Wo Zukunft wachsen kann - Christoph Zehendner - E-Book

Wo Zukunft wachsen kann E-Book

Christoph Zehendner

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Beschreibung

Das Seehaus ist einzigartig in Deutschland. Jugendlichen Straftätern wird dort die Möglichkeit zum Strafvollzug in freier Form gegeben als Alternative zur herkömmlichen Haftstrafe. Ein Knast ohne Gitter? In Familien-WGs, in denen sogar kleine Kinder leben? Was erst einmal schwer vorstellbar klingt, ist entgegen aller Wahrscheinlichkeit ein außergewöhnliches Erfolgskonzept: Die Jungs, wie sie genannt werden, haben einen streng durchgetakteten Tages- und Arbeitsplan, der vielen von ihnen härter erscheint als der Alltag im Gefängnis. Ihnen wird Vertrauen und Verantwortung entgegengebracht, dafür müssen sie sich bewähren, um in der Hierarchie der Wohngemeinschaft zu bestehen. Christliche Werte spielen eine wichtige Rolle. Aber sie werden auch mit ihren Taten konfrontiert - zum Beispiel im Programm "Opfer und Täter im Gespräch". Dieses Buch vereint 20 Geschichten von ehemaligen Seehaus-Jungs, Mitarbeitern des Seehaus und Opfern von Straftaten. Die Geschichten zeigen voller Wärme und Zuversicht auf, was passieren kann, wenn Menschen eine zweite Chance bekommen. Mit Beiträgen von Seehaus-Gründer Tobias Merckle, ehemaligen Seehaus-Jungs, der ehemaligen Hausmutter einer Seehaus-WG, langjährigen Ehrenamtlern und FSJlern, mittlerweile erwachsenen Kindern von ehemaligen Hauseltern, Gesprächen aus der Opfer- und Traumabehandlung, inhaftierten Frauen.

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Inhalt

Vorwort

1. Die Nacht, die alles verändert

2. Sie nimmt die Dinge, wie sie kommen

3. Vergebung macht heil

4. Manchmal braucht es eine zweite Chance

5. Der verrückte Macher

6. Leben pur

7. Sachsens Nummer 1

8. Es gibt einen Weg

9. Von jetzt an zusammen

10. Entweder oder

11. Unsere großen Brüder

12. Nur noch eine Nummer

13. Meine Fäuste für ein gutes Ziel

14. Trotz allem Zukunft

15. Der Beweis

16. Immer ein bisschen stärker

17. Ein guter Grund

18. Aufrecht durchs Leben gehen

19. Sinnvoll soll es sein

20. Größer als gedacht

Seehaus e. V. stellt sich vor

Vorwort

Herzlich willkommen im Seehaus! In dieser außergewöhnlichen Einrichtung wird Geschichte geschrieben. Seit 20 Jahren schon. Auf einem historischen Gut bei Leonberg leben, lernen und arbeiten junge Männer, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind und zu einer Haftstrafe verurteilt wurden. Statt ihre Zeit im Jugendknast nur „abzusitzen“, wollen sie hier im Seehaus echte Hilfestellung zu einem Leben ohne Kriminalität annehmen.

Dazu lassen sie sich auf einen durchgetakteten Tagesablauf ein. Vom Joggen um 5:45 Uhr über Schulunterricht, Ausbildung, Training, Gesprächsrunden und gemeinsamen Mahlzeiten bis hin zur fest vereinbarten Nachtruhe. Ein ehrgeiziges pädagogisches Konzept, die Erfahrung vieler Fachleute und das persönliche Engagement von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern prägen die besondere Atmosphäre im Seehaus.

In diesem Buch lernen Sie Männer kennen, die nach der Zeit „drinnen“ ihr Leben „draußen“ neu angepackt und ausgerichtet haben. Wir stellen Ihnen Menschen vor, die sich für die Seehaus-„Jungs“ einsetzen und dabei selbst erstaunliche Erfahrungen machen.

Außerdem bekommen Persönlichkeiten eine Stimme, die sich oft ungehört und übersehen fühlen: die Opfer von Kriminalität, Gewalt und Betrug. Im Seehaus-Programm „Opfer und Täter im Gespräch“ haben Verbrechensopfer die Möglichkeit, Täter zu konfrontieren und ihre drängenden Fragen loszuwerden – ein heilsamer Prozess für beide Seiten. Hier beginnt so manche Hoffnungsgeschichte und so manche Versöhnung mit der eigenen Biografie.

Versöhnung ist möglich. Ein Neuanfang kann gelingen. Diese gewaltige Zukunftsbotschaft sendet das Seehaus aus.

Lassen Sie sich von dieser Botschaft berühren.

Susanne Ospelkaus und Christoph Zehendner

PS: Die Lebensgeschichten, die wir hier für Sie aufgeschrieben haben, sind alle wahr. In wenigen Fällen haben wir zum Schutz der Betroffenen die Namen der Protagonisten und einige wenige Fakten verändert.

PPS: Einige Geschichten berühren sensible Themen wie körperliche, häusliche oder sexualisierte Gewalt.

1.Die Nacht, die alles verändert

Seit dieser Nacht ist nichts mehr, wie es vorher war. Diese Nacht kann Marc nicht ungeschehen machen. Diese Nacht hat sein Leben tiefgreifend verändert. Bis heute. Obwohl sie doch schon elf Jahre zurückliegt.

Ein junger Mann verlor damals sein Leben. In einer lauen Sommernacht. In einer Bar, in der Marc sich bis dahin sehr wohlgefühlt hatte. Durch einen tragischen Unfall. Durch eine Kette von Missverständnissen und unfassbar schwerwiegenden Zufällen. Marc war unglücklicherweise mittendrin. Mitverantwortlich. Teilweise schuldig. Und in gewissem Sinne endete in dieser Sommernacht auch sein Leben. Denn Marc hatte ein Messer dabei. Und bei einem Gerangel fiel das Opfer so unglücklich in dieses Messer, dass es verblutete.

Als Marc mir diese Geschichte erzählt, spüre ich, wie sehr ihn die schrecklichen Ereignisse dieser Nacht bis heute beschäftigen. Er redet Klartext. Drückt sich nicht herum um die Frage von Schuld und Verantwortung. Und ist doch auch immer noch fassungslos angesichts dessen, was damals passierte und was sein gesamtes Leben erschütterte.

Marc heißt eigentlich anders. Doch ihm ist es wichtig, dass er seine Geschichte offen erzählen kann. Ohne Furcht davor, nur auf die Geschehnisse dieser Nacht reduziert zu werden.

Nennen wir ihn also Marc. Sagen wir: Er stammt aus einer kleinen Stadt in Oberschwaben. Sein Vater kümmert sich allein um die Erziehung. Er hat eine gut gehende Schreinerei, auch seine Großeltern und die gesamte Familie stehen beruflich und finanziell gut da.

„Ich stamme aus gutem Haus“, versichert mir Marc und hört sich dabei ein wenig stolz an. Er wächst als Teil einer funktionierenden Großfamilie auf. Zusammen mit etlichen Cousins und Cousinen trifft er sich regelmäßig zum Essen bei der Großmutter. Man gehört zusammen. Und hält auch zusammen.

In der Grundschule läuft alles bestens für Marc. Auch auf der weiterführenden Schule kommt er gut klar. Aber als die Pubertät einsetzt, wird ihm sein bisheriges braves, bürgerliches Leben zu langweilig. Zusammen mit einigen Klassenkameraden probiert er den ersten Joint. Bis spät in die Nacht hängt die Clique auf Spielplätzen herum.

„Wir haben gemeinsam Mist gemacht“, erzählt Marc über diese Zeit. Zu den Joints kamen der Alkohol, dann Drogen wie Speed und Ecstasy. Nie übermäßig viel. Nie so, dass Marc abhängig wird. Aber doch so, dass ihn dieses zweite Leben neben seiner bürgerlichen Existenz immer mehr gefangen nimmt.

„Das Verhältnis zu meinem Vater und zu den Großeltern war immer gut“, betont Marc. „Wenn ich um 22:00 Uhr zu Hause sein musste, dann war ich pünktlich da. Anschließend aber bin ich dann heimlich über den Balkon abgehauen und habe mich wieder mit meinen Kumpels getroffen.“

Darunter hat bald die Schule zu leiden. Die Leistungen werden immer schlechter. Alles andere scheint für Marc spannender zu sein als Mathe, Deutsch oder Geografie. Sein Vater zieht schließlich die Reißleine und schickt Marc auf ein Internat. Doch auch dort tut er sich mit Jungs in seinem Alter zusammen, die mit Alkohol, Drogen und gelegentlichen Schlägereien kleine Fluchten aus dem Alltag suchen. Nur mit Ach und Krach schafft er die mittlere Reife.

Erst beim Blick zurück begreift Marc, dass er sich damals zu viel mit Leuten herumtrieb, die einen schlechten Einfluss auf ihn hatten. Und auch Alkohol und Drogen beeinflussten ihn und sein Denken und Handeln viel mehr, als ihm das damals bewusst war.

Und so kommt es zu der folgenschweren Nacht, in der ein Mensch das Leben verliert. Und in der auch das Leben von Marc zerstört wird. Beinahe jedenfalls.

Marc beschreibt die panische Stimmung, in der er sich damals unter dem Einfluss vieler Drogen befand. Zwischen ihm und einem flüchtigen Bekannten herrschen eine Reihe von Missverständnissen. Am Telefon bedroht man sich gegenseitig. Der Konflikt schraubt sich immer höher. Weil er sich in Panik hineinsteigert, trägt Marc jetzt ein Messer bei sich, „zum Selbstschutz“, wie er sich einredet. Als Marc den Widersacher dann zufällig in der Bar trifft, die er regelmäßig aufsucht, kommt es zum Eklat. Die beiden schreien sich an. Gehen aufeinander los. Beide haben kräftig Alkohol und Drogen im Blut. Sind entsprechend reizbar und unbeherrscht. Dann ein Gerangel. Ein Sturz. Und diese unglückselige Verkettung von absolut idiotischen „Zufällen“. Am Ende liegt der „Gegner“ in seinem Blut. Und Marc wird von schwerbewaffneten Polizisten abgeführt.

Die erste Nacht in einer Gefängniszelle ist der blanke Horror für ihn. Er weiß nur, dass sein Bekannter nicht mehr lebt. Wie genau das passiert ist, welchen Anteil an Schuld er zu tragen hat – Marc hat keine Ahnung.

Polizei und Staatsanwaltschaft brauchen Monate, um diese Fragen durch Zeugenaussagen und Gutachten zu klären. Marc sitzt in der Zeit in Stuttgart-Stammheim im Gefängnis. Und fühlt sich so, als sei sein bisheriges Leben zu Ende. „Ein Teil meiner Seele ist damals gestorben“, seufzt Marc in der Rückschau.

Jetzt im Gefängnis ist nichts als Leere in seinem Kopf und in seinem Herzen. Er kämpft mit Schuldgefühlen. Denkt darüber nach, auch seinem Leben ein Ende zu setzen. Lernt aber in Gesprächen mit Psychologen ganz allmählich, die Situation erst einmal so anzunehmen, wie sie ist.

Fast zehn Monate dauert seine Untersuchungshaft. Schon hier bekommt er ersten Kontakt zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Seehauses. Was sie anbieten, ist genau das, was er braucht: Gemeinschaft, Gespräche, Spiele. Er fasst Vertrauen zu den Menschen, die sich da um ihn kümmern. Und dann auch wieder etwas Vertrauen zu sich selbst.

„Wenn ich schon im Gefängnis sein muss, dann will ich diese Zeit wenigstens gut nutzen“, nimmt er sich vor. Sein konkretes Ziel: Er möchte sobald es geht ins Seehaus wechseln.

Doch erst muss er den Prozess und das Urteil abwarten. Das fällt erstaunlich milde aus: drei Jahre und sechs Monate Haft. Wegen „Körperverletzung mit Todesfolge“. Das Gericht berücksichtigt die Tatsache, dass Marc nicht „vorsätzlich“, also nicht mit Absicht, getötet hat.

Marc ist erleichtert, trotz der Haftjahre, die nun noch vor ihm liegen. Noch mehr Erleichterung empfindet er, als er wenige Wochen nach dem Urteil aus der Jugendstrafanstalt in Adelsheim ins Seehaus nach Leonberg umziehen kann.

Vom ersten Tag an kommt er dort gut zurecht. Ein „Buddy“ wird ihm zur Seite gestellt, also ein Gefangener mit Seehaus-Erfahrung, der ihm genau vorlebt, wie Marc sich hier zu verhalten hat. Der geregelte Tagesablauf tut Marc gut. Die strengen Regeln kann er akzeptieren. Und bald auch umsetzen. Nach wenigen Wochen ist er ganz und gar im Seehaus angekommen.

Dabei hilft es ihm, dass er hier nicht wegen seines Vergehens abgeurteilt, sondern als Mensch gesehen wird. „Ich spürte, dass ich im Seehaus geschätzt wurde. Endlich war ich in den Augen anderer Menschen wieder etwas wert“, berichtet Marc gerührt.

Schon nach wenigen Monaten hat er sich in der Hierarchie der Seehaus-Jungs „nach oben“ gearbeitet. Er übernimmt Verantwortung, wird zum Sprecher der Gruppe und genießt immer mehr Freiheiten. Sein erstes Ausbildungsjahr als Zimmermann schließt er innerhalb des Seehauses gut ab. Doch im Hintergrund verfolgt er ein noch größeres Ziel: Er strebt eine Ausbildung außerhalb des Seehauses an, in einem Metallbetrieb. Dessen Chef ist bereit, mit dem Seehaus zusammenzuarbeiten und den „Jungs“ dort eine Chance zu geben. Tatsächlich schafft Marc es mit seiner Bewerbung, die Firma zu überzeugen. Gegen Ende seiner Seehaus-Zeit kann er mit seiner Ausbildung im Bereich Maschinenbau beginnen.

Dazu zieht er in eine „Nachsorge-WG“ des Seehauses. In solchen Wohngemeinschaften leben Seehaus-Absolventen, die „Alumni“, nach der Entlassung mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusammen. Eine gute Begleitung auf dem Weg zurück in den Alltag. Ein Schutz gegen ein rasches Zurückgleiten in alte Gewohnheiten und alte Probleme.

Marc kniet sich in seine Ausbildung hinein. Parallel hält er intensiven Kontakt zum Seehaus und hilft dort ehrenamtlich mit. Er begleitet Seehaus-Jungs, die jetzt vor den gleichen Herausforderungen stehen wie er noch vor kurzer Zeit selbst.

Heute, gut zehn Jahre später, steht Marc mit beiden Beinen im Leben. Nach der Ausbildung ist er vom Betrieb übernommen worden. Nach einigen Jahren hat er sich zum Techniker weitergebildet. Die letzten Jahre hat er als Planungsingenieur gearbeitet. Seine Spezialität: die Planung von Anlagen für die Automobilindustrie, für Konzerne wie für Mittelständler. Ganz besonders reizt ihn dabei das Thema E-Mobilität.

Marc hat für jedes Projekt große Summen an Geld zu verwalten. Sein Chef hat ihm viel Verantwortung übertragen. Und ganz nebenbei kümmert sich Marc einige Jahre lang um einen weiteren Seehaus-Alumnus, der die gleiche Ausbildung macht wie er selbst einst. Ihn unterstützt Marc so lange, bis dieser die Abschlussprüfung mit Erfolg abgelegt hat.

Nach zehn Jahren in der Firma zieht Marc jetzt weiter. Er will in einem anderen Unternehmen weiter vorankommen. Möchte dazulernen, die eigenen Grenzen erweitern und Karriere machen.

Auch privat läuft es bestens bei Marc, der heute 28 Jahre alt ist. Seit mehr als drei Jahren ist er mit seiner Freundin zusammen. Die beiden beginnen, sich über die Gründung einer Familie Gedanken zu machen.

Mit Gott und seiner Realität hat Marc sich im Seehaus viel beschäftigt. Seine Taufe und Firmung waren eher spurlos an ihm vorbeigegangen. Die konsequente und offene Art, wie der Glaube im Seehaus gelebt wurde, die beeindruckte ihn jedoch.

„Ich habe dem Glauben eine Chance gegeben und bin bis heute offen dafür“, sagt Marc. Den „direkten Draht“ aber habe er verloren. Der Glaube an Gott sei halt kein Gesprächsthema, wenn er mit seinen heutigen Freunden zusammensitzt oder zum Klettern unterwegs ist.

„Wo wärst du heute ohne das Seehaus?“, frage ich Marc. Und erschrecke fast ein wenig, wie glasklar seine Antwort ausfällt: „Ohne das Seehaus würde es mein jetziges Leben nicht geben“, verkündet er. „Schon im Gefängnis haben mich Mitarbeiter begleitet. Ich wurde so oft aufgefangen. Ganz besonders wichtig war für mich auch die Unterstützung in der Nachsorge.“

Und dann berichtet mir Marc noch ohne Scheu davon, dass er die Hilfe des Seehauses auch nach seiner Entlassung noch dringend brauchte. Tatsächlich sei er zweimal fast erneut straffällig geworden. Weil er da zu viel mit anderen „ehemaligen Häftlingen“ abhing. Weil Alkohol, Drogen, Angeberei doch wieder eine Rolle spielten.

An diesem Punkt des Gesprächs wird Marc plötzlich überraschend ernst. Er wolle mir noch etwas erzählen, was ich ja vielleicht für das Buch nicht wissen müsste, stammelt er herum. Und berührt mich dann sehr mit dem, was er nachzutragen hat:

Eines Nachts um drei Uhr morgens habe er mit einem anderen Seehaus-Alumnus auf einem Parkplatz gestanden. Beide hätten bemerkt: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht unsere Bewährung verspielen. Dass wir uns auf keinen Fall in die falsche Richtung entwickeln und irgendwie rückfällig werden. Marc wurde bei diesem Gespräch schier übermannt von depressiven Gedanken und Gefühlen.

Ohne lange zu überlegen, habe er Tobias Merckle angerufen, den – so Marc – „Chef des Seehauses“. Der habe abgenommen. Nicht lange gefragt. Sei sofort gekommen. Habe sich zu den Jungs auf den Parkplatz gestellt. Habe ihnen zugehört. Sie ernstgenommen. Sie bei anstehenden Fragen beraten.

„Tobias hat mit uns gesprochen, bis die Sonne aufgegangen ist“, meint Marc und kann so viel Unterstützung kaum fassen. Was auch immer Tobias Merckle den Alumni damals auf dem Parkplatz mitgab: Seine Botschaft scheint im Herzen von Marc angekommen zu sein.

Wie hat Marc es doch so schön formuliert: „Ohne das Seehaus würde es mein jetziges Leben nicht geben.“

2.Sie nimmt die Dinge, wie sie kommen

Mäusealarm! Irmela schlägt mit einem Schlappen nach den Mäusen, die flitzen über den Boden, schlüpfen neben Scheuerleisten ins Mauerwerk oder huschen die Balken des alten Fachwerkhauses hoch. Da hocken sie und blicken auf den Esstisch von Irmela und Daniel. Sie sind nicht grundlos im Herrschaftsgebiet der Mäuse. Die beiden sind die ersten Hauseltern im Seehaus.

Im September 2003 ziehen sie in das baufällige Gehöft am Glemseck bei Leonberg. Der ehemalige Besitzer wohnt noch und die Abrells wohnen schon dort. Alles ist im Umbau und Wechsel. Die kleinen Nager sind hartnäckige Hausbewohner.

Das Seehaus hat das Grundstück erworben, um straffällig gewordenen Jugendlichen einen Ort zu geben, an dem ihre Haftzeit zu einer wahren Chance für das Leben werden kann. Wahr.Haft.Leben. ist das Motto der Seehaus-Arbeit. Die jungen Menschen sollen lernen, das Leben zu gestalten. Um im Miteinander zu wachsen, braucht es Ermutigung, Vorbild, Rückhalt, Routine, Nähe und Strukturen. Es braucht Eltern!

Irmela und Daniel wollten schon immer in einer Gemeinschaft leben. Während seines Zivildienstes arbeitet Daniel in Spanien mit drogenabhängigen Männern. Er entdeckt, wie Menschen mit gebrochenen Biografien in einer Lebensgemeinschaft Halt finden.

Beide wachsen in einem gastfreundlichen und aufgeschlossenen Elternhaus auf. Es ist ein Kommen und Gehen und für Irmela ist klar: Sie wünscht sich einen Alltag mit dieser Lebendigkeit. Sie studiert Sozialpädagogik, absolviert ein Auslandssemester und nimmt dann eine Stellung in der Justizvollzugsanstalt Ravensburg an.

Der Wunsch, Leben zu teilen, reift in beiden. Sie tauschen sich mit Gleichgesinnten aus, doch gemeinsame Pläne zerschlagen sich. Dann hören sie, dass Tobias Merckle Hauseltern für das neue Projekt bei Leonberg sucht. Im Juli 2003 bewerben sie sich auf die Stelle und im September ziehen sie ein. Gemeinsam mit Tobias Merckle, Mitarbeitern der Ausbildungsbetriebe und einem Hausmeister bereiten sie sich auf die Ankunft von verurteilten Jugendlichen vor. Die ersten drei „Jungs“ kommen im November und Dezember. Im neuen Jahr kommen dann drei weitere dazu.

Stück für Stück verwandelt sich das Gehöft. Es wird umgebaut, modernisiert und Platz geschaffen. Räume entstehen für den Unterricht und Werkstätten für die Ausbildungsberufe wie Schlosser, Zimmermann, Tischler oder Gartenbau. Jeder Jugendliche soll die Gelegenheit haben, mit einer Ausbildung zu beginnen.

Der Tagesablauf ist geprägt von festen Zeiten, Überwachung und Regeln, aber auch von elterlicher Fürsorge und familiären Momenten: Weihnachten und Ostern würdigen, einen Geburtstag feiern oder einfach am Sonntagnachmittag spazieren gehen.

Die Lebensgemeinschaft wächst auch auf ganz natürliche Weise. 2004 wird Irmelas und Daniels Tochter Edith geboren. Das Baby ist mittendrin, hat große Brüder und wird oft von einer FSJlerin betreut. Irmela nimmt die Dinge, wie sie kommen. Sie handelt intuitiv, wenn es um die Bedürfnisse ihrer Tochter geht. Sie handelt praktisch, wenn es Entscheidungen braucht. Sie handelt. Auch das ist sie von ihrem Elternhaus gewohnt: aktiv sein und Arbeit als etwas Positives wahrzunehmen. Gartenarbeit ist für Irmela keine Arbeit, sondern Ausgleich, Erholung und Wohltat.

Die Familie liebt es, draußen zu sein und wandern zu gehen. Wenn Irmela und Daniel losziehen, sind die Jungs dabei. Losziehen und mitziehen und ausziehen. Bis zu zwei Jahre leben bis zu acht Jungs in der Wohngemeinschaft, und viele schaffen es, danach in ein geregeltes Leben zu ziehen.

Ob sie sich jemals Sorgen gemacht hätte, dass die Umgebung ein Nachteil für ihr Kind sei? Nein! Erst in einer Krabbelgruppe wird ihr überhaupt bewusst, dass sich andere Mütter diese Frage stellen.

Wenn Edith von der FSJlerin betreut wird, kann Irmela in die JVA nach Adelsheim fahren, um dort zu arbeiten. Braucht sie für einen kurzen Moment eine Aufsicht für ihre Tochter, erlaubt sie auch den Jungs, nach dem Baby zu schauen. Das Kind weckt in den Jungs etwas, das viele Gesprächsstunden oft nicht hervorrufen: Fürsorge, Mitgefühl, Zuneigung.

Wenn die Eltern spüren, dass die Nähe für Edith zu viel wird, greifen sie ein. Das Baby ist eine echte Motivation. Tim, einer der Jungs, will unbedingt die Kleine in seinen Arm nehmen, aber weil er raucht, erlaubt es ihm Irmela nicht. Edith soll nicht den Gestank von kaltem Rauch einatmen. Tim verzichtet daraufhin auf seine Zigaretten und wehrt sich gegen den Drang, rauchen zu müssen, bis er endlich die Kleine im Arm wiegen kann.

2006 wird Sophie geboren. An vielen Stunden des Tages sind die Jungs unterwegs. Sie lernen, sind im Ausbildungsbetrieb oder im Praktikum. Zu diesen Zeiten kommen häufig Freunde der Kinder zu Besuch. Die Schwestern bleiben außerdem nicht die einzigen Kinder auf dem Hof. Es werden weitere Wohngemeinschaften gegründet und neue Hauseltern ziehen mit ihren Kindern ein. Der kindliche Freundeskreis wächst.

Letztendlich finden drei Familien ihr Zuhause auf Zeit im Seehaus. Die Kinder werden älter und Irmela will ihre Töchter in einen Waldkindergarten schicken. Doch es gibt keinen in der Nähe und die Fahrt zu einem anderen ist viel zu aufwendig. Wer fährt? Wer betreut in der Zeit die Jungs? Wer holt ab?

Und wieder einmal nimmt Irmela die Dinge, wie sie kommen. Wenn es keinen Kindergarten gibt, wird sie einen gründen! Die Stadt Leonberg muss weitere Betreuungsplätze schaffen und Irmela ergreift die Gelegenheit. Sie startet einen Behördenmarathon: Konzept vorstellen, Anträge ausfüllen, Stadträte überzeugen und Fördermittel auftreiben. Die Lage für einen Wald- und Tierkindergarten ist ideal. Der alte Hof bietet Platz für Tiere und Kinder. Man kann einen Bauwagen aufstellen und als Gruppenraum nutzen, die Tiere in der Scheune versorgen, ein Hochbeet für Gemüse anlegen und überhaupt gibt es so viel zu beobachten am Teich, im Wald und auf der Wiese.

Im Januar 2008 startet der Kindergarten mit vier Seehaus-Kindern und einer zuerst privat angestellten Erzieherin. Als dann die Betriebserlaubnis vorliegt, werden acht weitere Kinder von außerhalb aufgenommen. Heute kümmern sich vier Erzieherinnen um 27 Kinder und die Warteliste für einen Platz ist lang.

Der WaTiKi spiegelt wider, was Irmela wichtig ist: als Gemeinschaft zu handeln, fürsorglich mit den Tieren zu sein, behutsam der Natur zu begegnen, zu lernen und neugierig zu bleiben.

Die Seehaus-Jungs und die Kindergartenkinder begegnen sich im Alltag kaum. Zweimal im Jahr gibt es einen Bautag. WaTiKi-Eltern, ihre Kinder und die Jugendlichen packen gemeinsam an und renovieren den Bauwagen, machen Großputz im Stall und füllen neue Erde in die Hochbeete. Gutes Essen und geselliger Austausch schenken dem Arbeitstag Leichtigkeit.

In der Anfangsphase des Seehauses kommen zweimal im Monat die Eltern und Angehörigen der Jugendlichen zu Besuch. Irmela hat den Anspruch, alle an der Kaffeetafel zu versammeln, genüsslich Kuchen zu essen und gemütlich zu plaudern. Doch oft gibt es sehr laute Gespräche und Diskussionen zwischen den Familien und ihren Jungs. Es ist für alle Beteiligten sehr anstrengend, vor allem für Irmela ist es kräftezehrend und sie schafft die Kaffeetafel wieder ab. Nun treffen sich die Jugendlichen und ihre Familien noch immer in der Wohngemeinschaft, aber jeder ist für sich. Die Jungs sorgen selbst dafür, dass es Kaffee gibt, und die Familien bringen Kuchen mit.

Die Beziehungen zu den Eltern erleben Irmela und Daniel sehr unterschiedlich. Es gibt immer wieder Eltern, die mit nichts zufrieden sind und immer etwas auszusetzen haben, aber manche Eltern fragen die beiden auch um Rat, wie sie mit ihren Söhnen umgehen sollen. Viele Eltern leiden unter Schuldgefühlen, versagt zu haben und ihren Kindern nicht das bieten zu können, was ihnen gutgetan hätte. Dann braucht es keine Ratschläge, sondern Trost und Ermutigung. Irmela und Daniel bestärken die Eltern, dass die Jungs die Verantwortung für ihre Tat selbst tragen müssen. Das kann ihnen niemand abnehmen.

2010 wird Lea-Marie geboren und Edith ist ein Vorschulkind. Die Eltern spüren, dass Veränderungen mit dem Schuleintritt ihrer Tochter anstehen. Sie und die Jungs entscheiden sich bewusst, eine gewisse Zeit in dieser intensiven Gemeinschaft des Seehauses zu leben. Doch ihre Töchter hatten nicht die Wahl. Sie wurden in diese Situation hineingeboren.

Familie Abrell entschließt sich dazu, ihre Hauselternschaft abzulegen. Sie leben noch immer in der Seehaus-Gemeinschaft, aber in einer eigenen Wohnung und mit anderen Aufgaben. Irmela übernimmt die pädagogische Leitung im Seehaus. Daniel hat von Anfang an die Jugendlichen in der Seehaus-Schule unterrichtet. Auch ohne Hausvaterschaft bleibt er nun dieser Aufgabe treu. Die neue Situation erleichtert ihnen den Familienalltag mit einem Schulkind.

Die Seehaus-Mitarbeiter sammeln Erfahrungen mit den Jungs und hinterfragen immer wieder ihr Konzept. Wo könnte man etwas verbessern? Haben die Jugendlichen gelernt, Verantwortung zu übernehmen? Bräuchten sie Unterstützung für die Zeit nach der Haft?

Es zeigt sich schnell, dass sich das Konzept mit seinen klaren Regeln nicht auf den Alltag außerhalb des Seehauses übertragen lässt. Bei den Eltern oder in einer eigenen Wohnung herrscht eine andere Dynamik und dafür braucht es weitere Unterstützungsangebote.

Irmela entwickelt gemeinsam mit dem Team ein Nachsorgeprogramm. Nach der Entlassung bieten die Seehaus-Mitarbeiter den jungen Männern nun an, ihnen bei Schule und Arbeit, bei Ämtergängen oder der Schuldenregulierung und anderen lebenspraktischen Themen zu helfen. Allein zu wissen, dass sie jemanden haben, den sie fragen könnten, ist für die jungen Männer eine Erleichterung.

So wie auf dem Seehaus-Gelände über Jahre umgebaut und angebaut wurde, wird auch die pädagogische Arbeit ausgebaut. Inzwischen trägt Irmela die Leitung des Seehauses, initiiert ein Anti-Aggression-Training und schult die Jungs darin, Mitgefühl zu entwickeln. Wodurch entsteht Empathie? Wohin mit der Wut? Das, was Irmelas Töchter ganz selbstverständlich in einer liebevollen und zugewandten Familie lernen, haben viele Jungs nie erlebt: zu reflektieren, sich zu entschuldigen oder zu vergeben. In den Trainingsprogrammen werden durch Gesprächsimpulse, mit Interaktionen und Selbsterfahrung die verkümmerten Ressourcen der Jungs geweckt.

Nur wer sich seiner Gefühle bewusst ist, kann Gewaltsituationen rechtzeitig erkennen. Nur wer mitfühlen kann, entwickelt Reue für die eigenen Taten, die Leid ausgelöst haben.

Irmela begleitet das Programm „Opfer und Täter im Gespräch“. Vor allem die Opfer werden dort gesehen und gehört und dürfen ihre so drängende Frage stellen: Warum? Warum hast du das getan? Für die Opfer sind diese Begegnungen eine große Hilfe im Heilungsprozess. Tätern wird zum Teil erstmalig bewusst, welche Folgen ihre Straftat im Leben der Opfer haben. Für sie beginnt auch ein Prozess: Schuld eingestehen, Verantwortung übernehmen, Wiedergutmachung leisten.

Irmela nimmt die Dinge, wie sie kommen – auch die schönen. Sie erwartet nicht, dass sich die jungen Männer bei ihr melden, aber wenn sie es nach Jahren doch tun, ist es ihr sehr wertvoll.

Sie bekommt am Muttertag kleine Nachrichten per WhatsApp – mal ein Emoji, mal ein Blümchen, mal ein Dankeswort.

Ein Alumnus, der in der Schreinerei gelernt hat, schickt ihr zu Weihnachten ein Päckchen. Es sind selbstgearbeitete Dekoartikel drin, die er auf Märkten verkauft. Er hat seine zweite Chance genutzt.

Oft vergehen Jahre, bis sich jemand wieder meldet und dann ist es umso schöner. Seltsamerweise sind das oft die Jungs, mit denen Irmela viele Konflikte hatte. Wahrscheinlich ist es Irmelas Gelassenheit und Klarheit, die diesen jungen Menschen täglich beweist: „Du kannst machen, was du willst. Ich habe dich trotzdem gern!“

3.Vergebung macht heil

„Ich möchte ihm vergeben.“

Markus erwacht am 16. Juli 2018 auf der Intensivstation des Krankenhauses. Er kann sich kaum rühren. Auch sein Geist ist noch lange nicht in Höchstform. Doch da ist wieder dieser Gedanke, der ihn nicht loslässt: „Ich möchte ihm vergeben. Mein Körper ist zwar verletzt. Und meine Seele auch. Aber ich spüre, nur wenn ich ihm vergebe, kann meine Seele wieder heilen.“

Markus sitzt mir in seinem gemütlichen Wohnzimmer in einem schwäbischen Kleinstädtchen gegenüber. Viel Licht fällt durch große Fenster. Die Möbel in hellem Holz. Einrichtung und geschmackvoll ausgesuchte Details verraten Stil.