Davonfliegen - Sarah Armstrong - E-Book

Davonfliegen E-Book

Sarah Armstrong

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Beschreibung

Annas ruhiges Leben ändert sich schlagartig, als eine neue Familie in ihr Nachbarhaus zieht. Nur zwei Tage dauert es, bis sie merkt, dass nebenan etwas schiefläuft. Sie hört die fünfjährige Charlie weinen, dann entdeckt sie Verletzungen an dem kleinen Mädchen, die sie nicht ignorieren kann. Anna informiert die Polizei, doch nichts passiert. Eines Tages steht Charlie vor ihrer Tür und bittet sie um Hilfe. Anna findet auf die Schnelle nur eine Lösung: das Mädchen zu packen und so weit wie möglich wegzulaufen. Sie flieht mit ihm in eine abgelegene Hütte in einem Regenwaldtal. Erst später wird ihr klar, dass es sich dabei um Kindesentführung handelt. Doch hatte sie eine Wahl?

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Seitenzahl: 560

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Über dieses Buch

Annas ruhiges Leben ändert sich schlagartig als eine neue Familie in ihr Nachbarhaus zieht. Nur zwei Tage dauert es, bis sie merkt, dass nebenan etwas schiefläuft. Sie hört die fünfjährige Charlie weinen, dann entdeckt sie Verletzungen an dem kleinen Mädchen, die sie nicht ignorieren kann. Anna informiert die Polizei, doch nichts passiert. Eines Tages steht Charlie vor ihrer Tür und bittet sie um Hilfe. Anna findet auf die Schnelle nur eine Lösung: das Mädchen zu packen und so weit wie möglich wegzulaufen. Sie flieht mit ihr in eine abgelegene Hütte in einem Regenwaldtal. Erst später wird ihr klar, dass es sich dabei um Kindesentführung handelt. Doch hatte sie eine Wahl?

Über die Autorin

Sarah Armstrong wurde in Australien geboren und studierte Journalismus. Danach arbeitete sie beim Radio und gewann den renommierten „Walkley Award“. Zusammen mit ihrem Mann, der ebenso Schriftsteller ist, unterrichtet sie Kreatives Schreiben. Die Autorin hat eine kleine Tochter und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Sydney. Nach Nachts schwimmen ist Davonfliegen Sarah Armstrongs zweiter Roman im Diana Verlag.

SARAH

ARMSTRONG

davon

flıegen

ROMAN

Aus dem Englischen

von Ute Brammertz

Von Sarah Armstrong sind im Diana Verlag erschienen:

Nachts schwimmen

Davonfliegen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2016 by Sarah Armstrong

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Promise

bei Pan Macmillan Australia Pty Ltd, Sydney, New South Wales, Australia

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Anja Freckmann

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv: © Elisabeth Ansley/Trevillion Images und L. Kramer/shutterstock.com

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-20945-2V001

www.diana-verlag.de

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Für meine geliebte Mutter,

Marion Armstrong.

All die verlorenen Kinder gleiten wie Sterne

in ein mitternachtschwarzes Meer.

Catherine Bateson, The Vigilant Heart

1

es war nach Mitternacht, als der große weiße Lieferwagen nebenan in die Einfahrt bog. Anna stand in ihrer dunklen Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Die Scheinwerfer des Lieferwagens erhellten die Einfahrt, und die beiden Männer traten ins Licht. Einer war schlank und rasselte mit einem Schlüsselbund, der andere erinnerte an einen stiernackigen Rugbyspieler und stand breitbeinig da.

Prima, dachte Anna. Meine neuen Nachbarn sind Schlägertypen.

Sie blieb an der Spüle stehen und beobachtete, wie die Männer Stirnlampen aufsetzten und klappernd die Hecktüren des Lieferwagens öffneten. Sie arbeiteten schweigend und effizient, beförderten prall gefüllte Müllsäcke und Pappkartons durch das weit offen stehende Gittertor und den Gartenweg entlang. Der Rugbyspieler trug, den Weg seitwärts entlanglaufend, ganz allein eine große Matratze, sodass nur seine Beine und die wippende Matratze zu sehen waren.

Anna schüttete das restliche Wasser ins Spülbecken und trocknete sich die Hände ab. Eine gute Nachbarin würde hinübergehen und ihre Hilfe anbieten, selbst wenn es verdammt noch mal mitten in der Nacht war. Eine gute Nachbarin wie ihre Mutter würde ein paar Kartons tragen und zeigen, dass sie von der freundlichen, anpackenden Sorte war, jemand, der Menschen nicht nach dem Äußeren beurteilte.

Das Nachbarhaus hatte zwei Monate lang leer gestanden, und es hatte Anna überrascht, wie beunruhigend sie die Stille gefunden hatte. Jetzt erkannte sie, wie tröstlich die Geräusche der herumwerkelnden Helen gewesen waren. Die beiden Häuser hatten dünne Holzwände und waren erbärmlich isoliert, sodass Anna immer gehört hatte, wie Helen von einem Zimmer ins andere gegangen war. Sie hatte gewusst, dass jemand in der Nähe war und ein geschäftiges, zufriedenes Leben führte, ohne jedoch ständig Umgang mit ihrer Nachbarin pflegen zu müssen. Sie hatten einander über den Zaun zugewinkt und ein paar freundliche Worte gewechselt, und etwa einmal im Monat hatten sie sich bei einer Tasse Tee zusammengesetzt. Anna hätte sich kein besseres nachbarschaftliches Miteinander wünschen können.

Im Dunkeln ging sie um den Küchentisch. Sie war froh, dass nebenan wieder jemand wohnen würde, aber vermutlich hätte sie sich nicht gerade diese beiden Kerle ausgesucht.

Eine Männerstimme drang laut durch das offene Fenster. »Du musst bloß Köder auslegen. Das wird ihnen in ein paar Tagen den Garaus machen.«

Sie sah nach draußen. Wovon redete er? Von Mäusen? Kakerlaken?

Der schlanke Mann durchquerte das Scheinwerferlicht mit einem Getränkekühlschrank auf der Schulter, als handele es sich um eine leere Kiste. Auf halbem Weg zur Haustür drehte er sich zu Annas Haus, sodass der Strahl der Stirnlampe in ihre Richtung leuchtete. Sehen konnte er sie in der dunklen Küche doch nicht, oder?

»Na, wie wär’s denn mit selbst gebackenem Kuchen für die neuen Nachbarn?« Sein Tonfall war eigentlich freundlich, aber er stand da, als warte er auf eine Antwort, sein Körper vom Scheinwerferlicht angestrahlt, das Gesicht im Schatten des Kühlschranks. Mit glühenden Wangen trat sie vom Fenster zurück, und bis sie die Sprache wiedergefunden hatte, war er im Haus verschwunden, und sie vernahm Gelächter und das Schlagen von Türen.

Früher hatte sie angenommen, jeder habe einen gewissen Hang zum Voyeurismus, aber ihr Dad hatte ihr widersprochen. Er sagte, bei ihm sei das nur so, weil er wie alle Polizisten immer die Augen nach möglichem Ärger offen hielt. Jedes Mal, wenn sie mit ihrem Bruder Luke Samstagabend zum Chinesen gingen oder in den Veteranenverein, saß ihr Dad mit dem Rücken zur Wand und ließ den Blick durch den Raum schweifen.

»Immer rausfinden, wo die Ausgänge sind«, erklärte er ihnen. »Ihr müsst wissen, wie ihr rauskommt, falls ihr schnell wegmüsst.«

Anna zerbrach sich eigentlich nie sonderlich den Kopf darüber, dass es Ärger geben könnte, und sie fand extra nicht heraus, wo sich die Ausgänge befanden. Aber andere Menschen im Bus oder in einem Café zu beobachten gab ihr das Gefühl, unsichtbar zu sein, eine Weile abzuschalten. Ein bisschen wie Fernsehen. Reality-TV.

Sie ging ins Bett und strampelte mit den Füßen die Decke von sich. Es war erst November, aber die Nächte waren bereits viel zu warm. Sie lauschte den Männern nebenan und dachte an das Abendessen morgen mit Daves Kindern. Eigentlich heute, denn es war nach Mitternacht. Sie war noch nicht bereit, sie kennenzulernen. Es war doch bestimmt noch zu früh. Anna fand die Vorstellung unerträglich, stundenlang seinen Kindern gegenüberzusitzen und Small Talk zu versuchen, während die Kinder Anna ausgiebig musterten, was ihr gutes Recht war. Die prüfenden Blicke von Kindern, besonders von Teenagern, waren ausgesprochen schwer zu ertragen. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie als Teenager stillschweigend die Freunde ihres Dads analysiert hatte.

Endlich spürte sie, wie sie der Schlaf überkam, während die Männer nebenan immer noch in dem Lieferwagen herumschepperten.

Als sie aufwachte, war da Babygeschrei, ein dünnes Jammern, das von nebenan herüberwehte. Sie sah auf die Uhr – drei Uhr morgens – und stand auf, um zur Toilette zu gehen. Mit geschlossenen Augen tastete sie sich durch das dunkle Haus. Sich erfolgreich einen Weg um die Möbel zu bahnen war ein kleiner, lächerlicher Triumph, den sie sich gönnte.

Bei ihrer Rückkehr ins Schlafzimmer weinte das Baby immer noch. Wann war es gekommen? Sie stand am Fenster und sah im Schein der Straßenlaterne einen Karton auf dem Gartenweg und einen kaputten Plastikstuhl, der umgekippt vor den Eingangsstufen lag. Der Lieferwagen war verschwunden.

Leise Schritte bewegten sich durch das Nachbarhaus, und in Helens ehemaligem Nähzimmer ging Licht an. Jetzt das Zimmer des Babys, wo die Mutter es wiegte und tätschelte, ein weiches Köpfchen streichelte. Anna erinnerte sich, wie der Mann sie am Fenster bemerkt hatte, und stellte sich vor, ihnen als kleinen, freundlichen Scherz einen Kuchen vorbeizubringen – den Bananenkuchen mit der klebrigen Glasur, den ihre Mutter jeden Sonntag gebacken hatte und der dann die Woche über scheibenweise in ihren Lunchboxen landete. Als junges Mädchen hatte Anna die Beständigkeit ihres Zuhauses niemals infrage gestellt, seine Behaglichkeit und Vertrautheit. Sie war davon ausgegangen, dass es immer auf sie warten würde, dass es mühelos und ganz natürlich um sie vier gewachsen war. Nach dem Tod ihrer Mutter wurde ihr bewusst, dass es ihre Mutter gewesen war, die ihr Zuhause erschaffen hatte, und sie erkannte, wie leicht es zerstört werden konnte.

Sie kletterte ins Bett zurück und rollte sich auf die Seite, ein Ohr ins Kopfkissen gedrückt. Das Kind weinte immer noch.

2

als sie am Morgen aufwachte, war es fast noch dunkel. Sie wollte unbedingt wieder einschlafen, aber nebenan trampelten kleine Füße durch den Flur. Durchs Fenster sah sie, dass der Karton auf dem Gartenweg durchweicht war und sich allmählich auflöste, der Beton auf der Auffahrt war dunkel und nass. Den Regen hatte sie gar nicht gehört. Sie musste tiefer als angenommen geschlafen haben.

In der Küche schob sie die Hintertür auf und bückte sich zu dem Terrakottatopf auf der obersten Stufe. Endlich waren die Schnittlauchsamen aufgegangen. Ein Dutzend grüne Stängel lugte durch die Pflanzenerde, manche etwas gebeugt unter der Last des winzigen schwarzen Samens, der wie ein Hut an ihrer Spitze steckte.

Sie kochte eine Kanne Tee und setzte sich auf die Hintertreppe in die ersten Sonnenstrahlen. Zwei winzige graue Skinke huschten in das Beet zu ihren Füßen. Luke und sie hatten diese Tiere früher oft beobachtet. Eine Zeit lang war sie als Kind auf den Umstand fixiert gewesen, dass sie den Schwanz bei Gefahr abwerfen und sich einfach einen neuen wachsen lassen konnten. Einer der Skinke verharrte in einem Sonnenfleck, und Anna konnte den Puls an seinem Hals schlagen sehen.

Sie wollte wirklich, dass die Sache mit Dave funktionierte, und verstand nicht, warum er es sich in den Kopf gesetzt hatte, dass sie seine Kinder schon jetzt kennenlernte. Vielleicht um die Kinder zu beruhigen? Oder sich selbst? Doch sie wusste, dass es zu früh war. Dave und sie waren noch nicht lange genug zusammen, um es zu verkraften, falls seine Kinder sie nicht mochten. Ein ungutes Treffen könnte ihre Beziehung leicht zum Scheitern verurteilen.

Sie goss ihre Topfpflanzen – der Regen hatte nur den ersten Zentimeter Erde durchtränkt – und zupfte etwas Unkraut aus. Löwenzahnsamen waren durch den Garten geschwebt und hatten überall gekeimt.

Kurz nach sieben schwang Helens Hintertür krachend auf, und ein Kind – vielleicht vier Jahre alt – schoss die Hintertreppe hinunter, ließ sich auf das hohe Gras fallen und zerrte schreiend an den Beinen seiner grünen Hose. Anna wusste nicht zu sagen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte.

Eine Frau erschien, jung und spindeldürr, in einem übergroßen weißen T-Shirt. Sie bückte sich langsam und hob ein gewaltiges Stück orangefarbenen Stoff vom Boden auf – vielleicht ein Laken oder ein Bettbezug – und trug es zur Wäscheleine, wo sie es mit Klammern befestigte.

Das Kind warf sich nach hinten ins Gras, und das Geschrei wurde immer lauter. Die Frau achtete nicht auf das Kind, sondern hängte weiter das Laken auf. Anna zwang sich, wegzusehen und ins Haus zu gehen. Sie steckte zwei Scheiben in den Toaster und schnitt eine Avocado auf. Sie würde sich einen Vorhang zulegen müssen oder einfach aufhören, in den Nachbargarten zu schauen. Wenigstens hatte das Kind zu schreien aufgehört.

»Hallo?«, erklang eine Stimme von draußen. Es war die junge Mutter. Sie sah über den Zaun und lächelte zu Anna hoch.

Anna trat nach draußen und war schon auf dem Weg die Treppe hinunter, als sie bemerkte, dass sie immer noch eine Avocadohälfte in der Hand hielt. Sie lächelte. »Hallo.«

Jetzt erkannte Anna, dass die Frau ein hübsches, herzförmiges Gesicht hatte. Doch ihre Haut war aschfahl. Ihre langen, dunklen Haare waren auf einer Seite mit einem Dutzend schief sitzender Haarklammern hochgesteckt.

»Willkommen in der Nachbarschaft«, sagte Anna. Zigarettenrauch stieg über den Zaun nach oben.

»Danke.« Das Lächeln in ihrem Gesicht wirkte zittrig. »Entschuldigen Sie, aber haben Sie vielleicht ein Glas Milch? Ich habe heute Vormittag kein Auto, und sie will unbedingt Milch haben.«

Das Kind saß mit gegrätschten Beinen im Gras und beobachtete die Frauen. Es hatte ungepflegte blonde Haare, die in alle Richtungen abstanden.

»Deshalb der Tobsuchtsanfall.« Die Stimme der Frau war hoch und ein wenig rau.

»Ja, natürlich. Einen Moment.«

Im Haus holte Anna die Milch in der Plastikflasche aus der Innenseite der Kühlschranktür. Sie war mehr als halb voll. Anna goss sich etwas davon für ihren Tee in eine Tasse ab und eilte dann die Treppe hinunter. Während sie die Flasche über den morschen Lattenzaun reichte, bereitete ihr dieser Akt der Hilfsbereitschaft ein wohliges Gefühl, auch wenn sie sich andererseits Sorgen machte, dass die Frau sich nun vielleicht ermuntert fühlen würde, ständig um Dinge zu bitten.

»Danke. So viel brauche ich aber gar nicht.« Die Frau lächelte weiter und zog an ihrer Zigarette. Die Vorstellung, dass in ihrem vogelhaften Körper ein Kind herangewachsen sein sollte, fand Anna unglaublich.

»Behalten Sie den Rest«, sagte Anna. »Ist schon gut.« Sie hörte, wie der Toast im Toaster hochsprang. Ihr blieb genau noch eine halbe Stunde, um sich fertig zu machen und zur Bushaltestelle zu kommen.

»Haben Sie sie gekannt?«, fragte die andere. »Die alte Frau, die gestorben ist?«

»Helen? Ja, habe ich.« Anna sah zu dem Kind, das sie immer noch beobachtete und Gras auszupfte. »Haben Sie auch noch ein Baby?«

Die Frau hustete. »Herrgott, nein.«

»Oh. Ich dachte, ich hätte nachts ein Baby gehört.«

»Nein, das war die da. Wie immer, verdammt noch mal.«

Das Mädchen erschien neben der Mutter und zerrte heftig an ihrem T-Shirt, sodass es der Frau von der mageren Schulter rutschte.

»Ich will fernsehen«, jammerte die Kleine.

»Warte doch!«, fuhr die Frau sie an und zog sich das T-Shirt wieder über die Schulter. Ihre schmalen Fingerspitzen waren bläulich verfärbt, als wäre ihr kalt.

»Hallo«, begrüßte Anna das kleine Mädchen. »Ich heiße Anna.«

Das Kind blickte aus hellen Augen starr empor, die abstehenden Ohren mit giftgrünen Steckern geschmückt. An den kurzen Haaren war unbeholfen herumgeschnippelt worden.

»Wie heißt du?«, erkundigte sich Anna.

Als das Mädchen nichts erwiderte, nahm die Mutter die Zigarette in die Hand, mit der sie die Milch hielt, und gab der Kleinen einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. »Sei doch nicht schüchtern.«

Die Worte der Mutter schienen nicht bis zu dem Mädchen durchzudringen, und Anna fragte sich schon, ob es ein wenig zurückgeblieben war. Die Stimme und das Weinen in der Nacht hatten sehr babyhaft geklungen. Doch da machte das Mädchen den Mund auf, und seine Stimme war klar.

»Ich heiße Charlie.« Ihr Blick war so direkt, dass Anna das Gefühl hatte, ebenso unverblümt gemustert zu werden, wie sie es selbst bei dem Mädchen und der Mutter getan hatte. Jegliches kindliche Gespräch, das Anna im Sinn gehabt hatte, war wie weggeblasen.

Das Mädchen streckte die Hand aus, um den alten, rauen Lattenzaun zwischen ihnen zu berühren. »Haben Sie einen Hund?«

»Nein. Jetzt nicht mehr. Früher schon, als ich noch klein war.« Anna stellte sich Splitter vor, die sich in weiche Haut bohrten. Fass den Zaun nicht an, wollte sie sagen. »Er hieß Buddy.«

»Was für ein Hund war er?« Die schmalen Schultern des Mädchens waren knallrot von zu viel Sonne und schälten sich.

»Eine Promenadenmischung«, erwiderte Anna. »Weißt du, eine Mischung aus verschiedenen Hunderassen. Er ist weggelaufen, als ich zehn war. Und ich habe ihn schrecklich vermisst.« Zu ihrem Entsetzen spürte sie einen Kloß im Hals. Sie sah kurz zu Boden und blinzelte Tränen zurück. Mist.

»Wir schaffen uns auf keinen Fall einen Hund an«, erklärte die Mutter. »Sie hat keinen blassen Schimmer, wie viel Arbeit die verdammten Drecksviecher machen.« Sie zog an ihrer Zigarette und drehte den Kopf, um den Rauch nach hinten zu blasen. Ihre Hand zitterte ein wenig, und Anna fragte sich, ob sie krank war. War sie deshalb so dünn? Oder konnten es Drogen sein? Was für Leute hatte Oliver da nebenan einquartiert?

Das Mädchen blickte zu Anna auf. »Buddy …«, sagte es, als spürte es, dass Anna mittlerweile ganz anderen Gedanken nachhing.

»Ja. Deine Mum hat recht. Hunde machen viel Arbeit. Ich musste jeden Tag mit Buddy Gassi gehen und seine Wasserschüssel reinigen …«

Das Mädchen blickte weg, in den Garten, und zupfte an der einen Schulter an den sich schälenden Hautfetzen. Anna konnte seine Gedanken erraten: dass Anna eine typische Erwachsene war und Partei für ihre Mutter ergriff.

Die Mutter sah Anna mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Das Mädchen drehte sich wieder zu ihr. »Nella hatte ihren Hund Percy.«

»Oh«, sagte Anna. »Wer ist Nella?«

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Wirst du endlich mit dieser verfluchten Nella aufhören?«

Charlie marschierte zur Wäscheleine und verschwand hinter dem Laken, das ihre Mutter aufgehängt hatte.

»Tja, dann.« Lächelnd trat Anna einen Schritt zurück. »Ich muss mich für die Arbeit fertig machen.« Jetzt würde ihr nicht genug Zeit zum Duschen bleiben. Warum um alles in der Welt verbrachte sie den halben Morgen auf der Hintertreppe?

»Was arbeiten Sie?«, fragte die Mutter.

»Ich bin Grafikdesignerin.«

»Oh. Schön. Dann waren Sie in der Schule wohl gut in Kunst?«

»Ja, genau.«

Das Mädchen zog an dem Laken. Eine Wäscheklammer fiel herunter.

»Und Sie gehen jeden Tag in die Arbeit, oder?«, fragte die Mutter.

Warum wollte sie das wissen? »Manchmal arbeite ich von zu Hause.«

»Ich heiße übrigens Gabby. Haben Sie zufälligerweise einen Rasensprenger, Anna?«

»Nein. Ich habe eigentlich keinen Rasen.« In der Mitte von Annas Garten befand sich ein großes Quadrat aus rissigem Beton, und Anna hatte jeden Zentimeter Erde außen herum bepflanzt. »Aber Helen hatte einen Sprenger. Schauen Sie mal beim Wasserhahn nach.« Der gelbe Rasensprenger lugte neben der Schlauchtrommel hervor.

Gabby drehte sich um. »Oh. Richtig. Gut.«

Helen hatte den Sprenger fast nie benutzt. Sie hatte alles per Hand gegossen, einschließlich des Rasens, der seit Helens Tod nicht mehr gemäht worden war.

»Vielen Dank.« Gabby hob die Milchflasche zum Gruß und drehte sich zum Haus um. Das Mädchen ging durch das Gras auf seine Mutter zu, immer einen Fuß direkt vor den anderen setzend, als balanciere es auf einem Seil. Die zu kurze grüne Hose rutschte ihm vom Hintern.

Anna fragte sich, was die beiden den ganzen Tag machen würden. Fernsehen? Auspacken? In Helens Haus herumwandern? Versuchen, sich dort einzuleben, und sich dabei immer wieder die Frage stellen, in welchem Zimmer Helen gestorben war?

Ein paar Blüten von Helens Rosen waren ideal zum Pflücken, ihre großen roten, samtigen Knospen öffneten sich gerade. Die zwei Monate, die das Haus nach Helens Tod leer gestanden hatte, war Anna jeden Abend vorne durchs Gartentor gegangen, um den Garten zu gießen. Es war ein wenig merkwürdig gewesen, uneingeladen auf die andere Seite des Zauns zu treten, aber sie konnte Helens Rosen nicht eingehen lassen.

Anna war auf dem Weg zur Bushaltestelle, Rucksack auf dem Rücken, als Dave anrief.

»Hallo«, sagte sie. »Ich wollte dich anrufen, sobald ich in der Arbeit bin.«

»Ich habe gleich eine Sitzung und bin dann den ganzen Tag lang bei Gericht.« Am Telefon war seine Stimme würdevoller als gewöhnlich. »Ich wollte dir nur kurz sagen, dass die Kinder sich endlich für ein Restaurant für heute Abend entschieden haben.« Er telefonierte im Gehen. »Such das Blue Monkey in Randwick raus. Leider ist es ein Thailänder.«

Ein Flugzeug im Landeanflug donnerte über sie hinweg. Sie wartete, bis es vorüber war.

»Weißt du … eigentlich finde ich, dass es besser wäre, wenn ich nicht käme. Ich halte es für zu früh, sie kennenzulernen.«

Er schwieg. Durch sein Handy erklang ein Ping. Ein Aufzug.

»Es wäre besser, wenn wir erst einmal länger zusammen wären«, sagte sie. »Damit sie spüren, wie fest das mit uns ist.«

Sie bog um die Ecke und lief über die Straße. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie den Bus verpassen.

Er seufzte. »Okay, okay. Also … es hört sich an, als hättest du nicht das Gefühl, dass das mit uns was sonderlich Festes ist.«

»Na ja, es ist so fest, wie es nach sechs oder wie lange ist es … sieben Wochen … eben sein kann …« Sie fragte sich besorgt, ob er sich nicht unrealistische Vorstellungen von ihrer Beziehung machte. Was seltsam war angesichts der Tatsache, dass er den ganzen Tag mit dem Rechtswesen, mit Beweisführung und rationalem Denken zu tun hatte.

In der Ferne sah sie ihren Bus und lief schneller. Dann blieb sie stehen. Sie konnte dieses Gespräch nicht führen, während sie im 310er stadteinwärts fuhr. »Ich bin mir nicht sicher, ob deine Kinder überhaupt so wild darauf sind, mich kennenzulernen.«

»Okay, ganz wie du willst«, sagte er. »Aber lass es meine Sorge sein, ob meine Kinder dich kennenlernen wollen oder nicht.«

Sie spürte, wie sich eine Kluft zwischen ihnen auftat. Da war es wieder, dieses leichte Zaudern, das sie schon früher empfunden hatte.

Mist. Single zu sein war so viel einfacher. »Es fühlt sich an, als würden wir auf etwas Festes zusteuern …«, sagte sie.

Dieses ganze Gerede über Abstufungen von fest war verrückt. Was zum Teufel bedeutete fest überhaupt? Sie sah zu, wie ihr Bus an der Haltestelle hielt.

»Sieh mal, ich bin glücklich, Dave. Ich bin echt glücklich, was uns betrifft. Wir stehen nur erst am Anfang, das ist alles.« Sie wollte, dass die Sache mit Dave funktionierte. Seit Ben hatte sie nicht mehr so empfunden, was noch ein Grund mehr war, die Sache nicht zu vermasseln, indem man die Dinge überstürzte. »Es eilt doch nicht, oder?«

»Nein, es eilt nicht«, antwortete er. »Alles bestens. Mach dir keine Sorgen.« Seine Fröhlichkeit klang aufgesetzt. »Schönen Tag noch«, fügte er hinzu. »Wir reden später. Ich muss wirklich los. Meine Sitzung fängt gleich an.«

Sie legte auf und ging langsam zur Bushaltestelle. Ihr war ein wenig übel. Hatte sie die Sache gerade eben in den Sand gesetzt? Vor dem Halal-Metzger ließ sie sich auf die Bank sinken und suchte in ihrer Tasche nach einer Haarspange. Während sie sich die Haare zu einem unordentlichen Dutt hochsteckte, stellte sie sich vor, wie sie von oben aussah: eine siebenunddreißigjährige Frau, die still dasaß und auf den nächsten Bus wartete; um die Ecke ihr heruntergekommenes Haus, in dem sie zur Miete wohnte; in Redfern ein ordentlicher Schreibtisch, der auf sie wartete und auf dem sich die Arbeit stapelte. Eine kinderlose Frau, die – jedenfalls allem Anschein nach – wahrscheinlich auch nie welche haben würde. Eine Frau, deren größtes Vergnügen darin bestand, aus Ablegern und billigen Pflanzen aus dem Baumarkt einen Garten heranzuziehen.

Ihr fehlte jeglicher Ehrgeiz. Das wusste Anna über sich, und sie wusste, dass manche Leute es als Makel erachteten.

Dieses Leben jetzt ist der Rest meines Lebens, dachte sie. Mit zwanzig war noch alles möglich gewesen, aber davon abgesehen hatte sie damals fest geglaubt, eines Tages Mutter zu werden. Selbst mit dreißig hatte sie Hunderte unterschiedlicher Pfade gespürt, denen ihr Leben folgen könnte. Jetzt ging sie davon aus, dass ihr Leben – mehr oder weniger – so wie jetzt weiterverlaufen würde. Vielleicht würde sie immer am Anfang oder Ende einer Beziehung stehen. Trotzdem war es doch ein gutes, simples Leben. Gewiss doch.

Sie kam zu spät zur Arbeit und widmete sich gleich einem Telefonat mit einer neuen Kundin, Vita, einer Wellness-Bloggerin. Statt sich Notizen zu machen, stellte Anna fest, dass sie Schnittlauch zeichnete, die schlanken Stängel und die kleinen, vollgepackten Knospen, die, wie sie wusste, kommen würden. Anna gab zustimmende Geräusche von sich, während Vita immer weiter davon redete, wie sauber und frisch das Design werden müsse, und Anna warf einen Blick auf ihr Handy für den Fall, dass da eine Nachricht von Dave war. Nichts.

Als sie bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause kam, war die Luft immer noch mild. Das Mädchen lief hinten im Garten herum und hüpfte über den Sprenger, während ihm das T-Shirt an Bauch und Rücken klebte. Charlie rutschte über das lange Gras und trampelte auf einem Stapel dunkler, nasser Pappkartons herum. Die Plastikmilchflasche stand auf dem Gartenweg, immer noch halb voll. Annas Herz zuckte beim Anblick roter Flecken im Gras zusammen, dann sah sie, dass es sich um Rosenblütenblätter handelte. Helens Rosenblüten waren alle abgerissen worden und lagen achtlos im Garten verstreut.

3

nachdem Anna die Nachrichten angeschaut hatte, bereitete sie einen Hühnchensalat zu und goss sich ein Glas Wein ein. Sie stellte sich Dave mit seinen Kindern im Restaurant vor. Sie hatte Fotos von den elfjährigen Zwillingen gesehen, ein Mädchen und ein Junge, beide weißblond wie ihre Mutter. Er hatte einmal bei einem Strandspaziergang am Bondi Beach auf seine Exfrau gedeutet, die dort am Wasser entlanggejoggt war. Aus der Ferne hatte sie in ihrer schwarzen Sportkleidung ernst ausgesehen und auf eine knochige Art schön. Anna mischte das Dressing in den Salat und überlegte, dass sie einfach zu dem verfluchten Abendessen hätte gehen sollen. Vielleicht hätte sie ihre Sache ja gut gemacht, und die beiden Teenager hätten sie herzlich und witzig gefunden. Als sie sich auf das Sofa vor dem Fernseher sinken ließ, klopfte es leise an der Hintertür.

Auf der obersten Stufe stand das Nachbarskind in einem rosafarbenen Schlafanzug mit kurzer Hose. Als Anna die Glastür aufschob, schenkte das Mädchen ihr ein schmales, angespanntes Lächeln.

»Charlie!« Der Garten hinter dem Mädchen lag vollständig im Dunkeln. Es musste über den Zaun geklettert oder durch das Tor hinten gekommen sein. »Komm rein.«

Das Mädchen trippelte auf Zehenspitzen barfuß über den Fußabtreter und stand auf dem Linoleumboden, die Arme dicht an die Seiten gepresst, die dünnen Schultern ein wenig hochgezogen.

»Alles in Ordnung?« Anna ging neben dem Kind in die Hocke. Charlies kleine Füße waren dreckig, und sie roch nach Zigarettenrauch. Mit einer Hand umklammerte sie eine kleine Plastikpuppe mit lilafarbenen Haaren.

»Ich habe Bunny verloren.« Sie sah Anna mit ihrem starren, beunruhigenden Blick an.

»Ist Bunny ein Spielzeug?«

Das Mädchen nickte.

»Wo ist deine Mummy?«

Sie antwortete nicht.

»Wer ist bei dir zu Hause?« Anna stellte sich Charlies Mutter vor, die vor dem Fernseher schlief, ohne zu ahnen, dass ihr Kind durch die Tür in die Nacht verschwunden war.

Charlie rieb mit einem Finger über die hölzerne Tischplatte. »Hast du Kekse? Ich hab Hunger.«

»Ja, sicher. Ich hole dir einen.« Anna stand auf. »Wer ist bei dir zu Hause?«

»Mummy ist weg, und ich kann Bunny nicht finden.« Ihre Unterlippe bebte. »Kannst du ihn suchen?«

»Ich hole dir jetzt erst mal einen Keks.« Sie fand eine ungeöffnete Packung Iced Vovos, die ihr Vater bei seinem letzten Besuch mitgebracht hatte. Charlie nahm sich einen Keks und betrachtete ihn prüfend, bevor sie ein riesiges Stück abbiss. Kokosnussraspel fielen zu Boden. Sie kaute seelenruhig, den Blick unverwandt auf Anna gerichtet. Ihre kurzen Haarbüschel wiesen einen ähnlichen Farbton wie ihre Haut auf, was sie seltsam ausgewaschen aussehen ließ.

»Wo ist deine Mummy?«, fragte Anna erneut.

»Sie kommt bald nach Hause.«

»Und dein Daddy?«

Das Mädchen zuckte mit den Schultern, während es sich zwei weitere Kekse aus der Packung holte. »Hast du Dosenobst?«

»So was wie Pfirsiche aus der Dose, meinst du?«

Das Mädchen nickte, stetig kauend.

»Nein, tut mir leid. Habe ich nicht.«

»Das gibt’s immer bei Nella.«

»Lass uns mal sehen, ob wir deine Mummy finden können.« Ihr blieb im Grunde keine Wahl. Sie musste nach nebenan gehen. Anna hatte eine schreckliche Vision, die Mutter tot vorzufinden. Gabby war dünn genug, um ein Junkie zu sein. »Komm«, sagte sie zu Charlie und griff nach ihrem Handy.

»Was ist das?« Das Mädchen deutete zum Tisch und zu der Skizze von dem Schnittlauch, die Anna nach Hause mitgenommen hatte.

»Eine kleine Zeichnung von einer Pflanze, die ich draußen im Garten habe.« Sie nickte in Richtung des Gartens.

Das Mädchen berührte die Zeichnung mit dem Finger und folgte dann Anna zur Haustür. Anna schlüpfte in ihre Turnschuhe und trat nach draußen. Charlie blieb auf dem Gartenweg zurück, machte nur kleine Schritte. Anna wartete und streckte die Hand nach ihr aus. Charlie zögerte nicht. Die Hand des Mädchens fühlte sich in Annas staubig und unglaublich klein an, wie die einer Puppe.

Das Gartentor quietschte, und der Lichtsensor sprang an, als sie die Eingangsstufen hochstiegen. Anna hoffte, dass der Mann nicht da wäre. Seit der vergangenen Nacht hatte sie ihn weder gesehen noch gehört.

Anna klopfte an die Tür. »Halloooo?«, rief sie. »Hallo, Gabby, sind Sie da?«

Charlie stand reglos neben Anna. Um sie herum auf der Veranda lagen ein Haufen auseinandergefalteter Kartons und eine zusammengerollte Windel. Trug das Mädchen noch Windeln?

Anna spähte durchs Fenster. Im Schein des Fernsehers erblickte sie den Umriss eines Sessels, und in den Flur fiel ein schwacher Lichtschein aus dem Zimmer, das wohl Charlie gehörte.

Anna wollte wirklich nicht hineingehen. Doch was, wenn die Mutter dort drinnen war und es ihr nicht gut ging? Wenn sie womöglich eine Überdosis erwischt hatte? Anna war flau im Magen, als sie versuchte, den Türknauf zu drehen. Es war abgesperrt.

»Durch welche Tür bist du rausgekommen?«

»Hintertür.«

»Okay. Gehen wir nach hinten.«

Die Hintertür stand sperrangelweit offen. Am Fuß der Treppe hielt Anna inne. Der Flur war dunkel, abgesehen von dem flimmernden Schein des Fernsehers und dem Licht, das aus dem Zimmer des Mädchens fiel. Sie erklomm die Stufen, blieb im Türrahmen stehen und beugte sich vor.

»Hallo? Gabby? Ich bin’s, Anna von nebenan. Ich habe Charlie bei mir.«

Widerwillig trat Anna in den halbdunklen Flur.

»Hallo?«, rief sie erneut. Sie tastete nach dem Lichtschalter und legte sich etwas zurecht, falls der Mann erscheinen sollte: Ihre Tochter hat bei mir geklopft. Ich habe mir Sorgen gemacht. Was ist los?

In der Küche stapelte sich schmutziges Geschirr im Spülbecken, und auf Helens altem Resopaltisch befanden sich zwei prall gefüllte schwarze Müllsäcke. Anna durchquerte den Flur, Charlie im Schlepptau. Der Teppich unter ihren Füßen war eigenartig weich. Sie gingen an Charlies Zimmer vorbei, wo sich auf dem Boden eine Matratze und überall verstreute Kleidung befanden. Am Boden leuchtete ein rosafarbenes Nachtlicht.

Der riesige Fernseher im Wohnzimmer war lautlos gestellt, ein Dauerwerbesender lief. Anna warf einen Blick in Helens altes Schlafzimmer. Ihr Kleiderschrank und die Frisierkommode standen immer noch da, aber das Bett war verschwunden. Auf dem Boden lag eine Doppelmatratze, das Laken halb ab, sodass ein schmuddeliger Matratzenschoner hervorlugte.

Wo in aller Welt war Charlies Mutter? War sie bloß kurz weggegangen? War etwas Schreckliches passiert? Anna kämpfte die aufkeimende Angst in ihren Eingeweiden nieder. Sie erinnerte sich an die Geschichte von zwei Kleinkindern, die tagelang in ihrer Wohnung überlebt hatten, nachdem ihr alleinerziehender Vater kurz einkaufen gegangen und von einem Auto überfahren worden war.

»Wo ist dein Zimmer?«, fragte sie Charlie, obwohl sie es längst wusste.

Das Mädchen zog an Annas Hand. »Komm!«

In ihrem Zimmer kniete Charlie sich hin und grinste zu Anna hoch. »Das ist mein Elfenschloss.« Als Kind hätte Anna so ein Plastikschloss in knalligem Pink mit spitzen Türmen und dreieckigen Flaggen geliebt. »Mummy hat es mir geschenkt.«

»Wow!« Anna ließ sich auf die Knie sinken und berührte einen Turm. Ein süßlicher, synthetischer Geruch stieg ihr in die Nase. Konnte das Plastik parfümiert sein? Doch gewiss nicht. »Wie alt bist du, Charlie?«

Charlie drehte an einer kleinen Kurbel, um eine lilafarbene Zugbrücke herunterzulassen. »Fünf.«

»Aha.« Sie sah ein gutes Stück jünger als die fünfjährige Tochter von Annas Freundin Emily aus.

Charlie blickte auf. »Wie alt bist du?«

»Siebenunddreißig.«

Das Mädchen nickte nüchtern, je eine kleine Plastikprinzessin in den Händen. Mit einer deutete es über Annas Schulter. »Das ist dein Fenster.«

Anna drehte sich um. Durch Charlies Fenster erblickte sie ihre eigene Küche, mit dem neuen Papierlampenschirm und einer blauen Flasche auf dem Fensterbrett. Ihr war nicht klar gewesen, wie gut man bei ihr hereinschauen konnte.

»Hast du mich da vorhin gesehen, wie ich mir etwas zu essen gekocht habe? Bist du deshalb rübergekommen?«

»Ich habe gesehen, wie du was Rotes gegessen hast.«

»Paprika.« Ein Auto fuhr die Straße herunter. Herrgott, Anna hoffte, dass nicht gleich Gabby oder der Mann nach Hause käme und sie hier vorfände. Was zum Teufel trieb sie im Haus fremder Leute?

Charlie legte die Prinzessinnen weg und hob ein paar Kleidungsstücke vom Boden auf. »Ich habe mich bettfertig gemacht.« Der Stimme nach war sie den Tränen nahe. »Und ich brauche Bunny.«

»Wie sieht Bunny denn aus?«

Das Mädchen sah zur Decke hoch. »Grau. Ein Hase.«

Anna hob die Steppdecke vom Bett, da schlug ihr der Ammoniakgeruch von Urin entgegen.

Es war ein gemeiner Gedanke, das wusste Anna, aber wenn das Zimmer des Mädchens auf der anderen Seite des Hauses läge und sein Fenster zu den anderen Nachbarn hinausginge, dann hätte sich das Mädchen dort Hilfe geholt – bei dem alten Ehepaar, das Anna manchmal sah, wenn es seine beiden kleinen Hunde ausführte –, und die beiden müssten jetzt mit dem Verschwinden der Mutter umgehen. Und wären zweifellos besser dazu geeignet.

Anna sah etwas Graues und Flauschiges unter einem pinkfarbenen Kleidungsstück hervorlugen. »Ist das Bunny?«

Charlie riss das Stofftier an sich und hielt es an die Brust gedrückt. Das Mädchen sah inmitten des Chaos aus Kleidung und Spielsachen schrecklich klein und zerbrechlich aus. Es betrachtete Anna mit einem starren Lächeln, und wieder regte sich Unruhe in Annas Brust.

Anna ließ ihre Stimme unbeschwert und fröhlich klingen. »Ich werde deiner Mummy eine Nachricht schreiben, damit sie weiß, dass du bei mir zu Hause bist. Okay?«

»Ohhhh …« Sie biss auf ihrer Lippe herum.

»Ja«, sagte Anna mit Nachdruck. »Ich lasse dich hier nicht allein zurück.«

Anna war zwar nicht gerade begeistert, in die Sache hineingezogen worden zu sein, aber sie war auch nicht verantwortungslos. Sie führte Charlie durch die Haustür nach draußen und kritzelte eine Nachricht auf Helens Notizblock, der sich immer noch im Zählerkasten befand. Dann klemmte sie den Zettel in die Wettertür.

Als sich Anna und Charlie auf ihrem Sofa niederließen, wurden dem Mädchen allmählich die Augen schwer. Es aß zwei weitere Kekse und eine Handvoll getrockneter Aprikosen. Der Stoffhase, der unter seinem Arm klemmte, roch nach Bier.

Anna saß neben der Kleinen, versuchte aber nicht, ein Gespräch anzufangen. Was sagte man zu einem Kind, dessen Eltern verschwunden waren? Falls die Mutter oder der Vater bis zum Morgen nicht auftauchten, würde Anna wohl bei der Polizei anrufen müssen. Kurz darauf schlief Charlie ein, eine halb aufgegessene Aprikose in der Hand.

Anna nahm Charlie die Aprikose ab und hob ihre Beine auf das Sofa. Herrgott, das Mädchen stank nach Zigarettenrauch! Das arme Kind. Und seine Beine waren mit blauen Flecken übersät. Was hatte es angestellt? Die kurze Schlafanzughose rutschte an seinem Oberschenkel hoch, und da sah Anna ihn: einen dunkelvioletten Kreis, nein, zwei Halbkreise, die fast miteinander verbunden waren. Zahnabdrücke und ein kleines Stück Schorf. Eine Bisswunde.

Anna fiel auf die Fersen zurück, das Blut pochte in ihren Ohren. War das ein Menschenbiss? Jemand oder etwas hatte das Mädchen so fest gebissen, dass es geblutet hatte. Sie biss sich leicht in den Unterarm und verglich den Abdruck mit dem auf Charlies Bein. Die beiden waren praktisch gleich groß.

Einen Moment presste sie die Finger fest auf ihre Augenlider. Ihre Gedanken überschlugen sich. Dann holte sie eine Baumwolldecke aus dem Wäscheschrank und breitete sie über dem Mädchen aus. Es schien viel Zeit zu verstreichen, während sie auf dem Boden kniete, Charlies sich hebende und senkende Brust beobachtete und überlegte, ob es sich tatsächlich um einen menschlichen Biss handeln konnte.

In der fünften Klasse hatte Anna einen Jungen gebissen. Gordon Patterson hatte sie das ganze Schuljahr über gehänselt, und eines Tages, als er ihr eine Ohrfeige verpasste, packte sie seinen Arm und versenkte die Zähne darin. Es bestand kein Zweifel daran, dass Beißen brutal war. Ab einem gewissen Alter konnte es nicht mehr versehentlich passieren. Man musste sich entscheiden, jemanden zu beißen, und man musste eine Zeit lang zubeißen, bis jemand blutete.

Draußen schlug knallend eine Autotür zu, und Anna zog die Gardine beiseite. Ein Auto fuhr davon, und Gabby öffnete ihr Gartentor. Anna trat auf die Veranda. »Ich habe Charlie hier!«, rief sie.

Gabby war ganz in Schwarz gekleidet, die Haare zu einem festen Pferdeschwanz zurückgebunden. »Oh? Wie ist das denn passiert?«, fragte sie gedehnt.

Anna konnte ihr billiges Parfum aus mehreren Metern Entfernung riechen. Gabby ging zu dem niedrigen Lattenzaun zwischen ihnen. Sie wankte auf ihren Stöckelschuhen. War sie betrunken? Wie sehr wünschte Anna in diesem Moment, Helen würde immer noch nebenan wohnen.

»Sie hat bei mir geklopft.«

Gabby verzog das Gesicht und stöckelte auf ihren Stilettos den Weg hinauf. »Tut mir leid.« Die Druckluftbremsen eines Lasters dröhnten auf der nahen Hauptstraße. »Normalerweise klappt es gut, sie kurz allein zu lassen.«

Wer zum Teufel lässt eine Fünfjährige allein? Und wer zum Teufel hat sie gebissen? Gabby musste von dem Biss wissen. Es war einfach unmöglich, dass er ihr entgangen war. Und wenn es Gabby gewesen war, die sie gebissen hatte? Oh, was für ein Albtraum!

»Schläft sie?«, fragte Gabby. Ihre Augen waren dick mit Schwarz umrandet, was sie noch blasser als bei ihrer ersten Begegnung aussehen ließ.

»Ja.« Drei Teenager gingen laut lachend den Gehweg auf der anderen Straßenseite entlang.

Gabby kramte in ihrer kleinen Handtasche. »Scheiße«, stöhnte sie. »Sie haben keine Zigarette, oder?« Sie war definitiv bekifft.

»Nein.«

Gabby versuchte, die Tasche zu schließen. »Geben Sie sie mir einfach über den Zaun rüber.« Ihre Stimme war tonlos. »Oder soll ich reinkommen und sie holen?«

Die Atmosphäre zwischen ihnen war angespannt.

Anna drehte sich zum Haus um. »Ich hole sie.«

Charlie regte sich nicht, als Anna sie vom Sofa hochhob. Sie war warm, ihre Glieder hingen schlaff herab. Als Anna die Haustür erreichte, fuhr das Mädchen hoch und setzte sich in ihren Armen auf.

»Ist schon gut«, sagte Anna. »Ich bringe dich nur zu deiner Mummy. Sie ist zu Hause.«

»Okay«, flüsterte das Mädchen. Charlie hatte einen schlechten Atem, er roch nicht nur säuerlich, sondern ein wenig faulig. Anna stieg vorsichtig im Dunkeln die Treppe hinunter, Charlies Arme fest um den Hals. Sie ging nebenan durchs Gartentor und reichte Gabby das Mädchen. Charlie barg das Gesicht an der Schulter ihrer Mutter.

»Danke«, sagte Gabby. Als sie sich von Anna wegdrehte, fuhr ein Auto vorbei und erleuchtete den bleichen Stamm des einzeln stehenden Gummibaums am Straßenrand. Es war ein trostloses, einsames Geräusch: ein Auto, das in die Nacht fuhr. Anna beobachtete, wie die Frau und das Kind im Haus verschwanden und die Tür hinter ihnen zuging.

Sie wachte um drei Uhr auf – die Stunde der Schlaflosigkeit –, lag im ersten Augenblick reglos da und lauschte angestrengt, falls es ein Geräusch von nebenan gewesen war, das sie geweckt hatte. Doch da war nur das Verkehrsbrummen der M1. Die Luft fühlte sich zäh an wie Brei. Die meisten Menschen starben gegen drei Uhr morgens, und sie konnte das gut nachvollziehen. Der Tag hatte seinen absoluten Tiefpunkt erreicht.

Ihre Mutter war um 3.30 Uhr gestorben, aber Anna hatte es erst im Morgengrauen erfahren, als ihr Dad sie geweckt hatte, indem er sich auf ihre Bettkante setzte. Anna war aufgefallen, dass er nach Pfefferminzzahnpasta gerochen hatte und angekleidet gewesen war.

»Mum ist nicht mehr bei uns«, hatte er gesagt.

Sie hatte sich halb aufgesetzt. »Wo ist sie denn dann?«

»Tot. Sie ist tot.«

Und Annas Kopf war angeschwollen, bis er das Zimmer zu füllen schien, während ihr das Blut in den Ohren gepocht hatte.

Sie ist tot.

Von dem Moment an war jahrelang alles um sie herum ein klein wenig aus dem Lot gewesen: die Form der Haustür, der Geruch ihres Zimmers. Selbst das Wasser schoss irgendwie falsch aus dem Hahn in der Küche hervor. Und sie wurde den Gedanken nicht los, dass Luke zehn Jahre mit ihrer Mutter gehabt hatte, während es bei Anna nur acht gewesen waren. Diese beiden zusätzlichen Jahre würde sie niemals bekommen.

4

auf einen Ellbogen gestützt, kritzelte Anna vor sich hin. Sie sollte sich ein neues Logo für eine IT-Firma ausdenken und hatte das Papier mit Kreisen übersät, allesamt Versionen der Anschalttaste ihres Laptops.

Sie war allein im Büro. Russell und Monica waren mit einem neuen Kunden im Besprechungsraum, und Clay hatte Grippe. Sie kritzelte weiter und brachte eine klischeehafte Version der Initialen der Firma zustande. Auf der Suche nach Inspiration klickte sie sich zur Homepage der Firma, dann, noch bevor sich die Seite ganz aufgebaut hatte, tippte sie in das Google-Suchfeld: Kind gebissen. Sie startete noch eine Suche und noch eine, bis auf ihrem riesigen Bildschirm ein Foto von einem Kindergesicht zu sehen war: eine dunkle, blutunterlaufene Bisswunde an einer Pausbacke, die Augen mit einem schwarzen Balken unkenntlich gemacht. Die Haut des Kinds war grau, und Anna wurde von kaltem Entsetzen durchflutet, als ihr in den Sinn kam, dass es sich um ein Autopsiefoto handeln könnte. Mit einem Engegefühl in der Brust schloss sie den Tab, stand von ihrem Computer auf und trat ans Fenster.

Sie richtete den Blick auf das Backsteingebäude gegenüber, beruhigend banal und solide. Der Horror schwang in dem Foto mit, jene Momente, als sich der Biss ereignet hatte. Sie stellte sich kleine Beine vor, um sich tretend, kleine Hände. Wenn das Kind auf dem Foto tot war, wie war er oder sie gestorben? Nicht an dem Biss.

Ein Lieferwagen gab ein warnendes Piepsen von sich, während er rückwärts die Gasse entlangfuhr, und aus dem Besprechungsraum drang Gelächter. Russell und Monica kamen heraus, Mappen in den Armen, für den Kunden ein strahlendes, breites Lächeln voller Elan aufgesetzt. Anna kehrte an ihren Schreibtisch zurück, zu den schlampigen Bleistiftkritzeleien.

»Kaffee, Anna?«, rief Monica von der Tür.

»Nein danke, Mon.« Sie warf einen Blick auf ihren Monitor mit dem Bildschirmschoner und sah wieder das Foto von dem Kind dort, als wäre es in den Bildschirm eingebrannt.

Sie hatte am Morgen gerade hinten im Garten gegossen, als ein dunkelhaariger Mann über den Zaun rief. »Hi!«

Es war der dünne Kerl aus der Nacht des Einzugs. Sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen war attraktiv, aber angespannt, als wären die Muskeln erstarrt. Er legte die Hände auf den Zaun und sprach leise, als griffe er ein eben unterbrochenes Gespräch wieder auf. »Na, wie geht’s?«

»Mir geht es gut, danke.« Sie stellte sich vor, im gleichen Plauderton zu erwidern: Beißen Sie Ihre Tochter?

»Die alte Badewanne …« Er hob das Kinn in Richtung des hinteren Zauns, wo Anna Wasserlilien in der verrosteten gelben Wanne angepflanzt hatte. Der Mann roch nach Aftershave und hatte die glänzende Haut eines Menschen, der sich gerade eben rasiert hatte.

»Ja?«

»Kann ich sie haben?« Er wirkte, als würde er am liebsten über den Zaun klettern und sie sich holen.

»Sie gehört meinem Vermieter. Und er will sie behalten.« Sie hatte keine Ahnung, ob Jack – der in Shanghai lebte – die Wanne behalten wollte. Aber Anna wollte sie behalten. Letztens war ein grüner Laubfrosch eingezogen, und jeden Tag saß er an einer anderen Stelle der Wanne, lächerlich glänzend und gesund aussehend, die kleinen Füße mit ihren Saugnäpfen fest an dem gelben Email.

»Ach so.« Er lächelte und musterte sie von Kopf bis Fuß, besonders ihr T-Shirt und ihre Boxershorts und nackten Füße. »Ich habe Sie doch glatt für eine Hausbesitzerin gehalten.«

»Vielleicht bin ich ja Hausbesitzerin, aber ich wohne eben zufälligerweise nicht in meinem eigenen Haus.« Für wen zum Teufel hielt sich dieser Kerl?

»Wer würde denn nicht im eigenen Haus wohnen, wenn man schon eines hat?« Er lächelte sie an, aber es wirkte eher spöttisch als freundlich. »Wie ich höre, waren Sie gut mit der alten Frau befreundet«, fügte er hinzu. »Ein paar von ihren Sachen sind nämlich noch hier.« Die Art, wie er sie ansah, war zu selbstsicher, zu intim. Irgendwie erinnerte es sie an Charlie.

»Was für Sachen?« Sie hielt den Schlauch über die Schwertlilien.

»Papiere und Bücher. Sieht so aus, als hätten ihre Kinder nicht ordentlich ausgemistet.«

»Papiere?«

»Alte Rechnungen … Ärztekram. Ich werde es alles wegschmeißen. Es sei denn, Sie wollen rüberkommen und es sich holen.«

Ein paar Tage nach Helens Tod war ihr Haus nicht mehr wiederzuerkennen gewesen. Ihr Sohn Oliver räumte wahllos stapelweise Bücher und gefaltete Wäsche auf die Veranda und sagte Anna, sie solle sich nehmen, was sie haben wollte. Im Handumdrehen waren die kleinen Entscheidungen widerrufen worden, die Helen über die Jahrzehnte getroffen hatte, die feinsinnige Ordnung ihrer Habseligkeiten, die Helen und ihre Sicht der Dinge repräsentiert hatte.

»Das sollten Sie mit Oliver besprechen«, erwiderte sie.

Der Mann sah zu ihrer Hintertür. »Und Sie leben hier allein?«

Eigentlich wollte sie es ihm nicht sagen. »Ja.«

»Keine Kinder?« Er hob die Augenbrauen.

Das geht Sie einen Scheißdreck an, hätte sie am liebsten gesagt. »Nein.«

Er nickte langsam und betrachtete die Rückseite des Hauses. »Viel Platz für einen alleine.« Er lächelte. »Wie ich höre, waren Sie Charlies Retterin in der Not, sind auf Ihrem Schlachtross angeritten gekommen.«

Sie wollte sich in kein Gespräch verwickeln lassen. »Tut mir leid, aber die Badewanne ist nicht zu haben.«

Er nickte. »Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie Ihre Meinung ändern.«

»Okay.« Sie wandte sich wieder den Schwertlilien zu.

Anna fand es verblüffend, dass sich wildfremde Menschen dazu berechtigt fühlten, sie nach ihren Fortpflanzungsplänen und ihrer Fruchtbarkeit zu befragen. Wollen Sie Kinder? Machen Sie mal lieber hinne, meine Liebe, wenn es noch klappen soll! Die Frage kam meist von Menschen, die Kinder hatten, als gäbe ihnen das eine Sondergenehmigung, ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Ihr Dad, der Gute, stellte die Frage nie. In ihren Zwanzigern war Anna einfach davon ausgegangen, dass sie eines Tages Babys bekommen würde. Doch sie hatte nur drei Beziehungen gehabt, die länger als ein halbes Jahr gehalten hatten, und nur einer der drei Männer wollte Kinder. Ben und Anna hatten sogar ein paar Monate lang versucht, schwanger zu werden, der Sex war besonders aufregend gewesen, und dann war er von einem Surfurlaub nach Hause gekommen und hatte ihr erklärt, dass Schluss sei. Und das war’s gewesen.

Dave teilte es ihr früh mit – in der ersten Nacht, in der sie miteinander geschlafen hatten –, dass er eine Sterilisation hinter sich hatte. Mit ihm war Anna dabei, in die Kinderlosigkeit abzudriften. Und vielleicht würde es auch dabei bleiben. Sie sehnte sich nicht so sehr nach Kindern, wie manche Frauen es taten, und würde nicht alles daransetzen, es doch noch hinzubekommen. Das eine Mal, als sie schwanger gewesen war, mit neunzehn, hatte sie abgetrieben. Wenn sie wirklich ein Kind hätte haben wollen, hätte sie eines. Ein siebzehnjähriges.

Auf dem Heimweg von der Bushaltestelle ging Anna an Helens Haus vorbei, wo ein glänzender schwarzer Pick-up in der Einfahrt parkte. Die Geräusche einer Kindersendung dröhnten aus dem Haus.

Anna betrat ihr dunkles Haus und schlüpfte aus den Turnschuhen. Helen hatte immer gescherzt, dass sie zwei alte Jungfern seien, die nebeneinanderwohnten, aber auf Anna hatte es den Anschein gemacht, als hätte Helen eine Spur zu herzlich darüber gelacht. Anna war gern in einer Beziehung, hatte aber keine Angst davor, Single zu sein. Im Grunde war sowieso jeder allein, fand sie, und kreiste im Laufe der Jahre nur um andere Menschen herum. Andere nahmen sie manchmal als reserviert wahr, das wusste Anna. Sie hingegen hielt sich für selbstgenügsam.

In der Küche goss sie sich ein Glas Chardonnay ein und versuchte, die Geräusche von nebenan zu ignorieren, aber sie fühlte sich, als habe sie ein Radargerät, das auf das Nachbarhaus gerichtet war und sich nicht abschalten ließ. Sie erinnerte sich, in einer Univorlesung gehört zu haben, dass die Nähe zu Leid Menschen zum Helfen veranlasste. Würde jemand ein ertrinkendes Kind sehen, würde er stehen bleiben und helfen, wohingegen er einem Kind in Not am anderen Ende der Welt nicht helfen würde, selbst wenn es möglich wäre.

Ihr Handy klingelte, während sie vor dem offenen Kühlschrank stand und den welken, ungenießbaren Salat von gestern Abend betrachtete. Dave rief an.

»Hey«, sagte er. »Bist du zu Hause?«

Sie war erleichtert über die Herzlichkeit in seiner Stimme. »Ja«, antwortete sie. »Ich bin gerade nach Hause gekommen.«

»Lust auf Besuch?«

»Was? Jetzt?« Sie konnte nicht anders, als in den Kühlschrank zu grinsen.

»Ja. Ich stehe vor deinem Haus.«

Sie machte die Haustür auf. Er stand auf dem Gehweg, an einen Telegrafenmast gelehnt, das Anzugjackett an einem Finger über die Schulter gehängt, als posiere er für eine Modezeitschrift.

Sie lachte, als er den Gartenweg entlangkam. »Warum hast du nicht einfach geklopft?« Er tauchte sonst nie aus heiterem Himmel bei ihr auf und arbeitete immer bis spät. Es war ein wenig verwirrend, ihn an einem Werktagabend zu sehen.

»Für den Fall, dass dir nicht nach Besuch ist.« Er küsste sie – er schmeckte nach etwas Zuckrigem – und ließ die Aktentasche im Haus gleich neben der Tür fallen. Dave war groß und schlaksig und bewegte sich gemächlich, wie ein Hollywood-Cowboy. Einmal hatte sie ihn den Mann mit den Schlangenhüften genannt, und er hatte lachend abgewunken, aber sie fand, dass es gut die Art beschrieb, wie er durchs Leben glitt. Er hatte die Leichtigkeit eines Privilegierten an sich, allerdings ohne das ganze Drumherum.

Sie tippte darauf, dass er Anwalt wider Willen war, weil sein Vater und Großvater und älterer Bruder Anwälte waren. Und jetzt kam er nicht mehr aus diesem Beruf raus, weil er die Hypothek für seine Wohnung abbezahlen und seine Kinder finanziell unterstützen musste. An den Wochenenden trug er löchrige T-Shirts und Badeshorts, und wenn Anna ihn einmal unter der Woche zu Gesicht bekommen hatte, waren das Hemd und der Anzug zerknittert, seine Ledertasche zu abgewetzt, um hip zu sein, die Haare ein kleines bisschen zu zerzaust.

Sie schenkte ihm ein Glas Wein ein. »Als du angerufen hast, habe ich gerade mit dem Gedanken gespielt, mir einen überbackenen Toast zu machen.«

Er lächelte. »Perfekt.« Dann ließ er sich auf einen Stuhl an ihrem Küchentisch plumpsen und knöpfte seinen Hemdkragen auf.

Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen, während sie an der Arbeitsplatte Käse in Scheiben schnitt und Brot mit Butter bestrich. Einer von ihnen würde den gestrigen Abend ansprechen müssen. Warum nicht sie?

»Wie war nun das Abendessen mit den Kindern?« Sie hob ein Stück Käse auf, das zu Boden gefallen war.

»Gut.« Er hielt inne. »Tut mir leid, falls ich gestern Vormittag ein bisschen kurz angebunden gewesen sein sollte.« Seine Augen waren müde. Sie wusste, dass er mitten in einem schwierigen Fall steckte.

»Nein …«

Er lächelte. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass du mir auf sanfte Weise den Laufpass gibst.«

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Nein.« Dabei wusste sie nur zu gut, wie zerbrechlich Beziehungen in den ersten Monaten waren und dass eine Unvorsichtigkeit das Ganze aus der Bahn werfen konnte.

Er nahm einen großen Schluck Wein. »Mein Prozess ist erst mal gegessen.«

»Gegessen? Ach, Mist.«

Er kniff einen Moment die Augen zusammen. »Ja. Mist ist noch milde ausgedrückt.«

»Warum denn?« Er arbeitete an dem Mordfall gegen einen Mann aus Manly, dessen Freundin im vergangenen Jahr tot in ihrem Wagen aufgefunden worden war. Damals hatten sämtliche Zeitungen so exzessiv darüber berichtet, dass Anna irgendwann aufgehört hatte, die Artikel zu lesen.

»Einer der Geschworenen hat beschlossen, im Internet seine eigenen Recherchen über den Angeklagten anzustellen, und hat dann ein paar anderen Geschworenen von seinen Entdeckungen erzählt.« Dave verdrehte die Augen. »Verfluchter Vollidiot. Wie dem auch sei. Jedenfalls habe ich jetzt erst mal genug Zeit, die Füße hochzulegen und Toast mit überbackenem Käse zu essen. Und ich habe einen Wahnsinnshunger.«

Anna stellte den Ofen an, da schlang Dave von hinten die Arme um sie und legte das Kinn auf ihre Schulter.

»Ich habe dich beim Abendessen vermisst«, sagte er. »Aber es kann nachgeholt werden, wann immer du so weit bist.«

Sie küssten sich. Der Weingeschmack an ihm war aufregend. Sie schaltete den Ofen ab und ließ sich von Dave zum Schlafzimmer führen. Auf dem Weg durch den Flur nahm er ihr Gesicht in die Hände und küsste sie leidenschaftlich. Als sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten, hatte er mehr als ein Mal gesagt, wie gern er küsste. Für Dave ging es beim Sex um das Vorher, nicht den Höhepunkt. Bei ihrem ersten Mal war er noch nicht einmal gekommen, was ihn nicht gestört zu haben schien.

Sie wachte im Dunkeln auf, als er über sie hinweg nach seinem Handy griff.

»Wie spät ist es?«, fragte sie. Es könnte längst Mitternacht sein.

»Acht.« Er warf sich auf die Matratze zurück und ließ die Finger sanft auf ihrem Oberschenkel kreisen. »Ich mache den überbackenen Toast fertig. Ich bin am Verhungern.«

»Super.« Sie knipste die Leselampe an, während er aus dem Bett stieg. Er war so lang und schlank und hatte überall leichte Sommersprossen, sogar auf dem Hintern, der bestimmt nie in die Sonne kam. Nachdem er die Unterhose angezogen hatte, verschwand er in die Küche.

Sie reckte die Arme, während ein Flugzeug grollend in Richtung Flughafen über das Haus hinwegdonnerte. Beziehungen waren nach dem Sex vorübergehend immer so viel einfacher. Zweifellos dank der irreführenden Flut an Hormonen.

Dave gefiel es, dass sie ein Mensch war, der sich bei allem Zeit ließ, das wusste sie. Ein gewisser Grad an Ruhe war für ihn offensichtlich das einzige Gegenmittel angesichts des hektischen Treibens der City. Allerdings fragte sie sich, was er von gewissen anderen Eigenheiten hielte, die sie an sich hatte. Beispielsweise davon, dass sie sich bei Unkraut entschuldigte, wenn sie es auszupfte. Das hatte sie von ihrer Großmutter geerbt, die in ihrem Denken – für eine überzeugte Christin – sehr animistisch gewesen war.

»Willst du Senf auf deinem Toast?«, rief Dave aus der Küche.

Sie schwang die Beine aus dem Bett. »Nein danke.«

Während sie auf dem Boden nach ihrer Unterwäsche suchte, ertönte nebenan ein lautes Poltern. Sie spitzte die Ohren. War da eine Tür zugeschlagen worden? Wieder ertönte ein Krachen, dann schrie ein Mann mehrmals etwas Unverständliches, und ein Kind – Charlie – weinte.

Anna zog sich rasch ihre Unterhose und ein T-Shirt an und eilte in die Küche, wo Dave gerade das Backblech in den Ofen schob.

»Hast du das gehört?«, fragte sie.

Er sah auf. »Das Geschrei nebenan?«

»Da ist eine neue Familie eingezogen. Das kleine Mädchen ist gestern Abend an meiner Hintertür aufgetaucht. Sie hatten es allein gelassen, es kam hier hereinspaziert … Es hatte eine Bisswunde am Bein, eine richtige Bisswunde. Ich wollte dir davon erzählen, aber …«

»Ein Biss von einem Menschen?« Er warf ihr einen Blick zu.

»Ich glaube schon.«

Das Weinen schlug in schrilles Geschrei über, und Anna spürte ein Prickeln auf der Haut. Sie trat ans Fenster. Im Zimmer des Mädchens war das Licht eingeschaltet, aber das Schreien schien aus dem vorderen Teil des Hauses zu kommen.

Dave trat dicht hinter sie. »Wie alt ist das Kind?«

»Fünf«, erwiderte sie.

Im Badezimmer ging das Licht an, und es ertönte ein dumpfer Knall, als würde etwas gegen eine Wand geschleudert.

Das Kind schrie. »Nein! Nein! Nein!« Noch ein Krachen, diesmal lauter.

Anna war wie gelähmt. Sie konnte nur den schrecklichen Geräuschen lauschen, die durch die Luft zu ihr drangen.

Dave packte sie am Arm. »Komm, lass uns rübergehen.«

Sie folgte ihm ins Schlafzimmer, das Blut rauschte in ihren Ohren. Während sie sich die Jeans anzog, schrie der Mann nebenan etwas, aber sie konnte nicht verstehen, was er sagte, außer »Fuck!« und dann »Erbärmlich!«. Sie hörte einen weichen Knall und wusste, dass er die Frau oder das Kind schlagen musste. Sie betete darum, es möge die Frau sein. Oh, welch schrecklicher Gedanke, aber das Kind war zu klein, viel zu klein. Sie erinnerte sich an die kleine Hand des Mädchens in ihrer.

Sie zwang sich, Dave durch die Haustür nach draußen und die Treppe hinunter zu folgen. Charlies Geschrei schallte laut durch die Nachtluft. Die anderen Nachbarn mussten es auch hören. Wo waren die? In allen Häusern, die sie sehen konnte, brannte Licht – in den hübschen Häusern und dem großen hässlichen Backsteinklotz auf der anderen Straßenseite –, aber niemand öffnete die Haustür oder sah aus dem Fenster.

Dave sprang die Stufen hoch und hämmerte an die Tür. Drinnen war das Schreien zu leisem Schluchzen abgeklungen. Dave hob die Faust, um erneut zu klopfen, und Anna sah, dass seine Hand zitterte. Die Tür ging auf, und Charlies Vater stand in Jeans und T-Shirt da. Er hielt die Tür mit einer Hand, sodass sie nur halb geöffnet war. Anna konnte gerade noch in den Flur hinter ihm spähen, der nur vom Licht aus dem Badezimmer erhellt wurde. Das Weinen hatte, abgesehen von etwas Geschniefe, aufgehört.

»Abend. Sie wünschen?« Die Stimme des Mannes klang sanft.

»Was ist hier los?«, wollte Dave wissen. »Wir haben ein Kind schreien gehört.«

»Ja.« Der Kerl war völlig entspannt, überhaupt nicht defensiv. Hinter ihm erschien Gabby im Flur. Sie hielt Charlie, ein Handtuch über dem Kopf des Mädchens. Charlie drehte das kleine, blasse Gesicht zur Haustür und winkte kurz, während ihre Mutter sie in den hinteren Teil des Hauses trug.

Der Mann lehnte am Türrahmen, als wäre er beim Plaudern in einer Kneipe.

»Kinder schreien eben«, sagte er. »Sie haben keine Kinder, oder?« Er zog eine Zigarettenpackung aus der Gesäßtasche.

»Doch, ich habe sehr wohl welche«, sagte Dave.

Anna roch etwas Vertrautes unter dem Gestank nach abgestandenem Zigarettenrauch. Urin.

»Aber Sie leben allein«, sagte er zu Anna. Er zündete die Zigarette an und blies ihnen Rauch entgegen.

»Man muss kein Kind haben, um zu wissen, wie sich ein verängstigtes Kind anhört«, sagte sie. »Es hat sich ganz danach angehört, als wäre jemand geschlagen worden.«

»Da irren Sie sich.« Er sah Anna geradewegs an. »Das war ich, als ich mit der Hand gegen die Wand geschlagen habe. Aus Frustration.« Er schniefte. »Und wenn Sie keine Kinder haben, Werteste, dann haben Sie keine Ahnung, wie das ist. Keine Ahnung. Eltern brüllen, Kinder schreien. Sie haben noch nie neben einer Familie gewohnt, das ist mal klar.«

»Ich habe in einer Familie gewohnt«, widersprach Anna. »Ich weiß über Familienleben Bescheid. Ich war selbst einmal ein Kind …«

Dave unterbrach sie. »Können wir bitte das Mädchen sehen?«

Warum zum Teufel sagt Dave bitte?, dachte Anna. Dieser Mann hier prügelt und beißt seine Tochter.

Der Kerl zog heftig an seiner Zigarette. Seine Fingernägel waren völlig abgekaut.

Dave wandte sich an Anna. »Wie heißt das Mädchen?«

Der Mann blies eine Rauchwolke aus. »Sie heißt Charlie, Mann. Sie haben sie gerade eben gesehen, als sie den Flur runter ist. Es geht ihr gut. Kümmern Sie sich einfach um Ihre eigenen Angelegenheiten. Machen Sie da weiter, wo Sie aufgehört haben.«

Er sah Anna direkt an und lächelte breit. O Gott, er hatte sie beim Sex gehört. Sein Blick glitt zu ihren Brüsten. Sie trug keinen BH. Sie verschränkte die Arme.

Daves Stimme wurde beschwichtigend, als spräche er mit einem Kind. »Lassen Sie uns Charlie einfach aus der Nähe sehen, damit wir uns vergewissern können, dass es ihr gut geht.«

»Ihr geht es prima.« Er redete langsam, sprach jedes Wort deutlich aus. »Und Sie geht das einen feuchten Kehricht an.« Mit einem leisen Klicken machte er ihnen die Tür vor der Nase zu.

»Komm.« Dave nahm Anna am Ellbogen.

Als sie neben ihm den Gartenweg entlangging, strich ihr Knie an Helens Rosmarinstrauch vorbei, und sein unpassend wohltuender Duft hüllte sie ein. Annas Haustür hatten sie sperrangelweit offen stehen lassen. Nachdem sie abgeschlossen hatte, zog sie die Vorhänge an den Fenstern zur Straße hin zu. Was konnte das für ein Geräusch gewesen sein, das aus dem Badezimmer gekommen war? War es wirklich bloß seine Hand an den Kacheln gewesen? Warum hatte das Mädchen ein Handtuch auf dem Kopf gehabt?

Dave setzte sich an den Küchentisch und griff nach seinem Weinglas. »Wir sollten jemanden einschalten. Du weißt schon, das Jugendamt.«

Sie setzte sich neben ihn. Auf einmal zitterten ihre Beine.

»Das ist ein großer Schritt …« Was zum Teufel würde der Kerl nebenan tun, wenn eine Sozialarbeiterin vor seiner Tür aufkreuzte und Fragen wegen Kindesmisshandlung stellte?

Er ließ an seiner linken Hand einen Knöchel nach dem anderen knacken. »Es ist ein großer Schritt. Also erzähl mir von dem Biss.«

Anna goss sich Wein nach und trank einen Schluck. »Er ist an ihrem Bein. Ganz oben. Und er sieht aus wie ein Menschenbiss. Ich meine, ein Biss von einem Tier würde ganz anders aussehen. Es ist ein dunkler Bluterguss. Die Haut ist ein bisschen verletzt.«

»Wir müssen es melden. Den Biss und das, was wir heute Abend mit angehört haben.« Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht. »Sie werden allerdings nichts unternehmen, es sei denn, es liegen schon mehrere Meldungen vor, die darauf hindeuten, dass das Mädchen gefährdet ist.«

»Dann werden sie heute Abend nicht vorbeikommen?«