Nachts schwimmen - Sarah Armstrong - E-Book

Nachts schwimmen E-Book

Sarah Armstrong

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Beschreibung

Heißt lieben, immer die Wahrheit zu sagen?

Tagsüber kämpft Rachel um das Leben ihrer kranken Mutter, nachts entspannt sie sich beim Schwimmen. Eines Abends ist sie nicht allein. Auch Quinn, der Arzt ihrer Mutter, liebt es, in der Dunkelheit durchs Wasser zu gleiten. Jeden Tag fiebert Rachel nun dem Sonnenuntergang entgegen. Den Momenten, wenn sie nebeneinander ihre Bahnen ziehen, reden und sich näherkommen. Die leidenschaftliche Affäre ist unausweichlich, obwohl sie wissen, dass ihre Gefühle nicht sein dürfen. Denn Quinn ist mit Marianna verheiratet, und die wünscht sich nichts sehnlicher als ein Kind …

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Seitenzahl: 522

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Seit Jahren versuchen Quinn und Marianna ein Kind zu bekommen. Marianna kennt mittlerweile kein anderes Thema mehr, und die Ehe der beiden steckt in einer tiefen Krise. Quinn braucht Abstand und nimmt einen Job als Arzt in einer anderen Stadt an. Hier lernt er die Tochter einer Patientin kennen: Rachel. Eine Frau, die so anders ist als Marianna – bodenständig, optimistisch, frei. Zusammen mit ihr spürt Quinn wieder Leichtigkeit, spürt eine Verbindung, die ihn tief berührt. Er weiß, dass er sich entscheiden muss und ist bereit, für Rachel alles aufzugeben. Doch dann überrascht ihn Marianna mit einer Nachricht, die alles verändert …

SARAH

ARMSTRONG

nachts

schwimmen

ROMAN

Aus dem australischen Englisch

von Ute Brammertz

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

His other House bei Pan Macmillan Australia Pty Ltd,

1 Market Street, Sydney, New South Wales, Australia, 2000

Copyright © 2015 by Sarah Armstrong

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion | Anja Freckmann

Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv | Image Source, shutterstock

Satz | Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-17366-1

www.diana-verlag.de

Für Alan

TEIL 1

1

als Rachel erwachte, trommelte Regen aufs Dach, jener vertraute und trostreiche Ozean aus Lärm. Irgendwo im dunklen Haus schlug eine Tür zu, und Rachel streckte die Hand aus, um ihre Lampe anzuknipsen, aber es gab keinen Strom.

Sie tastete sich durch den dunklen Flur, ihre Finger glitten an den Wänden entlang, bis zum Zimmer ihrer Mutter, wo ein Blitz die sich bauschenden Vorhänge erleuchtete. Regen spritzte ins Zimmer, und der Teppich unter ihren Füßen war bereits feucht. Rachel schloss das klemmende Fenster.

Das Gesicht ihrer schlafenden Mutter war totenblass. Rachel hasste es, wie schwer sie sich damit tat, dass ihre Mutter zum Sterben bereit war, bereit, Rachel zurückzulassen.

»Bist du das, Darling?«

»Ja, ich bin da.« Rachel trat zum Bett, und ihre Finger berührten die knochige Schulter ihrer Mutter.

Ihre Mutter fingerte an der Nachttischlampe herum.

»Wir haben Stromausfall, Mum. Ich werde die Kerze anzünden.« Als sie das Streichholz entfachte, erschütterte ein weiterer Donnerschlag das Haus.

Sie stellte die Kerze auf die Kommode und legte sich neben ihre Mutter. War es das letzte Mal, dass sie so daliegen würden? Es war zu einer schrecklichen Angewohnheit geworden: Egal, ob sie Scrabble spielten oder sie ihrer Mutter einen Gutenachtkuss gab, immerzu dachte sie: Ist es das letzte Mal?

»Du scheinst hellwach zu sein, Mum«, meinte Rachel.

»Das bin ich nachts oft.« Ihre Mutter tätschelte Rachels Arm. »Dann sehe ich Scotty.«

Rachels Herz schlug schneller. »Aha.« Am liebsten hätte sie gefragt, ob er glücklich aussehe.

»Erinnerst du dich noch an die Nacht, als der Wagen auf dem Dorrigo Mountain liegen geblieben ist?«

»Ja.« Jeden Tag stieß ihre Mutter auf eine Erinnerung, nicht selten Ereignisse, an die sich Rachel kaum erinnern konnte: das Kaninchenjunge, das sie vor einem Zuckerrohrbrand gerettet hatten, oder wie ihre Tante sich bei einem Kirchenpicknick unten am Fluss den Knöchel gebrochen hatte. Irgendwann demnächst würde ihre Mutter gewiss den Tag ansprechen, an dem Scotty gestorben war.

Ihre Mum richtete den Kragen ihres Nachthemds. »Bei einem Unwetter fühlt sich jede wasserdichte Luftkammer sicher an, selbst ein Auto.«

Rachels Dad war die sich windende Bergstraße hinaufgegangen, in der regnerischen Dunkelheit, auf der Suche nacheinem Telefon, um den Abschleppdienst zu rufen. Rachel und Scotty und ihre Mum warteten im Auto, wo sie eine immer noch warme Lasagne direkt aus der Ofenform aßen, und der Regen zu laut auf das Autodach trommelte, als dass sie sich hätten unterhalten können. Die Finger ihres Bruders hatten kurz ihre berührt, und er hatte sie mit dem Ellbogen angestoßen, als sie ein Stück geschmolzenen Käse oben von der Lasagne schälte.

»Scotty wollte eigentlich mit Dad mitgehen«, sagte Rachel.

»Ja. Ich weiß nicht, warum ich solche Angst davor hatte, dass er bei Regen und Wind draußen ist.« Der Tremor im Arm ihrer Mutter setzte ein. »Schon wieder.«

Rachel legte die Hand auf den kühlen Ellbogen ihrer Mutter. Draußen prasselte der Regen nieder, und sie stellte sich vor, wie die ehemals undichte Stelle in der Küche wieder aufging und sich das Wasser einen Weg durch all das Silikon bahnte, das ihr Dad unter das Wellblechdach gepumpt hatte.

Emily räusperte sich, um den Regen zu übertönen. »Ich fürchte, dass niemand mehr da sein wird, der sich an meinen Jungen erinnert.«

»Eines Tages wird niemand mehr da sein, der sich an irgendwen von uns erinnert.«

Die Stimme ihrer Mutter bebte. »Aber ich möchte, dass man sich während der Zeit, die er gelebt hätte, an ihn erinnert.«

»Ich werde mich an ihn erinnern.« Über ihnen klatschten Zweige und kleine Äste auf das Dach.

»Woran erinnerst du dich?«

»Oh … seine Haare und wie er gerannt ist.« Im Kerzenschein bewegte Rachel die Arme, um seinen langbeinigen Gang anzudeuten. Für seine acht Jahre war er groß gewesen. Natürlich wusste ihre Mutter, dass Rachel sich vor allem daran erinnerte, wie er tot ausgesehen hatte. Rachel hatte die Hoffnung aufgegeben, dass dieses Bild je verblassen würde.

Die Nachttischlampe ging flackernd an, zu grell. Rachel griff über Emily hinweg und schaltete sie aus.

»Seine Kleider und seine Sachen sind in der Garage«, sagte ihre Mutter. »Wir sollten sie weggeben.«

»Du hast seine Kleider behalten?« Rachel versuchte, sich ihre Bestürzung nicht anhören zu lassen.

»Kleider. Spielzeug. Bücher.« Emily sah sie nicht an.

»Okay. Das können wir machen.« Der Regen ließ allmählich nach. »Möchtest du eine frische Unterhose anziehen?« Ihre Mutter nannte sie Windeln, aber Rachel brachte es nicht über sich.

»Nein danke, Darling.«

Die Geräuschkulisse aus Regen und Wind wurde von einem lauten Krachen aus dem Garten übertönt. Rachel stützte sich auf die Ellbogen, um aus dem Fenster sehen zu können, und tatsächlich, einen Augenblick später zeigte ein Lichtblitz, dass das Schuppendach fort war. Jetzt würde der Regen sich über die Regale ihres Vaters voller verstaubter Werkzeuge und halb leerer Farbeimer ergießen.

»Was war das?«, fragte ihre Mutter.

»Das Schuppendach.«

»Oh.«

Rachel half ihrer Mutter, sich umzudrehen, stand dann auf und schüttelte die Decke aus, die sich aufblähte, ehe sie sich wieder legte. Ihre Stimme stockte. »Wie alt ist Scotty, wenn du ihn siehst, Mum?«

»Er ist acht. Wie damals.«

»Und sieht er glücklich aus?«

Ihre Mutter hielt inne. »Ja. Und nun geh schon, ab ins Bett mit dir.« Ihre Stimme war fester, als sie es in letzter Zeit gewesen war, ähnelte der Stimme, an die Rachel sich von früher erinnerte.

»Gute Nacht.« Rachel blies die Kerze aus.

»Gute Nacht, Darling.«

Rachels Schlafzimmer lag hell erleuchtet da, denn aus dem Haus des Arztes nebenan strömte Licht. Nach dem Unwetter waren die Menschen in der ganzen Stadt wach. Rachel zog die Vorhänge zu, um das Licht abzuschirmen, und legte sich hin. Sie wusste, dass ihre Mum jeden Tag an Scotty und an Rachels Vater dachte. Wer würde an Rachel denken, wenn sie tot war? Dachte Karl jetzt an sie? Es war erstaunlich, wie schnell jemand, mit dem man nicht blutsverwandt war, aus dem eigenen Leben entschwand. Sie war vier Jahre lang neben Karl aufgewacht, und jetzt dachte sie tagelang nicht an ihn. Würde sich am Ende doch immer nur die Familie an einen erinnern?

Die Luft hatte sich abgekühlt, und Rachel zog die Decke hoch. Als sie endlich die Augen schloss, sah sie ihren Vater, wie er sie in der Nacht, in der Scotty gestorben war, zu Bett gebracht hatte. Er hatte auf dem Boden gekniet und ihr über die Haare gestreichelt, während sich die Stille im Haus drückend auf sie legte. Er hatte es nicht ausgesprochen, aber Rachel wusste, dass ihr Anblick für ihre Mutter zu schrecklich gewesen wäre.

Im Garten herrschte Chaos. Im fahlen Sonnenschein stieg Rachel barfuß über abgebrochene Zweige und den klebrigen Teppich aus feuchtem Laub.

Sie betrachtete gerade den dachlosen Schuppen, als der neue Arzt ihrer Mutter zwischen den Büschen am Zaun auftauchte. Er trug ein zerknautschtes T-Shirt und Jeans und hielt eine Tasse in den Händen. »Guten Morgen!«, rief er.

Sie wickelte ihren Baumwollmorgenmantel ein wenig fester um sich.

»Morgen! Wie ist es Ihnen da drüben ergangen?«

»Bloß eine überflutete Waschküche. Aber ich habe da etwas, das vermutlich Ihnen gehört.«

»Etwa ein kleines rotes Dach?«

»Ganz genau.« Er grinste.

Seufzend ging sie auf den Zaun zu. Ja, da lag es, ordentlich in der Mitte seines Rasens platziert. »Ach, Mist.« Sie schwang die Beine über den Zaun und schob sich durch die nassen Äste.

Jetzt standen sie gemeinsam da und betrachten das Dach und die Furchen im Rasen, wo es gelandet war. Seine schwarzen Badeschlappen versanken im schlammigen Gras, und sie lächelte über seine ordentlich geschnittenen Zehennägel und die bleichen Füße. Als er in der vergangenen Woche zum ersten Mal ihre Mutter besucht hatte, an einem stickig heißen Sommertag, hatte er eine Krawatte und eine wollene Anzughose getragen.

Sie bückte sich und hob eine Ecke des Daches an. »Dad hat es vor Jahren zusammengezimmert. Keine Ahnung, warum es ausgerechnet gestern Nacht auf einmal davongeflogen ist.«

Mit dem Badeschlappen tippte er an ein Rasenstück, das vom Dach aufgeworfen worden war. »Allerdings ein ziemlich kurzer Flug«, meinte er. »Wie ein Jungvogel, der das Nest zu früh verlassen hat.«

»Genau.« Sie dachte an die verwahrlosten jungen Käuze, die sie früher immer im Park gefunden hatte. »Passen Sie auf Ihren Fuß auf.« Sie ließ das Dach wieder auf das Gras sinken. »Würden Sie mir helfen, es über den Zaun zu heben?«

Er stellte seine Tasse auf dem zementierten Weg ab und ging in die Hocke, um das Dach anzupacken. Ein Zweig hatte sich in seinen dunklen Locken verfangen, und sie fragte sich, ob sie die Hand ausstrecken und ihn herausholen sollte.

Er sah zu ihr auf. »Ich frage mich, wie Jungvögel sich zu ihrem ersten Flug überwinden können, obwohl sie noch nie zuvor geflogen sind?«

»Sie sind wohl im Gegensatz zu uns Menschen nicht darauf programmiert, Angst davor zu haben, sich ins Nichts zu stürzen.« Sie bückte sich ebenfalls.

»Wohl nicht.« Er lächelte. »Fertig? Eins, zwei, drei …«

Sie überquerten das klatschnasse Gras und ließen das Dach über den Drahtzaun gleiten. Eine Eidechse streckte ihnen die blaue Zunge heraus und huschte davon.

Er lehnte sich an den Zaun und betrachtete den Garten ihrer Mum. »Ist das der einzige Schaden?«

»Ja. Das Haus hat schon Hunderte solcher Unwetter überstanden, wie sie von Queensland herüberziehen.«

»Sind Sie hier aufgewachsen?« Sein Blick wanderte über das weiße Holzhaus.

»Bin ich.« Die aufmerksame Art, mit der er es betrachtete, berührte sie unwillkürlich. Die Gestalt des Hauses und die Anordnung seiner Türen und Fenster waren ihr so vertraut wie ihr eigenes Gesicht. Das Haus hatte sie gehalten, als ihre Mutter es nicht tun wollte.

»Ich sollte Ihnen sagen, dass ich abends von meinem Schlafzimmer aus direkt in Ihr Haus sehen kann«, sagte sie. »Ich kann alles sehen, was Sie im Wohnzimmer und in der Küche machen.«

»Wirklich?« Er lächelte. »Tja, es sind sehr große Fenster.« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, fand den Zweig und schleuderte ihn fort. »Allerdings ist es nicht mein Haus.«

»Ich weiß. Woher kennen Sie Bill?«

»Wir haben zusammen studiert.« Er verschränkte die Arme und lächelte ihr wieder zu.

Seine Patientinnen, so wie ihre Tante Beryl, fanden ihn bestimmt attraktiv. Dieser knackige Dr. Davidson, würde Beryl sagen. Rachels Typ war er nicht. Er war zu knabenhaft, sah zu weich aus, hatte allerdings eine gewinnende Ernsthaftigkeit an sich.

»Sie können mich vielleicht sehen«, sagte er. »Aber ich kann Sie hören.«

»Oh, daran sind wir gewöhnt«, erwiderte sie. »Früher habe ich abends im Bett gelegen und Maeve und Linky belauscht, denen das Haus vor Bill gehörte. Wenn die beiden im Wohnzimmer waren, konnte ich jedes einzelne Wort verstehen.«

»Worüber haben sie gesprochen?«

Sie sah den großen, dünnen Linky vor sich, der beim Unkrautjäten einen Herzinfarkt erlitten und tot umgefallen war, und Maeve, die gleich nach der Beerdigung zu ihrer Tochter nach Casino gezogen war. »Über ihre Kinder. Den Garten. Sie haben sich ein bisschen über meine Eltern unterhalten.« Sie schwang ihre Beine wieder über den Zaun und trat zu dem kleinen, vernachlässigten Gemüsebeet ihrer Mutter neben der externen Waschküche. Der Sturm hatte den Mangold zerfetzt. »Sie fanden, dass wir Kinder allzu sehr das Sagen hatten«, antwortete sie. »Und mit der Zeit habe ich dasselbe gedacht.«

»Ob die beiden wussten, dass Sie sie hören konnten?«

»Ich glaube nicht.« Ihr gefiel die Vorstellung nicht, dass Linky und Maeve diese Dinge in der Absicht gesagt hatten, dass Rachel sie mitanhörte. »Möchten Sie ein paar Limetten?«

»Sicher. Wenn Sie welche übrig haben.« Er kletterte über den Zaun und blieb neben ihr stehen, während sie fünf glänzende Früchte vom Baum pflückte und ihm reichte. Selbst in diesem vernachlässigten Zustand bot der Garten ihrer Mutter Zitrusfrüchte, Bohnen, Kräuter, Maracujas und blassgrüne Chayoten, die am rückwärtigen Zaun entlangwucherten.

»Das reicht völlig«, sagte er. »Ich werde sie heute Abend mit nach Hause nehmen.« Er blickte auf die Limetten in seinen hohlen Händen. »Wegen unserer Unterhaltung neulich über die Behandlung Ihrer Mutter möchte ich Ihnen noch sagen, dass wir, Sie und ich, wirklich dasselbe Ziel verfolgen. Es geht darum, Ihrer Mutter die bestmögliche Lebensqualität zu verschaffen.«

»Ich weiß.« Sie lächelte ihn an. »Sie müssen sich keine Sorgen machen, dass Sie mich kränken könnten. Ich bin praktisch unkränkbar.«

»Unkränkbar?« Er zog lächelnd die Augenbrauen hoch. »Das werde ich mir merken.«

Vielleicht hatte es ihn gekränkt, als sie das komplizierte Arzneiregime, das er ihrer Mutter verschrieben hatte, infrage stellte. »Aber ich werde Ihnen verraten, wer es doch geschafft hat, mich wütend zu machen … Als ich noch in Sydney war, habe ich bei Jim Stanton angerufen, und er hat mit keinem Wort erwähnt, dass sich Mums Zustand derart verschlechtert hatte.« Sie blinzelte Tränen zurück. »Mir hat sie die ganze Zeit gesagt, es gehe ihr gut, bis schließlich meine Tante angerufen und sich erkundigt hat, warum ich nicht längst da bin.«

Er verzog das Gesicht. »Tja, genau genommen ist es eben Sache Ihrer Mutter, und nicht des Hausarztes, anderen Menschen von ihrem Gesundheitszustand zu erzählen.«

»Ach, kommen Sie schon! Er hätte mir gegenüber wenigstens etwas andeuten können. Er macht sich einfach gern wichtig.« Warum wurde sie diesem Mann gegenüber eigentlich immer bissig? Auch ihr Gespräch über die Medikamente ihrer Mutter war zum Ende hin unangenehm gereizt gewesen. Sie bückte sich und pflückte einen Zweig Petersilie. »Möchten Sie davon auch etwas?«

»Nein, danke. Sie wissen doch, dass ich bloß zwei Tage die Woche hier in der Stadt bin? Trotzdem, wenn Sie sich auch nur die geringsten Sorgen machen, rufen Sie mich unbedingt jederzeit in Brisbane an. Und sobald wir die Dosierung richtig eingestellt haben, werde ich die Behandlung wieder Jim überlassen.« Er nickte. »Ich muss mich jetzt für die Arbeit fertig machen. Geben Sie mir Bescheid, falls Sie später bei dem Dach noch Hilfe brauchen. Ich kann mit anpacken, ehe ich nach Hause fahre.«

»Sind Sie außer Arzt auch Heimwerker?«

»Tja … nein.« Er zuckte die Schultern. »Aber es sieht aus, als bräuchte man dafür zwei Paar Hände.«

»Tut mir leid … Das ist falsch rübergekommen … Ich wollte damit nicht sagen …« Sie warf den Petersilienzweig fort.

»Ist schon okay.« Er lächelte, ging aber bereits rückwärts.

»Danke für das Angebot«, sagte sie. »Das ist nett von Ihnen. Aber ich werde meinen Cousin anrufen. Er arbeitet auf dem Bau.«

»Sie haben Familie in der Stadt?« Er ließ die Limetten in die kleine Hängematte fallen, die er mit seinem T-Shirt bildete, und sie erhaschte einen Blick auf seinen flachen Bauch und einen Pfeil aus dunklen Haaren, der im Bund seiner Jeans verschwand.

»O ja!« Sie lachte. »Ich bin mit der halben Stadt verwandt. Und mit über der Hälfte Ihrer Patienten vermutlich auch.«

2

quinn drückte den Blasebalg des Blutdruckmessgeräts, aber die Manschette um den blassen Arm der alten Frau ließ sich nicht aufpumpen. Er drehte an dem Ventil herum und versuchte es erneut.

»Es tut mir leid, Mrs. Anderson.« Er öffnete den Klettverschluss der Manschette. »Würden Sie sich noch einen Augenblick gedulden?« Er lächelte. »Ich fürchte, ich mache keinen sonderlich guten Eindruck bei unserer ersten Begegnung, nicht wahr?«

Die alte Frau erwiderte sein Lächeln, ihre Augen waren wässrig. Bei seiner Ankunft am Morgen hatte sie auf einem der Plastikstühle in dem spartanisch eingerichteten Wartezimmer gesessen, zwanzig Minuten vor ihrem Termin. »Das macht nichts, Herr Doktor. Wir sind einfach nur so dankbar, Sie in der Stadt zu haben, Sie machen sich ja keine Vorstellungen.« Mit knotigen Fingern richtete sie den Ärmel ihres Kleides.

Eine Sprechstundenhilfe telefonierte, und die andere blickte von ihrem Computer auf.

»Das Blutdruckmessgerät in meinem Untersuchungszimmer funktioniert nicht, Carol. Wissen Sie, ob es ein Ersatzgerät gibt?«

Sie runzelte die Stirn. »Nicht, dass ich wüsste. Sie werden sich eines ausleihen müssen. Versuchen Sie es bei Jim.« Sie sah an Quinn vorbei zu jemandem, der gerade durch die Eingangstür kam. »Hi, Lewis. Nehmen Sie Platz. Michelle ist pünktlich, es wird also nicht lange dauern.«

Als Quinn das Wartezimmer durchquerte, um an Jims Tür zu klopfen, blickten zwei nebeneinandersitzende Frauen von ihren Zeitschriften auf. Er lächelte ihnen zu und bemerkte im selben Moment, dass die jüngere von beiden hochschwanger war. Es schnürte ihm die Kehle zu.

Jim riss die Tür auf und lächelte breit. »Ja?«

»Verzeihen Sie die Störung. Das Blutdruckmessgerät in meinem Zimmer funktioniert einfach nicht. Kann ich mir kurz Ihres ausleihen?«

»Natürlich.« Jim Stanton war Ende sechzig, ein massiger Mann, der Kleidung aus Moleskin und Stiefel von R. M. Williams trug und wie ein Viehhalter aus dem Westen aussah. Kennengelernt hatten sie sich, als Quinn übers Wochenende Bill besucht hatte. Jim hatte gleich angefangen, Quinn zu bearbeiten, er möge doch ein, zwei Tage die Woche in Corimbi arbeiten. »Manche Menschen müssen drei Stunden lang fahren, um zu einem Spezialisten wie Ihnen zu kommen«, hatte er gesagt. »Sie würden diesen Menschen einen echten Dienst erweisen, Quinn.«

Es hatte Quinn überrascht, dass Marianna einverstanden gewesen war, dass er jede Woche für zwei Tage fort sein würde. Jetzt, nach wenigen Wochen in seinem neuen Job, fragte er sich allerdings, ob sie beide die Veränderung möglicherweise aus den falschen Gründen befürwortet hatten. An seinem ersten Abend in der Stadt hatte er Bills leeres Haus betreten und sich im Dunkeln auf das Sofa gesetzt, schockiert, wie erleichtert er war, eine Nacht für sich allein zu haben. Zu Hause schwang Mariannas Wunsch, so schnell wie möglich wieder schwanger zu werden, bei allem mit, was sie tat, bei jeder Entscheidung, die sie traf, jedem Gespräch, das sie führten. Doch er fürchtete sich vor einer erneuten Schwangerschaft, da er sicher war, dass letztlich nur eine weitere Fehlgeburt folgen würde.

Es war noch nicht lange her, da hatte Quinn neben Marianna gestanden, während sie auf Andrews Untersuchungstisch lag. Als Andrew die Ultraschallsonde tiefer schob und einen anderen Winkel ausprobierte, drückte Quinn ihre Hand und sah, wie Schweiß auf Andrews Stirn trat. Kein Herzschlag, wieder nicht.

Jim rollte das Blutdruckmessgerät über den Teppich auf Quinn zu. »Das hier wird heute hin- und herhüpfen müssen. Früher hatten wir ein Ersatzgerät, aber das ist verschwunden.«

Die alte Frau saß geduldig da, den Kopf geneigt, die Hände im Schoß gefaltet.

»Mrs. Anderson, ich bin wieder da. Versuchen wir es noch einmal.«

Freudestrahlend lächelte sie ihn von unten an.

Vier Patienten später befand er sich gerade in der Kleinküche und durchsuchte die Schränke nach einer Tasse, als Jim hereinkam und einen Plastikbehälter aus dem Kühlschrank holte. »Haben Sie sich gut in Bills Haus eingelebt?«

»Ja, danke. Es ist sehr gemütlich.«

»Wie geht es ihm in Moresby? Das da oben ist der Wilde Westen.« Der ältere Arzt öffnete den Deckel seines Behälters und spähte hinein.

»Er ist noch nicht dort. Er ist in Melbourne, um seinen Dad zu besuchen, bevor er aufbricht. Und ich glaube, dass er tatsächlich in Lae sein wird.«

»Oh, noch schlimmer. Ich schätze mal, dass er es ein halbes Jahr mit dem Pöbel aushält, und dann seine alte Stelle zurückhaben will.«

Quinn lächelte. »Fünfzig Mäuse, dass er es länger als ein Jahr aushält.«

»Sagen wir hundert, und die Wette gilt.« Jims Handschlag war beinahe zu fest.

Quinn stieß unter der Spüle auf eine weiße Tasse der Firma Combantrin. »Alice Mobray ist vorhin da gewesen. Wie lange ist sie schon Ihre Patientin?«

»Von Geburt an.« Jim stellte seinen Plastikbehälter in die Mikrowelle.

»Ich habe ein komisches Gefühl bei ihr.« Noch beim Sprechen wünschte Quinn, er hätte nichts derart Verschwommenes von sich gegeben.

»Ach ja? Was für ein komisches Gefühl denn?« Die Tasten an der Mikrowelle piepten blechern.

»Tja … Sie werden mir zustimmen, dass sie sich recht ungewöhnlich verhält. Ist sie jemals von einem Psychiater untersucht worden?« Quinn erinnerte sich an das starre Lächeln und die ausdruckslose Stimme der jungen Frau. Sie hatte sehr gerade auf dem Stuhl gesessen, ihr rotes T-Shirt hatte über den breiten Schultern gespannt.

»Sie ist nicht geisteskrank, Quinn.«

»Hat sie sich schon immer so benommen?«

»Ja. Ihre Mum ist sozial genauso unbeholfen.« Jim verschränkte die muskulösen Arme. »Alice hat Probleme mit neuen Menschen, und Sie sind neu.«

»Sie haben sie also entbunden?«

»Ja. Ich habe die Hälfte der Stadtbewohner unter vierzig entbunden. Aber jetzt ist das Gott sei Dank nicht mehr mein Job.« Er nahm eine Plastiktüte von der Bank und hielt sie Quinn hin. »Pennys Anzac-Kekse. Möchten Sie einen?«

»Danke.« Quinn nahm sich einen Keks und goss kochendes Wasser über seinen Teebeutel. Er fragte sich, ob Jim Stanton in den Supermarkt oder ins Pub gehen konnte, ohne jemandem über den Weg zu laufen, bei dessen Geburt er zugegen gewesen war. Und er dachte an seinen Vater, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, über alles auf der Insel, auf der Quinn aufgewachsen war, im Bilde zu sein. Quinns Mutter nannte ihn früher immer den »Feudalherren«, allerdings nur hinter seinem Rücken.

Quinn stellte den Tetrapak Milch zurück in die Kühlschranktür. »Und Emily Gordon … die Tochter scheint sich gut um sie zu kümmern.«

»Bestimmt. Aber Rachel wird sich aus dem Staub machen, sobald Emily stirbt. Sie wird verkaufen, und dann werden Sie neue Nachbarn bekommen. Rachel konnte gar nicht schnell genug aus der Stadt wegkommen, nachdem sie mit der Highschool fertig war.« Er bückte sich, um durch die Tür der Mikrowelle zu sehen. »Sie ist eines meiner ersten Babys gewesen.« Die Mikrowelle summte weiter, und seine Stimme war leise. »Ein Albtraum für einen jungen Arzt: dreifache Nabelschnurumschlingung, Atemnot, retinierte Plazenta, postnatale Blutungen …« Er richtete sich mit einer Grimasse auf. »Ein verfluchter Albtraum.«

»Mir scheint, Rachel war nicht recht klar, wie krank ihre Mutter ist.«

Jim legte den Kopf schräg, als versuchte er, seinen neuen Kollegen einzuschätzen. Quinn war daran gewöhnt, dass ältere Ärzte ihn nie ganz für voll nahmen.

»Es gab reichlich Menschen, die es ihr hätten sagen können, Quinn. Wenn ihre Mutter und ihre Tanten es ihr nicht erzählen wollten, dann hatte ich auch kein Recht dazu.«

»Ich frage mich, warum ihre Mutter nicht wollte, dass sie Bescheid wusste.«

»Sie wollte ihr nicht zur Last fallen. Sie wissen ja, wie das ist.« Die Kleinküche füllte sich mit dem Geruch nach aufgewärmtem Fleisch. »Hat sich Rachel über mich beschwert?«, fragte Jim.

Quinn schüttelte den Kopf und dachte an den ersten Blick, den er am Morgen auf sie erhascht hatte, barfuß in ihrem grünen Bademantel, mit verschränkten Armen, während sie lächelnd den dachlosen Schuppen betrachtete. »Nein, ich glaube, sie wünscht sich nur, sie wäre früher hergekommen.«

»In einer Kleinstadt muss man es mit der Schweigepflicht ganz genau nehmen.« Jim schüttelte den Kopf. »Nein. Rachel hat ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Mutter die letzten zwanzig Jahre vernachlässigt hat, das ist alles.« Er öffnete die Mikrowelle und zog die Schüssel heraus. »Und Alice hat keine psychischen Probleme, Quinn. Sie ist rundum glücklich. Um Himmels willen, stiften Sie keinen Ärger. Kümmern Sie sich einfach um ihre Schilddrüse.«

»Okay, okay. Aber ich frage mich trotzdem, ob es nicht helfen würde, wenn Sie sie ohne großes Aufhebens zu einem Beratungsgespräch bei einem guten Psychiater überweisen würden.« Quinn löffelte Zucker in seinen Tee.

»Ich werde darüber nachdenken.« Jim Stanton trat in den Korridor und drehte sich dann um. »Und ich freue mich schon darauf, Sie in einem Jahr um hundert Dollar zu erleichtern.«

Donner grollte, als Quinn den Parkplatz überquerte und die breite Hauptstraße entlangging. Der Regen setzte ein – warme, schwere Tropfen. Eine Frau eilte vorbei, Plastiktüten in beiden Händen, gefolgt von zwei Mädchen in Schuluniform.

Er tauchte in einen Schwall kühler Bierluft ein, der aus dem Pub drang, machte sich aber im selben Moment klar, dass er vermutlich nicht mehr in der Lage wäre aufzustehen, wenn er sich auf ein Bier hinsetzte. Seine Arbeit mit den vielen neuen Patienten war interessant, und es reizte ihn, mögliche Diagnosen zu durchforsten, aber er war anschließend fix und fertig.

Er trat von der schützenden Markise des Pubs hinaus in den Regen und bog in eine Seitenstraße ein, wo sich Papageien in den Palmen zankten und eine hochschwangere Frau einen Regenschirm über ein Kleinkind hielt, das den Gartenweg zu einem Haus entlangsteuerte. Quinn beobachtete,wie Mutter und Kind die Eingangsstufen nahmen, als könnte sein Blick sie sicher nach drinnen bringen.

Als er und Marianna vor vier Jahren angefangen hatten zu versuchen, ein Kind zu bekommen – noch vor der Phase der künstlichen Befruchtung –, hatte er manchmal ein dunkelhaariges Mädchen vor seinem geistigen Auge gesehen. Es war etwa zwei oder drei Jahre alt, mit strahlenden Augen wie Marianna. Er hatte Marianna davon erzählt, und früher hatten sie öfter lächelnd von ihrem braunhaarigen Mädchen gesprochen. Doch seit der zweiten Fehlgeburt hatten sie das Mädchen nicht mehr erwähnt, und es war ein Jahr her, dass er es gesehen hatte.

Die Schwangere rief zu ihm herüber. »Kann ich Ihnen helfen?« Er hatte gar nicht gemerkt, dass er stehen geblieben war und sie anstarrte.

Er hob die Hand. »Tut mir leid. Alles in Ordnung.«

Sie führte ihr Kind ins Haus, und Quinn ging weiter die Straße entlang. Es goss jetzt in Strömen, und sein Hemd klebte bereits an der Haut. Während seiner Zeit als Assistenzarzt hatte er überall Krankheit gesehen, nicht nur im Krankenhaus, sondern auch bei jedem x-beliebigen Passanten auf der Straße. Damals hatte er regelmäßig die Hand auf seine Brust pressen und sich ins Gedächtnis rufen müssen, dass ein Herz trotz gewaltiger Widrigkeiten weiterschlug und seinen elektrischen Impuls immer und immer wieder abfeuerte. Es war die einzige Methode gewesen, um seine Ängste im Zaum zu halten: an all die Milliarden Herzen auf der ganzen Welt zu denken, die unverwüstlich, kräftig und wacker schlugen.

Aber jetzt fehlte ihm eine solche Methode, um mit seiner Angst umzugehen; Angst, Marianna zu sagen, dass er mit der künstlichen Befruchtung aufhören wollte. Es gab kein einfaches, beruhigendes Bild, das er heraufbeschwören konnte. Er machte einen Schritt über eine Pfütze, und sein Herz flatterte, während er sich vorstellte, wie er seiner Frau sagte, dass er eine weitere Fehlgeburt einfach nicht ertragen würde und dass er aufhören wollte zu versuchen, ein Kind zu bekommen.

3

marianna erwachte, als die Haustür einrastete und er leise den Korridor entlangkam. Sie hörte, wie er seine Tasche im Arbeitszimmer fallen ließ, und hoffte, dass er gleich ins Schlafzimmer käme, aber er ging an der offenen Tür vorüber.

Sie drehte sich auf die Seite, und Traurigkeit durchströmte sie und legte sich über alles. Selbst gewöhnliche Laute bekamen einen hohlen, verzweifelten Klang: ein vorbeifahrendes Auto, die tropfenden Bäume, Quinn, der im Bad Wasser laufen ließ. Manchmal war es ein kleines und hartes Etwas, das in ihrer Kehle steckte, manchmal war es Galle, die sie durchflutete und alles sauer werden ließ, ihre ganze Chemie veränderte, bis sie in die Arbeit fuhr und dabei wusste, dass sie völlig fassungslos war und vergessen hatte, wie man normal mit anderen umging.

Endlich stieg Quinn ins Bett. Er roch nach Zahnpasta und Seife, seine Brust war warm an ihrem Rücken. Er küsste ihre Schulter und legte die Hand an ihre Brust. »Hallo. Tut mir leid, dass ich so spät komme.«

Sie drehte sich zu ihm um und schlang ein Bein über seine Hüfte.

Sein Atem war warm und pfefferminzig, und er knetete sanft ihren Oberschenkel. »Ihr hattet hier wohl nicht viel Wind?«

»Nicht viel«, flüsterte sie.

»Kurz nach unserem Telefonat lag wieder ein Baum quer über der Straße, unmittelbar vor der Highway-Auffahrt.« Er strich mit dem Daumen ihr Bein hinab.

Sie wollte, dass er etwas über das verlorene Baby sagte. Ihr gemeinsames verlorenes Baby.

»Die armen Kerle vom State Emergency Service waren draußen im Regen mit Kettensägen am Werk …«

Sie griff nach seinem warmen Schwanz. Er schwoll in ihrer Hand an, und Quinn drückte sich an sie.

Er küsste sie und wich dann zurück. »Ist dir danach? Ich meine …«

Sie küsste ihn ungestüm, bis er sich auf sie schwang und das vertraute Gewicht seines langen Körpers sie in die Matratze drückte. Wenn er so auf ihr lag, spürte sie endlich den Umriss ihres eigenen Körpers.

Ihre Geräusche beim Sex waren heftig, wie das Klatschen eines Hiebes oder einer Ohrfeige. Als sie später unter ihm lag und sein Herz an ihr hämmerte, stellte sie sich Millionen Spermien vor, die hektisch in ihr hin und her schwammen, gegen die Schwerkraft anschwammen, blind durch ihre abweisende Gebärmutter schwammen.

4

quinn beobachtete sie im Schlaf. Sie lag mit dem Gesicht zu ihm auf der Seite, eine Hand unter dem Kopfkissen. Ihre symmetrischen Gesichtszüge verliehen ihr auf wundersame Weise eine unglaubliche Schönheit. Wenn er sich nur auf ihre Nase oder ihren Mund konzentrierte, kam sie ihm überhaupt nicht vertraut vor. Isoliert betrachtet, könnten diese weichen blassen Lippen einer Fremden gehören.

Er lag schon seit über einer Stunde wach im Bett und versuchte, wieder einzuschlafen. Doch nun, da demnächst die Sonne aufgehen würde, konnte er genauso gut aufstehen. Er streckte die Hand aus und strich ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie rührte sich nicht.

Er würde es ihr heute Morgen sagen, beim Frühstück.

Er ging zum Fenster und blickte auf den blätterübersäten Garten vor dem Haus, in dem ein verhedderter Gartenschlauch auf dem Rasen lag. Im Süden spiegelte sich die Sonne in gläsernen Wolkenkratzern, wo ein Embryologe in weißem Kittel vor vier Monaten wieder einmal mit einer Pipette eine von Quinns Spermien aufgesogen und dann in eine Eizelle von Marianna injiziert hatte. Wie entschied der Embryologe, welche der Tausenden zappelnden Spermien er auswählen sollte? Es war beinahe so zufällig wie bei der natürlichen Empfängnis.

Quinn fand die Zufälligkeit von Leben und Tod beruhigend. So vieles lag außerhalb der menschlichen Kontrolle. Dinge gingen einfach den Bach runter. Manchmal sogar immer wieder. Aber seine Patienten wollten, dass Quinn wusste, warum das geschah. Sie wollten ihn nicht bezahlen, um dahinterzukommen, dass er sich nicht ganz sicher war, warum sie Schmerzen hatten oder warum sie an irgendeiner unspezifischen Krankheit litten.

Er zog sich Shorts an und holte seinen alten Fotoapparat aus dem Arbeitszimmer. Von einem feuchten Rattanstuhl auf der Veranda aus beobachtete er eine Frau, die die von Bäumen gesäumte Straße entlangging, während ein kleiner Hund an der Leine neben ihr hertrottete.

Wochenlang hatte Quinn sich vorgestellt, wie sein jüngstes Baby heranwuchs und sich entwickelte, während es in Wirklichkeit längst tot gewesen war. Er schloss die Augen vor einer jähen Erinnerung: die Fahrt zu einem Babygeschäft in Stafford an einem sonnigen Samstagmorgen, leichten Herzens, um ein weißes Kinderholzbettchen abzuholen. Marianna hatte endlich das zweite Schwangerschaftsdrittel erreicht, also war sie bereit, das Besorgen von Babysachen in Angriff zu nehmen. Aber während Quinn und die Verkäuferin den Flachkarton fröhlich in den Kofferraum des Subarus luden, zerfiel ihr totes Baby gerade, Zelle für Zelle. Er hatte sich die Ultraschallbilder in dem Umschlag auf seinem Schreibtisch nicht angesehen. Ihm graute nicht vor dem Anblick des verschwommenen Kleckses, das ihr totes Baby darstellte. Sondern vor dem ihrer Gebärmutter. Dieser perfekten, hoffnungsvollen Form.

Ihre vertrauten Schritte kamen durch den Korridor, und sie erschien in der Tür, nur in einem Slip, die langen, dunklen Haare zerzaust. Sie lehnte sich mit einer Schulter an den Türrahmen und lächelte. »Da bist du ja.«

»Hallo.« Seine Stimme klang krächzend, und er räusperte sich. »Hallo.«

Sie kam auf ihn zu und küsste ihn auf den Kopf. Ihre Haut war warm, und ihr haftete der leichte Geruch nach Sex an. Sie streckte die Arme in die Höhe, ihre Brüste waren blass und schwer. »Sonne«, meinte sie gähnend. »Waschtag.«

Er legte den Fotoapparat in den Schoß, zog sie an sich und drückte das Gesicht an ihren warmen Bauch. Bei dem Gedanken, wie sie reagieren würde, wenn er ihr sagte, dass er aufhören wollte zu versuchen, ein Baby zu bekommen, schlug sein Herz rasend schnell. Sie strich ihm über die Haare und trat zurück. »Ich mache eine Maschine an. Hast du Schmutzwäsche in der Tasche?«

»Ich hole sie gleich.«

Die Labradorhündin klackerte um die Veranda und sackte zu ihren Füßen zusammen. Ihr wedelnder Schwanz klopfte auf die Dielenbretter. Marianna streckte einen Fuß aus, um einen kleinen Ast in den Garten zu schubsen. »Du hast im Schlaf geredet«, sagte sie.

»Was habe ich gesagt?«

»Ich habe es nicht verstanden. Ich habe gedacht, es könnte vielleicht Kiribatisch sein.«

Er konnte sich an keinen Traum erinnern. Er erinnerte sich lediglich daran, irgendwann in der Nacht aufgewacht zu sein, als sie ihre Beine zwischen seinen hervorzog.

»Ich habe versucht, dir eine Frage zu stellen.« Sie lächelte. »Aber du hast dich von mir weggerollt, als wärst du sauer.« Sie drehte sich um, wollte ins Haus zurückgehen.

»Was hast du mich gefragt?«

Sie lächelte wieder. »Was fotografierst du?«

Er hob den Fotoapparat, die alte Leica seines Vaters. »Noch nichts. Ich mache eines von dir.«

»Okay.« Sie blieb im Türrahmen stehen, halb im Schatten. »Schnell. Ich brauche meine Tasse Tee.«

Sie posierte nie für Fotos. Er fotografierte, wusste aber, dass das Bild verschwommen werden würde. Noch während der Auslöser klickte, verschwand sie in die Düsternis des Korridors.

Sein Vater hatte die Leica, um den Hals gehängt, überall mit sich herumgeschleppt. Beim Aufwachen hatte Quinn oft seinen Dad erblickt, der, den Fotoapparat in der Hand, an der Wand seines Schlafzimmers lehnte. Quinn hatte es geliebt, dass sein Vater kleine Momente aus Quinns Tag für wichtig genug hielt, um sie nach Australien zu schicken, damit dort Abzüge gemacht wurden. Später fand er heraus, wie wenige dieser Fotos sein Vater behielt. Quinn stöberte gewöhnlich hinten im Verbrennungsofen auf der Suche nach zerrissenen Fetzen seines eigenen Gesichts herum. Seine schlafenden Wangen. Dunkle Haarbüschel. Fragmente von ihm auf der glänzenden Haut des Fotos. Er breitete die Stückchen auf dem Beton neben dem Verbrennungsofen aus, bruchstückhafte Puzzle von ihnen dreien: Quinn, seiner Mutter und seinem Bruder.

»Also das hört sich an, als würden die dortigen Hausärzte Patienten an dich überweisen?« Marianna stand an der Arbeitsplatte in der Küche und hackte, die Ärmel ihres Morgenmantels hochgekrempelt, eine Zwiebel.

Er küsste sie auf die Schulter und griff an ihr vorbei nach der Kaffeekanne. »Ach, es geht doch nichts über den frühmorgendlichen Geruch nach roher Zwiebel.«

»Heute Abend wirst du dich freuen, wenn ein Curry auf dich wartet, Freundchen.« Sie drehte sich für einen Kuss um, einen raschen Kuss mit geöffnetem Mund, der nach milchigem Tee schmeckte.

»Ich werde eine anständige Kaffeekanne mit zu Bill nehmen müssen. Wo ist die alte?«

»Unten in der Vorratskammer. Im Moment überweisen also Jim und Wie-heißt-sie-doch-gleich … Michelle die meisten deiner Patienten?«

Er nickte. »Ja, aber ich glaube, andere Hausärzte werden es auch bald tun. Und in der Zwischenzeit kann ich endlich meinen ganzen Papierkram abarbeiten.« Er füllte Kaffeepulver mit dem Messlöffel in die Kaffeemaschine. »Ein alter Kerl, der sich kaum auf den Beinen halten kann, ist allein nach Gold Coast gefahren, um jemanden wegen seiner Diabetes aufzusuchen. Ich habe ihn nach draußen zu seinem Wagen begleitet, so einen uralten Datsun, wie der, mit dem meine Großmutter früher immer in Lane Cove herumgekurvt ist. Viele von diesen Kisten waren in so einem bestimmten Senfgelb, erinnerst du dich noch daran? Jedenfalls, dieser Wagen wurde nur noch vom Autolack zusammengehalten.« Er wusste, dass er schwafelte. Hinauszögerte. Er füllte Kaffeepulver in den Filter.

»Mhm. Kannst du mein Ei vom Herd nehmen?«

Quinn ließ kaltes Wasser in den Topf laufen und holte das heiße Ei heraus, schwer und glatt, und ließ es in einen Eierbecher gleiten. Dann trat er hinter Marianna und schmiegte sich an sie. Sie ließ den Kopf nach vorn sinken und bog ihm ihren Rücken entgegen.

»Konnte er überhaupt noch fahren?«, meinte sie.

»Der alte Kerl?« Er berührte ihren Nacken mit der Nase und atmete den Duft ihres Shampoos ein.

Sie nickte.

»Erstaunlicherweise schien er ein passabler Fahrer zu sein. Aber ich werde mit Jim reden.« Er ließ die Hand durch die Öffnung ihres Morgenmantels gleiten und legte sie an ihren Bauch. »Hey«, flüsterte er und bewegte den Kopf an ihre Schulter, um ihr Gesicht sehen zu können. »Kann ich etwas mit dir besprechen?«

Sie legte das Messer beiseite, drehte sich um und schlang ihm die Arme um den Hals. Das Gesicht schmiegte sie an seine Schulter. »Sag mir, wie hat diese Frau überlebt, die sieben Fehlgeburten hatte?«

Sein Herz machte einen Sprung. »Welche Frau?«

»Die, von der ich dir erzählt habe.« Ihre Wange fühlte sich durch sein T-Shirt warm an. »Vielleicht war sie einfach zäher als ich.«

»Ach so, jetzt weiß ich es wieder. Sie hat am Ende ein Baby bekommen.«

»Aber sieben Fehlgeburten. Vielleicht ist die einzige Möglichkeit weiterzumachen, ein bisschen verrückt zu werden?«

»Geht es dir so?« So geht es mir.

Ihre Stimme war leise. »Manchmal.«

»Wie wäre es denn dann mit einer Pause?«

Sie versteifte sich. »Was meinst du?«

»Wie wäre es, wenn wir eine Pause mit der künstlichen Befruchtung einlegen?« Er schluckte, auf einmal war sein Mund trocken. »Was ich damit eigentlich meine, ist, dass ich eine Pause brauche.«

Sie wich vor ihm zurück, mit großen Augen, eine Haarsträhne hatte sich an ihrer Unterlippe verfangen.

»Ich habe einfach das Gefühl …« – er zögerte – »… als hätte ich … eine Grenze des Erträglichen erreicht …« Sein Herz pochte. Er konnte ihr einfach nicht sagen, dass er ganz aufhören wollte. Ihr schien es die Sprache verschlagen zu haben, und sie betrachtete forschend sein Gesicht. »Ich brauche eine Pause, Schatz.«

Mit zitterndem Kinn trat sie zur Seite. »Tu mir das nicht an, Quinn.«

»Es tut mir leid. Ich weiß, dass du das nicht hören willst.«

Er legte ihr die Hand auf den Arm, aber sie ging weg und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Ihre Stimme war gedämpft. »Wolltest du darüber sprechen?«

Er nickte.

»Wie lang soll die Pause denn sein?«

Er sah aus dem Fenster auf die Unzahl orangeroter Flammenbaumblüten. »Ein halbes Jahr, vielleicht.« Noch während er es sagte, kam es ihm nicht lang genug vor.

»Du glaubst doch selbst nicht, dass alles auf einmal in Ordnung sein wird, wenn wir nur aufhören, es zu versuchen? Bei dir hört es sich an, als wäre das Versuchen das Problem.« Sie klang erschöpft. »Habe ich bei deiner Entscheidung überhaupt ein Mitspracherecht?«

Er schloss die Augen. »Ich kann es einfach nicht. Es ist so verdammt schwer.« Diese Worte trieben ihm die Hitze ins Gesicht. Das Schwerste war das Wissen, dass sie ein Kind geschaffen hatten, ihr Kind, ihr Baby, bloß, damit es ihnen wieder entglitt. Er erinnerte sich noch an das Blut an ihren Händen in der Nacht der ersten Fehlgeburt, als sie ihn aufweckte und er das Licht angemacht und sie zitternd neben dem Bett hatte stehen sehen. »Marianna, mit noch einer Fehlgeburt werde ich nicht fertig. Ich werde nicht damit fertig, dir zuzusehen, wie du noch eine Fehlgeburt durchstehen musst.«

»Sag das nicht! Das bringt Unglück.« Sie starrte ihn wütend an.

»Himmel, Marianna! Aberglaube hat damit nichts zu tun.«

»Vielleicht kapierst du es einfach nicht. Mein Baby in den Armen zu halten ist das Einzige, was mir etwas bedeutet, das Einzige, was ich will.« Sie sackte auf dem Stuhl zurück, und ihr Morgenmantel stand offen, sodass eine volle, blasse Brust zum Vorschein kam.

Er kniete neben ihr nieder und legte seine Hand an ihr Gesicht, ihre Haare glitten durch seine Finger. »Es tut mir leid.« Bei jedem der vier Male, die sie schwanger geworden war, hatte er das Gefühl gehabt, sich der neuen Zukunft zu öffnen – den unendlichen, geheimnisvollen Möglichkeiten des kleinen Menschen in ihrer Gebärmutter –, dann hatte er irgendwie einen Weg finden müssen, das alles wieder zu unterdrücken.

Ihre Augen schwammen in Tränen. »Es tut mir leid, dass ich unsere Babys nicht behalten kann. Es tut mir so leid.« Sie hielt sich die Hände vors Gesicht.

Er streichelte ihr immer wieder über die Haare und sprach leise. »Ich habe einfach so ein Gefühl, dass es vielleicht nicht passieren wird. Dass wir vielleicht keine Eltern werden.«

Ihre Nasenflügel bebten, und sie wischte sich Tränen von den Wangen. »Und du bist auf einmal Fruchtbarkeitsexperte?«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist bloß mein Bauchgefühl.«

»Und wenn mein Bauch mir sagt, dass wir Eltern sein werden, solange wir es weiter versuchen?«

Die Haustür knallte zu. »Hallo? Marianna!«

Es war ihre Mutter. Marianna wischte sich mit den Handballen die Augen und stand auf, während die Turnschuhe ihrer Mutter über den Korridorboden klatschten.

Zum ersten Mal waren sie sich während des Studiums begegnet, auf der Geburtstagsfeier eines Assistenzarztes, den er von einem Praktikum im Krankenhaus kannte. Marianna hatte ihm die Tür zu dem Apartment in Potts Point geöffnet, wo die Feier stattfand. Ihre Haare waren kurz und ein bisschen stachelig, und sie trug ein langes, enges schwarzes Kleid. Sie machte die Tür auf und stand da, während sie ihn unverhohlen musterte.

»Hallo«, sagte er. Sie sah umwerfend aus.

»Hallo.« Hinter ihr erklangen Gelächter, das Klirren von Gläsern und ein jäher Schwall Reggaemusik. »Ich habe nicht gewusst, dass du kommst«, sagte sie.

»Kenne ich dich?« Er würde sich doch gewiss an diese grünen Augen und diesen unglaublich üppigen Mund erinnern.

Sie lächelte. »Du bist Simons Bruder.«

Er erwiderte das Lächeln kopfschüttelnd. »Nein, tut mir leid, bin ich nicht. Aber kann ich trotzdem reinkommen?« Er hielt ihr seine Weinflasche entgegen. Er kam direkt von der Station und fragte sich, ob Prednison das richtige Medikament für den alten Mann war, der frisch eingeliefert worden war. Er hätte den Facharzt anrufen sollen. Wahrscheinlich sollte er kehrtmachen und ihn jetzt anrufen.

ENDE DER LESEPROBE