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In einer Zeit, an die sich heute niemand mehr erinnern kann, lebte ein Volk, das aus zwei Völkern entstanden war. Abgeschieden vom Lauf der Welt entwickelte es sich und seine Fähigkeiten rasch. Fleißig wurden alle Erkenntnisse aufgeschrieben und gelehrt. Auch außerhalb der eigenen Grenzen. Dieses Volk war ob seiner Gaben sehr beliebt. Doch als seine Heimat bedroht war, setzte es alles daran, das Wissen und die Fähigkeiten nicht mit dem Reich untergehen zu lassen. Aus mannigfaltigen Gründen klappte dies aber nicht so recht. Deshalb wissen wir heute nur noch Bruchstückhaft, wer dieses Volk war und was ihm geschah. In Legenden, Mythen, Träumen, Gedichten und Bildern ist es uns erhalten geblieben, doch von den Tatsachen weiß niemand mehr zu künden. Hier soll die Geschichte dieses Volkes erzählt werden. Buch I erzählt von den geographischen Gegebenheiten des Reiches, und den damaligen Lebensbedingungen für Mensch und Tier. Dazu von den beginnenden Aktivitäten der Herrschenden, die verhindern sollten, dass die dieses Volk in den Wogen der Geschichte untergeht. Carlina, Priesterin im Ruhestand, erhält von der Kaste einen ungewöhnlichen Auftrag. Beim Versuch diesen regulär durchzuführen, trifft sie auf eine Schwerverletzte, zwei tote Kinder und einiges mehr.
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Seitenzahl: 316
Veröffentlichungsjahr: 2013
Faiyra Zann
Nebel über Eden
Buch I
~ Heimat ~
Roman
© Faiyra Zann 04/2013, www.faiyra.de
Coverfoto: Dirk Paeschke, www.kostenlos-fotos.de
Coversatz: Uniprint, Hildesheim,
www.uniprint-hildesheim.de
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN: 978-3-8495-4360-0
Erstausgabe
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Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen und kein Mensch war da, der das Land bebaute. Und Gott der Herr machte den Menschen, Staub von der Erde, und blies ihm den Odem des Lebens in die Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. Und er ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen. Da stieg ein Nebel auf von der Erde und feuchtete alles Land. Das ist aus Himmel und Erde geworden …
(1 Mose 2,4-15; 15. N. Trin. VI)
Prolog
Es ist nicht leicht im Alter all das, das lieb und teuer geworden ist loszulassen, um in eine völlig neue Welt zu treten. Wenn man feststellt, dass all das, was wahr und echt war, in die Untiefen des Bewusstseins verdrängt nur noch als Legende durch die Kontinente zieht. Vorgetragen von Dichtern und Sängern, verbannt von denen, die auf Macht und Ruhm aus sind. Wenn alles, was über Epochen gelehrt wurde, keinen Eleb mehr wert ist, weil die, die noch übrig sind, davon entweder nichts wissen oder die Eingeweihten die Lehren missbrauchen. Nun gut. Darin waren die Hohen des Reiches schon immer wahre Künstler. Wurde zu ihrer Zeit ein Polieren der Wahrheit jedoch dazu gebraucht, die Ordnung im Reich aufrechtzuerhalten, ging es nun beinahe nur noch um die Bereicherung des Selbst. Zu wenige Gebiete gab es noch, in denen das Priesteramt aufrichtig ausgeübt wurde.
Carlina blickte von ihrem Platz, an der Mauer des Tempels des Mehered - viel war von ihm nicht übrig geblieben, und soweit sie informiert war, war es der einzige der zumindest in den Grundfesten noch stand - auf das große Gewässer. Nach Tagen, in denen es in seinem Innersten aufgewühlt gewesen war, und seine Wut darüber an dem Land, welches einmal ihre Heimat war, ausgelassen hatte, lag es nun friedlich vor ihr. Die Sonne hatte den Kampf gegen den grauen Dunstschleier gewonnen, und wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie meinen die Welt sei in Ordnung. Die Sonnenstrahlen zauberten Lichtpunkte auf die sanft wogenden Wellen - welch Ironie - in den Farben der Kristalle, die noch bis vor kurzer Zeit in ihrer Heimat aus den Bergen geborgen wurden. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie das riesige Land im Osten gerade noch erahnen. Wie viele aus ihrem Volk es dorthin geschafft hatten, würde sie wohl nie erfahren. Ebenso würden die, die überlebt hatten nie wissen, wie es um die alte Heimat stand.
Alle Hohen hatten gewusst, dass ihrem Reich etwas Schreckliches bevorstand. Aus diesem Grund hatte ihre Kaste alles getan, um die Bevölkerung zu retten. Dass jedoch mit dem Reich auch das Wissen untergehen würde, hatten sie zu der Zeit nicht geahnt. Und das war vielleicht die eigentliche Katastrophe, die seit so langer Zeit angekündigt gewesen war. In manchen Momenten überlegte Carlina, ob es einen Nutzen gehabt hätte, wenn sie mit den anderen gegangen wäre. Ob sie vielleicht etwas hätte retten können. Doch sie war sich sicher, dass sie die Strapazen einer solchen Reise in ihrem Alter nicht mehr überstanden hätte. Sie hatten ja kaum mehr Kontakt zu den jungen Priestern, die mit auf die Überfahrt gegangen waren, weshalb davon auszugehen war, dass selbst diese, aufs Äußerste trainierten Mitglieder der Kaste, es nicht bis ans nächste Land geschafft hatten … Ja, und die, zu denen noch eine Verbindung bestand, schickten Eindrücke von wahrlich chaotischen Zuständen, Ohnmacht, Krieg und Verderben.
Carlina zog eine Grimasse und wandte sich vom Gewässer ab, hin zu der Ruine, die noch vor kurzem ein stattlicher Tempel gewesen war. In ihrem Alter … Keiner würde nun je davon künden, dass sie es mit 75 Ernten zu der ältesten noch lebenden Frau im ganzen Reich gebracht hatte! Und es sah nicht so aus, als sollte ihr Leben so bald zu Ende gehen. Doch was hatte sie jetzt noch davon? Soweit die spärlichen Informationen, die sie hier von den restlichen Priestern bekamen, die auf der Suche nach weiteren überlebenden Reichsmitgliedern waren stimmten, lebten in dieser Ruine die einzigen Überlebenden in einem Umkreis von drei Tagesreisen. Zwar waren die Sucher noch nicht überall gewesen, doch für den Moment sah es so aus, als bestünde das Reich nun aus einem zerstörten Tempel, indem 23 Priester und Diener lebten, die allesamt, schon über das Alter hinaus waren, indem man eine Bevölkerung vermehren konnte. Zudem die acht Männer, die sich täglich mit den Booten, die noch nutzbar waren, auf die Suche nach weiteren lebenden Menschen machten. Damit war wohl sichergestellt, dass niemand aus ihrem Volk, in der alten Heimat, überleben würde…
Doch ganz weit hinten, hinter all diesen Gedanken, ließ eine Ahnung die alte Priesterin lächeln. Die Ahnung dass später einmal, wenn schon niemand mehr etwas über die Geschehnisse wusste, die Nachkommen ihres Volkes das, was übrig geblieben war, von ihrem Land, wieder in Besitz nehmen würden. Diese tröstenden Worte tat sie stets nach Sonnenuntergang den anderen Priestern, die mit ihr hier ausharrten kund, um deren Elend um den Verlust der Identität und der Lieben ein wenig zu mindern. So fiel es allen leichter zu akzeptieren, dass sie - über kurz oder lang - von der Geschichte begraben werden würden.
Alsdann versanken sie in Erinnerungen. Erinnerungen an die Zeit, als das Leben noch nicht aus den Fugen geraten war. Erinnerungen an das, was sie taten, um der Katastrophe mit all ihrer Macht entgegenzutreten. Und mächtig waren sie, oh, ja!
Die Sonne stieg gerade hinter dem Wald auf, als Carlina vor die Tür ihrer kleinen Hütte trat. Sie streckte die müden Knochen und gab sich dann einige Minuten dem beginnenden Tag hin. Sie hatte die Hütte extra so bauen lassen, dass sie, wenn sie aus der Tür trat, einen Blick auf den Wald und den anbrechenden Tag haben würde.
Zu Sonnenaufgang - und sie verließ die Hütte immer zu der Zeit - herrschte eine magische Stille. Für ein paar Sekunden war kein Geräusch zu hören, so als ob die Natur in ehrfürchtiger Andacht verharrte. Selbst der Wind, der hier immer leicht bis stürmisch blies, hielt für die geheiligten Augenblicke inne. War dies vorüber, begannen, von überall her, gleichzeitig die Geräusche wieder auf den kleinen Hügel zu branden.
Die Sonne war ohne eine Färbung der fliehenden Wolken angekommen, sodass es für die nächste Zeit klar und sonnig bleiben würde. Das war eher selten der Fall. Oftmals zogen direkt nach der Ankunft der Sonne graue Wolken auf, die diese bis kurz vor dem Höchststand verdeckten. Ihr Wasser ließen jene hier zwar nur einen Mond lang nach der Ernte ab, neben einem leichten Nebel waren sie jedoch traute Begleiter durch die Sonnenwenden. Trotzdem zog die Frau einen gewebten Umhang fester um den schlanken Körper. In der Früh war der Wind, hier auf Macharitha, sehr lebhaft.
Erst als das Leben wieder an ihre Ohren drang - erstaunlich laut empfand sie dies jedes Mal - verließ Carlina diesen Standort vor der Hütte, um in den Verschlag zu gehen, in dem sie die Notdurft verrichtete. Dieser war ein Novum auf der Insel, auf der Carlina nun schon seit elf Jahren lebte. Was waren die einfachen Leute aus dem Dorf erstaunt gewesen, als die frisch angekommene, alte, Frau sie beauftragte eine Hütte aus Lehm zu errichten und, etwas abseits davon, einen Schuppen aus Holz, der ein großes Loch umgab, über welches ein bearbeiteter Holzbalken gelegt wurde, gleich dazu! Carlina musste jedes Mal grinsen, wenn sie daran zurückdachte.
Lehmhütten hatten sonst nur die höheren Herrschaften und einen Abtritt kannten die gar nicht. Sie selbst hatten Hütten aus Holz und Blattwerk oder Fell und eine einfache Jauchegrube, in die, die in Gefäßen aufgefangene, Notdurft des ganzen Dorfes gekippt wurde. An manchem Tag stank es dort fürchterlich!
Dass es sich bei der alten Frau um eine Priesterin mit den höchsten Weihen handelte, konnten sie zu der Zeit noch nicht wissen.
Sie hingegen hatte immer einen Becher mit Kräutersud in dem Verschlag. Diesen goss sie über die Verrichtung und deckte dann alles mit Blättern ab. Bei ihr stank es nicht.
Ihr nächster Gang führte sie zu ihrem tierischen Freund Irdo. Irdo war ein Maultier, wie es in den Schriften stand: störrisch, aber treu. Und auch er war alt. Carlina hätte Schwierigkeiten nachzurechnen, wie lange die beiden ihre Wege schon gemeinsam bestritten.
Auch dies war für die Bewohner des Dorfes neu gewesen. Diese kannten die Maultiere nur als Packtiere, welche ihnen halfen, die Pässe, in den Gebirgen, mit allerlei Gepäck zu überwinden. Dass ein solches Tier auch einen Menschen transportieren würde und der dabei die Kontrolle über das Tier behielt, auf eine solche Idee wären sie in ihren kühnsten Träumen nicht gekommen!
Doch Carlina hatte auf dem Rücken des Tieres manch ein Abenteuer bestritten - schon zu den Zeiten, als sie noch als Wanderheilerin durch die Lande zog.
Ihre letzte Reise als solche lag nun schon 15 Jahre hinter ihr. Danach war sie für einige Zeit in den Rat der Ältesten berufen worden. Nach all den Jahren unter freiem Himmel hatte Carlina jedoch Probleme damit gehabt, hinter Mauern eingesperrt zu leben. So hatte sie der Ältestenrat des höchsten Gremiums schließlich entlassen und Irdo hatte sie hierher getragen.
Sie hatte sich diese Bleibe hier gesucht und die Rationen, die ihr als Priesterin im passiven Dienst zustanden auf einen Schlag mit auf den Weg bekommen. Diese waren nach der durchschnittlichen noch zu erwartenden Lebensspanne berechnet und durch ihr Verlassen des Rates um einiges geschrumpft. Doch es hatte nicht in ihrer Absicht gelegen reich zu sein sondern frei. Nur so hatte sie diese Heimstatt auf dieser Insel, fast am westlichen Ende des Reiches, errichten können.
Jene Insel war einer der wenigen Orte gewesen, die sie während der vielen Jahre ihres Dienstes nur selten besucht hatte. Meist hatten die Wege eher nordöstliche Richtung genommen. Im Norden war es kühler und regnerischer als hier und das Wetter schlug oftmals um, was zur Folge hatte, dass die dort lebenden Reichsmitglieder häufiger erkrankten, als jene, die in den konsequent warmen Gefilden lebten.
Das zumindest hatte sie bis zu ihrer Ankunft hier gedacht. Es hatte sich aber herausgestellt, dass die Menschen hier kaum wussten, dass sie einen Heiler rufen konnten. Und das, obwohl auch hier die Eltern den zweiten Sohn und die zweite Tochter in den Tempeldienst geben mussten. Warum das bis zur Ankunft hier so war, hatte sie nie herausfinden können …
Nun gut, auf dieser Insel gab es wenig, dass zu einer Rückkehr einlud, wenn man einmal den Geruch und das Pulsieren der Städte erlebt hatte. Hier gab es nur drei lose Siedlungen und die Hütten der Hirten. Nicht einmal um den kleinen Hafen, an der Ostküste der Insel hatte sich ein richtiges Dorf gebildet. Außer ein paar beauftragten Be und Entladern und drei Hochseefischerfamilien gab es kein menschliches Leben in der Gegend. Ansonsten hatte sich am Fluss, der von dem See in Richtung Westen abging eine weitläufige Gemeinschaft von 17 Familien gebildet. Die acht Fischerfamilien am östlichen Seeufer bildeten einen Zusammenhang, die Hütten der zwölf Hirten mit ihren Angehörigen standen ein wenig abseits davon, jede für sich. Die Ansiedlung ohne Bezug zum See, auf der einen Seite vom Wald begrenzt auf der anderen vom Gebirge, stellte als Einzige so etwas wie ein eigentliches Dorf dar.
Eigentlich musste man sagen von einem Berg begrenzt …
Obst und Gemüsebauern hatten hier ein paar Parzellen, Handwerker eigene Hütten. 39 Familien lebten dort, die Behausungen waren halbrund angeordnet mit einem Versammlungsort in der Mitte. An diesem wurden die Feste gefeiert und Angelegenheiten besprochen, die die Insel oder die Bewohner betrafen. Dazu wurden auch die restlichen Insulaner dorthin gerufen. Insgesamt wurde die kleinste der bewohnten Inseln nur von 439 Menschen bevölkert. Eine eigene Verwaltung besaß die Insel nicht. Die hiesigen Belange regelte der Verwalter der Nachbarinsel. Diese war um einiges größer und hatte auch mehr Einwohner. Dort hatte die letzte Zählung 16539 Personen ergeben.
Der kam nur hierher, um die fällige Steuer einzutreiben oder Neuerungen im Kodex bekannt zu geben.
Auch einen Tempel beherbergte diese Insel nicht. Wie auch verwaltungsmäßig, waren sie, was das anging, an die größere Insel im Südosten angeschlossen. Dort stand ein Ableger des Tempels der Nayne. So war die Bevölkerung hier weitestgehend sich selbst überlassen.
Da in diesem Tempel größtenteils Forschungen betrieben wurden, kamen die wenigsten Neulinge dorthin. Zumeist wurden diese in den Haupttempel, der Hauptstadt, gesandt. In jenem fand noch immer die Grundausbildung statt. Nur in ganz seltenen Fällen - wenn der Jahrgang zu stark war, zum Beispiel, - wurden die Neuankömmlinge auch auf einzelne Untertempel verteilt und blieben dort, für das erste Jahr. Carlina hatte in einem solchen Untertempel ihre Lehren begonnen.
So fand Carlina nach ihrer Ankunft Erkrankungen vor, von denen allgemein angenommen worden war, dass sie ausgemerzt seien. Faulendes Fleisch und Vergiftungen, weil Wunden nicht fachgerecht versorgt worden waren, Komplikationen bei Frauen nach einer Geburt, eine hohe Säuglingssterblichkeit. Oder auch Vergiftungen, die von falsch gelagerten Nahrungsmitteln rührten. Dafür gab es die, auf den anderen Inseln typischen, Erkrankungen der Luftwege und der Gelenke hier kaum.
Hatte die alte Priesterin sich diese Insel als neue Heimstätte ausgesucht, um die vielen Erlebnisse der Priesterinnenzeit zu verarbeiten - sie hatte in den Jahren der Wanderschaft üble Dinge erlebt und auch im Tempel herrschte nicht das Paradies - und in Ruhe und Abgeschiedenheit ihr Leben zu beschließen, konnte sie sich nach einem Jahr das Dilemma nicht länger mit ansehen. Zusätzlich war aufgefallen, dass der Verwalter es mit den Steuern, die er den Bewohnern abnahm, nicht so genau hielt. Da wanderte schon die eine oder andere Abgabe zu viel ins Säckel und später in die eigenen Taschen! Da die wenigsten Inselbewohner rechnen oder lesen konnten, hatte er mit denen leichtes Spiel.
Carlina war so etwas zuwider. Deshalb war sie fortan bei den Abgaben vor Ort. Außerdem hatte sie sich mit dem höchsten Gremium auseinandergesetzt, um eine Lehrpflicht für die Kinder der hiesigen Familien durchzusetzen.
Das war eine völlig neue Idee und es hatte sie einige Mühe gekostet die Hohen zu überzeugen, doch nach einem weiteren Jahr war es beschlossene Sache. Das Einzige, was Carlina daran nicht gefiel, war, dass die entsprechenden Familien auch dafür eine Abgabe zahlen mussten, und zwar an sie. Die Elite hatte Angst um die Autorität auf diesem Gebiet, würde einer der ihren seine Dienste vollends kostenlos anbieten.
Mit der Zeit waren diese zusätzlichen Abgaben zum Segen, für Carlina geworden. Die ausgezahlten Kastenansprüche an sie wären längst verbraucht und weiterführend lief die Verteilung spärlich und schleppend! Trotzdem gab die Priesterin noch immer etwas ihrer Einnahmen an die Bevölkerung zurück. Über die Schüler bekamen die Familien manch kulinarische Seltenheit, zu denen sie als Priesterin einen bevorzugten Zugang hatte.
Nun war es nicht so, dass die Reichsmitglieder für jede Handlung, die einer der Priester oder Priesterinnen vornahm, bezahlen mussten, aber die erhobenen Steuern schlossen sämtliche Aufwendungen der Priesterkaste mit ein. Würde ein Teil der Dienste nun unentgeltlich angeboten - wie sollte dieser Steueranteil gerechtfertigt werden?
Inzwischen gab es auf allen Inseln eine Schulpflicht. Diese Lehrzeit, auf den Inseln, ging über fünf Ernten. Sie begann für die Kinder mit dem siebten Sonnenumlauf und endete nach dem dreizehnten.
Somit endete die Ausbildung der Jungen und Mädchen um einiges früher als im Tempel. Dies hatte damit zu tun, dass die jungen Frauen oft schon mit dem vierzehnten Umlauf der Sonne einem Mann gegeben wurden. Zu diesem Zeitpunkt mussten jene auch die Haushaltsführung einwandfrei beherrschen. Es hatte aber auch zur Folge, dass durch die verkürzte Lehrzeit - auch wurde nicht von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gelehrt, da die Kinder davor und danach auch weiterhin in den Familien arbeiten mussten. So halfen sie bei der Aussaat und der Ernte, versorgten die Alten oder auch das Vieh, wuschen und reinigten die Hütten. Sie mussten auch jeden Tag, je nach Herkunft, bis zu 5000 Schritte gehen, bis sie bei Carlina waren - dass nur das wirklich notwendige Wissen weitergegeben wurde. Die Schüler lernten zu lesen, zu schreiben und zu rechnen. Zudem gab es noch Lektionen in der Lagerung und Haltbarmachung von Nahrung und jene über die Gesetze der Krankheiten. Viele Gebrechen entstanden nämlich durch Unachtsamkeit. Außerdem Grundzüge der Krankenpflege und eine Erläuterung des Staatsgefüges, ohne dabei in die Tiefe zu gehen.
So war es dazu gekommen, dass Carlina, als Erste dieser Kaste überhaupt, nach ihrem aktiven Dienst für den Tempel einen zweiten aktiven Dienst angetreten hatte.
Ein Lächeln schlich sich ins Gesicht, als sie an die Horden dachte, denen sie alles beigebracht hatte, was jene jetzt konnten. Viele aus den frühen Klassen schickten inzwischen die eigenen Kinder zu ihr. Momentan betreute Carlina 58 Jungen und Mädchen, die sie aus der Not heraus in zwei Klassen geteilt worden waren. Dabei hatte sie nicht nach Geschlecht, sondern nach Alter getrennt. Die sieben – neun Ernten erreicht hatten kamen in der Früh, und blieben, bis die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, um dann von den 10-13 Ernten alten abgelöst zu werden, die erst kurz vor Sonnenuntergang wieder heimgingen.
Gehörte jemand der Kaste an, so begann seine Ausbildung im Alter von fünf Jahren. Nach drei Jahren wurde geprüft, ob derjenige oder diejenige für eine weiterführende Lehre geeignet war. Es geschah in den seltensten Fällen - Carlina waren nur zwei bekannt - dass diese Prüfung nicht bestanden wurde. Die beiden, die es nicht geschafft hatten, wurden ihren Familien zurückgegeben. Es war davon auszugehen, dass diese beiden Kinder mit einem Defekt im Inneren zur Welt gekommen waren.
Nach weiteren vier Sonnenumläufen - im Alter von 12 Ernten - wurde, nach einer erneuten Prüfung, die erste Priesterweihe gefeiert, sofern die Prüfung bestanden ward Die Priester und Priesterinnen der ersten Stufe erhielten erweiterte Rechte und Pflichten. Das graue, grobe, Einheitsgewand wurde abgelegt. Von da an trugen die Eingeweihten Gewänder in einem hellen Gelb. Mädchen und Jungen wurden ab da getrennt voneinander ausgebildet.
Die Durchfallquote lag bei dieser Prüfung schon höher. Um die 30 Kinder bestanden in jedem Jahr die Aufgaben nicht. Auch diese mussten zurück zu ihren Familien, was nach dieser langen Zeit im Tempel den allermeisten sehr schwer fiel. War eine Rückkehr nicht möglich, weil, zum Beispiel, keine Familie mehr existierte oder diese es sich nicht leisten konnte, noch ein Mitglied zu ernähren, blieb jenen noch die Möglichkeit, als Diener im Tempel für ihr tägliches Brot zu arbeiten.
Wieder zwei Jahre darauf folgte die nächste Weihe. Bis dahin war eine Spezialisierung des Einzelnen vorgenommen worden, der sich nun für ein Element und somit für seine weitere Laufbahn entscheiden musste.
Carlina war bis heute der Ansicht, dass diese Prüfung die schwerste von allen war. Sie ging über drei Tage und barg die für junge Menschen größte Herausforderung überhaupt: das mit sich Alleinsein.
Hatte man die Aufgaben gemeistert, trat man die erste Reise seit dem Eintritt in die Kaste an. Von nun an trug das Gewand eine blaue Farbe. Je nach Tempel, in dem die weitere Ausbildung erfolgte, war die Schattierung eine andere. Nur die ganz dunklen Blautöne waren den höheren Graden vorbehalten.
Für die, die bei den Aufgaben versagten, war dies wohl die schlimmste Niederlage. Diese mussten den Tempel nämlich auf jeden Fall verlassen. Es wurde davon ausgegangen, dass diese jungen Menschen von den Göttern nicht gerufen wurden. Im Tempel wurde um jene getrauert, als wären sie gestorben. Im Alter von 14 Jahren war man nämlich auch nicht mehr auf die Familie angewiesen.
Der Großteil der Mädchen wurde in diesem Alter vergeben, die Jungs nahmen eine Arbeit auf. Nun gab es aber für diese Mädchen keinen Erwählten und die Jungs hatten sich nicht nach einer einträglichen Arbeit umsehen können. Somit waren sie für die erste Zeit auf Familie oder Gönner angewiesen, bis sie auf eigenen Füßen standen. Für das Ansehen beim Volk war solch ein Zustand abträglich. Während es den jungen Männern selten schwer fiel, nach einiger Zeit trotzdem eine Arbeit aufzunehmen - manchmal ließen die sich etwas völlig Neues einfallen - hatten die jungen Frauen es viel schwerer. Einen Partner gab es für jene so schnell nicht und, dass junge Frauen einen eigenen Beruf antraten, der nicht dazu diente eine Familie mit zu ernähren, stieß bei den Reichsmitgliedern regelmäßig auf Unbehagen. Diesen fehlte aufgrund der eingefahrenen Tradition das Verständnis für eine vollkommen selbstständige Frau außerhalb der Kaste.
Diese Ansichten kollidierten extrem mit den Lehren, die jene im Tempel erhalten hatten, sodass nicht wenige von ihnen mit Verzweiflung zu kämpfen hatten, was die Sache nicht erleichterte. Außerdem war dem Volk jemand, der von den Göttern nach so langer Zeit abgelehnt wurde in hohem Maße suspekt.
Diese Erfahrung mussten auch die jungen Männer machen. Nur war es den Reichsmitgliedern bekannter, dass sich ein Mann mit neuen Ideen in die Gemeinschaft einbrachte, hatte er doch oftmals eine Familie allein zu ernähren. Des Weiteren schien es den Insulanern einleuchtender, dass ein Mann von den Göttern abgelehnt wurde, als eine Frau. Nach langer Zeit war Carlina dahinter gekommen, dass die Reichsmitglieder der Meinung waren, dass alle Frauen, die ein Kind im Leib trugen, von den Göttern erwählt worden waren. Demnach musste irgendein Frevel vorliegen, wenn eine junge Frau den Tempel verlassen musste.
Für so eine junge Frau war es also extrem schwer, sich alleine einen Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen. Die meisten Bande wurden schon in ganz jungen Jahren geschmiedet. Meist ergab sich die Möglichkeit einer festen Bindung, für die des Tempels Verwiesenen, erst, wenn einer der vergebenen Männer zum Witwer wurde.
In der Priesterschaft waren all diese Dinge wohlbekannt. Die Trauer um die, denen die Tür verschlossen blieb, rührte genau daher. Entgegen allen Lehren mussten sie sich nun auf die tiefe Ebene des reinen Überlebenskampfes begeben.
Carlina schmunzelte in sich hinein. Ihr war es wohl bewusst, dass diese Einstellung der Reichsmitglieder in keiner Weise gerecht war, diese hatten es aber eben nicht anders gelernt.
Zumindest hatte dies alles den Vorteil, dass sich die Frau dann an den Mann ihrer Wahl vergab und nicht, weil es vor vielen Jahren so beschlossen wurde! Zumindest was diesen Punkt betraf, blieben sie rein. Nicht selten kamen nämlich auch die Frauen aus dem einfachen Volk nach einigen Jahren in eine Krise, wenn diese feststellten, dass sie mit ihrem Angetrauten nichts verband - außer den Kindern, vielleicht.
Wurde die Prüfung jedoch erfolgreich absolviert, gingen wieder zwei Ernten ins Land, in denen die Eingeweihten des zweiten Grades die Ausbildung vertieften.
Über 11 Ernten wurden Priesterschüler - trotz der Weihen wurden jene so genannt - gelehrt, bis sie die darauffolgenden Grade vollends aus eigener Kraft anstreben mussten. Von da an hatten sie die selbst gewählten Aufgaben zu erfüllen, bis der aktiver Dienst endete.
Bis zu Carlinas Vorstoß war es in der Tempelordnung derart geregelt, dass Frauen in dem Moment, indem die Fruchtbarkeit versiegte nur noch beratende Tätigkeiten ausüben durften. Die männlichen Vertreter der Kaste konnten so lange aktiv arbeiten, bis nachgewiesen war, dass ihr Same erloschen war. Dieser Umstand wurde alljährlich dann ersichtlich, wenn nach einem entsprechenden Ritual keine Leibesfrucht im Leib der Priesterin heranwuchs, die bei diesem jenem zur Verfügung gestanden hatte.
Die Allgemeinheit ging davon aus, dass Nachwuchs ausschließlich etwas mit der Kraft des Mondes zu tun hatte, außerdem noch mit dem Eingriff der Götter. Unter der Priesterschaft war aber schon lange bekannt, dass eine Zeugung ohne männlichen Samen nicht möglich war.
Dementsprechend hatten die Priester ihre Aufgaben viel länger wahrzunehmen. Und was wurde nicht alles versucht, die Männlichkeit am Leben zu halten! Ein Priester mit beratender Tätigkeit erhielt zwar den vollen Respekt ob seiner gemachten Erfahrungen und gelieferten Leistungen, angesehener waren aber die, die im aktiven Stand waren. Gerade in der Bevölkerung.
Carlina schmunzelte erneut bei der Erinnerung einiger Geschichten um dieses Thema. Während sie damit beschäftigt war, ihren Gefährten zu füttern und zu striegeln, sinnierte sie darüber, dass ihnen im Tempel beigebracht wurde, der Eitelkeit zu entsagen. Warum nach derart vielen Jahren bei den Männern eben jene wieder ausbrach, war ihr immer ein Rätsel geblieben. Es hatte sich auch herausgestellt, dass Säuglinge die der Beweis solch einer Manneskraft waren, oft kränklich oder mit gesundheitlichen Makeln ausgestattet waren. Auch mochte es für die jungen Frauen, die für derartige Rituale ausgewählt waren, kein Vergnügen sein, sich einem solch alten Mann hinzugeben!
Durchschnittlich erreichte eine Frau das Alter der Unfruchtbarkeit mit 38 Jahren - es gab nur wenige, die selbst mit 42 noch in der Lage waren Leben zu empfangen - bei den Männern trat der Fall meist um das 43. Lebensjahr ein. Nahm man die im Kindbett gestorbenen Frauen aus, lag das Durchschnittsalter der einfachen Frauen, im Reich, bei 48 Ernten, Männer wurden ungefähr 56 Sonnenumläufe alt, wenn ihnen kein Unglück geschah. Eine von je her unfruchtbare Frau erreichte auch schon einmal das 55. Lebensjahr. Die älteste lebende Frau des Reichs, im einfachen Volk, zählte erstaunliche 66 Tage des gelüfteten Schleiers, der älteste Mann hatte bisher 72 Sonnenumläufe erlebt.
Die Mitglieder der Kaste lebten aufgrund der anderen Lebensverhältnisse durchschnittlich sechs Jahre länger. Die älteste Priesterin hatte 78 Reichsfeiern erlebt, der älteste Priester gar 83! Nur bei den Kleinen verhielt sich das anders. Diese verloren ihre Fruchtbarkeit sehr früh und wurden derart alt, das im Volk von Unsterblichkeit gesprochen wurde!
Nun gut. Wenn ein Reichsmitglied erlebte, wie einer der Kleinen seinen Eltern schon bekannt war und ihn selbst auch noch überlebte, konnte solch ein Verdacht schon aufkommen! Doch auch die Körper der Kleinen waren vergänglich. Zwar schienen sie die Langlebigkeit gepachtet zu haben, unsterblich aber waren sie nicht.
Hier hielt Carlina ihren Gedankengang kurz an. Sie war inzwischen wieder vor der Hütte angelangt und versuchte nun herauszubekommen, was hinter den gedanklichen Aufzählungen zu rumoren begonnen hatte. Nach einigem Forschen fiel es ihr ein: Am heutigen Tag beging sie selbst ihren 52. Geburtstag! Die alte Priesterin hatte die Wohnstatt betreten und setzte sich auf einen etwa kniehohen Baumstumpf, den sie sich als Sitzgelegenheit hergerichtet hatte.
So etwas! Damit gehörte sie seit heute zu den 54 Ältesten. Sie wurde wirklich alt!
Selbstironie war von je her einer der prägenden Charaktereigenschaften der eingeweihten Frau. Früher hatte ihr das oft Schelte von ihren Lehrern eingebracht, teilweise war es falsch verstanden worden. Denn mit dieser Ironie stellte sie mitnichten ihr Licht unter den Scheffel sondern hielt den übermäßigen Ehrgeiz und den Perfektionsdrang in Schach.
Herr jeh, war das alles wirklich schon so lange her?
Carlina stellte erstaunt fest, dass sie sich diese Frage laut gestellt hatte.
Bloß gut, dass der Mond heute sein Gesicht verbirgt und die Kinder somit bei ihren Familien verweilen!
So konnte sie sich ganz dem Tag und ihren eigenen Gedanken hingeben. Normalerweise würde sie jetzt im Haus irgendwelche Dinge erledigen. Kochen, Brot backen, Kräuter zum Trocknen aufhängen, oder Obst und Gemüse haltbar machen. Erst danach könnte sie ihren eigenen Gedanken freien Lauf lassen. Denn, auch wenn am heutigen Tag, wie auch an den darauf folgenden, keine Unterrichtung erfolgte, wollte die Priesterin, in Vorbereitung auf das anstehende Reichsfest, den Schülern und deren Familien ein paar besondere Köstlichkeiten zukommen lassen.
Das Reichsfest war der Grund, warum ihre Zöglinge gleich dreimal hintereinander nicht erscheinen brauchten. Ansonsten hatten sie nur am Tag des dunkeln Mondes frei. Doch auch sie waren in die alljährlichen Vorbereitungen für dieses Spektakel eingebunden.
52!
Dabei fühlte sie sich höchstens wie 30! Damals war der Priesterin zum ersten Mal bewusst geworden, dass ihre Jugend ein Ende hatte. Ihre Tochter hatte das erstes Kind zur Welt gebracht, die ersten Freunde kämpften mit dem Tode und eine Prellung heilte nicht mehr so schnell. Auch wenn es darum ging, neue Dinge in das Wissen zu integrieren, dauerte dies eindeutig länger, als zu den Lehrzeiten im Tempel. Noch dazu fand sie langsam Gefallen daran, sich Tagträumen hinzugeben.
Carlina wusch sich und trank dann ein paar Schlucke Wasser, aus dem Keramikkrug, der auf einem Holzbrett an der Wand stand. Diesen füllte sie ständig mit dem Wasser auf, welches in einem Holzfass vor der Tür lagerte.
Um an frisches Wasser zu gelangen, musste sie mehrmals in einem Mondumlauf zu der Quelle wandern, die sich am Berghang, auf der anderen Seite des Sees, versteckte. Zwar hätte sie, wie alle anderen auch, Wasser aus dem Fluss schöpfen können, doch dieses war ihr nicht rein genug. Es gab zwar keinerlei gesundheitliche Bedenken, doch hatte sie in den Tempeln gelernt, immer das möglichst Reinste zu wählen, um selber rein zu bleiben. Durchsichtige Kristalle hielten das Wasser in dem Fass frisch.
Dazu verzehrte sie ein paar von den handgroßen, runden Früchten, die von den Seefahrern erst vor 25 Jahren mit ins Reich gebracht worden waren. Dort wo die herkamen, gediehen sie aber nie so groß, wie in diesem Reich.
Händler hatten sie von der längsten Reise mitgebracht, die bisher angetreten worden war. Todesmutig hatten sie das riesige Land im Osten südwärts umfahren und waren nach einem Sonnenumlauf auf dem großen Gewässer auf Inseln, ähnlich der hiesigen gestoßen. Diese hatten sie sich näher angesehen und waren dabei auf einen Volksstamm gestoßen, der fast so klein geraten war, wie die Kleinen, jedoch mit einer anderen Hautfarbe und einer ganz anderen Form der Augen. Sie blieben einen Sonnenumlauf dort, um zu kundschaften und von diesem friedlichen Volk zu lernen. Schließlich brachten sie Früchte und andere Pflanzen mit zurück. Insgesamt hatte die Expedition beinahe vier Sonnenumläufe gedauert und einige der Seefahrer erreichten ihren Heimatboden nicht mehr.
Die Früchte wuchsen nicht auf dieser Insel, sondern wurden mit jedem Mondviertel hierher gebracht. Weiter östlich und nördlich gab es unzählige Bäume mit diesem Obst. Inzwischen waren sich ihre Kollegen sicher, dass es sich hierbei um eine Verwandte der runden Früchte handelte, die hier schon ewig an - ebenfalls eingeführten - Büschen wuchsen. Diese, hiesige, Gattung war im rohen Zustand ungenießbar. Hatte man die kleinen Bälle aber gekocht, gaben sie einen schmackhaften Aufstrich oder Kompott her. Außerdem war von ihren Kollegen festgestellt worden, dass die neuere Variante dieser Frucht sich positiv auf die Gesundheit auswirkte. Deshalb wurde sie oft und gerne verzehrt. Die Bauern, die die Berechtigung zum Anbau des Baumes erhalten hatten, hatten auf jeden Fall ein gutes Auskommen.
Sodann beschloss sie, den Ehrentag, an ihrem Lieblingsplatz, am See zu verbringen. Es gab dort eine Stelle, von der aus man die ganze Vielfalt dieser Insel überblicken konnte. Sie wickelte ein Stück Maisfladen in ein Tuch aus dünnem Leder und füllte ihren Lederschlauch mit Wasser. Er fasste fast so viel, wie ein Erwachsener am Tag benötigte und war, mit einem Holzpflock verschlossen, um die Hüfte zu binden. So ausgerüstet machte sie sich gut gelaunt auf den Weg.
Es hatte einige Schritte von ihrem Grundstück herunter. Diese führten sie über einen Weg, mit unbehauenen Steinen, der gerade so breit war, dass zwei Menschen knapp aneinander vorbei kamen. Er führte von dem Hügel hinab direkt in einen Kreis, der mit Steinen ausgelegt und umrandet war. In der Mitte stand ein Baum, an dem kleine grüne Früchte wuchsen, die sowohl direkt verzehrt werden konnten als auch eingelegt oder gekocht. Zusätzlich gewann man aus diesen ein Öl, welches für Haut und Haare gut war, sowie schmackhaft zu Salaten oder Fleisch. Auch manche Salbe besaß einen Anteil dieses Öls. Die Früchte wuchsen in verschiedenen Farben.
Früher wuchsen ganze Wälder dieser Bäume auf den Inseln, inzwischen hatten nur noch einige Bauern Plantagen. Als die Bevölkerungsdichte anstieg, hatten diese schönen Bäume neuem Wohnraum weichen müssen. Dabei hatten die Herrscher jedoch Acht darauf gehabt, dass eine genügend große Anzahl übrig blieb, um zum einen den Fortbestand der Pflanze als auch die Versorgung der Reichsmitglieder sicherzustellen.
Unter diesen Baum hatte sie sich eine Vogeltränke gestellt. Doch nicht nur die Vögel genossen an heißen Tagen das kühle Nass darin, auch Irdo oder die Schüler. Die Schale für das Wasser war aus Ton und nur so tief, dass sie eine Hand bis zum nächsten Gelenk bedeckte und stand auf einem ebenfalls tönernen Sockel, der ihr bis zu den Oberschenkeln reichte. Links, neben dem Kreis stand ein schlichter Verschlag aus Holz, in dem die Sitzgelegenheiten für ihre Schüler verstaut waren. Diese bestanden aus viereckigen Lederlappen, auf die geflochtene Matten aus Pflanzenfaser befestigt waren.
Quer über das Rondell verlief der Weg, vorbei an allerlei abgesteckten, kleinen, Beeten, auf denen Carlina ihre eigenen Kräuter zog. Als einzige Person auf der Insel hatte sie die Erlaubnis dazu. Sie benötigte jene, um die richtigen Salben, Pulver und Tränke gegen die hier auftretenden Erkrankungen herstellen zu können. Auf der anderen Seite wuchsen in wilder Anordnung Blumen in allen erdenklichen Farben. Auch die, die sich immer in Richtung Sonne drehte und deren Körner nicht nur den Vögeln mundeten. Auch aus diesen Körner konnte man, wenn man genug zusammenhatte, ein Öl pressen.
Benötigte man von der Hütte bis in die Mitte des Rondells 30 Schritte, so waren es weitere 75, bis das Grundstück hinter einem lag.
Ihr Weg mündete direkt in die einzige Straße der Insel. Diese führte von West nach Ost, war vier Mann breit und geschottert. Sie stellte den Haupttransportweg vom Hafen im Osten, an dem auch Passagiere die Insel betreten konnten über das Dörflein und am See entlang, um dann dem Fluss und damit der dortigen Siedlung zu folgen. Schließlich endete er am anderen Hafen, im Westen, an dem nur Nahrungsmittel, Holz und Tiere oder aus Tier Erstelltes, in kleinen Mengen, verladen wurde.
Für Reichsfremde gab es eine besondere Reglung. Sie durften ausschließlich über den Hauptstadthafen das Reich betreten. Dort wurden sie auf eventuell mitgebrachte Krankheiten untersucht, sowie darauf, ob sie etwas Verbotenes einzuführen versuchten. Hierzu zählten erlegte Tiere und Fische ebenso wie ausgesiedelte Verbrecher oder menschliche Bestandteile. Zwar respektierte das Reich jegliche Sitten, die Einführung einer solchen war jedoch untersagt. Nachdem die Untersuchungen abgeschlossen waren - in der Regel ging die Sonne drei Mal auf und wieder unter - durften sich die Fremden, nachdem sie eine Kennzeichnung erhalten hatten, frei im Reich bewegen.
Die Hohepriesterin staunte über sich. Was hatte sie denn heute bloß für Gedankengänge? Seit einer halben Ewigkeit war sie keinem Reichsfremden mehr über den Weg gelaufen! Und den Hafen der Hauptstadt hatte sie zum letzten Mal gesehen, als sie sich auf die Reise hierher machte! Sie beschloss, sich ab sofort, wieder mehr in der Gedankenkontrolle zu üben …
Carlina hatte die Schotterstraße passiert und war wenige Schritte vor ihrem Lieblingsplatz, zum See abgebogen. Von der Straße aus führte ein etwas breiterer Trampelpfad zum See. Er führte direkt durch eine wilde Wiese, auf der selbst der ein, oder andere, Busch wucherte. Schmetterlinge, manch ein Käfer und ein paar Vögel hatten dieses Gebiet zu dessen Reich erklärt. Der Weg am See direkt war wieder befestigt. In früheren Jahren war es zu oft passiert, dass eines der Kinder auf dem feuchten Pfad ausrutschte und ins Wasser fiel.
Unter drei, wild dort gewachsenen, Bäumen lud eine aus grobem Holz gefertigte Bank zum Verweilen ein. Einzig die Sitzfläche war poliert. Hier verbrachte Carlina oft ein wenig Zeit, wenn es der Tagesablauf erlaubte.
Ein wenig verunsichert beäugte sie den putzig geformten Berg auf der anderen Seite des Sees. Es handelte sich um einen Feuerspucker. Würde auch hier die Katastrophe losbrechen?
Nur die Priesterschaft war darüber informiert, wo überall die schlafenden Riesen in der Heimat verteilt lagen. Das Volk dachte, es handele sich um einfache Gebirgsformen. Aber weit gefehlt! Fast jeder dritte Berg im Reich barg die Gefahr wieder zu erwachen, und seinen feurigen Inhalt in die Luft zu spucken. Der Berg wurde etwas unscharf.
Ach, ja, dachte Carlina, ich werde alt!
Sie blinzelte, schaute erneut, und als immer noch alles in der Ferne verschwommen war, kniff sie die Augen fest zusammen. Danach konnte sie wieder klar sehen.
Warf man von diesem, ihrem Lieblingsplatz am Tage, einen Blick auf das Wasser des Sees, konnte man die Spiegelungen der Umgebung sehen. Das Gebirge, das eigentlich nur ein Berg war, wirkte mit Leben erfüllt, wenn der Wind das Wasser leicht in Bewegung versetzte. Das graue, an einigen Stellen gelbliche, Gestein hatte ihm eine bizarre Hülle verpasst. Schaute man ihn nur aus den Augenwinkeln an, konnte man meinen, ein Riese mit grünem Rock, gelbem Oberkörper und weißem Hut grinste, unter einer Knollennase auf die Menschen herab. Auch die Bäume des Waldes, der den Berg auf einige Meter besiedelt hatte und danach durch die Ebene bis kurz vor die nächste Küste lief, schienen zu winken, betrachtete man sie durch das Wasser. Selbst dieser Wald hatte etwas Seltsames an sich. Befanden sich auf der Anhöhe des Berges die typischen Bäume für diese Inseln, die mit ihren immergrünen Blättern in allen möglichen und unmöglichen Formen anzutreffen waren und immer den Eindruck vermittelten, sie würden im nächsten Moment anfangen zu sprechen, hatten sich, je weiter er sich in Richtung Tal begab, ein paar Nadelhölzer dazugesellt. Direkt im Tal fand man jene nicht mehr vor, dafür aber verschiedenste Laubbäume in allerlei Formen, Größen und Farben. Einige halfen dem Menschen zu gesunden, andere brachten in kürzester Zeit den Tod. Kurz vor der Küste, im Westen, hatten sich die Bäume angesiedelt, die auf kargem Boden gut wachsen konnten. Dieses Durcheinander vermittelte dem Menschen den Eindruck, dass der Wald eine eigenständige Persönlichkeit hatte und einen eigenen Willen. Ebenso verhielt es sich mit den Tieren auf der anderen Seite des Sees. Vom Wald und vom Berg in Richtung See hatte sich eine weitläufige, mit Gräsern und Kräutern bewachsene Grasebene ausgebreitet, die zur Küste hin immer spärlicher bewachsen war. Hier hielten die Hirten ihre Tiere. Doch auch viele wild lebende Tiere tummelten sich auf ihr. So konnten verschiedene Affenarten beobachtet werden oder auch einige der großen Katzen, die die meiste Zeit im Wald verbrachten. Die Hütten der Anwohner sah man nicht, es gab nur die Natur. Deshalb war es Carlinas Lieblingsplatz.
Sie ging nah an den See heran, um einen Blick auf ihr eigenes Spiegelbild zu werfen. Es erstaunte sie nicht wenig, dass das, was sie da sah, so gar nicht ihrer inneren Welt entsprach.
In ihrer eigenen Welt war Carlina eine mittelgroße, schlanke, gut proportionierte Frau mit vollem, rotbraunem Haar, blaugrünen Augen und mit Sommersprossen im hellen Teint des Gesichtes.