Nebeneffekt - Sandra Diepenbrock - E-Book

Nebeneffekt E-Book

Sandra Diepenbrock

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Beschreibung

"So wie ich bin, kann mich bestimmt niemand lieben" lautet Laras feste Überzeugung. Vor allem jetzt nicht, nachdem dieses Psycho-Problem aufgetaucht ist, von dem möglichst niemand erfahren sollte. Schon gar nicht Paul, ihr Porsche-Freund, mit dem alles so cool und lässig ist. Denkt sie zumindest. Und auch nicht Raphael, der blonde Surfer mit dem grünen Bulli, der aber sowieso eine andere liebt und über den sie besser nicht weiter nachdenken sollte. Wenn Liebe einmal herumgedreht wird, man ständig gegen den Nebel boxt und doch am Ende alles gut wird – dann heißt man Lara Wagenfeld und dann werden Märchen wahr. In Echt. Denn dieser Roman basiert auf einer wundervollen, wahren happy-end-Erzählung die Tabuthemen bricht, bearbeitet und in großes Glück umwandelt…

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Sandra Diepenbrock

Nebeneffekt

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Engel erkennt man daran, dass sie blond sind

Mexikanischer Bulli mit einer Prise Hawaii

Der Job, der neue Job – au weia!

Ein Vorname und das Work-Life-Balance-Dingsda

Anneliese Lambert

Überall Liebe – nur irgendwie bei mir nicht …

SEMESTER 1 oder als ich noch ein glücklicher Frischling war

Doch da war es zu spät?

Ein kleines Gummibärchen

The same procedure as every tuesday …

SEMESTER 2 – oder wie ich notgedrungen zur Streberin mutierte

Drei sind einer zu viel?

Paulchen Panther schleicht sich herein

SEMESTER 3 – Ein kleines, unbedeutendes Schlüsselchen …

SEMESTER 4 – Die schöne, heile Welt und wie sie dann doch noch ordentlich ins Wanken geriet

Anneliese ist doch einfach die Beste!

Doch keine schnelle Nummer?

Sind Angsthäschen auch süß?

Herrn und Frau Papenbrink sei Dank!

Vertraute Cowboystiefel und ein Ausflug mit Folgen

…oder lieber doch das Cabrio?

Showdown

Summer of love.

Ein Kick in Richtung Fröhlichkeit

Der Abend, an dem ich mich dann doch überreden ließ

Schick’ mir ein Bild vom Meer

Eine Depression darf man ruhig mal genießen

Einmal Fernglas scharf stellen, bitte!

Raphael10Aussi – bitte melden!

Läuft …

Der Tag im September oder ‚So, wie ich bin!‘

Noch ein Wunder!

„Ich melde mich …!“

Nachrichten: Null …

Eine sehr kurze Nacht

Raphael

Sylt die Zweite

Paul und das Restaurant

Impressum neobooks

Engel erkennt man daran, dass sie blond sind

Krampfhaft umklammerte ich mein Surfbrett, während der Wind unerbittlich gegen meinen völlig durchnässten Körper peitschte. „Denk nach, Lara, denk nach!“, befahl ich mir selbst und blickte sehnsuchtsvoll zum Ufer hinüber. Der sonst so herrliche Strand von Sylt war nur noch schemenhaft zu erkennen, da mich der tobende Sturm mit seinen schäumenden Wellen nach und nach immer weiter aufs offene Meer hinausgetragen hatte.

„Gibt super Wind heute, wird ein klasse Tag, genieß es“, hatte Michael am Morgen noch freudestrahlend den Wetterbericht für heute kommentiert. ‚Super Wind‘ allerdings ging für mich anders, super Wind war etwas, was mich herrlich übers Meer gleiten ließ, etwas zum Genießen und etwas, bei dem ich meine Sorgen und Probleme einfach mal vergessen konnte. Ich hatte ‚Super-Wind-Tage‘ kennengelernt in den letzten Wochen, in denen Michael, der Freund meiner Schwester, mir so erfolgreich das Surfen beigebracht hatte. Ich lernte, mein Brett zu kontrollieren, das Segel ohne großen Kraftaufwand in den Wind zu halten und am Ende sogar dort anzukommen, wo ich auch hinfahren wollte. Ja, ich war ganz klar so weit, dass ich ‚Super-Wind-Tage‘ durchaus genießen konnte. Normalerweise.

Was hier aber heute abging, war weit entfernt davon, ein ‚Super-Wind-Tag‘ zu sein. Ich war nicht mal mehr in der Lage, mein Segel eigenständig fest zu halten geschweige denn mich auch nur ansatzweise in die Richtung fortzubewegen, in die ich gern fahren wollte. All dies war mir nicht mehr möglich, nein, in diesem Moment ging hier eher mal so gar nichts mehr. Dies hier hatte sich in der letzten Stunde nämlich zu einem ausgewachsenen und sehr heftigen Sturm entwickelt, mindestens Windstärke 8, in Böen Orkanstärke, wild, ungestüm und alles andere als ein ‚super Wind‘.

Obwohl es erst gegen Mittag war, hatte man den Eindruck, dass es bereits dämmerte. Ich war schon sehr lange im Wasser herum gepaddelt und konnte kaum noch das rettende Ufer ausmachen, geschweige denn sah ich irgendeine Möglichkeit, es aus eigener Kraft hier und heute noch zu erreichen. Um mich herum herrschte hellgraue Dunkelheit, unterbrochen lediglich durch die weiße, heftig peitschende Gischt auf den Kuppen dieser schwankenden und laut tosenden Wellen-Monster überall um mich herum. Außer mir befanden sich auch kaum noch andere Surfer auf dem Wasser, es gab hier draußen nur noch mich, ein orangenes Segel sehr weit entfernt und dieses blaue Nivea-Segel, nicht sehr weit entfernt.

Dieses dunkelblaue Teil nervte mich nun langsam wirklich, ich kannte das Segel schon und auch den blonden Typen, der es besaß. Ich hatte ihn und sein Segel oft gesehen in den letzten drei Wochen, die ich hier bei meiner Schwester Lilith und ihrem Freund Michael auf der Insel hatte verbringen dürfen.

Es war eine tolle Zeit gewesen, wir drei hatten viel Spaß zusammen gehabt und ich war mir bei den vielen Gesprächen mit Lilith, Michael und auch mit ihren Freunden immer klarer darüber geworden, was ich mit meiner Zukunft denn nun anstellen wollte. Als ich nämlich vor über drei Wochen hier angereist war, frisch aus New York kommend und eine große Liebes-Enttäuschung im Gepäck, war ich mit meinen 19 Jahren zwar körperlich schon erwachsen gewesen, aber mein Kopf hatte sich ganz klar noch mitten in der pubertären Selbstfindungsphase eines trotzigen Teenagers befunden. Ich hatte nicht recht gewusst, was ich nach diesem einen Jahr in Amerika nun weiter mit meinem Leben bzw. einfach auch nur mit den nächsten paar Wochen anfangen sollte. Außerdem war ich traurig gewesen, weil das mit der Liebe wieder einmal nicht geklappt hatte, und hätte gut etwas Aufmunterung gebrauchen können. Deshalb war ich der Einladung meiner Schwester, ein paar Wochen hier bei ihnen zu wohnen und meine Seele baumeln zu lassen, nur zu gern gefolgt.

Nun würde meine Zeit hier schon morgen zu Ende gehen, denn ich wusste jetzt, was ich in den nächsten Jahren mit mir anfangen wollte. Meine Koffer waren bereits gepackt und ich hatte nur noch einen letzten, schönen Surftag hier auf der Insel genießen wollen.

Dass dies hier sich nun gerade alles deutlich anders entwickelte, damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.

Paaa-Tsching. Paaa-Tsching. Paaa-Tsching.

Dieses professionelle Geräusch, welches der Typ mit dem Nivea-Segel von sich gab, wenn er wieder mal lässig an mir vorbeisauste und sein Brett über die Wellen zu schweben schien, das nervte mich nun wirklich langsam. Ich meine, ich kam hier einfach nicht von der Stelle und es wäre doch auch mal nett gewesen, wenn er mal kurz angehalten und sich nach meinem Befinden erkundigt hätte, oder nicht? Ganz sicher würde ich nicht aus reinem Vergnügen bei Windstärke 8 seit einer Stunde hier neben meinem Segel im Wasser herum planschen, soweit konnte der doch jetzt auch mal denken, oder nicht?

Na ja, was er dachte und was nicht, darüber hatte ich mir in den letzten Wochen schon ab und an mal kurz Gedanken gemacht, zugegeben. Ich hatte ihn oft von Weitem beobachtet, heimlich und möglichst unauffällig hatte ich ihn das ein oder andere Mal dabei beobachtet, wie er sein Segel aufgeriggt und sein Material in Position gebracht hatte. An kälteren Tagen hatte er sich auch immer stumpf direkt am Strand seine Badehose ausgezogen und war anschließend nackt und sehr sexy in seinem Neoprenanzug verschwunden. Stalken konnte man das bestimmt nicht nennen, neiiiin, aber den Ausblick hatte ich schon echt genossen …

Nun sah ich ihn wieder an mir vorbeijagen, den heißen Nivea-Segel-Typ, aber heute empfand ich ihn und seine angeberischen Manöver alles andere als sexy. Heute war das einfach nur superunhöflich, wie ich fand, schließlich musste der doch sehen, was mit mir los war, oder nicht? Als er wieder einmal lässig locker und tief versunken in seine coolen Moves an mir vorbeigerauscht war, schrie ich laut los und verfluchte ihn mit allen mir zur Verfügung stehenden Schimpfwörtern. Auch den richtig Schlimmen. Er konnte mich bei diesem Sturm und den wilden Wellen, die überall um uns herum peitschten, sowieso nicht hören. Also war es egal und manches muss halt einfach mal raus.

Dabei wäre es echt besser gewesen, wenn er mich gehört hätte, denn ich brauchte nun langsam wirklich mal etwas Hilfe. Ich kam von alleine einfach nicht mehr auf mein Brett, der Wellengang war zu stark und mein Körper irgendwie zu schwach. Ich konnte allmählich wirklich nicht mehr, ich hatte mindestens seit einer Stunde lang vergeblich versucht, einen Wasserstart hinzulegen oder überhaupt nur irgendwie wieder von der Stelle zu kommen, aber ich schaffte es einfach nicht. Immer wieder fielen die Wellen von allen Seiten über mich her und schaufelten Unmengen von Salzwasser auf und in mich hinein. Ich hing an meinem Brett und war völlig fertig, am Ende meiner Kräfte und weit entfernt von einer guten Idee, wie ich dies hier alles tatsächlich heil überstehen sollte.

Mehrfach hatte ich mich aufs Brett gesetzt und ‚SOS‘ gewunken. Immer wieder war ich dabei ins Wasser gefallen, hatte viel Salzwasser geschluckt und anschließend alle Mühe gehabt, wieder aufs Brett zurück zu klettern. Und – was viel Schlimmer daran war – niemand hatte mich gesehen. Mr. Neopren mit seinem Nivea-Segel war die ganze Zeit weit entfernt und extrem professionell an mir vorbei gerast und hatte dabei supercoole, Surfmagazin-reife Sprünge vollzogen. Alle möglichen Drehungen zählten anscheinend zu seinem Repertoire und manchmal gab es sogar einen Front-Loop zu sehen, will bedeuten, einen Vorwärts-Salto mit Brett und Segel. War schon toll anzuschauen, ganz klar, nur lieber wann anders. So ganz entspannt am Strand liegend, den Cocktail in der Hand genießend und die Sonne im Gesicht spürend waren dieser Typ und seine wilden Künste bestimmt eine herrliche Augenweide. Nur jetzt gerade eben nicht, wo ich wirklich mal dringend Hilfe brauchte und mich gefühlt kurz vor dem Abnippeln befand. Meine Verzweiflung stieg und mein Mut sank.

Michael hatte einmal davon erzählt, von diesem ominösen ‚Point-of-Scheiß-egal‘, und ich hatte ihm das nicht abgenommen, weil es zu abwegig geklungen hatte. Jetzt aber erlebte ich das doch tatsächlich selber und stellte verwundert fest, dass es diesen ‚Point‘ anscheinend wirklich gab. Man erzählt sich nämlich unter Surfern und unter Wassersportlern, dass es in so einer Situation einen Punkt gäbe, an dem einem alles egal würde und man sich auf einmal damit abfände, dass man eventuell nicht mehr lebend das Ufer erreichen würde. Michael war als kleiner Junge beim Schwimmen einmal zu weit hinausgeschwommen und hatte damals nicht gewusst, wo er noch die Kraft für den Rückweg hatte nehmen sollen. Da sei ihm das auch so gegangen, er hätte mental komplett abgeschlossen mit allem und schon fast seinen Frieden gefunden in der totalen Resignation. Natürlich hatte man ihn irgendwann entdeckt und geholt, aber er schwor an diesem Abend am Lagerfeuer, dieses Gefühl des Friedens und der inneren Ruhe wirklich genau so erlebt zu haben.

Ich hatte das für einen großen Blödsinn gehalten, hatte laut gelacht und das Ganze als riesige Spinnerei abgetan. Jetzt aber, ganz allmählich und von Minute zu Minute zunehmend, überkam mich tatsächlich auch dieses merkwürdige und doch ruhige Gefühl von Gleichgültigkeit und Akzeptanz, welches ich so zuvor noch nie gespürt hatte. Was sollte ich denn auch tun, ich hatte keine Kraft mehr und trieb immer weiter vom Ufer ab, Welle für Welle immer ein kleines Stückchen weiter hinaus aufs offene Meer. Mr. Neopren hatte mit sich und seinen Surfkünsten zu tun, das orangefarbene Segel war mittlerweile ganz verschwunden und ich fühlte mich einfach nur sehr, sehr allein hier draußen. Lilith war zur Arbeit gegangen und Michael half einem Freund in einer dringenden Angelegenheit, es war also auch nicht damit zu rechnen, dass mich einer von den beiden plötzlich vermisste und nach mir suchte.

Entmutigt schaute ich hoch. Sofort spülte mir wieder eine neue Welle Unmengen von Salzwasser ins Gesicht. Ich schüttelte mich und versuchte irgendetwas zu erkennen. Wenn ich nur das Ufer richtig sehen könnte, dann könnte ich versuchen, einfach dort hin zu schwimmen. Wenn, ja wenn.

Das Nivea-Segel raste wieder springend in einiger Entfernung an mir vorbei, ich schaute wie hypnotisiert hinter ihm her und gleichzeitig fing schon wieder dieses neue kleine ‚Point-of-Scheiß-egal‘- Teufelchen in mir an, auf mich ein zu reden: „Hey Lara, ist doch auch alles schon egal, lass laufen, was solls!“.

Wow, tja, aber gut, vielleicht hatte es ja recht? Vielleicht sollte ich es einfach laufen lassen, mich treiben lassen, es egal sein lassen? Ich konnte eh nichts mehr tun.

Auf einmal aber fielen mir Lilith und Michael wieder ein. Mist. Ganz ehrlich, Seenot-Erfahrung hin oder her, ich konnte hier nicht lethargisch aufs offene Meer hinaus treiben und Fünfe gerade sein lassen, nein, so ging das nicht! Ich hatte Eltern und eine Schwester und ich war jung, viel zu jung für solche Gedanken. Schluss jetzt!

Ich gab mir eine imaginäre Ohrfeige und krabbelte erneut auf mein wackelndes Brett.

Das Nivea-Segel näherte sich wieder etwas in Richtung meines schlaffen und immer noch sehr mutlosen Körpers. Ich wollte winken, aber als ich meine Hände vom Brett nahm, spülte mich sofort wieder eine riesige Welle ins Meer zurück. Panisch tauchte ich auf, Griff nach dem Brett und zog mich – so gut es ging – wieder hinauf. Das nahm recht viel Zeit in Anspruch, ich brauchte mehrere Anläufe und als ich endlich meinen Körper auf dem wackeligen Stück Styropor platziert hatte, zitterte ich heftig am ganzen Körper. Aus meinen Ohren tropfte das Meerwasser und mit jedem weiteren Tropfen Freiheit für meinen Gehörgang, nahm ich mehr und mehr dieses leichte Rauschen wahr, welches irgendwie näher zu kommen schien.

Nein halt, es war kein Rauschen, es klang irgendwie anders, eher so nach Bellen oder Husten. Merkwürdig. Langsam und immer noch total benebelt drehte ich mich um und fiel vor lauter Schreck direkt wieder vom sicheren Brett ins eiskalte Wasser zurück. Auf einmal war das Nivea-Segel ganz nah neben mir und irgendwie riesig groß und sehr, sehr dunkel. Der blonde Typ, der auf dem dazugehörigen Brett stand, brüllte irgendetwas in meine Richtung.

Meine Güte sah der gut aus! Nasse, wellige, dunkelblonde Haare und dazu ein muskulöser Körper, der in einem engen, schwarzen Surfanzug steckte. Ich war total fertig und wirklich sehr kaputt, wahrscheinlich befand ich mich auch bereits ernsthaft in Seenot, aber das Einzige, an das ich in diesem Moment dachte, war der heiße Körper dieses sexy Typen. Ich sags ja, ohne Reserveenergie und so kurz vor dem vermeintlichen Ende wird man etwas merkwürdig.

„Brauchst du Hilfe?“, brüllte der Typ in meine Richtung und riss mich damit aus meinen absurden Gedanken.

Ich hätte heulen können, so dankbar war ich. Es war tatsächlich jemand da, der mir helfen wollte – und der sah auch noch gut aus! Dies war kein Traum, dies war real und ich würde vielleicht doch nicht sterben müssen – wie herrlich war das denn bitteschön? Ein blond gelockter Engel in engen Surfklamotten war mit seinem Brett zu mir gekommen, stand bewundernswerter Weise felsenfest und sehr sicher oben auf seinem Brett, heldenhaft, hilfsbereit und das alles auch noch unmittelbar neben mir.

„Ja, ja, jaaaaa!“, krächzte ich zurück in seine Richtung. „Ich komme nicht mehr weg hier, zu viel Wind!“ Meine Güte, was war denn bloß mit meiner Stimme passiert, wie hörte sich das denn bitte an?

In der kurzen Minute unseres ‚Gespräches‘ hatten die Wellen den Nivea-Typ und mich bereits wieder ein paar Meter auseinandergetragen. Als er den schnell wachsenden Abstand zwischen uns bemerkte, setzte er sich schnell wieder gekonnt auf sein Brett und paddelte mit ein paar geübten Handbewegungen erneut zu mir hinüber. Als unsere Bretter schließlich aneinanderstießen, hielt er mir seine Hand hin und brüllte: „Halt fest, komm, schnell, sonst bist du gleich wieder weg!“

Dankbar angelte ich nach seiner starken, männlichen und recht großen Hand. Ja, es war echt windig und wahrscheinlich auch echt gefährlich, aber irgendwie auch so schön, dieser Typ hier und ich, Hand in Hand weit draußen auf dem Meer.

„Wir müssen jetzt erst einmal dein Segel not-abriggen, d. h. wir müssen es irgendwie schaffen, es im Wasser abzubauen und einzurollen, sodass wir es auf dein Brett legen können und ich dich dann abschleppen kann. Wenn wir das Segel nämlich so im Wasser liegen lassen, dann zieht es alles hier zu sehr nach unten, und wir kommen nicht vorwärts, das würde nicht funktionieren.“

Außer dem Wort ‚abschleppen‘ verstand ich überhaupt nicht, was genau er jetzt von mir wollte und wie er sich das hier alles so vorstellte. Aber egal, der süße blonde Typ war hier, um mich zu retten, der Rest war dann auch schon schnuppe.

Ich schrie zurück, er könne machen, was er wolle, nur er solle mich bloß nicht mehr alleine lassen. Klang verzweifelt, klar, zugegeben, aber das war ich ja schließlich auch.

„Spring ins Wasser und halt vorne unsere beiden Bretter fest, ich mache das schon mit deinem Segel und dem Einwickeln, ok?“, schmetterte er mir die Anweisung gegen den Wind in mein Gesicht.

„Ok“, brüllte ich zurück und tat, wie mir befohlen wurde. Kaum war ich zitternd und sehr widerwillig erneut ins kalte Wasser hinein geglitten, sprang mein blonder Retter auch schon sehr professionell und absolut zielsicher auf mein Brett und begann damit, an meinem Segel herum zu fummeln. Was er da tat und warum, war mir zwar schleierhaft, aber ich ließ ihn mal gewähren. Eine andere Wahl hatte ich ja sowieso nicht, also hoffte ich einfach nur inständig, dass er wirklich wusste, was er da tat. Nach einiger Zeit dann aber hatte er es tatsächlich irgendwie hinbekommen, mein Segel einzurollen, zusammen zu schnüren und oben auf meinem Brett zu befestigen.

Wow, sah gut aus, was er da gemacht hatte, sehr gut sogar!

„Woher weißt du denn, wie das alles geht, hast du das vorher schon mal gemacht?“ grölte ich ihm voller Bewunderung entgegen. Dabei schluckte ich wieder eine ordentliche Portion Wasser und hustete so stark, dass Blondie kurz seine Arbeit unterbrach und mich stirnrunzelnd betrachtete.

„Ok, wir müssen jetzt echt los, glaub’ ich, du siehst nämlich gar nicht gut aus. Ziemlich unterkühlt, würde ich mal behaupten, na ja. Bin gleich fertig, nur noch kurz dein Brett an meines gebunden und dann kann’s auch schon losgehen!“

Er krabbelte sehr professionell nach vorn und verknotete den Vorderteil meines Brettes mithilfe der Segelschnur an dem Hinterteil seines Brettes.

„Ich hab’ das hier mal in der ‚Surf‘ gelesen und probiere es jetzt einfach mal aus, mal schauen, ob es klappt“, sprach er weiter und schien auf einmal noch beschäftigter als in den Minuten zuvor. Vielleicht wollte er lieber auch nicht so genau darüber nachdenken, was er da gerade tat.

„In der ‚Surf‘?“, dachte ich leicht panisch bei mir, während das Zittern meines Körpers mittlerweile in einen großen Kältekrampf übergegangen war. „Die ‚Surf‘ ist eine Zeitschrift, meine Güte, nur eine Zeitschrift! ‚Mal gelesen‘ – oha!“. Natürlich sagte ich kein Wort, ging auch gerade irgendwie nicht vor lauter Kälte, aber mein Kopf schob heimlich einmal mehr Panik.

„So, auf, jetzt kletter mal auf dein Brett und leg dich flach hin. Alles gut festhalten, sonst rutscht das Segel wieder runter und du gleich mit. Und dann können wir wieder von vorne anfangen, wollen wir nicht! Ok?“

Ich antwortete nicht, weil ich kaum noch Kontrolle über meine Lippen hatte. Aber mein Körper war tatsächlich noch in der Lage, ganz brav und wie befohlen wohl zum gefühlt hundertsten Mal an diesem furchtbaren Nachmittag zurück auf mein Brett zu klettern. Ok, ich brauchte wie üblich drei Versuche, aber es gelang und schließlich legte ich mich nun, so gut es irgendwie möglich war, auf mein Segel und auf mein Brett. Fühlte mich wie ein Sandwich, ein Sandwich für große Fische nämlich. Es gab drei leckere Lagen, erst das Brett, dann das Segel und als Bonbon dann mich persönlich, wie ich da lag und mein Material ziemlich verzweifelt umklammerte, so, als ob es mein letztes Hab und Gut sei.

Mein Nivea-Segel-Retter schaffte es tatsächlich, mit mir und meiner Segel-Brett-Sandwich-Kombi im Schlepptau irgendwie los zu surfen. Er kämpfte ordentlich mit Wind und Wellen, denn sein Gesicht hatte sich stark verzogen und alle paar Minuten sprang er vom Brett ins Wasser, um kurz zu verschnaufen. Das Ganze dauerte eine Ewigkeit. Ich bekam dabei wieder ein paar ordentliche Portionen Salzwasser zu trinken und machte auch ein paar Unterwasserrollen mit meinem Brett. Nach gefühlt mehreren Stunden des Kampfes zwischen Mensch und Meer, vielen Pausen und viel, viel Wasser in meinem Mund und in den Ohren, erreichten wir doch tatsächlich das rettende Ufer.

Mit letzter Kraft zogen wir unsere Bretter an den Strand und ließen uns erst einmal total erschöpft in den Sand fallen. Der hübsche Blonde war völlig außer Atem, wie süß! Noch immer pfiff uns ein sehr heftiger Wind um die Ohren und noch immer bibberte mein Körper wie der eines Hundes, welcher gerade auf den OP-Tisch des Tierarztes gelegt wurde.

„Ich heiße übrigens Raphael und ich denke, du solltest schleunigst ein heißes Bad nehmen“, rief er besorgt zu mir hinüber.

„Hallo Raphael – freut mich! Und vielen Dank! Wirklich, ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte. Lara, hi, ich bin Lara.“

Zitternd streckte ich ihm meine Hand entgegen, die er lächelnd entgegennahm und liebevoll schüttelte. Merkwürdige Begrüßung, so kurz nach dieser Nahtoderfahrung sich einfach mal höflich vorzustellen, als hätten wir uns im Eiscafé in der Schlange kennengelernt, schon irgendwie lustig.

„Ja stimmt, ich sollte mich aufwärmen gehen“, antwortete ich durch den tosenden Wind zurück.

„Ich verstaue das ganze Zeugs hier und du fährst schnell nach Hause, duscht warm und ziehst dir was Trockenes an, ok? Dann kannst du ja wieder her kommen und in Ruhe dein Material einpacken. Ich lege alles einfach da vorne neben mein Auto“, sprach er und zeigte dabei in Richtung Strand auf einen alten, grünen VW-Bulli. „Der Bus da ist meiner, da wohne ich. Mit Standheizung“, fügte er noch grinsend hinzu und erhob sich schließlich vom Sand. Nun hielt er mir erneut seine Hand entgegen und bot sie mir freundlich an, schon wieder, ach wie nett!

Dankbar nahm ich die Geste an und stand schon wenige Sekunden später neben Raphael, immer noch leicht zitternd – aber glücklich.

Wow sah der gut aus, mal so aus der Nähe betrachtet. Grinsend strich er sich mit der anderen Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schenkte mir dabei ein Lächeln, welches mir durch Mark und Bein ging. Ich sollte seine Hand jetzt wirklich mal loslassen, ja, das sollte ich tun.

„Ja, ok, danke noch mal“, antwortete ich und ließ widerwillig seine große und so herrlich wärmende Hand los. Leider war mir nun wirklich sehr, sehr kalt, deshalb verabschiedete ich mich schnell und rannte zu Michaels Auto. Sofort startete ich den Motor, stellte die Sitzheizung auf maximale Stufe und drehte die Heizung voll auf. Noch im Surfanzug steckend fuhr ich zurück zum Appartement, zitternd vor Kälte und breit lächelnd vor Freude, dass ich in den Genuss eines so attraktiven Retters gekommen war.

Als ich zu Hause ankam, fand ich Michael seelenruhig am Tisch sitzend vor, er trank Tee und reparierte dabei eine Finne. Als er mich jedoch völlig erschöpft im nassen Surfanzug zur Tür hinein stapfen sah, reagierte er doch ein wenig erschrocken: „Wie lange warst DU denn DA DRAUSSEN, meine Güte, bei DEM Sturm doch nicht etwa, oder doch?“

„Wieso, ist doch super Wind heute, oder nicht?“ Die kleine Spitze konnte ich mir einfach nicht verkneifen. „Hast du vorhin noch gesagt, erinnerst du dich?“

Nach ein paar erklärenden Worten und Beschimpfungen bezüglich Michaels lockeren Wetterprognosen verschwand ich erst einmal für mindestens eine halbe Stunde unter der heißen Dusche. Danach zog ich mir mehrere Lagen sehr warmer Dinge aus meinem bereits gepackten Koffer an und setzte mich zu Michael an den Tisch. Mit einem heißen Tee in der Hand ging es mir nun schon fast wieder richtig gut. Ich erzählte ihm ausführlich von allem, was ich in den letzten paar Stunden da draußen auf dem Meer so erlebt hatte, wobei ich zwischendrin immer wieder kleine Vorwürfe losließ, die er – wie ich fand – durchaus verdient hatte.

Michael wurde immer stiller und stiller und als ich schließlich die ganze Geschichte zu Ende erzählt hatte, streckte er mir seine Hand entgegen und streichelte mir über meinen Unterarm.

„Lara, wow, das tut mir echt, echt leid! Ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat, dich in dieses Unwetter zu schicken. Aber ich schwöre, das war so überhaupt nicht angesagt, die hatten was von 5 Windstärken und leichten Regenschauern erzählt.“

Er rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her, stand schließlich auf und ging hinüber zum Kühlschrank.

„Ok pass auf, dann schmier jetzt mal ein paar Sandwiches, nimm eine Thermoskanne Tee und den Rest vom Jägermeister mit und fahr dich mal kräftig bedanken bei diesem Typen. Meine Güte, was hattest du für ein Glück, geht nicht immer so gut aus so was, weißt du?“

Michael stapelte den Käse, die Wurst, das Brot und obendrauf eine Tomate auf seinem Arm und transportierte alles recht schwankend zu mir hinüber an den Tisch.

„So, komm, Stulle schmieren jetzt hier.“

Er ging zum Schrank, kramte ein Brett und ein Messer aus den Schubladen hervor und legte mir alles auf den Tisch. Dann suchte er noch den Jägermeister und platzierte ihn neben der Wurst in meinem Blickfeld.

„Aber trink DU nur EINEN Jägermeister, ok, denn du fährst ja noch zurück, also pass auf, versprochen? Und nun auf, du Sonntagskind, echt Sahne gehabt hast du da heute. Weißt du was, das erzählen wir Lilith gar nicht erst, die kriegt sonst die Vollkrise, ok?“

Ja, war ok für mich. Alles war ok, denn ich war wieder warm, an Land und freute mich wirklich sehr darauf, Raphael gleich wieder sehen zu dürfen. Ich schmierte schnell ein paar richtig leckere Sandwiches und beeilte mich, mit dem Proviant ins Auto zurückzukehren.

Nach einer kurzen aber sehr stürmischen Fahrt zurück ans Meer parkte ich das Auto von Michael direkt neben dem Bullis von Raphael, stieg aus und klopfte von außen an die Tür des Busses. Es goss immer noch in Strömen und der heftige Wind peitschte mir meine Haare erneut ins Gesicht.

Mexikanischer Bulli mit einer Prise Hawaii

Dick eingemummelt in einen gemütlichen Pullover und mit süß zerzausten Haaren öffnete mein Retter von vorhin mir seine Autotür. Oh wow, so trocken und so ganz normal angezogen sah der ja noch viel süßer aus – du meine Güte!

„Ich habe Sandwiches gemacht und Tee und Schnaps zum Aufwärmen hab ich auch dabei, als kleines Dankeschön. Ich hoffe, du hast Hunger?“, plapperte ich schnell los, bevor mich dieser Anblick zu verlegen machen konnte.

„Oh ja klar, super, komm doch rein in die gute Stube, ist auch schön warm hier“, sprachs und trat einen Schritt zur Seite.

Ich kletterte in den Bus hinein und schaute mich um. Zunächst folgte mein Blick dem warmen Windhauch, der mich lau und freundlich aus der kleinen Standheizung in der Ecke begrüßte. Der kleine Heizkörper stand vor einem festen und schweren Vorhang, welcher die frisch produzierte Wärme davon abhielt, nach vorn in den Fahrerbereich vorzudringen und durch die Frontscheiben hinaus in die Kälte zu verschwinden. Raphael hatte ein schönes Blau als Stofffarbe gewählt, und anscheinend noch mehr davon gekauft. Der Vorhangstoff wiederholte sich nämlich an den Fenstern, die ebenfalls zugezogen und somit abgedichtet worden waren.

„Leg deine Jacke einfach in irgendeine Ecke“, hörte ich Raphael sagen. Aufgrund eines plötzlich aufkommenden Hitzegefühls zog ich nämlich einfach meine dicke Winterjacke aus, obwohl er mich überhaupt noch nicht dazu aufgefordert hatte.

Ich lächelte ihn dankbar an und sah mich weiter um. Ein kleiner Schrank mit Bunsenbrenner darauf und ein gebrauchter Kaffeebecher deuteten auf eine Art Kochgelegenheit hin, daneben befanden sich fein säuberlich aufgehängt und sortiert ein paar Surfsachen, die dort zum Trocknen gelagert waren.

Raphael setzte sich auf die dicke Matratze, die dieses kleine, sehr gemütliche Heim ganz klar dominierte. Eine farbenfrohe Decke und ein paar passende Kissen hatten den Schlafplatz allerdings zu einer Art Sofa umfunktioniert, sodass ich – ohne mich dabei komisch zu fühlen – gern neben Raphael auf dieser Sitzgelegenheit Platz nahm.

„Schön hast du es hier, wirklich, total gemütlich!“

Wenn man was gut findet, dann ruhig darüber sprechen – pflegte meine Oma schon immer zu sagen. Lob könne jeder gut gebrauchen!

„Und der Vorhang ist super, so heimelig! Auch die Kissen hier, und die schöne Decke, wirklich, richtig schön alles!“

Und sprich ruhig davon, was genau du so gut findest – erklärte mir meine liebe Oma weiter. Jeder mag das, kommt immer gut an so was!

„Oh dankschön!“ Raphael strahlte mich an.

Hey, das funktionierte ja richtig gut, super, danke liebe Omi!

Es war aber auch richtig nett hier in dieser kleinen, wärmenden und freundlichen Oase, die eigentlich ja ein Auto war. Raphael aber hatte alles so eingerichtet, dass man sich eher wie in einem gemütlichen, sehr kleinen mexikanischen Wohnzimmer wähnte, gemixt mit ein wenig Hippi-Style und einer Prise Hawaii.

Ich lächelte fröhlich zurück und entfaltete das Papier, in das ich die Sandwiches zuvor eingewickelt hatte.

„Magst du?“, fragte ich und hielt Raphael meine kleinen Meisterwerke auffordernd hin.

„Hey super, klasse, die sehen ja gut aus. Wow Lara, gut gemacht, sogar mit Gurken und Tomaten, spitze!“

Aha, der hatte anscheinend auch so eine Omi wie ich.

„Ich hab zwar schon bestimmt ein Dutzend Dosenwürstchen verdrückt, bin aber immer noch superhungrig!“, rief er weiter freudig aus.

Na klar hatte der Hunger, nach der Aktion vorhin da draußen hätte ja sogar ich ein halbes Schwein verdrücken können. Und ich wurde abgeschleppt, er hingegen hatte die ganze Arbeit gemacht!

Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander und verdrückten meine zugegeben recht leckeren Sandwiches. Remoulade und Tomate, etwas Senf und ein paar Scheiben Gurke, dazu Käse und Wurst in Hülle und Fülle – genau so hatte ich das in Amerika gelernt. Die häuften da einfach alles, was der Kühlschrank so hergab, übereinander auf einen Bagel und pfiffen sich so gerne mal eben 2000 Kalorien in zwanzig Minuten rein.

Für heute aber war das genau das Richtige, denn das brauchten Raphael und ich gerade, Kalorien hatten wir weiß Gott genug verbraucht in den letzten Stunden. Mein Retter genoss zu meiner Freude die improvisierte Mahlzeit und lächelte mich dankbar an.

Raphael – was für ein schöner Name – genau wie sein Besitzer! Verstohlen wanderte mein Blick von seinen großen Füßen, die in dicken Wollsocken steckten, über seine muskulösen Beine, die man durch die enge Jeans gut ausmachen konnte, bis hinauf zu seinem Oberkörper.

Allmählich begann Raphael nun damit, mir zwischen den Bissen irgendetwas zu erzählen, ich weiß davon ehrlich gesagt nicht mehr wirklich viel. Für mich bewegten sich einfach nur ein paar wundervolle Lippen direkt vor meinen Augen, die zu einem wahnsinnig markanten und doch weichem, wunderschönen Gesicht gehörten. Das Ganze umrahmt von den hübschesten, blonden, leicht welligen und etwas längeren Haaren, die ich je gesehen hatte. Dazu ein paar braune Augen, die meinen Verstand und mein Gehör ausschalteten, sodass ich ihn nur noch anstarrte und still vor mich hin kaute. Er lächelte, zog dabei seine rechte Augenbraue leicht hoch und umwickelte mich mit diesem Blick, der direkt in mein Herz ging und es butterweich werden ließ.

Was war das denn bitte???

War das so eine Art Helfersyndrom, die Gerettete verliebte sich binnen Sekunden in den Retter, weil sie ihm ihr Leben schuldete – oder was? Vielleicht reagierte der normale menschliche Körper ja immer auf so ein Ereignis in dieser Art und Weise, ja, vielleicht war das einfach ganz normal? Meine Güte, wie heftig!

Verstört kramte ich in meiner Tasche, fischte die Flasche Jägermeister heraus und hielt sie Raphael unter die Nase. Dankend nahm er gleich mehrere kräftige Schlucke und reichte mir schließlich die Flasche wieder zurück.

Sofort nahm ich ebenfalls einen ordentlichen Schluck. Und gleich noch einen. Das würde mir sicher helfen, dachte ich bei mir, das würde mich hoffentlich mal etwas lockerer machen, ich war ja total durch den Wind, mein Gott!

Ja, tatsächlich, das tat schon gut, richtig gut.

Allmählich wurde ich lockerer und begann nun auch damit, ihm etwas von mir zu erzählen. Ich erzählte von New York, wo ich das letzte Jahr verbracht hatte und davon, wie Lilith mich nun nach Sylt eingeladen hatte, damit ich mir hier eine Auszeit nehmen konnte und mir somit hoffentlich über meine weitere Zukunft klar werden zu können.

Zwei weitere Jägermeister lösten meine Zunge noch mehr und ich plapperte und plapperte, als bekäme ich pro Wort fünf Cent.

Ich schwärmte von Sylt, vom Surfen, vom weiten Meer und davon, wie froh ich war, dass ich die letzten drei Wochen hier hatte verbringen dürfen. Schließlich erzählte ich ihm noch von meinen neu gereiften Plänen, dass ich nun nach Osnabrück zum Studieren gehen wollte und mit Anneliese, Michaels Mutter, zusammen in ihrem Haus wohnen durfte. Ich erzählte von dem Nebenjob, den Lilith mir besorgt hatte, und den ich bereits übermorgen in Osnabrück beginnen durfte. Eine Stammkundin aus der Boutique, in welcher Lilith hier arbeitete, kam nämlich auch aus Osnabrück und leitete dort eine Unternehmensberatung. Sie brauchte dringend eine Aushilfe zur Unterstützung, und so hatten wir uns überlegt, dass ich doch prima diese Aushilfe sein konnte. Ich war ja schließlich gelernte Bürokauffrau und so waren wir uns schnell einig geworden, und nun konnte ich tatsächlich schon übermorgen dort anfangen zu arbeiten.

„Ich freue mich sehr darauf, wow, neuer Job und dann bald noch das Studium! Ehrlich, ich hab aber auch echt etwas Angst davor, ob ich das alles so schaffe, das mit dem Job und dann der BWL-Kram und so.“

Es war wirklich komisch, ich kannte Raphael kaum und doch fühlte ich mich ihm bereits jetzt schon so nah und so vertraut. Fast so, als hätten wir zwei die letzten drei Wochen hier zusammen verbracht, und nicht Michael, Lilith und ich.

„Du schaffst das, ganz sicher, so wie ich dich heute da draußen erlebt habe, glaube ich, du bekommst alles hin. Du warst echt tough, weißt du das eigentlich?“, sprach er liebevoll und einfühlsam zu mir hinüber.

Mir wurde warm, richtig warm. Bestimmt war mein Gesicht mittlerweile rot wie eine Tomate, zumindest mal hellrot, soviel stand fest.

Ob ich wohl meinen Pullover ausziehen konnte, ohne dass das jetzt etwas merkwürdig rüberkommen würde?

„Ja, ich weiß nicht, ich hoffe es“, stotterte ich zurück und senkte dabei verlegen meinen Tomatenkopf. Puh, diese Hitze hier drin!

„Na klar, du bist super – finde ich jedenfalls“, flüsterte er auf einmal so leise in meine Richtung, dass ich ihn fast nicht verstehen konnte. Ich hob den Kopf und schaute direkt in seine braunen, leuchtenden Augen. Sie lächelten mich an und kamen näher. Einfach so.

Nun hob er seine rechte Hand und legte sie sanft an meinen Hinterkopf. Behutsam zog er mich zu sich hinüber, drehte seinen Kopf leicht schräg und legte einfach seine weichen Lippen auf die Meinen.

Mir wurde noch heißer. Oha, wow, Mann, ich kannte den doch gar nicht und nun direkt knutschen? ‚Rettersyndrom‘, ich sag’s ja, total durch waren wir. Aber beide gleich durch offensichtlich, welch ein Glück!

„Ach“, dachte ich mir nur, „kann schon mal passieren so was nach einer solchen Extremerfahrung, darf schon mal sein!“

Obwohl ich kaum etwas über diesen Mann wusste, küsste ich kräftig zurück und genoss. Denn, ganz ehrlich, genau das hatte ich mir die ganze Zeit über heimlich und doch sehr intensiv gewünscht.

Schon als er mir die Hand auf den Hinterkopf gelegt hatte, war es komplett vorbei gewesen mit meiner Widerstandskraft, die mir irgendwo zwischen dem Klopfen an die Tür des Busses und dem ersten Schluck Jägermeister verloren gegangen war.

Sanft, etwas weniger sanft, gar nicht mehr sanft, nur noch tief leidenschaftlich berührten sich unsere Lippen, immer und immer wieder. Ganz lange. Keiner sprach mehr ein Wort, wir ließen unsere Körper und unsere Hände einfach machen.

Ich zerfloss wie Butter in seiner Umarmung und in seinen Berührungen und wollte einfach nur, dass dies hier nicht mehr aufhören sollte. Nie mehr.

‚Retter-Syndrom‘ hin oder her, ich hatte so viele Gefühle für diesen jungen, wundervollen Mann und die wollten alle raus. Jetzt und hier und sofort. Raus auf die Wiese und spielen! Also öffnete ich den Haken der Leine und ließ los. Ich verlor mich in seiner Umarmung und in seinen Küssen, die er überall auf meinem nun doch sehr heiß gewordenen Körper verteilte.

Ich küsste und fummelte ohne Scham zurück, mir war alles egal, ich wollte mehr! Ich war gerade dem alten Sensenmann von der Schippe gesprungen und wollte leben, und zwar ausgiebig. Jetzt und hier und mit Raphael, jawohl!

Ich gab Gas und legte meine ganzen wirren und heftigen Gefühle in diesen Moment. Raphael gab auch Gas und so gingen wir den ganzen Weg bis zum Ende, hier in seinem Bus auf der kleinen Matratze unter den himmelblauen Vorhängen, die uns vor allem beschützten, nur nicht vor unseren starken Gefühlen für einander. Ich weiß auch nicht, was das genau war mit ihm und mir, aber es war wunderschön. Raphael war mir so vertraut, so als würde ich ihn schon lange und richtig gut kennen – und lieben.

***

Nach mindestens einer Stunde voller Liebe lagen wir nackt und zufrieden nebeneinander, ich fuhr sanft mit meinen Fingern über Raphaels weiche Haut und war glücklich. Dabei hatte ich wenige Stunden zuvor überhaupt erst seinen Namen erfahren. Egal, meine Gefühle sprachen sehr klar und deutlich zu mir und meinten, es sei alles gut und richtig und in Ordnung. Na also.

Wir redeten die ganze Nacht. Wir sprachen über Sylt, über das Meer, über unsere Wünsche und Träume und machten uns gegenseitig ganz tolle Komplimente. Immer wieder verschmolzen wir miteinander und irgendwann, es war schon hell draußen, schliefen wir ein, eng umschlungen und jeder mit einem Lächeln auf den Lippen.

Der Job, der neue Job – au weia!

Ein dumpfes aber heftiges Klopfen weckte mich extrem unsanft auf. „Lara, LARA, BIST DU DA DRIN?“, rief von weit her eine mir doch irgendwie sehr bekannte Stimme.

Ich öffnete meine Augen und brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, wo ich mich überhaupt befand. Der Bulli, Jägermeister, Raphael, ach ja! OH JA! Das war schön, ER war schön, die Nacht war schön gewesen. Ich lächelte und rekelte mich gemütlich.

„LARA!!!“, unterbrach schon wieder diese Stimme mein wohliges Gefühl, dazu klopfte jemand erneut heftig von außen an den Bus.

Ich schüttelte mich, bewegte mich widerwillig in Richtung Tür und öffnete sie einen Spalt.

„Lara, endlich, meine Güte, wir müssen los, dein Zug fährt gleich! Den musst du erwischen, du hast morgen deinen ersten Arbeitstag, du erinnerst dich vielleicht? Osnabrück, neuer Job, du musst morgen dort anfangen?“

Lilith stand aufgeregt draußen vor dem Bulli, hüpfte leicht auf und ab und rief diese ernüchternden und sehr unschönen Worte in mein müdes Gesicht hinein.

„Mist, ja, stimmt! Okay, bin gleich da“, antwortete ich, während sich Liliths Aufregung direkt auf mich zu übertragen schien.

Mein Herz raste und gab mir so praktischerweise und gänzlich kostenlos die Energie von drei Espresso, für die ja nun leider keine Zeit mehr war.

Der Job, Osnabrück, mein Zug – au weia!

„Bin sofort da“, stammelte ich leise und hektisch zurück.

Schnell und möglichst leise sammelte ich meine Sachen zusammen, zog mich notdürftig an und gönnte mir schließlich noch einen letzten, sehnsuchtsvollen Blick auf den noch tief schlummernden Raphael.

Lilith jedoch begann bereits wieder mit der Klopferei gegen die Tür, und so löste ich mich widerwillig von diesem wundervollen Anblick, drehte mich um und robbte fast geräuschlos zur Tür. Ich öffnete und schaute Lilith mit dem Blick einer Katze an, die weiß, dass sie gleich gewaschen und geschäumt wird und dass der Spaß des Herumtollens im Dreck nun endgültig vorbei war.

„Ich will nicht, ich will hierbleiben“, dachte ich trotzig, stieg aber dennoch brav aus dem Bus und schloss so sanft wie möglich die Tür hinter mir.

„Komm jetzt erst mal, Süße!“ Lilith blickte mich verständnisvoll an und strich mir über meinen Arm. Dabei stupste sie mich sanft in Richtung von Michaels Wagen, den ich ja am Abend zuvor direkt neben dem Bulli von Raphael geparkt hatte. „Ich fahre später zurück und erkläre ihm alles, ok?“ sagte sie mit ihrer liebevollen Große-Schwester-Beschützer Stimme.

„Aber jetzt müssen wir echt los, ok, also bitte, bitte beeile dich etwas!“

Ok, jetzt wurde der Ton doch etwas rauer, was vielleicht auch nötig war, um mich in Gang zu bekommen.

Wie paralysiert stieg ich in Michaels Auto ein, Lilith war mit dem Fahrrad hergefahren und hatte dieses bereits hinten im Kofferraum verstaut.

Sie startete den Motor und gleichzeitig auch ihr Mundwerk. Sie redete die ganze Zeit über, während sie ordentlich Gas gab und dabei sogar eine rote Ampel ‚übersah‘.

„Mensch Lara, ich habe mir solche Sorgen gemacht um dich! Michael meinte zwar, das ginge schon alles klar und ich wäre sicher in guten Händen – aber mir war echt nicht so ganz wohl bei dieser Sache hier!“

Es folgte eine längere Moralpredigt darüber, dass sie froh sei, dass wenigstens eine hier mitdenken würde und ich echt dankbar sein könne, dass sie das sei. Bla bla bla.

Ich stierte aus dem Fenster und schnüffelte an meinem Pullover. Hmmm, roch nach Raphael, hmmmm!

Einige Bilder der letzten Nacht zogen an meinem inneren Auge vorbei und ließen mich breit und wehmütig lächeln.

Wir hielten kurz bei Liliths & Michaels Appartement an und luden meinen Koffer in den Wagen. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich ausgiebig von Michael zu verabschieden, mit „Tschüss“ und „Danke für alles“ und diesen Sachen eben. Michael war einfach toll gewesen in den letzten Wochen und ich freute mich sehr für Lilith, dass sie so einen netten Freund gefunden hatte.

Michael nickte immer nur, gab Kommentare ab wie „da nich für“ oder „ja, schön kann es hier sein, nicht wahr?“. Dabei grinste er mich die ganze Zeit superschelmisch an, was echt nervte.

Am Ende drückte ich Michael noch mal fest und wusste ja, dass dieser Abschied zum Glück nur für kurze Zeit sein würde. Schon bald würden schließlich auch Lilith und Michael wieder zurück nach Osnabrück ziehen und ebenfalls in Annelieses Haus einziehen, was mir den Abschied von Liliths supernetten Freund jetzt und hier ganz klar sehr einfach machte.

„Bis bald, Michael!“, entsprach also sehr der Wahrheit und so fiel es mir nicht schwer, mich umzudrehen und schnell mit Lilith weiter zum Bahnhof von Sylt zu fahren.

Lilith brachte mich genau pünktlich zum Zug und versprach mir, sofort wieder zurück zu Raphael zu fahren und ihm alles zu erklären. Und vor allem, ihm meine Handynummer zu geben, was ja noch viel wichtiger war!

Ich stieg in den Zug ein, schlurfte in den Waggon hinein und ließ mich müde auf den erstbesten Sitz fallen. Lilith hatte sich direkt vor mein Fenster gestellt und schaute mich liebevoll an. Ich gab ihr einen Handkuss und winkte ihr so lange zu, bis ich sie nicht mehr erkennen konnte. Meine liebe Schwester, ja, sie dachte mit und sie war immer für mich da, recht hatte sie!

Dankbar lehnte ich mich zurück und genoss das ruhige Rumpeln des Zuges über den Deich aufs Festland zu. Dabei beobachtete ich verträumt das Meer und die Insel, wie sie langsam am Horizont durch die Weite des Festlandes abgelöst wurden und schließlich ganz verschwanden.

Ich leckte über meine Lippen und konnte noch immer Raphael schmecken. Ob Lilith jetzt schon bei ihm war, ob er wohl wütend war? Na ja, sie würde ihm ja alles erklären und dann würde ich ihm sicher bald eine Nachricht schicken können, in der ich ihm schreiben konnte, wie sehr ich die letzten Stunden mit ihm genossen hatte.

Zufrieden lehnte ich meinen Kopf an die Rückenlehne an, schloss meine Augen und dachte an letzte Nacht. Fast konnte ich Raphael an meiner Seite fühlen, als mich das ruhige Rattern des Zuges sanft einschlummern ließ.

Ein Vorname und das Work-Life-Balance-Dingsda

Piep-piep – piep-piep. Das Zwitschern meines Handys schreckte mich aus meinen Träumen. Eine Nachricht von Lilith! Ich tippte auf das blinkende Signal meines Handys. Zwei Sekunden, bis sich endlich die Worte auf dem Display formten, nur zwei Sekunden. Gefühlt eine Stunde für mich.

Endlich, ich konnte alles lesen! Ich war gespannt wie ein Flitzebogen auf Raphaels Reaktion, auf seinen Nachnamen und ich wollte auch endlich seine Telefonnummer in mein Handy einspeichern. Dann würde ich ihm einen Smiley schicken können oder einen Kussmund – vielleicht sogar ein paar Herzen, wieso nicht?

Ach nein, ich würde ihn einfach direkt anrufen, dann könnte ich seine Stimme hören, diese raue, tiefe und herrliche Stimme. Ja, das würde ich machen, genau so!

„Er ist weg – tut mir leid. Bin komplette Küste abgefahren, kein grüner Bus! Was nun?“

So lautete doch tatsächlich Liliths Nachricht. Mehr nicht! Ich las die Worte wieder, wieder und immer wieder.

Wie, er war weg? Wie jetzt? Wir waren doch nicht mal eine Stunde weg gewesen, na ja, vielleicht doch eine Stunde, aber mehr auch ganz sicher nicht! NUR EINE STUNDE – meine Güte! In dieser kurzen Zeit war der aufgewacht und komplett verschwunden oder wie jetzt? So ganz weg? Das konnte doch wohl nicht sein, oder?

Panik stieg in mir hoch. Schnell, nachdenken, was wusste ich über ihn: Er hieß Raphael, Raphael und wie weiter? Keine Ahnung. Hatte ich ihm überhaupt meinen Nachnamen genannt? Nope, auch nicht!

Seine Eltern wohnten auf einer der anderen Inseln, hatte er erzählt, aber auf welcher? Ich würde ja schlecht alle Inseln abklappern können und überall den Postboten nach einem blonden, sexy Raphael fragen, Nein, das würde nicht funktionieren.

Was noch, was wusste ich noch? Er wollte im Sommer sein Studium in Flensburg beginnen, soviel wusste ich auch noch. Aber was genau wollte er noch mal studieren – was war das noch?

Ich schlug mir leicht gegen den Kopf und ermahnte mich, doch noch mal gut nach zu denken. Sofort fielen mir wieder seine braunen Augen ein und dazu dieser Blick, der mich eingefangen und eingewickelt hatte in einen Nebel, der diese nun so wichtigen Informationen in der letzten Nacht nicht zu mir hatte durchdringen lassen.

Ich war betrunken gewesen – und hypnotisiert, ja, ok, wie sollte man sich da auch solche weltlichen Dinge wie den Studiengang oder einen Nachnamen merken? Woher hätte ich auch wissen sollen, dass das hier heute so hektisch und unglücklich ablaufen würde?

Sein Vater hatte immer zu viel gearbeitet, ja, das fiel mir auch auf einmal wieder ein. Aber wo – wo zum Geier lebten die? Er hatte mehrere Geschwister, er surfte schon lange, er wollte nie werden wie sein Vater, weil der seiner Meinung nach kein Leben hatte, sondern immer nur arbeitete. Deshalb die Auszeit auf Sylt. Nun wollte er irgendwas mit Fitness, Ernährung und Work-Life-Balance-Dingsda studieren. Meine Güte, so viele Worte und doch so wenig brauchbare Informationen. Ich wusste viel über seine Gefühle, aber kannte wenige Fakten. Heute Nacht war das ja auch alles richtig und schön so gewesen, aber jetzt war das einfach nur großer Mist. Mist, Mist, Mist!

Die komplette Zugfahrt verbrachte ich damit, mich abwechseln fertigzumachen für meine Blödheit oder darüber nach zu grübeln, wie ich Raphael nun doch noch irgendwie ausfindig machen konnte. Nach 3 Stunden kam ich zu folgendem Ergebnis: Erstens: Ich war nicht blöd, aber wahrscheinlich schock-verliebt und das alles war eben einfach nur dumm gelaufen. Zweitens: Ich hatte tatsächlich keine Ahnung, wie ich ihn finden sollte mit den wenigen Fakten, die mir zur Verfügung standen.

Ich schickte Lilith viele, sehr verzweifelte Nachrichten. Sie möge bitte noch mal losfahren, er könne ja noch nicht weit sein und ob sie denn auch wirklich überall genau geschaut habe. Lilith war irgendwann so genervt, dass sie Michael sogar zum Surf-Shop oben am Ende des Strandes schickte, um sich dort nach Raphael zu erkundigen. Aber auch die konnten nicht helfen, niemand schien ihn zu kennen bzw. niemand kannte seinen Nachnamen oder hatte eine Telefonnummer für uns.

Es war zum Verzweifeln! Gleich würde der Zug anhalten, gleich kam meine Station, gleich war ich da. Ich war so müde, so traurig und so fertig. Es war so eine schöne Nacht gewesen, so schön! Ich konnte Raphael immer noch riechen, wenn ich an meiner Haut und an meiner Kleidung schnupperte. Er war immer noch da, aber doch irgendwie weg. Verloren hatte ich ihn, meinen sexy Surfer Boy, der mir letzte Nacht Zutritt zu seiner Seele und noch zu ganz anderen Dingen gewährt hatte.

Völlig demotiviert stieg ich aus dem Zug und nahm mir ein Taxi zu meinem neuen Zuhause. Es regnete, wie passend.

Anneliese Lambert

Als ich dort allerdings ankam, wurde ich so herzlich und so warm von Michaels Mutter empfangen, dass es mir gleich schon wieder etwas besser ging.

Noch während ich mein Taxi bezahlte, erschien Anneliese Lambert, die verwitwete Mutter von Michael, freudestrahlend und wild winkend in der Haustür zu meinem neuen Heim. Ich winkte zurück und beeilte mich, dem Taxifahrer seinen Lohn plus etwas Trinkgeld zu bezahlen. Als ich den Schein jedoch aus dem Portemonnaie zog, begann meine Hand kräftig zu zittern – sehr heftig und völlig unerwartet.

Der nette Herr, der mich so unterhaltsam vom Bahnhof hierher gebracht hatte sowie meine erstaunten Augen, blickten überrascht auf meine Hand, die unkontrolliert und parkinsonmäßig versuchte, den Geldschein zu erreichen.

„Meine Güte Lara, das war echt zu viel Jägermeister gestern Abend, nicht wahr?“, redete ich verständnisvoll mit mir selber, während ich den Taxifahrer entschuldigend anlächelte.

Endlich bekam ich den Geldschein zu fassen, überreichte ihn so gut wie gerade möglich und räusperte mich schnell, um die peinliche Stille zu überbrücken. „Ach, dat kenn ich“, kommentierte der Mann mit den freundlichen Lachfalten den peinlichen Vorfall schließlich, „weniger Schnaps heute Abend, dann is dat morgen alles wieder in Ordnung!“

Immer noch zitternd nahm ich das Wechselgeld entgegen und stopfte es so gut wie möglich zurück ins Portemonnaie. „Jägermeister, es war der Jägermeister“, lachte ich ihn an, „ja ja, das war wohl einer zu viel!“

Ich schaute zu, wie er in seinem Auto verschwand und losfuhr. Jägermeister gut und schön, aber gleich so stark zu zittern, das war in dieser Intensität doch nicht mehr normal, oder doch?

War es auch, tja, nur was das alles wirklich zu bedeuten hatte, das würde ich erst viel, viel später herausfinden …

„Lara!“ Die Stimme von Michaels Mutter riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich um und mir wurde bewusst, dass sie ja schon die ganze Zeit dort stand und alles bestimmt beobachtet hatte. Na oder auch nicht, denn so fröhlich, wie sie mich anlächelte, war für sie definitiv alles gut in diesem Moment.

Ich wusste ja von Michael, dass sie bereits Anfang 60ig war, aber bis auf die grauen Haare, die als lockiger Pagenkopf ihre fröhlichen Mundwinkel umspielten, sah man ihr dieses Alter nun wirklich nicht an.

Schwungvoll lief sie mir nun entgegen und wirkte dabei fast mädchenhaft in ihrer engen Jeans und dem geringelten Pullover, der ihrem gesamten Outfit etwas Französisches und sehr Europäisches gab. Maximal fünfzig und noch recht fit – genau so wirkte sie auf mich, als sie beherzt nach meinem Koffer griff.

„Lassen sie nur, Frau Lambert, ich mach das schon!“, rief ich ihr zu und beeilte mich, ihr meinen Koffer schnell wieder abzunehmen.

„Anneliese, meine Liebe, nenn‘ mich bitte Anneliese!“, entgegnete sie mir gut gelaunt und öffnete ihre Arme.

„Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen“, strahlte sie mich an und zog mich stürmisch und gleichzeitig sehr liebevoll ganz nah an sich und ihren Ringelpulli heran.

Ich knuddelte zurück und freute mich. Boa, war die nett! Und sie roch auch noch so gut, nach Vanille und Rosmarin – auch schon wieder so französisch.

„Es ist so wundervoll, wieder jemanden im Haus zu haben!“ Anneliese löste sich sanft aus der Umarmung, umfasste meine Hände und schaukelte damit nun etwas hin und her.

„Ich freue mich auch sehr, dass ich hier wohnen darf und nicht allein bin“, antwortete ich und schaukelte mit. Ja, allein sein wäre jetzt wirklich nicht gut für mich, so von wegen frisch gebrochenes Herz und so.

„Komm, ich zeige dir dein Zimmer!“ Sie löste ihre Hände von mir und deutete an, ihr zu folgen.

Zunächst betraten wir den Flur, von dem aus wir der kleinen Treppe folgten, die uns eine halbe Etage tiefer ins Souterrain führte. Dort öffnete Anneliese eine moderne, recht neu wirkende Tür, hinter der sich ein unerwartet großer Raum mit breiten Fenstern und hellem Parkettboden auftat.

„Alles frisch renoviert – und neue, große Fenster habe ich auch endlich einbauen lassen!“, freute sich Anneliese und trat in das kleine Appartement, welches wohl für mich bestimmt war.

„Super, ja, wirklich, richtig hell hier drin!“

„Nicht wahr? Das war vorher nicht so, aber jetzt, jetzt ist das sehr nett geworden, wie ich finde!“

Anneliese trat ein und begutachtete fröhlich das kleine Appartement. Ich folgte ihr und blickte mich ebenfalls neugierig um. ‚Nett‘ war nun wirklich nicht der passende Ausdruck für das, was ich so auf den ersten Blick ausmachen konnte. Eher modern, cool, hochwertig und doch gleichzeitig sehr gemütlich. Kurzum einfach perfekt und wirklich richtig, richtig schön, ja, das traf es wohl eher.

Zunächst nahm ich die nagelneue Kochnische wahr, mit ihren weißen, mattlackierten Türen, dazu eine schicke Arbeitsplatte aus hellem, bestimmt sehr hochwertigem Holz und darüber ein paar passende Hochschränke mit einem offenen Regal in der Mitte. Insgesamt zählte ich vier große Fenster, die dem Licht und der Sonne ausreichend Einlass gewährten, sodass man sich hier bestimmt auch im Winter sehr wohl fühlen konnte.



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