NAMASTE - Du bist gesehen! - Christoph Zehendner - E-Book

NAMASTE - Du bist gesehen! E-Book

Christoph Zehendner

4,7

Beschreibung

Aus einer kleinen Geste erwächst etwas Wunderbares. Kommen Sie mit auf eine Reise mit Christoph Zehendner und mit Singh Komanapalli, dem "Bischof der Hoffnung". Erleben Sie mit, wie aus einer Einladung zum Abendessen in Deutschland in Indien erst ein kleines Kinderheim entsteht, dann mehrere große, dann Schulen, Krankenhäuser, Ausbildung … und eine Kirche – mit inzwischen 120.000 Gottesdienstbesuchern in 1.500 Gemeinden.

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Zum Autor:

Der Journalist, Moderator, Texter und Theologe Christoph Zehendner, Jahrgang 1961, lebt mit seiner Frau Ingrid in Triefenstein bei Würzburg.www.christoph-zehendner.de

© 2017 Brunnen Verlag Gießen

Projektleitung und Lektorat: Petra Hahn-Lütjen

Fotos: Hanna Förster, Ekkehard Graf, Michael Hahn, Petra Hahn-Lütjen, Christel Hüttner, Reinhold Klass, Suresh Penugula, Robert Rentschler, Markus Schanz, Christoph Zehendner, Ingrid Zehendner.

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN Buch 978-3-7655-0979-7

ISBN E-Book 978-3-7655-7498-6

www.brunnen-verlag.de

Mit diesem Buch verneige ich mich dankbar vor den mutigen Männern und Frauen der ersten Nethanja-Generation.In den Siebziger- und Achtzigerjahren wagten und investierten sie eine Menge – in Deutschland wie in Indien.Besonders denke ich anKarl Ramsayer, Kripanandam Komanapalli und Heiko Krimmer.

INHALT

STIMMEN ZUM BUCH: Winfried Kretschmann, Dr. Frank Otfried July, Iris Völlnagel, Steffen Kern, Ulrich Eggers, Br. Christian Hauter, Stefan Loß, Samuel Koch, Franziska Stocker-Schwarz, Andrea Adams-Frey & Albert Frey

Karten

1 – „DA KOMMT ETWAS GANZ GROSSES AUF UNS ZU!“ – Wie kleine Schritte eine große Bewegung auslösen können (Sindelfingen 1963)

2 – „HIER SITZE ICH, ICH KANN NICHT ANDERS“ – Auf dem Weg nach Visakhapatnam /Andhra Pradesh (Flughafen Neu Delhi 2016)

3 – „NAMASTE – DU BIST GESEHEN!“ – „After Show Party“ nach dem Gottesdienst (Kirche in Visakhapatnam)

4 – EIN SCHWERES JOCH – Pastor sein aus Leidenschaft (Narsapur 1962)

5 – RIESENAUFGABE NACH RIESENFLOP – Freundschaft zwischen Kulturen und Kontinenten, Teil 1 (Hyderabad/Narsapur 1975)

6 – GEMEINSAM LEIDEN –Wie Liebe den Hass überwinden kann (Orissa 2008)

7 – „DAS HIER IST MEINE FAMILIE!“ – Würde, Essen und ein Dach über dem Kopf im Shalom-Mädchendorf (Rajahmundry)

8 – FREUNDE FÜRS LEBEN – Freundschaft zwischen Kulturen und Kontinenten, Teil 2 (Jerusalem/Wildberg 1983)

9 – PREDIGT IM TERRORCAMP – Das Leben am seidenen Faden (Siler-Dschungel 1984)

10 – VERGEBUNG IST MÖGLICH – Wenn Terroristen sich mit ihrer Schuld beschäftigen (Siler-Dschungel)

11 – ZWISCHEN ZWEI WELTEN – Familienleben als Herausforderung (Schwaben-Indien)

12 – DAS LÄCHELN DER NAGA LAKSHMI – Zukunftschancen für behinderte Kinder in Kondala

13 – OFFENE ARME FÜR DEN AUSSÄTZIGEN – Begegnung mit Mutter Teresa (Kalkutta 1993)

14 – KÄMPFEN UND SIEGEN – Ein besonderer Gottesdienst mit besonderen Frauen (Visakhapatnam)

15 – DAS VOLK AUS DEM DSCHUNGEL – Begegnung mit dem Naturstamm der Bonda (Siler-Dschungel)

16 – MIT DEM WUNDER RECHNEN – Erfahrungen mit dem Unfassbaren (Sileru 1982)

17 – UND WENN GOTT NICHT EINGREIFT? – Von Zweifeln und Anfechtungen (Siler-Dschungel)

18 – DIESER TAG VERÄNDERT ALLES – Taufe mit allen Konsequenzen (Visakhapatnam)

19 – KUMARI KÄMPFT – Mutige Frauen als Säulen der Gemeinde(Visakhapatnam)

20 – DAS TABU BRECHEN – Wie die „Aids-Engel“ Leben retten (Kondala)

21 – MÄDCHEN STARK MACHEN FÜR DIE ZUKUNFT – Die engagierte Leiterin der Nethanja Highschool (Rajahmundry)

22 – EIN ECHTER GRUND ZUM FEIERN– Perspektiven für junge Dalitfrauen (Kondakerakam, „Wildberg Village“)

23 – DER MANN MIT DEM GROSSEN HERZEN – Wie eine kurze Begegnung zur unvergesslichen Lektion werden kann (Visakhapatnam)

24 – AUCH DAS NOCH – Nachgedanken und Dankeschön (Triefenstein im Oktober 2016)

Nachwort – von Pfr. Markus Schanz, Geschäftsführer des Unterstützervereins in Deutschland

BILDTEIL

STIMMEN ZUM BUCH

In seinen Reportagen gibt Christoph Zehendner ein eindrückliches Zeugnis von gelebter Nächstenliebe, Zivilcourage und Offenheit für andere Kulturen.

Seine sehr persönlichen Berichte verbinden auf besondere Weise nicht nur zwei Kontinente miteinander, sondern nehmen auch die Menschen in ihren verschiedensten Lebenssituationen in den Blick. Ein Blick, der verändert, der nachdenklich macht und für uns alle sehr bereichernd ist.

Winfried Kretschmann, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg

Wer einmal angefangen hat, in diesem Buch zu lesen, kann es nicht mehr aus der Hand legen.

In den Reportagen Christoph Zehendners schauen wir in die Augen der aidskranken Frauen und der in extremer Armut und Ausgrenzung lebenden Familien. Wir lesen von Hoffnung, Nächstenliebe und sozialem Tun der indischen Nethanjakirche und vom Evangelium heute und was Württemberg damit zu tun hat.

Dr. h. c. Frank Otfried July, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Württemberg

Christoph Zehendner hat ein Buch geschrieben, das man nicht lesen kann, ohne dass es das eigene Leben verändert!

Es ist ein lebendiges Beispiel dafür, was passiert, wenn Christen ihren Glauben ernst nehmen. Dass alles mit einer Begegnung eines Inders mit Christen in Deutschland beginnt, macht das Buch in Zeiten der Flüchtlingskrise aktueller denn je.

Iris Völlnagel, Journalistin, Indienkennerin

Die bewegendsten Geschichten dieser Welt schreibt Gott selbst.

Einige davon erzählt Christoph Zehendner in diesem Buch.

Ihre Helden sind unscheinbar und strahlen doch alle etwas Wunderbares aus – wohl deshalb, weil sie Teil einer großen Wundergeschichte sind:

das Mädchen mit den missgestalteten Beinen, das sich durch den Dreck eines Bauerndorfes robbt und später Lehrerin wird.

Bischof Singh, der „kleine Bruder von Mutter Teresa“, der eine lebendige Kirche leitet.

Und natürlich der schwäbische Christ im CVJM Sindelfingen, der das Herz am rechten Fleck hat und sein Haus für einen indischen Fremden öffnet.

Christoph Zehendner erzählt behutsam und feinfühlig, unterhaltsam und tiefsinnig von seinen unscheinbaren Helden. Er versucht die Menschen zu verstehen und er hat einen Sinn für das Wirken Gottes.

Wohl gerade deshalb berührt dieses Buch mein Herz und bewegt meine Gedanken.

Steffen Kern, Pfarrer, Vorsitzender des Gemeinschaftsverbands „Die Apis“ und Mitglied der EKD-Synode

Da lebt einer Gastfreundschaft und macht die Tür auf für einen Fremden. Und öffnet damit Herzen und setzt eine Bewegung in Gang, die aus vielen kleinen Hoffnungs-Schritten etwas Großartiges schafft:

ein hochaktuelles Buch, das zum Nachmachen verführen will.

Ulrich Eggers, Vorsitzender Willow Creek Deutschland

Dieses Buch hat Momente voller Überraschungen eingefangen, Skizzen und Beobachtungen, die uns diese beeindruckenden indischen Christen nahebringen.

Wir lernen den Bischof kennen und die Menschen, für die er Sorge trägt: Arme und Kranke, verfolgte Christen, und ganz viele, die uns in unserem Glauben und Handeln zum Vorbild werden können.

Br. Christian Hauter, Pfarrer und Prior der Christusträger-Bruderschaft, Kloster Triefenstein

Man hört, riecht, schmeckt und sieht Indien, wenn man den sehr persönlichen Reisebericht von Christoph Zehendner liest.

Viele kleinere und größere Mosaiksteine zeigen die erstaunliche Geschichte einer besonderen Kirche und ihres Engagements für Menschen.

Echt, authentisch und Mut machend. Eine moderne Apostelgeschichte.

Stefan Loß, Leiter ERF Plus, ERF Medien

Wieso sollte ich zu einem indischen Reisebericht etwas zu sagen haben?

Über meinen kleinen, relativ luxuriösen Tellerrand hinweg schauend, ließ ich mich auf die außergewöhnlichen und ansteckenden Erfahrungen ein.

„Namaste – du bist gesehen!“, so lautet der rote Faden dieser Reise.

Mit den Augen Jesu sieht der „Bischof der Hoffnung“, Singh, die aidsinfizierten jungen Frauen, die verstoßenen Witwen und die Gehandicapten.

Jetzt ahne ich, was gerade ich zu dem Bericht beitragen könnte, denn Menschen mit Handicap liegen mir natürlich ganz besonders am Herzen. Bei Bischof Singh und seiner Kirche gehören sie ganz selbstverständlich dazu. Seit einer Begegnung mit Mutter Teresa befolgt er deren Rat:

„Es ist nicht wichtig, wie perfekt du deine Arbeit machst. Es kommt darauf an, mit wie viel Liebe du sie tust.“

Die Begegnung mit Singh hat mich inspiriert und in den Bann gezogen. Ein wunderbares Beispiel, wie Liebe zur Tat wird.

Samuel Koch, Schauspieler

„Du bist ein Gott, der mich sieht“ nennt die Hagar der Bibel den liebenden Gott. Von dieser bewegenden Liebe erzählt das Buch Namaste inspirierend.

Wer kann schon abschätzen, was aus einer Einladung zum Weihnachtsfest werden kann?

Indem die kleinen Schritte der Entwicklung zum heute großen Hilfswerk Kinderheime Nethanja Narsapur fesselnd erzählt werden, wird der Leser selbst beschwingt, im täglichen Leben Gastfreundschaft und praktische Hilfe zu leben.

Pfarrerin Franziska Stocker-Schwarz, Leiterin der Württembergischen Bibelgesellschaft

Christoph Zehendner erzählt die wunderbare Geschichte der Nethanja-Leute in vielen bewegenden Episoden: spannend, berührend und hin und wieder auch beschämend für uns Deutsche, die wir so selten aus unserer inneren und äußeren Komfortzone herauskommen.

Mit Namaste können wir Anteil nehmen an einer erstaunlichen Geschichte – und an Gottes Wirken über Länder- und Kulturgrenzen hinweg.

Ein tolles Buch und eine große Ermutigung, Gott mehr zuzutrauen!

Andrea Adams-Frey & Albert Frey, Sänger(in), Musiker(in), Songwriter(in)

„DA KOMMT ETWAS GANZ GROSSES AUF UNS ZU!“

Manches Wunder fängt ganz bescheiden an.

Manche Erfolgsgeschichte beginnt mit einem winzigen Schritt.

Manche weitreichende Bewegung wird von einer eigentlich selbstverständlichen kleinen menschlichen Geste ausgelöst.

Wenn Gott wirkt.

Und wenn Menschen auf ihn hören und in seinem Sinne zupacken.

Zum Beispiel im Dezember 1963.

Im Haus eines CVJM im Süden Deutschlands, nur ein paar Schritte weg vom Zentrum der Stadt, hat sich eine farbenfrohe Gesellschaft versammelt. Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten sitzen zusammen und feiern Advent. Alleinstehende Frauen und Männer, Ehepaare, Familien mit vielen Kindern. Der „Christliche Verein junger Männer“ hier in Sindelfingen ist gastfreundlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat er extra ein Haus für Flüchtlingsfamilien gebaut, die es aus den ehemals deutschen Ostgebieten hierher nach Schwaben verschlagen hat. Egal wo sie herkommen und egal was sie in der neuen Umgebung schon erreicht haben – hier sollen sie sich herzlich willkommen fühlen. Ein Stück Heimat und einen Ort der Geborgenheit finden.

Heute sitzt ein schüchterner Gast mitten drin in der Festgesellschaft. Jawaharlal Komanapalli erlebt Advent zum ersten Mal in Deutschland. Ein junger Mann aus Narsapur im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh – im südöstlichen Teil Indiens gelegen, an der Küste, irgendwo zwischen Kalkutta und Madras. Er erweitert die ohnehin schon vielfältige Runde noch um eine Farbe. Ein Mann mit tiefdunklem Teint. Gut gekleidet, wohlerzogen und mit perfekten Tischmanieren. Aber eben durch und durch fremd in einer Welt, in der Ausländer und Menschen mit dunkler Hautfarbe noch selten sind wie ein Goldfisch im Karpfenteich.

Als Student ist Jawa – seinen kompletten Namen kann sich niemand hier merken – nach Deutschland gekommen. Im Lande der Tüftler und Schaffer soll er sich möglichst viel Ingenieurskunst aneignen. Das Geheimnis hinter dem „Made in Germany“-Gütezeichen ergründen. Den Einstieg ins Studium finanziert er sich als Schweißer am Fließband. Im großen Sindelfinger Werk von Mercedes-Benz baut er Luxuskarossen. „Beim Daimler“, wie die Schwaben ihren größten Arbeitgeber liebevoll nennen, klotzt Jawa ran. Ein Studium in Deutschland ist eine kostspielige Angelegenheit.

Jawa stammt aus gehobenen Verhältnissen, aus einer der führenden „Kasten“ – in Indien spielt diese Gliederung der Gesellschaft bis heute eine große Rolle, obwohl die Kasten offiziell schon lange abgeschafft sind.

Sein Vater Kripanandam kämpfte einst für Unabhängigkeit, politische und persönliche Freiheit, Menschenrechte. Gemeinsam mit Mahatma Gandhi und mit Nehru setzte er die Unabhängigkeit vom Kolonialstaat Großbritannien durch. Nehru, Indiens erster Premierminister, hieß übrigens ebenfalls Jawaharlal mit Vornamen. Aus Dankbarkeit und Respekt vor diesem Politiker bekam der Erstgeborene der Familie Komanapalli den gleichen Vornamen mit auf den Lebensweg.

Im Einsatz für seine politischen Ideale war Vater Komanapalli konsequent: Wie von Gandhi vorgelebt, legte auch er als Zeichen des Protestes die aus England importierte Kleidung ab. Er trug nur noch einfache Hemden und Hosen aus Baumwolle „Made in India“. Sein friedlicher Prostest gegen die Kolonialmacht England brachte ihm einen Gefängnisaufenthalt ein. Verbiegen aber ließ er sich davon nicht.

Die Verantwortung für die Gesellschaft war auch nach der Unabhängigkeit ein großes Thema bei Komanapallis: Eine Zeit lang gestaltete Kripanandam Komanapalli als Kongressabgeordneter die Zukunft des neu gegründeten Staats Indien mit.

Nach dem Ausstieg aus der Politik hatte er als Geschäftsmann Erfolg. Und so konnte er es sich leisten, seinen Sohn ins ferne Deutschland zu schicken.

„Versprich mir: Wenn du in Deutschland bist, dann nimmst du dort Kontakt zu Christen auf. Bitte triff dich mit Menschen, die wie wir in der Bibel lesen und nach Gottes Willen fragen“, so hat Jawas Mutter ihren Ältesten vor der Abreise ermahnt. Jawas Eltern sind Christen. Sie nehmen ihren Glauben an Jesus Christus ernst. Und sie möchten auch ihre Kinder – fünf Söhne und eine Tochter – entsprechend prägen. Seit einigen Generationen schon arbeitet die Großfamilie in einer christlichen Gemeinde mit. Nun sorgt sich die Mutter darum, dass ihr Sohn in der Fremde seinen Glauben verlieren könnte. Was bleibt ihm anderes übrig als zuzustimmen?

Und so sitzt Jawa also brav und folgsam im CVJM-Haus. Zwischen lauter Menschen, die ihm vollkommen fremd sind. Staunend erlebt er eine typisch deutsche Adventsfeier: mit Kerzenlicht und Tannengrün, mit Weihnachtsliedern und Tee, Plätzchen und Stollen. Wie üblich beim CVJM, gibt’s natürlich auch eine „Andacht“, einen kurzen Beitrag über einen Satz aus der Bibel. Und am Schluss wird gebetet. Stoff genug also, um das Programm zur Mutter nach Hause zu melden und dort für eine gewisse Beruhigung zu sorgen.

Gastgeber der Adventsfeier ist Karl Ramsayer, Anfang vierzig, Jugenddiakon, viel unterwegs, um junge Leute zum Glauben an Jesus einzuladen. Ramsayer begrüßt den jungen Mann aus Indien offen und freundlich, ohne jedes Vorurteil. Herkunft, Sprache, Hautfarbe des Gastes – all das spielt für Ramsayer keine Rolle. Spontan lädt er den Gast aus der Ferne sogar zur Weihnachtsfeier zu sich nach Hause ein. Ramsayers haben selbst keine Kinder. Sie öffnen ihr Herz und ihre Haustür deshalb gerne für Menschen, die ein wenig Nestwärme und Familienanschluss brauchen könnten.

Auf die Adventsfeier im CVJM-Haus folgt wenig später diekleine Weihnachtsfeier im Hause Ramsayer. Und nicht lange danach bezieht Jawa bei den beiden freundlichen Schwaben ein Zimmerchen unterm Dach. Der junge Mann aus Indien erlebt in Deutschland eine wohltuende Mischung aus Gastfreundschaft und wertvoller Gemeinschaft unter Christen. Er fühlt sich gesehen. Von Herzen angenommen. Umsorgt wie ein Sohn des Hauses. Karl Ramsayer und seine Frau Irmgard werden für Jawa wie zweite Eltern. Diese Erfahrung bewegt den jungen Mann so sehr, dass er davon seinen Eltern zu Hause in Indien berichtet. Ausführlich. Mit Begeisterung.

Vater Kripanandam Komanapalli ist tief gerührt, als er die Berichte seines Sohnes aus der Ferne liest. Und vielleicht auch ein bisschen beschämt. Nach den begeisterten Berichten über die Gastfreundschaft in Deutschland reift ein Entschluss in ihm. Oder sollte ich besser schreiben: Durch die Berichte berührt Gott Kripanandams Herz auf einzigartige Weise?

So oder so, Vater Komanapalli beschließt: Ich möchte genauso gastfreundlich sein wie diese Menschen in Sindelfingen. Mein Sohn Jawa erlebt christliche Gastfreundschaft im kalten Deutschland. Jetzt sollen einige der Ärmsten bei uns in Indien auch solche Gastfreundschaft erleben.

Kurz entschlossen beruft Kripanandam den Familienrat ein. Teilt seinen Entschluss mit und wirbt dafür. Und beginnt anschließend, den leer stehenden Kuhstall hinterm Haus zu einer Wohnung umzubauen. Dort schafft er Raum für fünf Jungs von der Straße. Bitterarme Kinder, ohne Verwandte, ohne Dach über dem Kopf, ohne Schulbildung. Er sieht sie und ihre Not. Er kümmert sich um sie. Nimmt sie in seine Familie auf. Sorgt dafür, dass sie eine Zukunftschance bekommen. Bringt ihnen den Glauben an Jesus Christus nahe.

Und Jawa?

Als er von dem privaten Hilfsprogramm seines Vaters hört, zweigt er regelmäßig etwas von seinen schwer verdienten Deutschen Mark ab. Und unterstützt damit den ersten kleinen Keim von Sozialarbeit. So kann das zarte Pflänzchen in Indien mit Unterstützung aus Deutschland Wurzeln schlagen und wachsen. Eine überschaubare Privatinitiative wird allmählich zum Anfang einer Hilfsorganisation. Eine Brücke der Solidarität entsteht. Eine Verbindung der Nächstenliebe über Kontinente hinweg.

„Die Not der Kinder ist so groß“, meldet Vater Komanapalli nach Deutschland.

Jawa gibt die Nachricht weiter. Und so fühlen sich auch Karl Ramsayer und sein CVJM in Sindelfingen herausgefordert zu helfen. Bald kann Vater Komanapalli sich um immer mehr verwaiste Kinder kümmern. Die engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des CVJM unterstützen ihn. Ramsayer sucht und begleitet Pateneltern in Deutschland, die Monat für Monat für die Kosten eines Kindes in Indien aufkommen. Schon wenige Jahre nach der ungeahnt folgenreichen Adventsfeier in Sindelfingen haben bereits fünfzig Kinder in Narsapur eine neue Heimat gefunden.

Und das ist erst der Anfang. Viel später berichtet Karl Ramsayer über diese Phase: „Wir hatten den Eindruck, da kommt etwas ganz Großes auf uns zu!“ Die Geschichte der nächsten Jahrzehnte gibt ihm recht.

Doch 1974 steht die hoffnungsvoll gestartete Initiative vor dem Aus: Vater Komanapalli ist sterbenskrank. Die Gelbsucht hat ihn so schwer erwischt, dass die Ärzte keinen Pfifferling mehr für sein Leben geben. Obwohl er mit dem Tod kämpft, trifft Kripanandam Komanapalli einen schwerwiegenden Entschluss: „Wenn ich überleben sollte, dann werde ich nicht länger Geschäfte machen. Ich möchte lieber von Jesus erzählen. Möglichst viele Menschen in meinem Land sollen die Chance bekommen, ihn kennenzulernen“, verspricht der Schwerkranke. Eine Art persönliches Gelübde, das er Gott gegenüber ablegt. Ohne mit einem Menschen darüber zu sprechen.

Und tatsächlich: Wie durch ein Wunder wird Vater Komanapalli wieder gesund. Der Ehrenmann hält, was er versprochen hat: Mit vierundsechzig Jahren wagt er einen beruflichen Neuanfang. Er zieht in den unwegsamen und wenig zivilisierten Siler-Dschungel im Bergland am Rande des Bundesstaats Andhra Pradesh. Dort lädt er Menschen zum Glauben ein. Begleitet und stärkt sie. Gründet Schulen und Gemeinden.

Aus diesen bescheidenen Anfängen wächst eine beeindruckende Organisation heran. Durch die Gastfreundschaft eines Ehepaares im Süden Deutschlands und einer Familie im indischen Narsapur entstehen eine Hilfsorganisation und eine lebendige Kirche. Heute besuchen etwa hundertzwanzigtausend Menschen sonntags einen Gottesdienst in einer der etwa tausendfünfhundert Nethanja-Gemeinden. Mehr als siebenhundert Kinder aus fürchterlichen Familienverhältnissen oder ganz ohne Familie können Heimat und Nestwärme erleben und rund tausendzweihundert eine gute Schulbildung genießen.

Der Name der Organisation ist Programm: Nethanja. Auf Hebräisch, der Sprache des Alten Testaments, bedeutet das: Gott hat gegeben.

Gott gibt alles.

Im Städtchen Narsapur, wo alles begann.

In Rajahmundry am Godavari-Fluss.

Im ländlichen Kondalaagraharam.

Genauso aber auch in der Hafenstadt Visakhapatnam.

Im Dschungelstädtchen Sileru.

In Dörfern auf dem platten Land.

Und in den Slums der Großstädte.

Engagiert und hoch motiviert laden Pastoren der Nethanja-Kirche zum Glauben an Jesus Christus ein. Und gleichzeitig stehen sie und viele andere Mitarbeiter den Ärmsten der Gesellschaft in ihren Problemen bei. Mit Kinderheimen und Suppenküchen. Mit einem Krankenhaus, einer Aidsstation, einem Leprahospiz.

„Jesus ist Sieger“, das ist das Lebensmotto des freundlichen Sindelfinger Gastgebers Karl Ramsayer, der den Stein ins Rollen bringt und damit eine Lawine der Liebe Gottes auslöst. Weihnachten 2013, fünfzig Jahre nach der folgenschweren Adventsfeier, stirbt der frühere Diakon, CVJM-Sekretär und Pfarrer im Alter von dreiundneunzig Jahren.

Hinterlassen hat er uns ein Beispiel dafür, was geschehen kann, wenn Menschen dieses Motto ernst nehmen.

Ein Beispiel dafür, wie durch Gottes Hilfe und durch menschliche Beiträge aus kleinen Schritten eine gewaltige Bewegung entstehen kann.

Ein Beispiel, das ansteckt und Mut macht.

Kommen Sie mit?

Ich möchte Ihnen gerne zeigen, wie die Begegnung bei einer deutschen Adventsfeier das Leben vieler Menschen verändert hat. Und dazu müssen Sie unbedingt die beeindruckenden Christinnen und Christen in Indien kennenlernen. Machen Sie sich mit mir auf den Weg dorthin?

„HIER SITZE ICH, ICH KANN NICHT ANDERS“

„Any passenger for Mumbai?“, schon zum dritten Mal kommt die freundliche Air-India-Stewardess mit dem zauberhaften Lächeln vorbeigeschwebt. Ihre stark geschminkten dunklen Augen fixieren mich einen Moment. Ich lächle zurück und schüttle den Kopf. Nein, ich will nicht nach Mumbai, das früher mal Bombay hieß. Auf meiner Bordkarte steht als Ziel „Visakhapatnam“. Eine Millionenstadt im Südosten Indiens. Vor meiner ersten Reise dorthin war mir der Name noch nie begegnet. Als ich mich dann auf den Weg machte, musste ich erst mal eine Weile üben. Es dauerte, bis ich den Namen der Stadt richtig schreiben und einigermaßen fehlerfrei aussprechen konnte: Wiescha-kapat-nam.

Später las ich die Städtewerbung: „Visakhapatnam – city of destiny“. Die Stadt des Schicksals. Wenn ich daran denke, muss ich schon wieder lächeln.

Erstaunlicherweise bin ich jetzt schon zum dritten Mal auf der Reise dorthin. Vor gut einer Stunde bin ich in Neu-Delhi gelandet, von Frankfurt aus nach knapp acht Stunden Flug. Danach ein paar Hundert Meter kreuz und quer durch Schalterhallen des modernen Indira-Gandhi-Flughafens. Aufzüge hoch, Rolltreppen runter. Noch mal das Handgepäck durchchecken lassen. Selbst „gescannt“ werden. Der indische Staat hat berechtigte Angst vor Terrorattacken aus dem Nachbarstaat Pakistan, außerdem machen verschiedene Terrorgruppen das Land unsicher.

Schließlich entdecke ich im letzten Eck einer Flughafenhalle die Oase der Erholung, in der ich diese Zeilen jetzt schreibe: die Lounge der Fluggesellschaft Air India. Eigentlich nur für Passagiere, die mit der teuren Business-Class geflogen sind. Aber ich habe zum Glück einen guten Tipp bekommen: Für ein paar Euro darf hier auch ein „Holzklasse-Passagier“ wie ich relaxen. Und so komme ich zu einem kleinen Frühstück, einem gemütlichen Sessel und WLAN. Kann versuchen, meine Gedanken zu ordnen. Und Ihnen erzählen, warum ich hier bin. Und warum ich Sie so gerne auf diese Reise mitnehme.

Alles begann etwa 2007. Damals arbeitete ich als Hörfunkjournalist beim Südwestrundfunk in Stuttgart. Die Landespolitik Baden-Württemberg war mein Thema. Ich berichtete im Radio über Landtagsdebatten, Wahlkämpfe, Pressekonferenzen, Intrigen und Skandale. Ein-, zweimal pro Jahr begleitete ich Politiker verschiedener Parteien bei Auslandsreisen. Aus dem Kosovo, aus Japan, aus Tschechien und den Arabischen Emiraten hatte ich schon berichtet. Und jetzt war Indien dran.

Der damalige Chef der CDU-Landtagsfraktion und spätere Ministerpräsident Stefan Mappus war ein paar Tage in Indien unterwegs. Ich erlebte seine Reise als journalistischer Beobachter mit. Gespräche, Informationen, Firmenbesuche, Besichtigungen, Empfänge. Jeden Abend im Hotel bearbeitete ich meine Aufnahmen und bastelte in meinem improvisierten Tonstudio Beiträge für die verschiedenen Hörfunkprogramme des SWR.

Die Farbenpracht und die kulturelle Vielfalt Indiens begeisterten mich. Ich mochte das Essen mit den immer neuen raffinierten Gewürzmischungen. Fand die rasante Entwicklung von Politik und Wirtschaft sehr spannend. Der extreme Kontrast zwischen superreichen und superarmen Menschen aber erschütterte mich.

Indien ist eigentlich kein Land, es ist ein Kontinent. 1,3 Milliarden Menschen leben hier. Hunderte verschiedener Völker und Stämme. Und die sprechen mehr als 100 verschiedene Sprachen und Dialekte. Indien ist ein Staat der Superlative. Die größte Demokratie der Welt. In Sachen IT und Biotech nah an der Weltspitze. Ein riesiger Wachstumsmarkt, mit dem die Welt immer mehr ins Geschäft kommen will.

Die Schattenseite: Viele Millionen Menschen in diesem Land erleben Ungerechtigkeit und Armut. Nirgendwo in der Welt prallen Zukunftsoptimismus und Hoffnungslosigkeit so hart aufeinander. Direkt neben dem schwindelerregend hohen Glaspalast des Luxushotels hausen Hunderte von bitterarmen Menschen in Verschlägen aus Blech und Pappe. Ein Anblick, den ich kaum ertragen kann.

Wenige Tage nach dieser Reise klingelt das Telefon. Fritz Schanz meldet sich, ein Reiseunternehmer, mit dem ich schon bei Israeltouren zusammengearbeitet habe und den ich sehr schätze – Sie werden Fritz und seine Frau Lydia in diesem Buch noch kennenlernen. Fritz kommt schnell zum Punkt:

„Christoph, ich habe einen deiner Beiträge im Radio gehört. Jetzt kennst du das ‚Fünf-Sterne-Hotel-Indien‘. Wir möchten dir gerne das richtige Indien zeigen. Komm mit uns nach Visakhapatnam!“

Da ist er also zum ersten Mal, der kaum aussprechliche Name dieser Stadt! Heute weiß ich: Selbst viele Inder nutzen lieber die einfachere Abkürzung „Visak“, sprich Wei-säck. Ich plaudere ein wenig mit Fritz. Erkundige mich nach der Sozialarbeit, die er als besonders engagiertes Mitglied eines deutschen Vereins dort in Indien unterstützt. Erfahre, dass Fritz einmal im Jahr mit einer Gruppe von Interessierten nach Indien reist und den Reisenden dort die Projekte und vor allem die Menschen vorstellt. Eine solche Reise sollte ich auch unbedingt mal mitmachen, findet er. Doch weil ich schon jetzt soziale Projekte in Afghanistan, in Südafrika, im Kongo und in Argentinien unterstütze, will ich mir nicht auch noch Indien als zusätzliche „Aufgabe“ anlachen. So bekommt Fritz erst einmal einen Korb.

Zum Glück bleibt der knitze Schwabe dran (das Wort „knitz“ habe ich in meinen sechzehn Jahren unter Baden-Württembergern kennen- und schätzen gelernt. Eigentlich ist es unübersetzbar. Es bezeichnet einen, der clever ist, verschmitzt, durchsetzungsfähig, liebenswert, auch ein klein bisschen verrückt, wenn ich’s richtig verstanden habe). Fritz jedenfalls ist knitz, definitiv. Liebevoll und hartnäckig wiederholt er seine Einladung noch mehrfach.

Und tatsächlich sitze ich zwei Jahre später mit ihm in einem Flugzeug, das uns nach Indien bringt.

Wie gut!

Was ich dort bei meiner ersten Reise erlebe, berührt mich tief. Ich besuche tapfere Mütter in Slumhütten. Feiere mit bitterarmen Menschen Abendmahl. Beobachte Taufen von Dutzenden von Gläubigen in einem ganz normalen See. Spreche mit Aids-Diakonen, die die Landbevölkerung aufklären. Treffe strahlende Mädchen in Kinderheimen, die von ihren Eltern einst ausgesetzt oder verkauft worden waren. Erlebe Hoffnung, Lebendigkeit, unbändige Freude in teilweise erschütternd einfachen Verhältnissen. Apostelgeschichte zum Anfassen – im einundzwanzigsten Jahrhundert.

Ich werde auf dieser Reise reich beschenkt durch die Begegnung mit engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschiedenen Gemeinden und Einrichtungen der Nethanja-Kirche. Und besonders auch durch ihren Bischof, Dr. Singh Komanapalli.

Dieser ersten Reise zu ihm und seiner Kirche folgt 2015 eine zweite. Und heute, am 23. September 2016, bin ich nun schon zum vierten Mal in Indien und zum dritten Mal unterwegs nach Visakhapatnam. Ich sitze hier in einem gemütlichen, breiten Sessel der „Air-India-Lounge“, habe ein kühles Getränk auf einem Tischchen neben mir stehen und das MacBook auf den Knien liegen.

Ich tippe und tippe. Aus einem einzigen Grund: Ich möchte Sie abholen und mitnehmen. Möchte Ihnen erklären, wie ich „hineingerutscht“ bin in diese einzigartige Erfahrung. Wie sie mich bewegt, inspiriert, bereichert und verändert hat.

Ich hoffe, dass ich Sie so angemessen einlade. Und Sie dazu bewegen kann, gleich mit mir zu reisen. Die Menschen zu treffen, deren Arbeit, deren Liebe, deren tiefer Glaube mich begeistern und mitreißen.

Denn ich bin verabredet mit einer Reihe von Menschen, die lebendiger Teil der Nethanja-Kirche sind: verantwortliche Männer und Frauen aus der Leitungsebene. Engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und „ganz normale“ Menschen, die als „Säulen“ dazugehören. Menschen mit beeindruckender, manchmal erschütternder Lebensgeschichte.

Ich will aktuelle Projekte vor Ort erleben. Und auch ein wenig auf die „Wurzeln“ achten. Zahlen und Daten interessieren mich dabei eher am Rande. Die Menschen sind es, auf die ich gespannt bin.

Bisher kenne ich viele von ihnen nur vom Hörensagen oder von kurzen Begegnungen. Jetzt will ich mehr wissen, tiefer begreifen, was sie erlebt haben. Ich ahne schon jetzt: Ich werde manchmal meinen Ohren nicht trauen. Und am Ende dankbar staunen über diese Lebenserfahrungen. Über diese Persönlichkeiten, von denen Mut und Hoffnung ausgeht. Trotz allem, was sie erlebt haben.

Nein, Sie werden keine „ausgewogenen“ Berichte von mir lesen. Ich bin in dieser Angelegenheit kein objektiver Berichterstatter. Ich schildere Ihnen leidenschaftlich subjektiv und mit brennendem Herzen, was ich hier erlebe.

Aber keine Sorge, ich schalte dabei mein geschult kritisches Journalistenhirn nicht aus.

Ich habe in den letzten Jahren viel mitbekommen von den verschiedenen Zweigen der Nethanja-Arbeit in Indien. Und genauso von dem engagierten Verein aus Deutschland, der diese Arbeit unterstützt und treu begleitet. Eine rosarote Brille hatte ich dabei nie auf. Ich kenne und schätze Führungskräfte und Mitarbeiter auf beiden Seiten. Ich kann mir einen gewissen Vergleich erlauben mit manch anderen Entwicklungsprojekten anderswo in der Welt. Ich lasse mich nicht von ein paar nett fotografierten Kinderaugen ablenken. Und ich kann Ihnen bei aller professionellen Skepsis versichern: Mich überzeugt diese Arbeit.

Das hängt mit einer ganzen Reihe von Faktoren zusammen. Der wichtigste ist für mich eben Bischof Dr. Singh Komanapalli, Bruder von Java Komanapalli. Eine beeindruckende Persönlichkeit. Ein Vater für Hunderte von Kinderheimkindern. Ein geistlicher Leiter, der nicht herrscht, sondern dient. Ein Mensch mit Stärken und Schwächen. Aber einer, der Jesus folgen und den Menschen helfen möchte, von ganzem Herzen.

In den letzten Jahren sind wir Freunde geworden, Singh und ich. Haben sehr offen miteinander gesprochen. Haben Höhepunkte und Tiefpunkte miteinander geteilt und besprochen. Natürlich sagen wir „Du“ zueinander. Deswegen werden Sie in diesem Buch selten seine Titel lesen, sondern nur seinen Vornamen – die Nachnamen spielen in Indien ohnehin keine große Rolle.

Und überhaupt werde ich versuchen, Sie sehr nahe mit meinen Gesprächspartnern in Verbindung zu bringen. Ich bin ziemlich sicher: Sie werden manche von ihnen mögen und ins Herz schließen! Zum Beispiel die beiden älteren Brüder Singhs, Jeevan und Pratap. Sehr engagierte Männer, die gemeinsam mit ihren Frauen selbstständige Arbeitszweige der Nethanja-Kirche in dem Dorf Kondala (Jeevan und Dr. Nalini, Emmanuel-Ministries) und in der Stadt Rajahmundry (Pratap und Sunitha, Shalom-Ministries) leiten und prägen.

Zurück zu Singh: Bei meiner letzten Reise nach Indien vor knapp zwei Jahren sind wir gerade mit ihm als „Reiseleiter“ auf einer Landstraße unterwegs. Ganz hinten in dem kleinen Bus, der uns zur nächsten Station bringt, sitzen Petra Hahn-Lütjen – Projektleiterin und Lektorin beim Brunnen Verlag – und ich. Wir tauschen uns über die Erfahrungen des Tages aus.

Da überrascht mich Petra mit der Frage, die fast wie eine Feststellung klingt: „Christoph, du solltest ein Buch über Singh und seine Kirche schreiben!“ Ich mache ihr spontan Mut, dieses spannende Buchprojekt tatsächlich anzugehen – aber dafür einen anderen Autoren zu suchen. Mir fallen ein paar recht überzeugend klingende Argumente ein, die gegen mich sprechen. Aber Petra bleibt ebenso beharrlich wie ein paar Jahre zuvor Fritz Schanz. So überzeugt sie mich einige Monate später, und ich sage zu.

Und bin von ganzem Herzen froh darüber.

Ich habe inzwischen schon viel über das Buch nachgedacht. Habe viel gelesen. Eine Reihe von Interviews in Deutschland geführt. Drei Tage lang war Singh dazu bei mir zu Gast.

Wir haben entschieden: Dieses Buch wird aufgebaut sein wie ein Mosaik. In jedem Kapitel schildere ich Ihnen eine Szene. Zu unterschiedlichen Zeiten. An unterschiedlichen Orten. Mit unterschiedlichen Beteiligten. Meist war ich dabei selbst anwesend. Einige Szenen habe ich mir sehr genau schildern lassen und erzähle sie so nach, wie ich sie von Augenzeugen gehört habe.

Jedes Kapitel ist ein farbenfroher Ausschnitt. Es könnte im Grunde für sich stehen. Aber wenn Sie das nächste Kapitel auch noch lesen, das übernächste und so weiter, dann könnten sich die einzelnen Bilder mehr und mehr zusammenfügen. Sie könnten – darauf hoffe ich sehr – einen guten Gesamteindruck bekommen. Sich selbst ein Bild machen. Und angesteckt werden von der Freude, dem Engagement, der Begeisterung und dem tiefen Gottvertrauen meiner Gesprächspartner hier in Indien. Und von der Hoffnung, die daraus wächst.

Und darum sitzt unsere kleine Projektcrew also hier in der Air-India-Lounge, und ich warte darauf, dass die hübsche junge Stewardess gleich noch mal hier vorbeikommt, ihren Charme versprüht und unseren Flug nach Visakhapatnam ankündigt.

O, da ist sie. Besser gesagt: ihre Kollegin. Ich habe schon so lange hier gesessen und geschrieben, dass ich den Schichtwechsel miterlebe.

Zeit wird’s. Los geht’s.

Auf nach Visakhapatnam!

„NAMASTE – DU BIST GESEHEN!“

Volksfeststimmung im Untergeschoss einer Kirche in Visakhapatnam. Draußen knallt die Sonne unbarmherzig heiß und unbarmherzig hell. Gefühlte fünfunddreißig Grad im Schatten. In der Sonne wohl noch mehr. Aber wer geht hier schon in die Sonne? Viel lieber verzieht man sich in den Schatten und freut sich über jedes kleine Lüftchen, das Kühlung bringt.

Der riesige Raum vor meinen Augen hat architektonisch den Charme einer Tiefgarage, die gelegentlich geflutet und als Hallenbad genutzt wird: Die Betonsäulen, auf denen das Kirchengebäude ruht, sind zwar sorgfältig gestrichen – der untere Teil blau, der obere weiß. Der schlichte, geflieste Boden aber wirkt mal eher grau, mal braun, mal fleckig.

In einem solchen Ambiente könnte in Deutschland vielleicht ein Tatort-Krimi spielen, in dem sich irgendwelche Gangster jagen. Hier in Indien aber dient der Kirchenkeller der Bischofskirche als behagliches Esszimmer. Quirlig, bunt, lebendig. Und irgendwie mitreißend fröhlich durch die Menschen, die sich hier versammelt haben.

Fünfhundert vielleicht, oder achthundert? Oder noch ein paar mehr? Ich staune. Durchzählen hat keinen Sinn, zu viele Säulen, Zwischenwände, Verwinkelungen verstellen mir den Blick. Zu viele Kinder wirbeln mal hierhin, mal dort hinüber. Ich würde nie alle erfassen können, die sich hier zu einer Art „After-Show-Party“ nach ihrem Gottesdienst versammeln.

Achtung, es geht los!

Wie auf einen geheim erteilten Befehl hin suchen sich alle ein Plätzchen. An den Wänden hocken sich vor allem ältere und gebrechliche Menschen auf steinerne Bänke. Überall im Raum verteilt auf dem Boden nehmen Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer jeden Alters auf dem Boden Platz. Im Schneidersitz. Ich muss schmunzeln: Als hätte jemand mit einer Schnur gerade Linien durch den Raum gezogen, so genau ausgerichtet sitzen die Hungrigen in langen Reihen neben- und hintereinander. Ein Erbe der früheren Kolonialmacht Großbritannien mit ihrem Hang zum Anstehen in einer Reihe?

Egal wie groß die Esserin oder wie klein der Esser auch sind – vor jeden wird jetzt eine erstaunlich große glänzende Platte aus Alufolie platziert. Deutlich größer als die Teller, die ich von zu Hause kenne.

Einige von den jungen Mitarbeitern, die diese Teller verteilen, entdecken mich, den interessierten Beobachter aus Europa, der hier eigentlich nicht hingehört. Freundlich lächeln sie mich an, ein bisschen schüchtern vielleicht, aber offen und fröhlich.

„Namaste“, rufen sie mir zu. Dabei legen sie die Innenseite ihrer Handflächen vor dem Herzen aufeinander und machen eine leichte Verbeugung vor mir.

„Namaste“,