise keine Mätzchen, er setzt sich einfach nur hin und lässt die Zunge aus dem Maul hängen. In meiner Tasche steckt ein Ticket nach St. Mary’s, aber die Neun-Uhr-Fähre ist noch nicht da, was mich nicht weiter überrascht. Auch wenn ich früher von der Schule auf dem Festland nach Hause wollte, war der Fährverkehr zu den Scilly-Inseln häufig wegen Stürmen unterbrochen. Seither hat meine Familie sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Nur Onkel Ray, der für sein ausdauerndes Schweigen bekannt ist, lebt noch auf Bryher. Als Jugendlicher habe ich meine Sommer in seinem kleinen Bootsbaubetrieb verbracht, aber irgendwann wurden die Verlockungen des Festlands zu groß, um ihnen zu widerstehen. Ich kann noch immer nicht so recht glauben, dass ich wirklich auf dem Weg nach Hause bin. Es gibt keinen speziellen Grund dafür außer den offensichtlichen: dass ich in einer Krise stecke. Die Ruhe der Inseln wird mir helfen, eine Entscheidung zu treffen, die mein ganzes Leben verändern könnte.

Der Hafen von Penzance sieht noch genauso aus wie in meiner Kindheit. Die helle Kirche wacht über die Stadt, deren Silhouette sie prägt. Die sichelförmige Kaimauer aus Kalkstein bietet den Flutwellen die Stirn. Pastellfarbene Fischerhäuschen, kleine Boote schaukeln im Licht der anbrechenden Morgendämmerung auf dem Wasser. Dieser Ort ist immer noch wahnsinnig schön. Man muss schon aus der Gegend sein, um zu wissen, dass das Leben in Cornwall härter ist, als es den Anschein hat. Wenn die Fremden im Winter abziehen, ist es hier schlagartig wie ausgestorben. Um diese Jahreszeit sind nur noch die Hummerfischer zugange, die ihre Körbe für den ersten Fang der Saison herrichten. In der Ferne sieht man die Rauchfahne der näher kommenden Fähre, die mich zur Insel St. Mary’s bringt, der vorletzten Etappe auf meiner Heimreise nach Bryher. Ich kann nur hoffen, dass niemand an Bord geht, den ich kenne. Bei der Vorstellung, Konversation machen zu müssen, bekomme ich gleich noch schlimmere Kopfschmerzen. Die Scillonian trifft mit einer halben Stunde Verspätung ein, und meine erste Anlaufstelle ist nicht das überfüllte Café, sondern die Bar. Eine brünette Jugendliche in kirschroter Uniform poliert den Tresen, zeigt aber nicht die Spur eines Lächelns, als ich Kaffee bestelle.

»Ich darf Sie erst in einer Stunde bedienen, tut mir leid.«

Ich zücke meinen Dienstausweis. »Kein Problem, ich verhafte Sie nicht.«

Ihr fällt die Kinnlade runter. »Sie sind nie im Leben ein Bulle.«

»Doch, das können Sie glauben.«

Aber ich verstehe schon, warum sie es nicht tut. Ich habe so lange undercover gearbeitet, dass mir die Anonymität in Fleisch und Blut übergangen ist. Der Spiegel hinter dem Tresen zeigt einen Riesen mit schlurfendem Gang, einem blauschwarzen Bart und tiefliegenden schlammgrünen Augen. Das junge Mädchen liest verblüfft die Angaben hinten auf meinem Ausweis.

»Detective Inspector Benesek Kitto, vierunddreißig, Polizei London. Das ist ein Name von den Inseln, oder?«

»Ja, ich bin hier aufgewachsen.«

»Und was ist das für eine Hunderasse?«

»Tschechoslowakischer Wolfshund.«

»Schönes Fell hat er. Wie heißt er denn?«

»Shadow.«

Sie schaut mich nachdenklich an. »Versprechen Sie, niemandem zu verraten, dass ich zu früh aufgemacht habe?«

»Großes Indianerehrenwort!«

Als sie mit einer Schüssel Wasser hinter dem Tresen hervorkommt, wedelt Shadow schamlos mit dem Schwanz; er giert nach weiblicher Zuwendung. Ich ziehe mich an einen Fensterplatz zurück und trinke einen starken schwarzen Kaffee in der Hoffnung, dass er meine Migräne vertreibt. Danach gehe ich an Deck, der Hund immer dicht hinter mir. Die See ist rau, als wir Land’s End passieren; das Wasser wälzt sich hin und her wie ein ruhelos Schlafender, der es nicht erwarten kann, die Last der Nacht abzuwerfen. Ich vermisse mein Londoner Leben schon jetzt: die coole Wohnung in Hammersmith, mein Retro-Bike, das in der Garage verstaubt, Kumpel, mit denen ich samstags um die Häuser ziehe, ohne dass sie Fragen stellen.

Während die Fähre ihrem Ziel entgegentuckert, pendle ich zwischen Deck und Bar hin und her. Die Reise scheint kein Ende zu nehmen. Wenn ich in dem mitgebrachten Steinbeck-Roman lese, verschlimmert das die Kopfschmerzen nur, darum starre ich durchs Fenster auf die immer größer werdenden Wellen. Am Mittag legt die Scillonian im Hafen von St. Mary’s an. Die Insel ist eine kleinere Ausgabe von Penzance: Fischkutter liegen bei Ebbe auf dem Sand, terrassenförmige graue Häuserreihen ziehen sich vom Meer aus die Hügel hinauf. Trotz der vielen frischen Luft um mich herum empfinde ich die Enge schon jetzt als erstickend. St. Mary’s ist wie eine Rückkehr in die fünfziger Jahre, die Autos zuckeln im Schneckentempo über die Küstenstraße. Aber verglichen mit dem Ort, zu dem ich fahre, ist dieser hier geradezu eine Metropole. Früher hat es mich amüsiert, dass die Inseln dem Königshaus gehören. Charles und Camilla würde es im Traum nicht einfallen, Bryher zu besuchen, auch wenn ihre Vorfahren die Insel für wenig Geld erworben haben. Weil Shadow um Futter winselt, schleppe ich mein Gepäck zum Warteraum und mache mich auf die Suche nach Hundekuchen. Als ich ihm dann das Trockenfutter in der offenen Hand hinhalte, schaut er mich nur desinteressiert an.

»Friss oder stirb«, sage ich.

Er wirft mir einen tödlichen Blick zu, bevor er die Pellets verputzt. Wenn er könnte, würde er, ohne zu zögern, auf den ersten Zug zurück nach Hammersmith aufspringen. Eine Handvoll Hundekuchen frisst er noch, dann wendet er angewidert den Kopf ab.

Der junge Mann im Fahrkartenbüro will mir kein Ticket verkaufen. Die Überfahrt nach Tresco ist wegen des starken Seegangs offenbar so gefährlich, dass die Fähre vielleicht gar nicht kommt; seit vierundzwanzig Stunden hat kein Schiff mehr von den kleineren Inseln abgelegt. Ich setze mich neben der Hafenmauer auf den Boden. Gegen zwei Uhr lassen die Kopfschmerzen nach, die Schraubzwinge um meinen Schädel lockert sich Stück für Stück. Als die Bryher Maid auftaucht, ist die See wie aufgepeitscht, das Wasser scheint zu brodeln. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein oder mich fürchten soll, als das Boot den Hafen schließlich verlässt. Doch nicht die Fahrt bereitet mir Sorgen; nach so vielen Stunden auf dem Atlantik bin ich immun gegen die Seekrankheit. Es ist der Gedanke anzukommen, bei dem mir erneut kalter Schweiß ausbricht.

Der Skipper grüßt mich mit einem kurzen Nicken. Arthur Penwithick begegnet allen, die von der Insel weggezogen sind, mit Skepsis. Er benutzt noch immer das olle Jetboot, das mein Onkel ihm vor zwanzig Jahren gebaut hat und das für fünfzehn Fahrgäste zugelassen ist. Arthur muss inzwischen auf die sechzig zugehen. An seinem Erscheinungsbild hat sich seit meiner Kindheit nichts verändert: Er trägt stets gelbes Ölzeug, unter der Kappe, die er niemals absetzt, lugen krause braune Haare hervor, und er hat vorstehende Hasenzähne. Nachdem wir losgefahren sind, unterhält er sich grummelnd mit mir. Es war ein harter Winter auf der Insel, sagt er; nur eine Handvoll Touristen sind im Hotel, und vereinzelte Dauergäste haben Ferienhäuschen gemietet. Arthurs Miene entspannt sich, als Bryher in Sicht kommt – ein graues Stück Land von weniger als drei Kilometern Länge, das allem ausgesetzt ist, was der Atlantik ihm entgegenschleudert. Langsam verwandelt es sich in eine Reihe von schwarzen Felsbrocken. Von hier aus betrachtet versteht man, warum der Name Bryher »der hügelige Ort« bedeutet; der steile Hang des Shipman Head Down überschattet die einzige Ortschaft der Insel. Als ich einen Blick zurück in Richtung Festland werfe, beugt sich eine Passagierin über die Reling; entweder betrachtet sie das Kielwasser, oder sie versucht, ihr Mittagessen bei sich zu behalten. Der Hund hat auch zu kämpfen; am ganzen Körper zitternd, versucht er, auf dem schwankenden Schiff die Balance zu halten.

Auf Tresco gehen alle anderen von Bord, nur Arthur und ich überqueren noch den Sund nach Bryher. Seit Monaten träume ich von dieser Insel, sehne ich mich danach, ihre salzige Luft zu atmen. Aber das Reich meiner Kindheit sieht kleiner aus als in meiner Erinnerung. Vor mir erspähe ich die kleine Bootswerft meines Onkels, die Türen zur Werkstatt sind weitgeöffnet, und daneben steht das schmale Haus des Fährmanns. Hundert Meter weiter nördlich befindet sich, ebenfalls in Strandnähe, der Inselladen, der zugleich als Postamt dient: ein freistehendes Cottage aus Naturstein, dessen weißer Farbanstrich vor kurzem erneuert wurde. »Moorcroft Stores« steht in roter Schrift über dem Eingang. Hinter diesem Gebäude erstreckt sich eine lückenlos sattgrüne Fläche mit dem Gweal Hill in der Ferne. Die Fähre legt an dem Kai an, der für kleine Schiffe und Fischereifahrzeuge vorgesehen ist. Wenn jemals ein Millionär mit seiner Yacht hier landen wollte, hätte er Pech; der Anlegesteg wäre bei weitem zu kurz. Bryhers vertrauter Geruch nach Schiffsdiesel, Fischgestank und Holzrauch schlägt mir entgegen, noch bevor ich einen Fuß an Land gesetzt habe.

Mein Onkel wartet am Strand, aufrecht und mit wachem Blick. Ray ist dünner als beim letzten Mal, sein dichtes Haar weißer, das Gesicht so knochig, dass es aussieht wie aus Metall gegossen. Sonne und Salzluft haben seine Haut in Schmirgelpapier verwandelt; seine Wange streift meine, als er ungelenk einen Arm um mich legt. Während ich meine Taschen abstelle, findet er langsam auch sein Lächeln wieder. Der Hund springt aufgeregt über die Kiesel. Falls Ray wegen meines schlechten Zustands oder des großen Wolfshunds in meinem Schlepptau beunruhigt ist, verbirgt er es gut. Als sich die Stille zwischen uns in die Länge zieht, blicke ich mich um; die Ostküste der Insel taucht noch immer ihre langen Finger aus Granit ins Meer. Ich könnte Ray erzählen, warum ich hier bin, aber ich möchte heute kein Mitgefühl. Jemand, der mir hilft, meine Sachen zum Haus meiner Eltern zu tragen, und ein schneller Abschied sind alles, was ich brauche. Schließlich bricht mein Onkel das Schweigen.

»Bleibst du länger, Ben?«

Ich zucke mit den Schultern. »Einen Monat, vielleicht zwei.«

»So lange kommen die bei der Arbeit ohne dich aus?«

»Hab noch Resturlaub.«

Er schaut skeptisch drein, sagt aber nichts dazu. Stattdessen wirft er sich lässig meinen Rucksack über die Schulter, obwohl der sicher dreißig Kilo wiegt, und setzt sich in Bewegung. Mein Vater hat mich und meinen Bruder immer genauso begrüßt – erfreut, aber wortlos – und jeden Freitagabend unsere Seesäcke nach Hause geschleppt. Die Stille erlaubt es mir, die Landschaft mit allen meinen Sinnen aufzunehmen. Möwen segeln über den Shipman Head, während wir die Inselmitte queren, um zum Haus meiner Kindheit zu gelangen. Wir rutschen über den regennassen Boden, doch selbst wenn man gemächlich geht, dauert es hier nie lange, bis man sein Ziel erreicht. Die Insel Bryher misst an ihrer breitesten Stelle einen knappen Kilometer, und schnell kommt man ohnehin nicht vorwärts, denn es gibt weder Autos noch Motorräder, nur ein Netz aus Wegen, die von Kaninchenlöchern durchsetzt sind.

»Schlechtes Wetter«, bemerkt Ray. »Ein Mädchen wird schon den ganzen Tag vermisst.«

»Wer denn?«

»Die ältere von den Trescothick-Töchtern.«

Jenna und Matt Trescothick sind in der Schule zwei Jahre über mir gewesen. Er war der Kapitän der Fußballmannschaft, die sich aus Spielern von den fünf Inseln zusammensetzte, und sie die Maikönigin. Wenn ich sie im Sommer mit ihren Freunden beim Surfen beobachtet habe, wurde ich jedes Mal von einer Art Heldenverehrung ergriffen. Sie waren braungebrannt, gutaussehend und unglaublich cool; das Traumpaar der Insel. Als sie mit achtzehn geheiratet haben, sind alle erschienen, um Konfetti zu werfen und ihnen beim Start in ein glückliches Leben zuzuschauen. Ihre ältere Tochter habe ich letzten Sommer bei einem großen Lagerfeuer am Strand gesehen, eine hübsche blonde Jugendliche mit einem ansteckenden Lächeln; aber sogar an einem so kleinen Ort wie diesem machen Kinder ihren Eltern das Leben schwer. Einmal ging mir meine Mum mit ihrem Gemecker derartig auf die Nerven, dass ich mich ein ganzes Wochenende lang in der Scheune eines Freundes versteckt habe, bis alle glaubten, ich wäre nachts beim Schwimmen im Meer ertrunken.

Wir kommen durch das Dörfchen im Zentrum der Insel. Es liegt in einer Senke und besteht aus zwei Dutzend Natursteinhäusern mit Schieferdächern. Das Gemeindezentrum ist knallgelb angestrichen. Am Ortsrand steht das alte Schulgebäude, das immer noch so heißt, obwohl seine letzten Schüler es vor vierzig Jahren verlassen haben. Die meisten Inselhäuser drängen sich im Tal zusammen, wo sie von Hügeln umgeben und windgeschützt sind. Mein Großvater hätte auch hier bauen sollen, aber er zog die Abgeschiedenheit vor. Wir gehen um den Gweal Hill herum, wo uns auf der anderen Seite ein tobendes Meer begrüßt; hier besitzen die Wellen genug Kraft, um Felsbrocken herumzuschleudern, als wären es Murmeln. Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, steht in der Hell Bay. Es ist ein einfacher Steinkasten mit durchhängendem Dach, dessen Fenster mit einem Salzfilm überzogen sind. Das einzige andere von dort aus sichtbare Gebäude ist das Inselhotel. Es liegt zehn Gehminuten entfernt, und seine weiße Silhouette erinnert aus der Ferne an aufgereihte Zuckerwürfel. Ich bin dankbar, als Ray mir meine Tasche vor die Füße stellt und sich weigert, mit ins Haus zu kommen.

»Maggie hat drinnen saubergemacht und dir was zu essen in den Kühlschrank gelegt«, murmelt er. »Ich geh dann besser wieder an die Arbeit. Komm in der Werft vorbei, wann immer du willst.«

Die Tür ist nicht abgeschlossen, obwohl mein letzter Besuch anlässlich der Beerdigung meiner Mutter sechs Monate zurückliegt. Damals habe ich nur ein paar Nächte hier verbracht. Das Haus ist ziemlich marode. Im Flur riecht es nach Schimmel, und in dem kalten Licht, das durch die Tür hereinfällt, tanzen Staubpartikel. Die Küchenschränke sind mit Cornflakes- und Reis-Packungen vollgestopft, als hätte meine Patentante Angst, dass ich ohne ihre Unterstützung verhungere. Nachdem ich Futter für den Hund in einen Napf gelöffelt habe, lege ich mich auf die Couch, über die eine grobe Wolldecke gebreitet ist. Die lange Reise hat mich völlig geschafft, aber hier Schlaf zu finden ist unmöglich. Dazu tropft der Wasserhahn zu laut, und draußen streiten sich die Sturmschwalben. Wer würde denken, dass ein einstöckiges Haus so viel Vergangenheit in sich birgt? Die Geister kommen, als ich mich an die Spüle stelle. Plötzlich rieche ich den Lavendelduft meiner Mutter, das Salz, das auf der Haut meines Vaters klebte, bis sein Fischerboot auf dem Atlantik kenterte. Heute erscheinen selbst die Lebenden wie Geister. Mein Bruder wohnt dreitausend Kilometer weiter westlich in New York, und dennoch sehe ich ihn vor mir, wie er sich neben mir auf seinem Lieblingsstuhl räkelt. Überall, wo ich hinschaue, erinnert irgendetwas an meine unvollendet gebliebenen Versuche, das Haus für meine Mutter zu modernisieren: neue Fliesen auf dem Küchenboden, die salbeigrüne Farbe, die von den Wänden abblättert. Im Bad sieht es nicht besser aus. Ich habe eine schicke Duschkabine eingebaut, bin aber nie dazu gekommen, auch eine ordentliche Wanne und ein neues Waschbecken zu installieren.

Wenn ich hierbleibe, fällt mir die Decke auf den Kopf, deshalb schnappe ich mir, als der Abend kommt, wieder meine Jacke. Ich will mich hinausschleichen, ohne dass der Hund aufwacht, aber er schlüpft, entschlossen, sich nicht abhängen zu lassen, mit durch den Türspalt.

»Ich latsche dir bestimmt auf die Pfoten«, warne ich ihn.

Er trabt mit der Sicherheit eines Einheimischen den Weg entlang und verschwindet. Ich bleibe auf der Veranda stehen, um meinen Schal enger um den Hals zu wickeln und eine Taschenlampe einzustecken. Als Kind kannte ich hier jeden Buckel und jede Mulde im Boden und habe mich auch bei Dunkelheit leichtfüßig über die Insel bewegt. Hier passiert niemandem etwas; es sei denn, er stellt sich ungeschickt an. Alle paar Jahre bricht sich jemand den Knöchel, weil er über einen Maulwurfshügel oder einen Kaninchenbau stolpert. Dann muss man eine kurze, aber schmerzhafte Überfahrt nach Tresco auf sich nehmen, um ihn im Feldlazarett eingipsen zu lassen. Heute Abend sind es trotzdem die Sterne, die meinen Blick auf sich ziehen, nicht der unebene Boden. Ohne das Licht von Straßenlaternen können sie ihre volle Leuchtkraft entfalten. Mir bietet sich eine 180-Grad-Sicht auf die nördliche Hemisphäre, am Himmel funkelt ein Meer von stecknadelkopfgroßen silbernen Lichtern. Ihre Schönheit zwingt mich fast in die Knie, und es dauert einige Minuten, bis ich meinen Blick losreißen und wieder auf die Erde lenken kann. Als ich am Kai ankomme, folge ich dem Weg auf der Ostseite der Insel Richtung Pub, bis plötzlich grauenhaft grelle Lichter am Strand aufscheinen.

Stimmen dringen zu mir hoch, die Flut rollt heran. Nach der Helligkeit zu urteilen, die die Taschenlampen erzeugen, ist trotz der Kälte die halbe Inselbevölkerung auf den Beinen. Man braucht keinen hohen IQ, um darauf zu kommen, dass Laura Trescothick noch immer vermisst wird. Es ist verlockend, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen und nach unten zu laufen, um die Suche anzuführen und mit lauter, autoritärer Stimme Anweisungen zu geben. Ich ermahne mich, dass es Gründe für meine Auszeit vom Polizeidienst gibt, habe aber ein schlechtes Gewissen, als in der Dunkelheit das Pub vor mir auftaucht. The Rock liegt in einem zweistöckigen, dem New-Grimsby-Sund zugewandten Gebäude. Ich gehe an der einzigen Telefonzelle der Insel vorbei und trete ein. Hier riecht es penetrant nach Vergangenheit: Holzrauch vom Kamin in der Ecke, Brandy, hausgemachtes Essen. Ein paar Gäste entspannen sich auf Sofas in der Nähe des Feuers. Glücklicherweise unterhalten sie sich zu angeregt, um sich für mich zu interessieren. Dean Miller sitzt, in eine Zeitung vertieft, an einem Ecktisch. Der einzige Bewohner der Insel, der von Beruf Künstler ist, sieht exzentrischer aus denn je. Seine grauen Haare sind kurzgeschoren, er hat sich eine Krawatte umgebunden und trägt eine Jeans, die derart mit Farbe bekleckert ist, dass man kaum noch ein Stück sauberen Stoff sieht. Seit er vor dreißig Jahren aus Amerika hierhergekommen ist, produziert er ein hässliches abstraktes Seestück nach dem anderen.

Meine Patentante, Maggie Nancarrow, steht hinter dem Tresen. Bei diesem Anblick fühle ich mich wieder, als wäre ich zehn Jahre alt und würde Cider für meinen Dad kaufen. Sie sieht mich nicht sofort, weil sie gerade eine Weinflasche entkorkt. Ihre vogelähnliche Gestalt steckt in einem scharlachroten Pulli und einer ausgewaschenen Jeans, widerspenstige graue Locken umrahmen ihr Gesicht, das rund und glatt ist wie ein Apfel und von einer Hornbrille geziert wird. Ihr Begrüßungslächeln weicht bald einer sorgenvollen Miene.

»Ich warte schon den ganzen Tag auf dich.« Sie kommt hinter dem Tresen hervor, um mich in die Arme zu schließen; sie reicht mir bis zur Brust. Dann legt sie den Kopf in den Nacken, um mich eingehend zu mustern. »Du siehst immer noch unglaublich gut aus, Ben. Trotz Bart.«

»Das sagst du allen Männern. Danke, dass du dich ums Haus gekümmert hast.«

»Niemand inspiriert mich so zum Bödenschrubben wie du.« Sie blickt auf Shadow hinab. »Was ist das denn? Ich dachte, du hasst Hunde.«

»Ich hab ihn geerbt.«

Maggies Augen stehen voller Fragen, die zu stellen sie jedoch zu klug ist. »Du bist zu dünn. Bleib hier, ich bring dir was zu essen.«

»Lass mich zuerst mal zu Billy reingehen.«

Billy Reese zählt zu den Urgesteinen der Insel; seit ungefähr zehn Jahren kocht er hier im Pub, und gelegentlich sogar sehr gut. Als ich seine Küche betrete, schlagen mir appetitliche Düfte entgegen: gebratener Fisch, Zitronensaft, scharfer Knoblauchgeruch. Billy sitzt am Edelstahltresen, er hat einen dick bandagierten Fuß auf einen Hocker hochgelegt und hackt in atemberaubendem Tempo Petersilie klein. Dazu benutzt er ein Messer mit einem roten Griff. Billy ist ein großer, kahlköpfiger Mann in den Fünfzigern. Mit dem Bandana, das er beim Kochen trägt, sieht er aus wie der Anführer einer Motorradgang. Als er mich bemerkt, verschwindet seine düstere Miene, und er lächelt.

»Na, willst du mich verhaften, Ben?«

»Kommt drauf an, wie viele Gesetze du gebrochen hast.« Ich klopfe ihm auf die Schulter. »Was ist mit deinem Knöchel passiert?«

»Bin über meine eigenen Füße gestolpert. Samstagnacht auf dem Heimweg.«

»Hattest wohl ordentlich Schlagseite, was?«

»Kann schon sein.« Sein Grinsen bringt eine Reihe gelber Raucherzähne zum Vorschein. »Nimm dir was zu essen.«

»Maggie kümmert sich schon drum.«

Als ich zurück in den Gastraum komme, hat sie mir einen Teller Fischsuppe, Baguette und ein Glas Apfelsaft auf den Tresen gestellt. Nicht zu fragen, was ich möchte, ist ihre Art, mir ihre Zuneigung zu zeigen. Maggies einziger Fehler besteht darin, dass sie immer über alles Bescheid zu wissen glaubt, von der Geschichte der Insel bis zu den Essgewohnheiten jedes Stammkunden. Sie ist gerade am Telefon, und ihre Hand fliegt über den Block, während sie eine Fischorder notiert. Das The Rock ist nicht nur ein Pub; in den riesigen gewerblichen Kühlschränken lagern die Fischer auch ihren Fang, wodurch Maggie die zusätzliche Aufgabe zufällt, Deals mit Restaurants auf dem Festland auszuhandeln. Im Laufe der Jahre hat sie dabei eine erfolgreiche Methode entwickelt: Sie ist abwechselnd charmant und geringschätzig. Die Fischsuppe ist noch besser, als ich sie in Erinnerung hatte: rauchiger, intensiver Schellfischgeschmack mit einem Schuss Sahne und einer ordentlichen Prise Salz. Der Teller leert sich schnell, was meiner Tante erneut ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Sie stützt die Ellenbogen auf den Tresen und betrachtet mich neugierig mit ihren schokoladenbraunen Augen.

»Was gibt’s Neues, Ben?«

Ich versuche, entspannt mit den Schultern zu zucken. »Nicht viel. Ich nehme mir nur eine Auszeit.«

»Mehr hast du mir nach sechs Monaten nicht zu sagen?«

»Du kennst mich doch, Maggie. Konversation ist nicht meine Stärke.«

Noch bin ich nicht bereit, ihr zu erklären, dass meine Vorgesetzte mir drei Monate Zeit gibt, mich zu entscheiden, ob ich meine Laufbahn als Undercover-Ermittler bei der Mordkommission nach zehn Jahren beende. Sie weigert sich, meine Kündigung zu akzeptieren, und besteht darauf, dass ich mir Bedenkzeit nehme; ich wäre eigentlich lieber gleich gegangen. Maggie schaut mich so unverwandt und wissend an, dass ich glaube, sie hat meine missliche Lage auch ohne Erklärung erfasst.

»Hast du schon gehört, dass Laura Trescothick vermisst wird?« Sie schiebt die Ellenbogen nach vorn und beugt sich weiter vor. »Sie ist heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen. Außer der Bryher Maid hat den ganzen Tag kein einziges Schiff abgelegt. Sie muss also irgendwo auf der Insel sein.«

»Wahrscheinlich bei irgendeinem Typen.«

»Ihr Freund hat sie nicht gesehen. Und es ist nicht ihre Art, unentschuldigt zu fehlen.«

Plötzlich wird es mir kalt im Rücken, so als hätte jemand einen Schwung eisige Luft hereingelassen. Als ich mich umdrehe, um der Sache auf den Grund zu gehen, sitzt eine Frau, die Hände im Schoß, allein am Kamin. Ihr Gesicht ist ein bleiches Oval, ihre glatten braunen Haare reichen bis zum Kinn und sehen so akkurat aus wie bei einem mittelalterlichen Knappen. Ich wende den Blick ab, bevor sie mich dabei erwischt, wie ich sie anstarre.

Maggie spricht weiter über das verschwundene Mädchen. Das erinnert mich daran, dass in einem Dorf mit hundert Einwohnern jeder über die Krisen von jedem Bescheid weiß, ob es einem gefällt oder nicht.

»Morgen gibt es eine Versammlung im Gemeindesaal«, sagt sie.

Ihr Blick ist eine offene Herausforderung, aber ich gehe nicht darauf ein. Das Mädchen versteckt sich wahrscheinlich auf dem Dachboden von irgendeinem Freund, um der Familie einen Schrecken einzujagen. Nach einem kurzen, verlegenen Moment des Schweigens lenkt Maggie das Gespräch auf ihren Sohn Patrick, der in Kindertagen ein enger Freund von mir war. Heute ist er Tierarzt in St. Ives und verheiratet und bewirtschaftet mit seiner Familie einen kleinen Hof. Eine Stunde vergeht, bevor Maggie einen Schnaps über den Tresen schiebt.

»Hier, ein kleiner Absacker, junger Mann«, sagt sie und wendet sich dann ab, um die Spülmaschine einzuräumen.

Ich bin ihr unendlich dankbar, dass sie mich nicht gefragt hat, wie es mir geht. Ich kippe den Schnaps runter, nehme meine Jacke und achte sorgsam darauf, nicht wieder die brünette Frau anzustarren. Dean Miller ist noch immer in seine Zeitung versunken, er hat ein frisches Bier neben sich stehen und nimmt seine Umgebung überhaupt nicht wahr. Als ich an der Tür bin, kommt der Hund schließlich hinter mir hergetrottet; er bellt kurz verärgert, als hätte ich ihn aus einer wichtigen Beschäftigung gerissen. Hier draußen schwillt das Wispern des Windes zu einem Brüllen an.

Zurück am Cottage, ziehe ich auf der Veranda die Stiefel aus und ignoriere die Geister, die von den Wänden auf mich einstürmen. Stattdessen denke ich über Laura Trescothick nach. Als ich sie letzten Sommer mit ihren langen, wehenden Haaren am Strand gesehen habe, wo sie mit Freunden Drachen steigen ließ, war sie gerade dabei, sich zu einer jugendlichen Schönheit zu entwickeln.

Ich zittere vor Kälte, als ich mich im Schlafzimmer ausziehe. Dann stehe ich plötzlich im Dunkeln. Ich taste in der stockfinsteren Nacht nach Kerzen. Eigentlich müsste sofort der Generator anspringen, aber nichts passiert. Ich werde daran erinnert, dass man sich hier draußen auf der Insel nicht einmal auf so grundlegende Annehmlichkeiten wie Heizung und Licht verlassen kann. Während die Kerze in der Zugluft flackert, ist es schwerer denn je, den Fragen auszuweichen, die mich bedrängen.

2

Rose Austells Hütte liegt auf der anderen Seite der Insel, dichter am Meer als alle übrigen Gebäude. Sie ist nicht größer als ein Wohnwagen, aber Rose kann sich einfach nicht davon trennen, trotz all der Überschwemmungen, der grausamen Zugluft und der Löcher im durchgerosteten Wellblechdach. Sie ist allein in der Küche, als das Licht ausgeht. Vor Schreck entweicht ihr ein leiser Schrei. Die Dunkelheit fürchtet sie fast so sehr wie Besuche von Fremden und offiziell aussehende Briefe aus der Welt da draußen. Sie ist fünfundfünfzig Jahre alt und hat Bryher erst wenige Male verlassen. Sie tastet suchend nach Streichhölzern, kurz darauf erhellt der orangefarbene Schein einer Petroleumlampe den Raum. Die Küche ist voller Kisten mit Samen und Wurzeln, die sie das ganze Jahr über draußen sammelt. Auf dem Tisch warten kleine Beutel mit Baldrian, Salz-Schuppenmiere und Bittersüßem Nachtschatten darauf, zu Salben gegen Muskelschmerzen und Arthritis verarbeitet zu werden. Rose schiebt die Zutaten zur Seite; sie ist zu verstört, um arbeiten zu können. Sie starrt auf das Handy, das ihr Sohn Sam ihr geschenkt hat, und wünscht sich sehnlichst, dass es klingelt.

Die Neuigkeiten über Laura Trescothick beunruhigen sie schon den ganzen Abend, in ihrer Magengrube brodelt ein toxisches Gemisch aus Schuldgefühlen und Angst. Sam war fast ein ganzes Jahr mit Laura zusammen, aber die Geschichte ist schlecht ausgegangen. Rose kann nicht anders, sie stellt sich das Gesicht des Mädchens unter Wasser vor, die blonden Haare flirren, ihre Schönheit ist wie ein bitterer Vorwurf. Als Rose die Augen blinzelnd wieder öffnet, schlägt das Meer draußen gnadenlos gegen die Felsen. Sie hat die Granitküste schon in allen Wetterlagen erlebt und gesehen, wie sich fünf Meter hohe Wellen über den Strand wälzen. Rose weiß sehr gut, dass die See mehr stiehlt, als sie hergibt. Als sie klein war, hat ihr Vater ihr von Bryhers wilder Geschichte und den gesetzlosen Männern erzählt, die die Scilly-Inseln drei Jahrhunderte hindurch beherrscht haben. Deren Unerschrockenheit war ihr romantisch erschienen, bis sie begriffen hat, dass ihre Insel noch immer von Schmugglern heimgesucht wird. Jetzt hasst sie sie aus gutem Grund.

Rose späht erneut aus dem Fenster; sie betet, dass Sam zurückkommt, sieht jedoch nur die dunklen Umrisse von Tresco und den wolkenverhangenen Mond. Um einen erneuten Schrei zu ersticken, presst sie die Hand auf den Mund. Laura ist verschwunden und ihr einziges Kind auch, aber sie kann nichts tun.

3

Draußen kreischen Seeschwalben, als ich die Augen aufschlage. Meine Kopfschmerzen sind zurückgekommen, und ich beginne den Tag mit einem Schwall von Flüchen, während ich mich aus dem Bett schwinge. Es ist eiskalt im Haus, doch wenigstens gibt es wieder Strom. Bei Tageslicht sieht das Cottage nicht besser aus: Die Korkfliesen im Bad kräuseln sich an den Rändern, der Generator muss überholt werden, und das Gärtchen, in dem meine Mutter Spinat und Kartoffeln angebaut hat, ist von Unkraut überwuchert. Die Wellen fauchen wie wilde Tiere und schlagen klatschend auf den Strand. Shadow gibt sich alle Mühe, mich zu Fall zu bringen, indem er aufgeregt um meine Füße herumwirbelt und laut bellt, weil er es nicht erwarten kann, den Tag zu begrüßen.

»Verdammter Köter«, grummele ich und zerre den Reißverschluss meiner Jacke hoch.

Heute Morgen fahren ganz sicher keine Fähren. Die Flut donnert gegen die Küste und erinnert mich daran, dass die Bucht aus gutem Grund Hell Bay heißt. Neun Monate im Jahr ist das Wasser ruhig, aber im Winter blasen infernalische Stürme von Westen her, und man braucht Kraft, um die eigene Haustür aufzukriegen. Das Hell Bay Hotel am Ende des weitläufigen Strandes glitzert und strahlt Wohlstand aus. In der Hochsaison kostet ein Zimmer mit Seeblick bei garantiert exzellenter Verpflegung und Unterbringung ein kleines Vermögen pro Nacht. Wenn ich die Augen zusammenkneife, kann ich Zoe Morrow auf der Terrasse stehen sehen; aus der Ferne ist sie so klein wie ein Strichmännchen. Sie färbt ihre kurzen Haare seit unseren Teenagertagen platinblond und ist von Kopf bis Fuß stahlblau gekleidet. Ich lege eine Hand über die Augen, damit ich sie besser erkennen kann. Sie winkt frenetisch mit beiden Armen und bedeutet mir herüberzukommen. In ihrer glorreichen College-Zeit wollte sie in eine Rockband eintreten und die Welt erobern, aber heute ist ihr Talent zu einem Hobby geschrumpft. Nach dem Herzinfarkt ihres Vaters hat sie ihre Karriere als Sängerin erst einmal auf Eis gelegt. Ihre Brüder überlassen ihr die Leitung des Hotels völlig allein; sie arbeiten beide auf dem Festland, und die Eltern haben sich in Mevagissey zur Ruhe gesetzt. Höflich wäre es, zu Zoe hinüberzulaufen und sie kurz zu begrüßen, aber ich gehe in die entgegengesetzte Richtung davon. Aus Scham, nehme ich an. Mir ist es lieber, wenn meine beste Freundin aus der Schule mich nicht in so mieser Stimmung erlebt.

Als ich schließlich den Droppy Nose Point erreiche, einen Felsensporn, der sich an Bryhers Südspitze in den Atlantik schiebt, hat die frische Luft meine Lebensgeister aufgeweckt. In meiner Kindheit war das hier mein Lieblingsort, wegen des ulkigen Namens und wegen der großen Felsnase, die an einen Elefantenkopf mit Rüssel erinnert. Die Steine sind hier hellgrün von den Algen, Muscheln kleben traubenförmig daran. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, dass ich den Strand nach dem verschwundenen Mädchen absuchen könnte. Vielleicht hat irgendein Junge sie hierhergeführt, und ein Streit zwischen ihnen ist in Gewalt umgeschlagen. Aber ich mache mir erneut klar, dass ich dafür nicht zuständig bin. Den Samson Hill umrundend, komme ich auf die Ostseite der Insel, die vor dem starken Wind geschützt ist. Der Kanal liegt still da wie ein Mühlenteich und macht die gespaltene Persönlichkeit der Insel augenfällig. Über den New-Grimsby-Sund hinweg erkennt man die dunkelgrünen Umrisse der Nachbarinsel Tresco. Der Hund verschwindet in einer Wiese voller Farnkraut, während ich – in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden – um das South Cottage herumgehe. Aber ein Mann ruft laut und barsch wie ein Ausbilder beim Militär.

»Wer schleicht da hinter meiner Hecke rum?«

»Ben Kitto, Tom.«

Auch nach zwanzig Jahren fühlt es sich immer noch merkwürdig an, ihn mit dem Vornamen anzusprechen statt mit Mr Horden. Er war mein Klassenlehrer am Gymnasium, bis er aus unbekannten Gründen überstürzt in Pension ging. Ich höre schnelle Schritte auf dem Kies, aber als er mit gestrafften Schultern vor mir stehen bleibt, sehe ich, dass er sich äußerlich stark verändert hat. Zwar trägt er immer noch Hemd und Krawatte unter seinem V-Ausschnitt-Pulli, doch sein Gesicht ist von tiefen Falten zerfurcht. Eines seiner Augen ist trüb wie Milch, aus dem anderen, grauen, trifft mich der böse Blick, mit dem er die Schüler im Mathe-Unterricht zum Weinen bringen konnte. Auch das Haus dieses Mannes ist kompromisslos: ein Klotz aus groben Steinen mit schwarz gestrichenen Fensterrahmen.

»Komm rein, Junge. Sag meiner Frau guten Tag.«

»Ich kann heute nicht. Ray wartet in der Werft auf mich.« Das ist gelogen, aber der Kerl war mir noch nie geheuer.

»Lass ihn warten.«

Horden packt mich am Ellenbogen und schiebt mich ins Haus. Dort begrüßen mich lauter unangenehme Gerüche: Kohl vom gestrigen Abendessen, Putzmittel und überheizte Zimmer. Das Gemisch erinnert mich an Krankenhausflure, und ich sehne mich nach einem schnellen Abgang. Horden führt mich in eine Küche mit geblümten Kacheln, die sicher schon jahrzehntelang die Wände zieren; in den Regalen verstauben Töpfe und Pfannen.

»Besuch für dich, Emma. Du erinnerst dich doch an Ben Kitto, oder? Der Jüngste von Mark und Helen.«

Emma Horden war früher eine elegant gekleidete Frau mit einem beschwichtigenden Lächeln, die vor der Kirche von Tresco regelmäßig für einen guten Zweck gesammelt hat. Nach dem Ausscheiden ihres Mannes aus dem Schuldienst wurde sie einige Monate nicht gesehen, und jetzt ist sie fast nicht wiederzuerkennen: Übergewichtig und mit hängenden Schultern sitzt sie vor mir, sie trägt ein tristes Kleid, ihre Haare sind strähnig. Ihr Blick wandert an mir auf und ab, registriert mein unrasiertes Gesicht, die alte Lederjacke, dann schüttelt sie entschieden den Kopf.

»Benesek singt im Chor. Er ist der einzige Junge, der den Ton halten kann.«

»Das ist eine Weile her, Emma.«

»Lassen Sie mich in Ruhe. Ich will nicht, dass Fremde meine Schätze klauen.« Sie nimmt eine Keramikschale vom Fensterbrett und drückt sie zärtlich an die Brust. »Wer auch immer Sie sind, gehen Sie nach Hause, bevor der Sturm losbricht.«

»Das ist ein guter Rat. Ich wollte nur kurz Hallo sagen, weil ich gerade hier vorbeikam.«

Die Gegenstände in Emma Hordens Schale funkeln in dem Licht, das durch die Vorhänge hereinfällt. Schlüsselringe, Münzen und Muscheln liegen darin. Mr Horden sieht peinlich berührt aus, als wir zurück in den Flur gehen. Er hat die Küchentür zugemacht, um seine Frau nicht noch mehr durcheinanderzubringen. »Du musst sie entschuldigen. Sie hat heute einen schlechten Tag.«

»Den haben wir doch alle mal.«

»Liest du noch so gern? Früher hattest du in meinen Stunden immer ein Buch unterm Tisch.« Es ist schwer zu sagen, ob das freundlich gemeint ist oder ob er mich wegen meines schlechten Benehmens in der Schule vor zwanzig Jahren tadelt.

»Schuldig im Sinne der Anklage.«

Sein milchiges Auge wendet sich mir zu. »Komm mal abends vorbei. Wir haben eine ganze Reihe von guten Romanen, die niemand mehr braucht.«

»Mache ich, Tom.«

»Hast du den Polizeidienst quittiert?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich nehme nur eine Auszeit.«

»Wurde dir wohl zu stressig, was?«

»Ich mache Urlaub, das ist alles. Ich geh dann besser mal.«

Die Fragen meines alten Lehrers bringen mich ins Grübeln. Ein fataler Fehler hat mich aus dem Job katapultiert, nicht der Druck, unter dem ich bei der Arbeit stehe. Die meisten Kollegen haben mir verziehen, aber ich selbst bin noch weit davon entfernt. Während ich dem gewundenen Pfad folge, der an der Steinmauer entlang zum Kai führt, holen mich Erinnerungen an die Schule ein. Wir haben uns früher über Horden lustig gemacht; die Schüler haben sich absurde Geschichten ausgedacht, wegen seiner schneidenden Stimme, aber auch weil die Mädchen behaupteten, er würde ihnen lüsterne Blicke zuwerfen. Es tut gut, das Einsamkeitsgefühl wieder abzuschütteln, das dieses Paar verströmt wie einen schlechten Geruch. Shadow folgt mir auf dem Fuß, während ich in nördlicher Richtung am Strand entlanglaufe. Der Blick hinüber nach Tresco mit seinen Gärten und Feldern, die sich scheinbar kilometerweit erstrecken wie grüner Knautschsamt, vertreibt meine schlechte Stimmung.

Rays Werkstatttüren stehen weit offen, aber von ihm selbst ist keine Spur zu sehen. Sonnenlicht sickert durch die Löcher im Blechdach über dem Hof, wo ich ihn schließlich finde. Der Rumpf, den er gerade baut, ist sechs Meter lang, ein traditionelles Fischerboot, dessen grobes Gerüst bereits fertig ist. Ray blickt von seiner Bandsäge hoch und begrüßt mich mit einem Lächeln.

»Das wird ein Klinkerboot«, sagt er. »Für einen Hummerfischer auf St. Mary’s.«

»Du benutzt Zedernholz?«

»Soll ja eine Weile halten«, antwortet er nickend. »Hilf mir dabei, es fertig zu bauen, wenn du Lust hast.«

Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Als ich ein Teenager war, hat Ray mir eine Lehrstelle angeboten; ich war wahnsinnig gern in der Werft, aber mir fehlt seine Geduld. Es treibt mich immer noch um, dass ich Bryher mit achtzehn Jahren verlassen habe, ohne mich ordentlich dafür zu entschuldigen, ihn hängengelassen zu haben. Die Arbeit, die er mir jetzt anträgt, würde mindestens einen Monat in Anspruch nehmen, und es gelingt mir nicht so recht, mir vorzustellen, wie der Schiffsrumpf unter meinen Händen Form annehmen soll, nachdem meine Fertigkeiten so lange brachgelegen haben. Shadow scheint auf meine Entscheidung zu warten, seine hellen Augen verfolgen aufmerksam jede meiner Bewegungen. Ich schnappe mir einen Besen und fege Hobelspäne zusammen, während mein Onkel weiterarbeitet. Früher war Kehren eine Strafarbeit, zu der ich verdonnert wurde, wenn ich ihm zu viel im Weg herumstand, aber jetzt tue ich es gern; die gleichmäßigen Bewegungen helfen mir, den Kopf freizubekommen. Ich staune darüber, dass Ray die Arbeit ganz allein meistert, seit sein letzter Angestellter in Rente gegangen ist. Eine Stunde lang sortiere ich herumliegende Gegenstände in Schubladen ein: Nägel und Nieten, Dichtungsbaumwolle und ein halbes Dutzend Kalfateisen. Als ich dann zum Kai schaue, ist der Himmel eine massive Wand aus Wolken. Fischer haben ihre Schiffe von der Westseite hergebracht, weil sie hier besser geschützt sind, geklinkerte Boote säumen den Anlegesteg. Einige davon kenne ich, ihre Namen haben sich seit Generationen nicht geändert: Clara Belle, Destiny, Scilly Lass. Ich möchte nur noch die Augen schließen, bis die Welt sich wieder beruhigt hat. Immerhin ist es entspannend, den Booten zuzusehen, die wie bunte Kinderspielzeuge im flachen Wasser treiben. Ich denke kurz darüber nach, Ray von meinem Dilemma zu erzählen, aber persönliche Gespräche waren noch nie seine Stärke.

Einige Stunden später schaltet mein Onkel die Säge aus und nimmt die Schutzbrille ab. Ich vermute, dass er eine Mittagspause einlegen will, doch er greift nach seiner Steppjacke.

»Kommst du mit zur Versammlung? Die Polizei von St. Mary’s ist rübergekommen.«

»Ich glaube, ich schwänze lieber.«

Er schaut mich an. »Alle werden da sein.«

Nicht hinzugehen kommt also nicht in Frage. Wenn ich die Versammlung ignoriere, bringe ich damit zum Ausdruck, dass es mich nicht interessiert, ob das junge Mädchen tot oder lebendig ist. Also trotte ich widerwillig hinter Ray her, während Shadow vorausläuft. Das Gemeindezentrum sieht besser aus als in meiner Kindheit; es besteht aus einer großen einstöckigen Halle mit neuen Fenstern und leuchtend gelb gestrichenen Außenwänden, die jetzt, da die Wolken sich gelichtet haben, sogar noch hässlicher sind. Wie die meisten Dinge auf der Insel dient das Gebäude mehreren Zwecken: Es ist zugleich Hochzeitslocation, Bingosalon, Theater und ein Ort für Pfadfindertreffen. Innen riecht es nach Staub und Bohnerwachs, die neuen Jalousien hängen auf Halbmast. Der Holzfußboden und die hohen Fenster erinnern an eine Turnhalle, und es sind reihenweise Klappstühle vorhanden, aber heute gibt es nur Stehplätze. Die meisten Leute kenne ich: Wenige Meter neben mir erspähe ich Zoe im Gespräch mit Maggie und Billy; ihre blonden kurzen Haare sind vom Wind zerzaust. Angie Helyer, eine hübsche Rothaarige mit einem Puppengesicht, grinst mich von der anderen Seite des Saals breit an. Sie war in der Schule ein paar Jahre unter mir und betreibt heute eine kleine Ziegen- und Hühnerfarm. Ihr jüngstes Kind trägt sie in einem Tuch vor dem Bauch, das andere krabbelt um ihre Füße. Ihr Mann Jim, der einer meiner ältesten Freunde ist, kümmert sich wohl um die Tiere. Selbst Rose Austell ist aufgetaucht; sie steht abseits von der Menge und verbirgt ihr Gesicht zur Hälfte hinter einem Vorhang aus schwarzen Hexenhaaren. Alle sehen erwartungsvoll aus.

Als Matt Trescothick auf die Bühne kommt, könnte man eine Stecknadel fallen hören. Er war früher so viel cooler als mein älterer Bruder, und ich beneidete ihn, weil er sehr gut Fußball spielen konnte und so locker im Umgang mit Mädchen war. Selbst heute scheint noch ein bisschen vom Charisma seiner Jugendjahre durch, in denen er mit Jenna am Arm den Kai entlangstolzierte. Seine mittelbraunen Haare sind kurzgeschoren; mit seiner hochaufgeschossenen Statur, den dunklen Augen und den markanten Gesichtszügen könnte er ein Filmstar sein, aber er sieht heute ausgemergelt und müde aus. Es fühlt sich falsch an, zu den Zuhörern zu gehören, weil ich viel lieber neben ihm sitzen und mir die Leute auf verdächtiges Verhalten hin ansehen würde; dabei kenne ich die meisten hier schon mein Leben lang. Der Polizist, der Matt begleitet, steht kurz vor der Pensionierung, er zollt seinen Respekt, indem er Uniform trägt, die Schulterklappen sind üppig mit Goldbrokat geschmückt. Er ist von schmächtiger Gestalt, hat ein schmales, intelligentes Gesicht und lässt seinen Blick mit ernster Miene über die Versammelten schweifen.

»Ich bin Detective Chief Inspector Alan Madron und koordiniere die heutige Suche. Ich bin sicher, die Familie ist dankbar, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Möchten Sie etwas sagen, bevor wir anfangen, Mr Trescothick?«

Matts Blick huscht über die Menge, ohne jemanden wirklich wahrzunehmen. Ich kenne das nur zu gut; ihre Aufmerksamkeit für die Welt um sie herum verlieren Eltern als Erstes, wenn sie realisieren, dass ihr vermisstes Kind vielleicht nicht wiederkommt. Seine Stimme ist tiefer als in meiner Erinnerung, Zigaretten und Alkohol haben sie rau gemacht.

»Jenna möchte euch allen danken; sie ist zu aufgelöst, um herzukommen. Es bedeutet uns viel, dass ihr alle helft, unsere Tochter zu finden.«

Die Muskeln in Matts Gesicht zucken heftig, als er sich wieder hinsetzt und die Anwesenden ihm murmelnd ihre Unterstützung zusichern. Wenn das hier eine Pressekonferenz wäre, würde sein Konterfei bereits über die Bildschirme im ganzen Land flimmern und Millionen von Zuschauern würden ihm unterstellen, dass er schuldig ist. Die meisten Mordopfer sind erwiesenermaßen durch die Hand eines Familienmitglieds oder einer Person gestorben, die sie kennen. Ich schiebe diesen Gedanken beiseite, bevor er sich festsetzen kann. Alle meine Instinkte sagen mir, dass ich den Polizisten dabei helfen sollte, die Suche zu organisieren, auch wenn das Mädchen sich wahrscheinlich wegen eines heimlichen Kummers irgendwo versteckt. Als der DCI erneut das Wort ergreift, wird es still im Raum.

»Wir unterteilen die Insel in vier Zonen, die jeweils von einer Gruppe abgesucht werden. Meine Beamten koordinieren die Suche.« Sein Blick schweift erneut über die Menge. »Laura ist am Sonntagabend gegen halb elf in ihr Zimmer hochgegangen. Ihre Mutter hat gehört, wie sie gestern, am Montag, den ersten März, gegen Viertel nach sechs Uhr morgens das Haus verlassen hat. Sie sollte um sieben ihre Frühstücksschicht im Hotel antreten. Wir sind sicher, dass sie die Insel nicht per Boot verlassen hat. Die See war bis zum Mittag zu rau für eine Überfahrt. Sollte irgendjemand von Ihnen etwas wissen, sprechen Sie bitte mich oder ein Mitglied meines Teams an.«

Ich beiße die Zähne zusammen, als ich Madrons Äußerungen höre. Wenn ich hier zuständig wäre, würde ich sofort die Familie befragen, um Selbstmord auszuschließen; das Mädchen kann doch irgendwelchen Belastungen ausgesetzt gewesen sein, von denen wir keine Ahnung haben. Ray und ich verlassen als Erste den Saal, als die Versammlung zu Ende ist, Shadow sucht ein Stück abseits Zuflucht unter einem Stechginsterstrauch. Die Inselbewohner treten an die frische Luft hinaus; den Mienen nach zu urteilen, schwankt die Stimmung zwischen Trübsal und Entschlossenheit. Der DCI verschwendet keine Zeit und teilt uns in Gruppen ein. Mein Mut sinkt, als ich sehe, dass die Hordens zu meinem Team gehören. Von weitem wirken die Augen meines alten Lehrers sogar noch verstörender; eines ist so hell wie Eis und das andere dunkel und konzentriert wie ein Laserstrahl. Als ich mich umdrehe, steht die Brünette aus dem Pub zehn Meter entfernt im kalten Sonnenlicht. Sie ist größer, als ich sie mir vorgestellt hatte, ihre langen Beine stecken in einer engen Jeans und roten Gummistiefeln, ihr dunkles Haar glänzt. Diesmal erwischt sie mich dabei, wie ich sie anstarre. Sie erwidert meinen Blick, ohne zu lächeln, und geht weg.

Der junge Constable namens Eddie Nickell führt meine Gruppe an. Er sieht aus wie ein Schüler aus der sechsten Klasse, der Aufsicht führen darf. Blonde Locken umrahmen sein Gesicht, und seine Wangen leuchten vor Stolz, dass man ihm besondere Aufgaben überträgt. Er spricht langsam und in einfachen Sätzen, als wollte er nicht uns instruieren, sondern eine Gruppe ungezogener Fünfjähriger beruhigen. Unser Auftrag klingt recht simpel: die Strände absuchen, Kanal- und Schachtdeckel anheben, Gebäude und Wege kontrollieren. Als ich das nächste Mal hochblicke, schleicht Shadow gerade in der Ferne davon, dabei wäre ich ausnahmsweise mal froh, wenn er an meiner Seite bliebe.

Das einzig Positive ist, dass Zoe zu meinem Team gehört. Wir haben uns nicht mehr gesehen, seit sie mich Weihnachten in London besucht und von einem Musikclub in den anderen geschleift hat, bis wir am Ende sturzbesoffen in einer Tequila-Bar gelandet sind. Zoe ist einer der wenigen Menschen in meinem Leben, die konstant gute Laune verbreiten; sie lacht immer am lautesten von allen und ist nicht bereit, sich ihren Optimismus von irgendwelchen Katastrophen austreiben zu lassen. Sie sieht so gut aus wie eh und je: Amazonenstatur, weißblonde Haare, dunkle Mandelaugen und rosige, sommersprossige Haut. Ihre kurvenreiche Figur würde meinen Puls hochtreiben, wenn ich sie nicht schon seit meinem dritten Lebensjahr kennen würde. Sie schlingt die Arme um meinen Hals und drückt mich an sich. Es ist so lange her, dass mich jemand angefasst hat, dass ich die Situation voll auskoste, aber schließlich ermahne ich mich, nicht zu klammern.

»Wie geht’s, großer Mann?«

»Beim letzten Blick in den Spiegel eher schleppend.«

»Und was ist das da in deinem Gesicht?«

»Ein modischer Bart.«

»Was hast du denn gegen eine gründliche Rasur? Du hättest mir Bescheid geben sollen, dass du kommst, dann hätte ich die Fahnen gehisst.«

»War nicht geplant.«

Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Du schlägst dir aus Jux und Tollerei die Nacht um die Ohren, um hierherzukommen?«

»Ja, so ungefähr.« Shadow taucht neben mir auf; er bleibt nicht gern außen vor.

»Was für ein toller Hund! Ist das deiner?«

»Ja, leider.«

»Dir würde ich ja nicht gern im dunklen Wald begegnen.« Der Hund ist verzückt über Zoes Streicheleinheiten und wedelt aufgeregt mit dem Schwanz. »Aber du bist doch ein Lieber, ne?«

»Behalt ihn. Ich kann Hunde nicht ausstehen.«

»Du bist gemein. Er braucht nur ein bisschen Liebe.«

Schließlich brechen wir auf, um den nordöstlichen Teil der Insel abzusuchen. Wir sind eine buntgemischte Truppe im Alter von achtzehn bis in die Siebziger, und aus jeder Familie der Insel ist jemand dabei. Dean Miller schlurft hinter uns her. Er hat weiße Farbe am Jackenärmel, sein Blick ist starr auf den Horizont geheftet. Der Künstler scheint mehr daran interessiert zu sein, Inspiration für seine Gemälde zu finden, als nach dem verschwundenen Mädchen zu suchen. Die Gruppe bewegt sich im Schneckentempo Richtung Norden. Mir fällt die Aufgabe zu, den Kanaldeckel hinter dem Laden anzuheben und mich in das schwarze Loch hinabzulassen, bis meine Füße den Betonboden des Schachts berühren; im Licht meiner Taschenlampe erscheinen nur schwarzer Schlamm und ein paar weghuschende Ratten. Ich halte die Luft an, damit ich den Abwassergestank nicht einatmen muss. Als ich wieder herausklettere, ist Zoes Lächeln verschwunden; sie scheint erst jetzt richtig begriffen zu haben, dass das Mädchen weg ist.

»Glaubst du wirklich, dass Laura was passiert ist?«

»Noch besteht Hoffnung, aber je mehr Zeit vergeht, desto wahrscheinlicher ist es.« Ich schiebe den Deckel zurück über den Schacht. »Wie lange arbeitet sie schon für dich?«

»Erst seit Juli. Sie spart für eine Schauspielausbildung, die sie im Herbst anfangen will.«

»Ah, ein angehender Star. Wie ist sie denn so?«

»Echt toll. Eigentlich wollte ich ihr ja zusammen mit den anderen Aushilfen kündigen, aber sie brauchte Geld, also habe ich sie über den Winter ab und zu putzen oder renovieren lassen, damit sie ein bisschen was verdient. Sie hat wirklich einen beißenden Humor und macht permanent andere Leute nach.«

»Hat sie einen Freund?«

»Danny Curnow, aber seine Eltern sind dagegen.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Die Curnows sind die reichste Familie der Insel, die hier mit offenen Armen aufgenommen wurde, weil sie in örtliche Geschäfte investiert. Jay Curnow besaß ein Bauunternehmen auf dem Festland, hat sich aber irgendwann scheiden lassen, eine zwanzig Jahre jüngere Frau geheiratet und ein Kind in die Welt gesetzt. Es scheint eher unwahrscheinlich, dass ein verwöhnter Millionärssohn wie Danny Curnow eine gewalttätige Seite hat, allerdings werden junge Frauen häufiger von ihren Partnern angegriffen als von irgendjemand anderem.

Wir kommen zu einer Reihe von Fischerhütten, aber darin ist nichts außer Netzen und Krabbenreusen; in der Luft hängt noch der Gestank des Fangs der letzten Saison. Wir arbeiten uns langsam auf dem Fußweg vor und sehen im Biergarten hinter dem Pub nach, wo das Gras unter unseren Füßen hart und rau ist. Dann gehen wir weiter Richtung Norden. Gegenüber an der Küste von Tresco taucht Cromwell’s Castle auf; das Fort sieht unbezwingbar aus mit seinen zwei Türmen zum Schutz vor Feinden. Hangman’s Island, die Henkersinsel, liegt in dem schmalen Kanal zwischen den Inseln. Niemand weiß, woher sie ihren Namen hat, aber die Einheimischen glauben, dass sie für Hinrichtungen genutzt wurde. Heute sieht sie auf jeden Fall gespenstisch aus, denn sie besteht ausschließlich aus grobem Felsgestein, das aus dem Meer aufragt.

»Als Jugendliche bin ich oft mit Steve Parfitt rübergeschwommen, um wie wild mit ihm zu vögeln«, sagt Zoe.

»Was für ein liederliches Wesen du doch bist.« Ich suche weiter den Boden mit Blicken ab und sage ihr nicht, dass ich das längst weiß. Ihr Freund hatte damals gegenüber jedem Jungen in der Schule damit geprahlt. »Was ist denn aus Steve geworden?«

»Er leitet eine Bankfiliale in Truro.«

»Ich hab vage in Erinnerung, dass du ihn irgendwann auf den Tod nicht mehr ausstehen konntest.«

»Alte Geschichte.« Sie grinst breit. »Seitdem meine letzte Beziehung in einem Desaster endete, bin ich fertig mit Männern. Das Singledasein bekommt mir besser.«

»Jedem das Seine. Enthaltsamkeit ist nichts für mich; unter Spaß stelle ich mir was anderes vor.« Ich hebe eine Tüte vom Boden auf, aber sie ist leer; das Plastik flattert wie ein Fähnchen im Wind.

»Immer noch besser, als sich mit den Spinnern rumzuschlagen, die ich mir dauernd aussuche. Komm später im Hotel vorbei, dann erzähle ich dir, was ich stattdessen so treibe.«

Nach einer weiteren Stunde erreichen wir den nördlichsten Punkt der Insel, wo wir mit dem Rücken zu Badplace Hill stehen. Unsere Suche hat uns an allerlei Sehenswürdigkeiten vorbeigeführt, die wir Schiffsunglücken und Schmugglern zu verdanken haben. Wir haben Steine umgedreht, in Gartenschuppen nachgesehen und leere Ferienhäuser überprüft, aber auch auf dem Rückweg finden wir nichts. Als PC Nickell uns schließlich für unsere Mühe dankt und nach Hause schickt, weil das Tageslicht schwindet, ist aller Eifer aus seiner Miene verschwunden.

»Komm noch auf einen Drink mit.« Zoe zupft mich am Ärmel, bleibt dann aber abrupt stehen und schaut mich an. »Und wie wär’s, wenn du mir unterwegs erzählst, was dir Kummer macht?«

»Es gibt nichts zu erzählen.«

»Ich hab doch Augen im Kopf, Ben. Setzt die Arbeit dir so zu?«

»Nur das, was sich eh nicht ändern lässt.« Ich habe mich so daran gewöhnt, andere über meine Arbeit zu belügen, dass ich schon gar nicht mehr anders kann.

»Immer noch verschlossen wie eine Auster; du änderst dich nie.« Sie stößt mir einen Finger an die Brust. »Aber ich kenne dich, schon vergessen? Früher oder später wirst du reden müssen.«

»Lieber später, aber danke für das Angebot.«

Über ein Loch zu reden, das in dein Leben gerissen wurde, lässt es nicht verschwinden, sondern macht es nur noch größer. Zoe hakt sich bei mir unter, und wir gehen weiter.

Während wir uns von unserem Suchtrupp entfernen, bringt sie mich über das Leben im Hotel auf den neuesten Stand. Es war ein einträgliches Jahr, aber ihr Traum, eine Karriere als Sängerin zu starten, ist trotzdem immer noch außer Reichweite. Das Hotel wird bald für zwei Wochen wegen Renovierung geschlossen, bevor die Nachfrage im Frühjahr wieder sprunghaft ansteigt. In dieser Zeit will sie Kontakt zu Agenturen auf dem Festland aufnehmen und sie dazu überreden, ihr Auftritte zu verschaffen. Als Nächstes erzählt sie von dem neuen Designkonzept, das sie in den Hotelbädern ausprobieren möchte, aber als sie mir von Holzböden im Distressed-Stil und modernistischen Möbeln vorschwärmt, schalte ich ab.

»Was ist eigentlich aus diesem Anwalt geworden, mit dem du zusammen warst? Von St. Mary’s, oder?«

»Der ist mir zu sehr auf die Pelle gerückt. Schade, war ein super Koch.«

»War das sein größter Vorzug?«

Sie lacht auf. »Du bist in Gedanken immer noch beim Sex, Ben.«

Ich fühle mich sofort schuldig. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass ich jemanden foppe und mich auch von ihm necken lasse. Das Lachen aktiviert ungenutzte Muskeln und schmerzt in der Brust. Auf dem Weg zur Hell Bay fällt mir etwas ins Auge: Oben auf dem Gweal Hill steht einsam und allein eine schmale Gestalt und schaut aufs Meer hinaus. Jetzt steckt sie ein Fernglas in ihren dunklen Mantel und knipst ihre Taschenlampe aus.

»Wer ist das da oben?«

Zoe blickt schnell hoch, aber die Gestalt ist verschwunden. Ich frage mich unwillkürlich, wer an einem späten Winternachmittag aufs Meer hinausstarrt, zumal der Wind stark genug bläst, um einen umwerfen zu können.

Wie zum Gruß sind die Panoramafenster des Hotels hell erleuchtet, und ich sehe, dass sich in der Atlantikbar ungefähr ein Dutzend Gäste aufhält. Zoe geht schnell hinein, um sich zu vergewissern, dass an der Rezeption alles reibungslos läuft, denn das Hotel ist personell gerade unterbesetzt. Einige Gäste sind um einen großen Tisch gruppiert, und Angie Helyer serviert auf einem Silbertablett Drinks. Sie muss ihre Kinder auf der Farm abgesetzt haben und dann hierhergerast sein, um ihre Schicht im Service anzutreten. Es ist eine traurige Tatsache, dass die meisten Bewohner von Bryher zwei Jobs brauchen, um zu überleben. Angie kommt rasch angelaufen; sie ist zierlich wie eine Elfe und hat ein zartes Gesicht.

»Schön, dass du wieder da bist«, sagt sie, zu mir hochblickend. »Jim wollte eigentlich suchen helfen, aber einer musste auf Noah und Lily aufpassen.«

»Du siehst immer noch aus wie zwölf, Angie. Das können unmöglich deine Kinder sein.«

Sie verdreht die Augen. »Du alter Charmeur. Was möchtest du trinken?«

»Ein Bier, bitte. Aber ich kann nicht lange bleiben. Ich bin mit meinem Bruder zum Skypen verabredet.«

»Hast du schon Zoes neue Songs gehört?«

»Nein, aber sie hat sie für mich aufgehoben.«

»Such dir einen Tisch, ich spiele dir ihre CD vor. Sie wird dir gefallen.«

Zoe ist immer noch verschwunden, als die Musik leise durch die Lautsprecher dringt. Ihre Stimme – eine rauchige Version von Adele, die einen unmittelbar berührt – gefiel mir schon seit jeher, aber diese neue Melodie schlägt alles, was sie zuvor geschrieben hat. Es klingt, als hätte sie sie dem Herzschlag der Insel abgelauscht. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Granitfalten des Kliffs am Shipman Head ebenso vor mir wie den baumlosen, mit uralten Gräbern übersäten Samson Hill. Die Musik spiegelt perfekt die Stimmungen der Insel wider, die felsigen Landspitzen, die sich als Silhouetten gegen die Unendlichkeit des Himmels abheben. Sie nimmt mich so gefangen, dass ich immer noch ganz vertieft bin, als Zoe schließlich wieder auftaucht.