Nemesis - Verräterisches Herz - Anna Banks - E-Book
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Nemesis - Verräterisches Herz E-Book

Anna Banks

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Beschreibung

Kann sie ihr Herz zum Schweigen bringen?

Sepora ist es gelungen, einen Waffenstillstand zwischen ihrem Vater und ihrer großen Liebe Tarik auszuhandeln, doch der Preis dafür ist hoch. Ihr Vater hat Prinz Tarik ihre Hand angeboten und Tarik hat angenommen, ohne Sepora zu fragen. Täglich lässt sie Tarik spüren, wie sehr sie ihn deshalb verachtet. Doch als Verräter von unerwarteter Seite auftauchen, müssen Tarik und Sepora lernen, zusammenzuarbeiten. Bald stehen beide Königreiche, ihre Beziehung und sogar ihr Leben auf dem Spiel.

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Seitenzahl: 441

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DIE AUTORIN

@ Anna Banks

Anna Banks ist die Autorin der New York Times-Bestsellerreihe Blue Secrets. Nach Joyride erscheint jetzt mit Nemesis – Verräterisches Herz das Finale ihres neuen großen romantischen Fantasy-Zweiteilers. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Crestview, Florida.

Mehr zu cbj/cbt auch auf Instagram unter@hey_reader

Anna Banks

NEMESIS

Verräterisches Herz

Aus dem Amerikanischenvon Michaela Link

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© 2017 by Anna BanksDie Originalausgabe erschien unter dem Titel»Ally« bei Feiwel and Friends, einem Imprint der Macmilllan Publishing Group, LLC, New York.© 2018 für die deutschsprachige Ausgabecbj Kinder- und Jugendbuch Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenAlle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenAus dem Amerikanischen von Michaela LinkUmschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, InkcraftUmschlagfotos © ArtOfPhotos/ Shutterstockkk · Herstellung: eRSatz: Buch-Werkstatt, Bad AiblingISBN 978-3-641-19723-0V002
www.cbj-verlag.de

Für G,

der mit mir durch dick und dünn geht

TEIL 1

1

Sepora

Sethos’ Schwertspitze saust mir haarscharf an der Nase vorbei. Ich pralle zurück und schleudere ihm mit dem Fuß eine Ladung Sand ins Gesicht, weil er es gewagt hat, mir so nahe zu kommen. Es ist schließlich nur ein Übungskampf, und wenn er mich damit auf die Probe stellen will, werde ich es ihm mit gleicher Münze heimzahlen. Er gleitet geschmeidig nach links und weicht dabei nicht nur dem Sand, sondern auch der aufgewirbelten Staubwolke aus.

Ich koche vor Wut und bin gleichzeitig wie berauscht.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand noch schneller ist als Sethos, Tariks jüngerer Bruder, der gerade sechzehn geworden ist. Ich habe zwar nicht viele der Meistermajai trainieren sehen, da die starken Krieger der Armee des Königs ihre dienstfreie Zeit im Lyzeum verbringen, aber von den Begabten, die ich vom Balkon zum Übungshof aus beobachtet habe, kann keiner mit Sethos’ Tempo mithalten. Nicht einmal sein Schatten kann es. Ob sein Vater, der Kriegerkönig Knosi, wohl genauso flink auf den Füßen war?

Sethos lacht. »Bei einem geringeren Krieger könnten deine Tricks funktionieren, Prinzessin, aber ich fürchte, wenn du mit mir gleichziehen willst, wirst du dir mehr Mühe geben müssen.«

Wir wissen beide, dass ich nie so gut sein werde wie er, ganz gleich, wie viel wir trainieren. Und wir wissen beide, dass diese Übungen nicht nur dazu dienen, mich das Kämpfen zu lehren. Unser gemeinsames Training verschafft uns eine Pause von der Illusion, die wir früher Leben genannt haben. Es gab einmal eine Zeit, als es uns beiden freistand, eigene Entscheidungen zu treffen, zu heiraten, wen wir wollten – zumindest bildeten wir uns ein, entscheiden zu können –, und die Palastmauern zu verlassen.

Jetzt fühlt sich Freiheit an wie die festgerostete Angel einer unbenutzten Tür.

Das Verhältnis zwischen Sethos und Tarik ist inzwischen angespannt. Ihre unbefangenen Scherze sind spitzen Bemerkungen und Unaufrichtigkeit gewichen. Wo sie früher gleicher Meinung waren, vertritt Sethos jetzt das Gegenteil von dem, was Tarik sagt, ganz gleich, worum es geht. Manchmal ist es kaum mitanzusehen, wie die Beziehung der beiden Brüder, die einst so eng war, immer schwieriger wird.

Ich schüttele den Kopf und lasse das Schwert sinken. In der drückenden Hitze Theorias Atem zu holen, scheint fast genauso unmöglich, wie Sethos mit dem Schwert zu streifen. Ich wünsche mir so sehr, ihm eine Schramme oder wenigstens einen Kratzer zuzufügen, nur um ihm diesen selbstgefälligen Ausdruck vom Gesicht zu wischen. Aber das schaffen selbst andere Majai nicht, und daher weiß ich, dass er nur mit mir spielt, wenn ich ihm näher komme. »Glaub mir, wenn ich sage, dass ich mein Bestes gebe«, versichere ich.

Er schnalzt mit der Zunge. Ich hasse dieses spöttische, herablassende Geräusch. »Du weißt, dass das nicht stimmt. Du weißt, dass du …«

»Sprich es nicht aus«, zische ich und hebe das Schwert. Ich bin es leid, jedesmal das gleiche Gespräch zu führen. Er will mich unbedingt schmieden sehen, will mir zeigen, wie ich meine Fähigkeit nutzen kann, um mich zu schützen. Wenn ich schnell genug Spektorium herstellen könnte, könnte ich damit meinen Gegner verbrühen, erklärt er mir, und vermutlich hat er recht. Aber selbst wenn ich schmieden wollte, könnte ich es nicht. Nicht hier im Freien. Ich weiß es und Sethos weiß es auch.

Unsere beiden unergründlichen Könige, Tarik und mein Vater, haben beschlossen, dass meine Schmiedefähigkeit vor den Königreichen geheim gehalten werden soll. Dass meine Macht als einzige Schmiedin von Spektorium mich gefährdet. Und dass mein Wohlergehen von äußerster Wichtigkeit ist.

Natürlich. Tarik macht mein Wohlergehen aus Pflichtgefühl zu seinem Anliegen. Aber Vater? Seine Absichten scheinen mir das genaue Gegenteil zu sein. Er wird mit jedem Tag ungeduldiger, was mein »Wohlergehen« betrifft, und droht damit, mich im Kerker in Ketten zu legen (der Palast in Anyar, dem Herzen von Theoria, hat gar keinen Kerker), bis ich für ihn Spektorium schmiede. Wenn wir unter vier Augen sind, steigert er sich in Wutanfälle hinein und verlangt von mir zu schmieden, und wenn wir in Gesellschaft des Falkenkönigs sind, legt er Tarik das Gleiche immer wieder auf diplomatische Weise nahe. Aber aus irgendeinem Grund ist Tarik nicht bereit – zumindest noch nicht –, mich dazu zu zwingen. Der Falkenkönig denkt wahrscheinlich, dass ich von selbst einwilligen werde, dass ich nachgeben und ihn irgendwann mit dem Spektorium versorgen werde, das zur Bekämpfung der Seuche gebraucht wird.

Er irrt sich.

Ich werde keins der fünf Königreiche mehr mit Spektorium versorgen. Weder Theoria zur Bekämpfung der Seuche oder als Druckmittel für Tarik, noch Serubel für seine Wirtschaft oder Vaters Ambitionen. Das Eiskönigreich Hemut wird ohne das Element zurechtkommen müssen, genau wie Wachuk und Pelusia, die in der Vergangenheit zum Glück kein Interesse daran gezeigt haben. Das Zeitalter des Spektoriums ist vorbei.

Ich lasse mich nicht länger als Schachfigur in einem Machtspiel missbrauchen. Und ich lasse nicht länger zu, dass andere darüber entscheiden, was gut für mich ist und was nicht.

Was leider auch Sethos einschließen muss. Woher soll ich wissen, ob Sethos nicht insgeheim mit Tarik taktiert und plant, ihm das frische Spektorium zu bringen, das ich während unserer Trainingsstunden schmiede? Sethos ist zwar im Moment einer meiner Lieblingsmenschen, aber er wäre auch intrigant und schlau genug, um einen solchen Verrat durchzuziehen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum er mir ständig damit in den Ohren liegt, dass ich schmieden soll – Tarik hat ihn dazu angestiftet. Obwohl das eigentlich unwahrscheinlich ist. Sethos spricht kaum noch mit Tarik, und obwohl ich kein Lingot bin wie Tarik und nicht die Fähigkeit besitze, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden, bin ich auch kein Idiot. Es ist nicht zu übersehen, dass Sethos seinen älteren Bruder für einen Tyrannen hält. Dass Tarik ihm befohlen hat, sich mit Prinzessin Tulle aus Hemut zu vermählen, ist dem jüngeren Bruder ein unwiderlegbarer Beweis für diese Anschuldigung. Nein, Sethos versucht nicht, mich zu hintergehen. Nicht für Tarik.

Um die Wahrheit zu sagen, unser gemeinsames Training ist die einzige Zeit, in der Sethos noch der Alte ist. Nach der Stunde, nachdem wir uns völlig verausgabt haben und zu unserem Los im Leben zurückgekehrt sind, geschieht etwas mit ihm. Wenn er zum Abendessen im Palast erscheint – eine weitere Forderung Tariks –, ist er mürrisch und schweigsam und ohne jeden Charme.

Er ist nicht mehr Sethos.

Ich weiß, dass es seine unmittelbar bevorstehende Heirat mit Tulle ist, die ihm den gewohnten Charme raubt und gründlich die Laune verdirbt. Ich kann ihm keinen Vorwurf daraus machen, denn auch mir steht eine Ehe ohne Liebe bevor, und bei der Aussicht darauf vergeht mir der Appetit. Aber Sethos’ Situation ist insofern einzigartig, als er seine Verlobte verachtet, während ich mir vorgenommen habe, einfach distanziert zu bleiben. Die Liebe, die Tarik und ich einmal füreinander empfunden haben, ist zu einem Zerrbild aus gutem Benehmen und Diplomatie geraten.

Sethos sind gute Manieren und Diplomatie nie leichtgefallen.

»Warum verabscheust du Prinzessin Tulle so?« Ich bereue die Frage sofort, sie ist mir gedankenlos rausgerutscht. Ich kann zusehen, wie er sich vor mir verschließt. Damit ist die Trainingsstunde wohl vorbei, ich sehe es in seinen Augen. Enttäuschung macht mein Schwert noch schwerer.

Er bedenkt mich mit einem seltsamen Grinsen, als er antwortet: »Keine Sorge, Prinzessin. Tulle empfindet auch keine Liebe für mich. Du kannst dich glücklich schätzen, aus Liebe heiraten zu dürfen.«

Schlagartig wird mir warm im Gesicht, ein Erröten, das ich nicht verbergen kann. Ich sollte nicht so auf Tarik reagieren, nicht nach dem, was er getan hat. Es gab eine Zeit, da hätte ich ihn aus Liebe geheiratet, doch unsere Zeit der Liebe ist vorbei. Genau wie meine Bereitschaft, ihn zu heiraten.

Doch Sethos grinst mich boshaft an. »Du und mein Bruder, ihr glaubt wohl, ich bin blind? Ist dir klar, dass ihr euch allein beim Abendessen nicht weniger als ein Dutzend Mal verstohlene Blicke zugeworfen habt?«

Ich hebe das Kinn. Ich hatte mich bemüht, Tarik nicht anzusehen, seine Anwesenheit überhaupt nicht zu beachten. Anscheinend ohne Erfolg. »Ich versuche lediglich, höflich zu sein. Vielleicht könntest du einen Teil deines ausgefüllten Tages darauf verwenden, über gute Manieren nachzudenken.« Die Andeutung, dass Sethos viel zu tun hat, ist gemein. Er ist mit der Sicherheit des Palastes betraut worden, doch er sagt, der Laden läuft von allein. Seine einzige Ablenkung besteht darin, eine Gruppe von Wachen zusammenzutrommeln, einen Eindringling zu spielen, den sie dann aufspüren sollen und herausfinden, wie er hereingekommen ist und was er wollte. Am Ende läuft es darauf hinaus, dass er maßlos verärgert ist; sein Ego lässt es nicht zu, dass er sich festnehmen lässt, also müssen die Wachen sich mit einer weiteren Übung abfinden, bei der sie versagen und die Schimpfkanonade eines Majaimeisters über sich ergehen lassen müssen. Es tut keinem der Beteiligten gut.

»Höflich?«, sagt Sethos. »Eure Form der ›Höflichkeit‹ ist makellos, Prinzessin. Die meines Bruders zufälligerweise auch.«

Ich schiebe das Schwert in die Scheide, die ich auf theorianische Art über den Rücken gegürtet trage. »Wenn du so geübt darin bist, die Gefühle anderer zu beurteilen, wie kommt es dann, dass du es nicht geschafft hast, Tulles Zuneigung zu gewinnen?«

Sethos spuckt auf den Boden. »Warum bist du so versessen darauf, dass ich an einen so abscheulichen Menschen wie Tulle gekettet bin? Was habe ich dir getan?«

»Nichts, abgesehen davon, dass du mich für den Harem deines Bruders gekauft hast. Warum bist du so versessen darauf, dieses Gespräch zu vermeiden?« Wenn ich ihn schon nicht mit dem Schwert besiegen kann, dann wenigstens mit Worten.

Oder vielleicht auch nicht.

Rasch überwindet er den Abstand zwischen uns und packt mich an den Armen, bevor ich mich wehren kann – bevor ich auch nur daran denken kann, mich zu wehren. »Lauf mit mir weg, Sepora. Lauf heute Nacht mit mir weg.«

Ich versuche, einen Schritt zurückzutreten, mich aus seinem Griff zu winden, aber vergeblich. Seine Hände sind groß, meine Arme sind schmal, und seine Schienbeine und Lenden sind mit einem Panzer aus Kupferplättchen geschützt. So viel dazu, dass ich lerne, mich zu verteidigen.

»Wir könnten uns in Wachuk niederlassen und uns dort ein gemeinsames Leben aufbauen.« Er brüllt jetzt praktisch. »Sag ja, und ich werde dafür sorgen, dass du Nuna mitnehmen kannst, deine prächtige Verteidigungsschlange. Ich werde dich nicht dazu zwingen zu schmieden, nicht einen Tropfen.«

Ich spüre, wie meine Augen groß werden und hektisch den Hof absuchen, teils nach Hilfe und teils, um sicherzugehen, dass niemand diesen Wahnsinn mit anhört. »Sethos, ist dir die Hitze zu Kopf gestiegen?«, zische ich. »Lass mich los!«

»Wir werden wunderschöne Babys machen«, schreit er und zieht mich an sich. Sein Gebrüll ist so laut, dass es die Toten wecken muss, die in den Pyramiden hinter Anyar ruhen. »Ich will ein Mädchen mit deinen Augen.«

Babys! Wenn ich fest genug zutrete, müsste das Kupfer doch eigentlich …

»Falls du tatsächlich jemals Kinder zeugen willst, wirst du sie auf der Stelle loslassen«, ruft eine vertraute Stimme hinter uns. Wir drehen uns zu Tarik um, dessen Zorn auch die goldene Körperbemalung nicht verbergen kann, die ihm die Königspflicht aufzwingt.

Sethos gibt mich frei und lacht herzlich. Es ist kein Wunder, dass er gebrüllt hat. Er hat Tarik kommen sehen und es extra gemacht, dieser Schuft.

»Ich bringe dich um«, beschließe ich, während ich die Worte ausspreche, und greife nach dem Schwert auf meinem Rücken.

Aber Sethos geht bereits weg und gibt sich betont unbesorgt. »Du solltest meinen Bruder auch ruhig mal zum Narren halten, Prinzessin. Wie du siehst, macht es großen Spaß«, sagt er über die Schulter. Als er an Tarik vorbeigeht, würdigt er ihn keines Blickes. Aber Tarik hätte ihn ohnehin nicht bemerkt. Er sieht mich an, als sei ich diejenige, die geplant hatte, in einem heidnischen Königreich heidnische Kinder mit seinem heidnischen Bruder großzuziehen.

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Was machst du hier?« Ich deute mit dem Kopf auf die bronzene Sonnenuhr vor der Hofmauer, obwohl ich nicht erkennen kann, was sie anzeigt. »Meine Stunde ist noch nicht vorbei.«

Tarik zieht eine Braue hoch und blickt vielsagend auf mein in der Scheide steckendes Schwert. »Dein Lehrer scheint das anders zu sehen.«

»Du bist früh dran«, sage ich vorwurfsvoll und hätte fast mit dem Fuß aufgestampft. Die einzige Freiheit, die ich noch habe, ist mein tägliches Selbstverteidigungstraining mit Sethos im Übungshof, obwohl Tarik nicht begeistert darüber ist, mir diese Höflichkeit zu erweisen. Doch er tut es, und so nutze ich jede Minute, dem Treiben im Palast und meinem neuen Platz darin zu entkommen. Wenn der Unterricht vorzeitig beendet wird, verhalte ich mich also mit Absicht aufsässig.

»Deine Mutter ist ebenfalls früh dran«, meint er gedehnt. In letzter Zeit gelingt es ihm sehr gut, seine Gefühle für sich zu behalten. Seinen Gesichtsausdruck, seine Körpersprache. Meisterin Saen hat mich gelehrt, wie ein Lingot auf diese Signale zu achten; Worte sind nicht alles, was wir sagen. Aber Tarik zeigt mir nichts. Ich habe keine Ahnung, ob er aufgeregt ist, meine Mutter kennenzulernen, oder ob ihm davor graut. »Königin Hanlyn ist vor wenigen Augenblicken mit ihrer Serpen hinten im Hof angekommen. Ich dachte, du würdest sie vor dem Essen gern sehen.«

Königin Hanlyn. Meine Mutter. Sie sollte erst morgen kommen; gemeinsam mit meinem Vater wird sie an der königlichen Verlobungsprozession teilnehmen, wie es in Theoria Brauch ist. Tarik und ich werden die Prozession in einem Wagen anführen und Geschenke an die Bürger verteilen, eine prunkvolle Zurschaustellung des Reichtums und der Rechtschaffenheit des Throns und die faktische Besiegelung meines Schicksals mit Tarik. Der Gedanke daran lässt mich trotz der Hitze schaudern. Vielleicht ist es auch der Blick, den Tarik mir jetzt zuwirft, ein Blick voller Neugier – und etwas anderem, was ich nicht recht benennen kann. Gegen meinen Willen halte ich seinem Blick stand. Alles andere wäre zu verräterisch.

Um das mulmige Gefühl in meinem Magen zu beruhigen, versuche ich, mich nicht auf sein Gesicht zu konzentrieren, sondern auf seine Worte. Es ist die erste Begegnung mit meiner Mutter, seit sie mich vor Monaten auf die Reise nach Theoria geschickt hat. Ihr kurzer Besuch hier wird zeigen, ob meine Mission erfolgreich war, und ich bin mehr als neugierig, ob sie auf das, was geschehen ist, mit Lob oder mit Zorn reagiert. Es sollte doch etwas heißen, dass ich mich für eine Heirat mit Tarik opfere. Und es wird eine Erleichterung sein, Mutter die Aufgabe aufzubürden, Vater in Schach zu halten, was meine Schmiedefähigkeit betrifft. Sie wird am besten mit ihm fertig, selbst wenn er sich von seiner schlimmsten Seite zeigt, und wenn nicht, dann kann sie ihn zumindest so lange von seinen Unternehmungen ablenken, bis es ihr gelingt. Doch bevor wir über meinen Vater reden, müssen wir über Tarik reden.

Dass der große Falkenkönig ein Lingot ist und Wahrheit von Lüge unterscheiden kann.

Und dass man ihn deshalb nicht in Schach halten kann.

2

Tarik

Tarik breitet die kleine Schriftrolle vor sich aus, rollt sie wieder zusammen, wickelt sich die Nachricht fest um den Finger und zieht sie so schnell wieder auf, dass sie sich dreht. Er ist stark mit dem Gedanken beschäftigt, dass Sepora in diesem Moment ihre Mutter besucht, die Königin von Serubel. Was mag Sepora ihr erzählen? Welchen Eindruck vermittelt Sepora der Königin, bevor er Gelegenheit hat zu beweisen, dass er ihrer Tochter würdig ist? Und warum bedeutet es ihm so viel, was Königin Hanlyn von ihm hält?

Rashidi, der geduldig auf der anderen Seite des Schreibtischs in Tariks Tagesgemach gesessen hat, räuspert sich leise. Als treuester Ratgeber seines Vaters und nun Tariks engster Freund hat er das Recht, angesichts der Versunkenheit seines Königs eine gewisse Ungeduld an den Tag zu legen. Doch er lässt ihn gewähren, als würde er verstehen, wohin Tariks Gedanken abgeschweift sind.

»Vielleicht könnten wir es ein andermal besprechen, Hoheit«, schlägt Rashidi vor. »Wir haben noch ein paar Tage Zeit, um die Einzelheiten der Verlobungsprozession festzulegen.« Er nimmt die Kajalkreide von der Karte Anyars, auf der er die Strecke der Prozession eingezeichnet hat. Tarik sieht, dass sie von der Halbbrücke in den Palast zurückführen soll. Normalerweise würde sich das von selbst verstehen.

Aber in seinem Leben ist nichts mehr normal.

Tarik schüttelt den Kopf und wappnet sich für den Widerspruch, der unweigerlich kommen wird. »Wir müssen das Viertel der Niedriggeborenen in die Prozession einbeziehen, Rashidi.«

Der alte Ratgeber stöhnt, wirkt aber nicht überrascht. »Ich hatte schon so eine Ahnung, dass Ihr das sagen würdet.«

Tarik grinst. »Ihr habt es gewusst. In diesem Viertel leben die Nachfahren der befreiten serubelanischen Sklaven. Ich muss das Volk meiner zukünftigen Königin teilhaben lassen.«

»Darum geht es nicht bei der Prozession, Hoheit. Und es entspricht nicht dem Brauch.«

»Dann klärt mich auf, Rashidi.« Obwohl er gut vertraut ist mit Brauch und Tradition der Prozession. Rashidi hat ihn schon vor Monaten in beidem unterwiesen, seit er den Beschluss gefasst hatte, dass Tarik sich mit Prinzessin Tulle vermählen sollte. Und wenn er Prinzessin Tulle geheiratet hätte, gäbe es diese Diskussion nicht.

Ach, es gibt so viele Diskussionen, sobald es um Sepora geht!

Sein Freund lehnt sich auf dem Stuhl zurück und legt den silbernen Gehstock an die Brust. Tarik weiß, dass Rashidi seine Worte sorgsam wählt. Mit Worten hat Rashidi Frieden heraufbeschworen, wenn es keinen Frieden gab, hat Ehen arrangiert, wenn es keine Zuneigung gab, und hat Stolz beschwichtigt, wenn nichts anderes als Stolz übrig war. Rashidi und seine Worte sind mächtig. Aber Tarik wird in diesem Punkt nicht nachgeben, ganz gleich, in welche Richtung Rashidis Diplomatie arbeitet. »Bei einer königlichen Verlobungsprozession geht es darum, den Wohlstand und die Macht Theorias zur Schau zu stellen«, beginnt der Ratgeber zu sprechen, »um demjenigen, der in unser Königreich einheiratet, zu zeigen, dass er mit Abstand am meisten von der Heirat profitiert. Wenn er glaubt, dass das nicht der Fall ist, steht es ihm frei, seine eigenen Gebräuche mit einzubringen, um den überlegenen Wohlstand seines Reiches zu präsentieren, Hoheit.« Soweit Tarik weiß, ist es in der Geschichte Theorias noch nie vorgekommen, dass ein Königreich versucht hat, Theoria in den Schatten zu stellen. Und Tarik bezweifelt, dass Serubel dazu in der Lage ist. Doch Rashidis Augen leuchten auf. »Vielleicht könnten König Eron und Königin Hanlyn ein serubelanisches Fest für das ganze Königreich und so auch für ihr eigenes Volk ausrichten. Das würde sicherlich das Viertel der Niedriggeborenen beschwichtigen und natürlich auch Eure Königin.«

»Es würde nicht dazu beitragen, dass die Niedriggeborenen mir treu ergeben sind. Und Sepora. Es geht nicht einfach darum, Sepora zufriedenzustellen. Ich will mich darauf verlassen können, dass auch diese Menschen dazu bereit sind, für Theoria zu kämpfen, wenn die Zeit kommt.«

Rashidi runzelt die Stirn. Tarik weiß, dass seine Gedanken zu dem Königreich Hemut wandern, von dem womöglich Krieg droht. »Ein weiser Gedanke natürlich.« Der Ratgeber verzieht das Gesicht, ein Zeichen, dass Tarik nicht gefallen wird, was er zu sagen hat. »Vergebt mir, Hoheit, aber es wäre schwierig für die Einwohner unseres Königreichs, Prinzessin Sepora nach dem, was sie getan hat, treu ergeben zu bleiben. Ich denke, dass selbst die niedriggeborene Klasse daran Anstoß nehmen würde. Schließlich war es das Werk dieser Bürger, das sie zerstört hat.«

Aha. Rashidi ist also weniger besorgt um die Tradition, als Tarik gedacht hat. Nein, er möchte Sepora für das bestrafen, was sie getan hat. Oder vielmehr für das, was sie nicht getan hat. Tarik bemüht sich, seinen Gesichtsausdruck neutral zu halten. Rashidi grollt immer noch wegen der Tatsache, dass Sepora die ganze Zeit über frisches Spektorium hätte schmieden können, damit Cy der Heiler es zur Bekämpfung der Stillen Seuche einsetzte. Stattdessen hatte sie ihre Fähigkeit verschwiegen. Wenn Tarik ehrlich ist, ist auch er noch verbittert. Er fühlt sich verraten. Aber aus einem unerklärlichen Grund verspürt er trotzdem das Bedürfnis, Sepora zu verteidigen – und ärgert sich gleichzeitig darüber. Doch trotz dieser komplizierten Gefühle, die ihn endlos aufwühlen, weiß er, dass er keinem Diener – nicht einmal Rashidi – erlauben darf, schlecht von seiner zukünftigen Gemahlin zu sprechen, weil das womöglich eine Lawine derartigen Verhaltens auslösen könnte, die schwer zu kontrollieren sein würde. Er und Sepora müssen geeint zusammenstehen, auch wenn ihr das noch nicht klar ist.

»Sie hat eine gefährliche Gabe, Rashidi. Sie wollte sie nur schützen.« Was durchaus der Wahrheit entspricht. Er erinnert sich noch immer an den Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie zum ersten Mal die Explosion von Kratorium im Innenhof mitangesehen hat. Sie kannte es und sie fürchtete es. Sie hatte Angst, dass die Waffe in falsche Hände fallen würde. Und wer könnte ihr daraus einen Vorwurf machen?

Doch ein kleiner Vorwurf stiehlt sich trotzdem in sein Gehirn und wird sich so lange dort einnisten, bis Tarik die Gelegenheit hat, sie wegen ihrer … Entscheidungen … zur Rede zu stellen.

»Auf Kosten der Pyramide Eures Vaters?«, zischt Rashidi. »Wenn das Königreich erfährt, dass …«

Tarik springt auf und beugt sich über den Tisch. Er wollte seinen Freund nicht erschrecken, aber vielleicht brauchte dieser eine andere Gangart. Er spricht ein gefährliches Thema an. Wenn die Menschen wüssten, dass Sepora den Abbau der Begräbnisstätte ihres geliebten Königs Knosi hätte verhindern können, würde es einen Aufstand geben. »Und wie soll das Königreich davon erfahren? Ich glaube, ich habe ausreichend klargestellt, dass niemand von Seporas Fähigkeit als Schmiedin wissen darf. Sagt es mir, Rashidi. Habt Ihr die Absicht, dem Volk mitzuteilen, was sich ereignet hat?« Er ist schließlich ein Botschafter des Volkes. Tarik weiß genau, dass das, was er von seinem Freund erwartet, seiner Loyalität zu den Bürgern entgegensteht.

Sein Ratgeber holt tief Luft und stößt seinen Zorn mit einem langen, langsamen Atemzug aus. Rashidi neigt zu Wutanfällen, vor allem, wenn sie beide unter vier Augen sind. Tarik respektiert, dass er versucht, sein Temperament zu zügeln. Dennoch dauert es einen Moment, bis sein Blick Tarik erreicht und ihm zeigt, dass sein Freund sich beruhigt hat. »Nein, Hoheit. Ich würde mich Euch niemals widersetzen.«

Die Wahrheit. Stolz der Pyramiden, es war nötig, das zu hören. Wenn er angesichts dessen, was auf sie zukommt, Rashidis Treue verlieren würde … die Verzweiflung, in die es ihn stürzen würde, wäre nicht auszudenken. Tarik nimmt wieder Platz und legt die Arme auf die Lehnen des Stuhls. »Ihr denkt, ich hätte Sepora verziehen, dass sie mir keine andere Wahl gelassen hat, als die Pyramide meines Vaters abzubauen.« Es ist keine Frage. Sein Vater, der Kriegerkönig Knosi, hat Rashidi viel bedeutet. Es ist nur natürlich, dass der älteste Freund der Familie verbittert ist. Natürlich und loyal, ruft Tarik sich ins Gedächtnis. Rashidis Reaktion ist so, wie sie sein sollte.

»Sie hat Euer Herz erobert, Hoheit, doch ich hatte gehofft, dass sie nicht auch Euren Verstand erobert hätte.«

»Das hat sie nicht.« Selbst er spürt, wie aufgewühlt diese Worte sind. Ist der Verstand nicht immer auf unbequeme Weise mit den Wünschen des Herzens verquickt?

»Wäre ich doch nur ein Lingot, dann wüsste ich, was Ihr wirklich empfindet.«

Tarik trommelt auf die Armlehne. »Ich verstehe. Ihr braucht von mir eine Bestätigung, mein Freund. Und ich habe keine Ahnung, wie ich sie Euch geben soll.«

»Indem Ihr einem Menschen Ehre verwehrt, der Euch schon so oft entehrt hat. Hoheit, wenn Ihr das Viertel der Niedriggeborenen in die Prozession einbezieht, sagt das Eurer künftigen Königin, dass sie auf Eurem Stolz herumtanzen kann und Ihr nichts dagegen unternehmen werdet.«

Tarik seufzt. »Ich kann sie nicht für ein Verbrechen bestrafen, von dem sie nicht weiß, dass sie es begangen hat.«

Rashidi sieht ihn lange an. »Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr ihr nichts von der Pyramide Eures Vaters erzählt habt?«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Bei den fünf Königreichen, warum nicht?«

Tarik sehnt sich danach, sich mit der Hand übers Gesicht zu streichen, aber das würde die kunstvolle Bemalung zerstören, und er hat keine Zeit, sie vor dem Abendessen neu auftragen zu lassen. »Ich hatte noch keine Gelegenheit. Wir haben kaum Zeit allein miteinander verbracht, und diese Momente sind ungeeignet, etwas zur Sprache zu bringen, was mir so … teuer ist. Ich brauche noch etwas Zeit, um darüber nachzudenken, Rashidi. Im Moment legt sie es darauf an, sich mir in jeder Hinsicht zu widersetzen.«

»Ihr habt Angst, dass sie nicht den gebührenden Respekt zeigen wird, den die Situation verdient.«

»Ja.« Und er hat Angst davor, was er dann empfinden wird. Wenn Sepora das Gespräch leichtfertig abwürgt oder sich währenddessen so trotzig gibt wie so oft in letzter Zeit, schaudert er bei dem Gedanken, wie er mit ihr ein ganzes Leben verbringen soll.

Es wäre schlichtweg unmöglich.

»Und was ist, wenn sie sich nicht zusammennimmt? Was, wenn sie vorhat, sich während ihrer ganzen Herrschaft und Ehe mit Euch so aufzuführen?«

»Oh, ich bin mir ziemlich sicher, dass genau das ihre Absicht ist.«

»Was werdet Ihr tun?«

»Sepora und ich werden unser Leben nicht als Fremde leben – das werde ich nicht zulassen. Wenn ich meine eigene Gemahlin noch einmal von Neuem umwerben muss, dann werde ich es tun. Wenn sie mein ist, in jedem Sinne des Wortes, dann werden wir über diese Angelegenheit sprechen. Aber keinen Augenblick früher. Es ist nämlich so, dass ich keinen Streit zwischen uns riskieren kann. Das würde ihr einen Vorwand liefern, um wegzulaufen oder zu versuchen, unsere Verbindung zu beenden. Wir brauchen die Serubelaner, so ungern ich es zugebe, da wir Hemut wahrscheinlich gekränkt haben.« Obwohl er sich, um die Wahrheit zu sagen, mehr darum sorgt, Sepora zu verlieren, als darum, sich den Hemutianern mit Leuten wie König Eron auf seiner Seite zu stellen. Aber das kann er seinem besten Ratgeber gegenüber nicht zugeben. Denn das allein beweist, dass Sepora ihm wirklich mit seinem Herzen auch den Verstand gestohlen hat.

Rashidi lächelt. »Euer Vater wäre stolz auf Euch, Hoheit. Er hat Euch völlig zu Recht den Falkenprinzen genannt. Ihr seht die Dinge tatsächlich von höherer Warte aus als die meisten Menschen.«

Wenn Rashidi doch nur ein Lingot wäre. Dann würde er mich durchschauen und ich wäre von der Bürde dieser Farce befreit. Tarik greift nach dem Kajalstift, mit dem Rashidi den Verlauf der Verlobungsprozession auf der Karte eingezeichnet hat, und umkreist das Viertel der Niedriggeborenen. »Also gut, wir beziehen das Viertel in unsere königliche Prozession mit ein. Und wir werden die Menschen mit so viel Geschenken überhäufen, wie sie es noch nie gesehen haben.«

3

Sepora

Mutter wartet allein auf mich und vertreibt sich die Zeit mit einer stillen Besichtigung meines Schlafgemachs. Nichts an ihr hat sich verändert; sie trägt ihr goldbraunes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar noch immer in demselben langen dicken Zopf, der ihr über den Rücken fällt. Sie bewegt sich noch immer lautlos und zielgerichtet – niemals ohne Ziel –, und sie trägt noch immer die gleichen altmodischen serubelanischen Gewänder, alle nach demselben Schnitt, aber in mindestens einem Dutzend verschiedener trister Farben. Mutter ist kein Freund von Extravaganz und versucht, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; sie hat mir immer gesagt, dass Männer einer Frau besser zuhören, wenn sie nicht von ihrem Aussehen abgelenkt werden. Ich frage mich, was sie jetzt von meiner theorianischen Kleidung halten wird: einer fließenden, fast durchsichtigen weißen Hose, die an den Knöcheln gerafft ist, und einem dazu passenden, bauch- und schulterfreien Leinenoberteil. Mein Haar ist in viele Zöpfe geflochten und hoch auf dem Kopf aufgetürmt, wo es von silbernen Spangen in Libellenform gehalten wird, deren zarte Flügel bei jeder Bewegung flattern. Anku, meine oberste Dienerin, hat heute Morgen fast eine ganze Stunde gebraucht, um mir die silbernen und schwarzen Schnörkel um die Augen zu malen. Da ich noch keine Königin bin, habe ich beschlossen, mich auch noch nicht am ganzen Körper mit der silbernen Farbe zu schmücken, die die Stellung verlangt. Silber für die Königin und Gold für den König. Tarik ist nicht froh darüber, aber irgendwie käme mir das Tragen der Farbe so vor, als würde ich vor der Zeit meine Niederlage eingestehen und mein Schicksal besiegeln. Wie die Dinge liegen, wird Mutter bemerken, dass ich an Stellen der Sonne ausgesetzt war, die für serubelanische Prinzessinnen unangemessenen sind, aber das ließ sich natürlich nicht vermeiden.

Ich beobachte für eine scheinbare Ewigkeit, wie sie anmutig durch den Raum gleitet, als hätte sie Räder statt Füßen unter ihrem langen Gewand. Beim Anblick ihres Gesichtsausdrucks überkommt mich ein Gefühl des Stolzes. Sie ist zutiefst beeindruckt. So habe ich mich gefühlt, als man mich in meine neuen Gemächer als Königin von Theoria geführt hat, und in jener ersten Nacht in dem silbernen Prunkbett mit den durchsichtigen blauen Seidenvorhängen fand ich trotz der weichen Laken und des beruhigenden Dufts von frischem Lavendel an den Kissen und Decken keinen Schlaf.

Ich habe mich noch immer nicht an den Luxus und die Pracht gewöhnt, die Tariks Mutter für sich – und natürlich für die zukünftigen Königinnen von Theoria – in dem Raum geschaffen hat, den man bescheiden das Schlafgemach nennt. Alles ist mit glänzendem Silber betont, angefangen von den Wandleuchtern, die normalerweise sicher mit Spektorium gefüllt werden, um zu brennen, in denen nun stattdessen Feuer entzündet wird, sobald die Sonne den westlichen Horizont berührt, über die silbernen Ornamente am Bett, bis hin zu den Beinen der Stühle und Tische und selbst den Vasen mit Wüstenblumen, die jeden Tag frisch gefüllt werden. Für eine Königin von Theoria ist nur das feinste Silber gut genug.

Für eine Prinzessin aus Serubel ist es extravagant.

Mutter bleibt vor einer Verzierung aus den Schuppen blauer Seherschlangen stehen, die in die Wand eingefügt ist. Die Schuppen schimmern und schillern und sind mit silbernen Ranken geschmückt, als wären sie die Blütenblätter einer seltenen Wüstenblume. Ich beiße mir auf die Lippe, als Mutter die Stirn runzelt. Ich hatte überlegt, die Schuppen entfernen zu lassen; Seherschlangen sind sanfte Wesen, die mein Volk nur wegen ihres besonderen Sehvermögens einsetzt. Tagein, tagaus an diesem Ornament vorbeizugehen erinnert mich daran, dass Theorianer bloß ihre Riesenkatzen als Haustier schätzen und jede Serpen wegen ihrer schönen Schuppen töten werden. Es ist so sinnlos wie das Töten eines Kamels wegen eines seiner Hufe. Aber um die Entfernung des Musters zu bitten ist eine heikle Angelegenheit, weil Tariks Mutter es selbst gestaltet hat und die Diener, die mir in diesen Gemächern zugewiesen sind, es so bewundernd gerühmt haben. Sie haben ihrer früheren Königin gedient und sie geliebt. Wenn sie mir von Nutzen sein sollen, dann muss ich ihr Vertrauen und ihre Loyalität gewinnen, und das erreiche ich nicht, indem ich etwas zerstöre, an dem sie so hängen.

»Ich muss es ertragen«, sage ich zu meiner Mutter. »Die Diener lieben es, und es zu entfernen würde ihre Loyalität mir gegenüber gefährden.«

Mutter fährt sichtlich zusammen. Sie dreht sich um, und als ihr Blick von meinem Kopf auf meine nackten Füße fällt, verschwindet ihr Lächeln; ich habe die Schuhe abgestreift, sobald ich den Palast betreten habe. Ich trage nur noch selten Schuhe, und wenn, dann sind es keine geschlossenen Schuhe, wie sie in Serubel üblich sind, sondern mit Edelsteinen besetzte Ledersandalen. Meistens entscheide ich mich aus Bescheidenheit gegen sie, aber manchmal auch, weil sie furchtbar unbequem sind.

Meine Mutter erholt sich fast sofort, nimmt die Schultern zurück und kommt auf mich zu, um mich zu umarmen. Sie drückt mich fest an sich, doch ihre Stimme ist weich. »Du tust recht daran, es nicht entfernen zu lassen«, sagt sie mir ins Ohr. »Die Loyalität der Menschen in deiner nächsten Umgebung brauchst du tatsächlich. Aber darüber reden wir später.« Falls sie entsetzt über meine Aufmachung ist, lässt sie es sich nicht anmerken. Sie weiß sicher, dass ich mich als künftige Königin von Theoria entsprechend kleiden muss.

Dann lässt sie mich los und führt mich zu einem Sitzbereich am Balkon. Ich komme mir dumm vor, Mutter durch mein eigenes Schlafgemach zu folgen, wo ich diejenige sein sollte, die die Gastgeberin spielt. Aber ich tue es, als wäre alles so wie immer. Und in gewisser Weise ist es das auch. Gleich wird sie mir sagen, wie ich diesen Schlamassel beheben soll. Gleich werde ich wieder die Schülerin sein und sie die Lehrerin.

Der leichte Wind aus den gewölbten Eingängen lässt die dünnen Vorhänge im schwindenden Sonnenlicht tanzen, und Mutter betrachtet sie für einen Moment, bevor sie den Blick zu mir wendet. Der Ausdruck ihrer graublauen Augen ist fest, sogar stählern, als sie sagt: »Wir können deinem Vater nicht vertrauen, Magar Sepora. Er wird das Ziel, Theoria zu vernichten, niemals zugunsten einer Vereinigung mit dem Land aufgeben. Er hätte seit Jahrzehnten ein Bündnis mit Theoria haben können, wenn er bereit gewesen wäre, König Knosi auch nur auf halbem Wege entgegenzukommen.«

Magar Sepora ist mein voller Name, und Mutter benutzt ihn nur dann, wenn sie mir etwas einschärfen will. Früher, als ich ein Kind war, bestand dieses Etwas zum Beispiel darin, dass es wichtig war, abends nicht zu viel zu essen, oder dass ich früh aufstehen muss, um für Vater zu schmieden. Jetzt kommt es mir unwirklich vor, ein solches Gespräch mit ihr zu führen – ein Gespräch, bei dem es darum geht, meinen Vater an seinen Plänen zu hindern. Und sie hat durchaus recht. Ich hatte es so noch gar nicht betrachtet, dass Vater die ganze Zeit über ebenso mühelos ein Bündnis hätte eingehen können wie einen Krieg beginnen. Ich war davon ausgegangen, dass er Frieden wollte, als er von Tariks Macht und Vermögen erfuhr, und dass das Königreich Theoria auf seinen Angriff vorbereitet war. Mutter denkt das ganz offensichtlich nicht.

Aus dem Grund brauche ich sie jetzt hier. Ich kann nicht mit zwei Königen mit unterschiedlichen Interessen jonglieren. Aldon, mein serubelanischer Lehrer, hat mich nicht auf so einen unglücklichen Fall vorbereitet. Er hat sicher niemals damit gerechnet, dass ich einmal die Verlobte des Königs von Theoria sein oder dass Vater das Arrangement gutheißen würde.

Tarik hat bereits gesagt, dass er meinem Vater misstraut, dass Vater mit schwammigen Worten wie »Frieden« und »für den Augenblick« um die Wahrheit herumtanze. Das Einzige, was glaubhaft klingt, ist Vaters Wunsch, dass ich den Falkenkönig heirate. Er meint es ehrlich, wenn er von der bevorstehenden Hochzeit spricht.

»Was könnte er vorhaben?«, frage ich Mutter und bemerke plötzlich, dass sie mich mustert.

»Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen. In seinen Briefen hat er mir seit seiner Ankunft hier ein Bild des Glücks und der Zufriedenheit vermittelt. Zufriedenheit liegt nicht im Wesen deines Vaters. Seine Triebfeder war stets der Ehrgeiz, bei allem, was er tut. Du darfst nicht schmieden, Magar. Du darfst ihm diese Macht nicht geben.«

»Das habe ich nicht und ich werde es auch nicht tun. Aber … es gibt da etwas, das du wissen musst. In Theoria herrscht eine Krankheit, die Stille Seuche. Meister Cy, ein Heiler im Lyzeum, hat ein Gegenmittel erschaffen. Und für das Gegenmittel braucht man Spektorium.« Ich atme aus, endlich von der Last dieses Dilemmas befreit. Mutter wird die Antwort haben. Sie hat immer eine Antwort.

Sie schlägt unter ihrem Gewand die Beine übereinander. »Erzähl mir von dieser Seuche.«

»Sie hat König Knosi getötet, er war das erste Opfer. Seitdem wütet sie in Theoria. Sie hat viele Menschen das Leben gekostet, bevor Cy das Gegenmittel fand. Er mischt Spektorium – altes Spektorium, weil ich nicht schmieden will – mit einem Element namens Nefarit, das aus dem Fluss Nefari gewonnen wird. Beides zusammen lässt den Patienten vollkommen genesen. Die Erfolgsrate liegt bei hundert Prozent.«

»Interessant.« Sie tippt sich mit dem Finger an die Schläfe. »Nefarit, sagst du? Das ist ein Element, das alle Königreiche seit Langem begehren. Wie umgeht ihr die Parani?«

Also weiß Mutter vom Nefarit und dass es nur im Nefari vorkommt. Es sollte mich natürlich nicht überraschen. Mutter stammt aus Pelusia, wo der Nefari ins große Meer fließt. Die Parani an der Flussmündung können doppelt so groß werden wie die Parani in Theoria. Aldon hat gesagt, dass Meereswesen immer viel größer sind als Flusstiere.

Ob Mutter weiß, dass die Parani gar keine Tiere sind? Jedenfalls nicht direkt.

»Und woher bekommt er dieses alte Spektorium?«

»Manche Bürger spenden es, wenn ihre Angehörigen krank werden. Aber das meiste stammt aus dem Abriss von Häusern, die daraus gebaut wurden. Früher oder später wird ihnen das Spektorium ausgehen.«

»Raus damit, Kind. Ich höre in deinen Worten, dass dir etwas zu schaffen macht.«

Das war klar. »Falls … wenn Theoria das Spektorium ausgeht, was soll ich dann tun? Ich werde Königin sein. Wie kann ich tatenlos zusehen, wie die Bürger sterben, wenn ich das Heilmittel buchstäblich in Händen halte?« Die Frage ist verräterisch, ich weiß. Sie offenbart, dass mir das Volk von Theoria am Herzen liegt, während man mir von klein auf gesagt hat, dass es mein Feind ist. Aber ich hoffe, dass die Frage ebenfalls offenbart, dass ich fest entschlossen bin, eine gute Königin zu werden, wenn ich muss – und dass ich mich immer noch Mutters Urteil unterwerfe.

Sie denkt lange darüber nach. Ich bin gleichzeitig erleichtert und verärgert, dass sie es so sorgfältig abwägt. Einerseits bedeutet es, dass ihr das Schicksal der Einwohner Theorias nicht gleichgültig ist und sie möchte, dass ich ihnen eine gute Königin werde. Andererseits heißt das, es ist ihr fester Wunsch, dass ich Königin werde, und sie wird mir nicht helfen, dieser Heirat zu entkommen. Ich bin mir jetzt ziemlich sicher, dass Mutter kein Interesse an den emotionalen Grenzverletzungen hat, die Tarik verursacht hat. Dass er eine andere heiraten wollte, bis es günstiger für ihn war, mich zur Frau zu nehmen. In ihrer gegenwärtigen Gemütsverfassung würde sie sagen, dass er getan hat, was jeder gute Herrscher tun würde.

Und doch hatte ich gehofft, in ihr hier eine Verbündete zu finden. Die Enttäuschung ist fast unerträglich.

Schließlich sagt sie: »Dieser Cy, der Heiler im Lyzeum, wie vertrauenswürdig ist er?«

Cy und ich sind Freunde, soviel steht fest. Er hat Tarik und mir gratuliert, als er von unserer Verlobung erfuhr, und wenn er mit uns zusammen ist, ist er nicht mehr förmlich und steif. Aber ich weiß genau, wo Cys Loyalität liegt. »Cy ist Tarik treu ergeben. Wenn er sich zwischen uns beiden entscheiden müsste, würde er den Falkenkönig wählen.«

Mutter nickt. »Es ist so, wie es sein sollte. Und der Knabenkönig? Wie vertrauenswürdig ist er?«

Ich spiele nervös mit den Händen im Schoß, was Mutter nicht entgeht. Ich würde gern sagen, dass Tarik vertrauenswürdig ist. Als König ist er unendlich pflichtbewusst. Aber indem er so pflichtbewusst ist, hat er mich schrecklich verraten. Er hätte Prinzessin Tulle geheiratet, obwohl wir so starke Gefühle füreinander hatten. Anscheinend hat er erwartet, dass ich beiseitetreten würde, wenn er sie in sein Bett holt, um einen Erben zu zeugen – was er selbst niemals geduldet hätte, wenn unsere Rollen vertauscht gewesen wären. Und dann hat er beschlossen, die Waffe Kratorium, eine Mischung aus Spektorium und Brandlinggift, in einem vermeintlich bevorstehenden Krieg gegen meinen Vater einzusetzen. Er hatte beschlossen, meinem Volk Schaden zuzufügen. Ich beiße die Zähne zusammen, recke das Kinn und richte den Blick auf Mutter. »Er würde Spektorium in jeder Weise verwenden, die er für richtig hält.«

»Hmmm«, ist alles, was Mutter dazu zu sagen hat. Dann: »Lass mich darüber nachdenken, Magar. Spektorium darf nicht in falsche Hände fallen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob der Falkenkönig eine Blutschuld so tragen könnte wie dein Vater. Meinen Spionen zufolge ist er ein gerechter und entschlossener König.«

Spione? Ich hatte keine Ahnung, dass Mutter Spione hat. Und ich hatte keine Ahnung, dass sie selbst im fernen Theoria sitzen. Ich muss noch viel von ihr darüber lernen, Königin zu sein.

»Dennoch«, fährt sie fort, »Macht ist Macht, und sie neigt dazu, einem Mann zu Kopf zu steigen, sodass selbst sein Herz von ihr getäuscht werden kann. Ja, ich muss darüber nachdenken, Kind. Doch bis dahin darfst du nicht schmieden. Wie hast du es bisher verborgen?«

»Im Baderaum gibt es fließendes Wasser, das in den Nefari mündet. Ich schmiede immer nur kleine Mengen, spätabends, wenn alle anderen fort sind.« Es ist eine Untertreibung zu sagen, die Spektoriummenge sei klein. Früher habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, im Bad in das Loch zu schmieden, das in den Nefari führt, um meine Kraft zurückzugewinnen. Nur wenige Menschen würden sich in den Teil des Flusses wagen, in dem sich das Abwasser sammelt. Außerdem, wenn das Spektorium gefunden worden wäre, hätte man daraus nur schließen können, dass es aus dem Palast gekommen war – aber nicht aus meinem Gemach. Doch jetzt weiß Vater, dass ich jeden Tag schmieden muss. Er wird wissen, wo er suchen muss. Aber selbst seine forschenden Augen werden nicht sehen, was ich tue. Das Spektorium, das ich jetzt schmiede, besteht nur aus Tröpfchen, so klein wie Schweißperlen; wenn sie es bis zum Nefari schaffen, könnte man ihr Leuchten für das Glitzern der Sonne auf dem Wasser halten oder für das Spiegelbild der Sterne. Sie sind sogar zu klein, um miteinander zu verschmelzen, zu winzig für die bösen Absichten, die Vater vielleicht hat. Diese Art des Schmiedens kostet mich die ganze Nacht, sodass mir die gewonnene Energie durch den Schlafmangel wieder geraubt wird. Selbst jetzt sehne ich mich nach meinem Bett. Aber wir müssen an dem Essen teilnehmen, und es kommt nicht infrage, sich zu entschuldigen. Ich möchte sehen, wie Mutter Tarik unterhält, wie sie mit seiner Fähigkeit umgeht.

In dem Moment öffnet Anku leise die große Tür zum Schlafgemach und schlüpft hinein. Sie trägt eine Anzündfackel bei sich. Der einzige Gruß, den sie uns zuteilwerden lässt, ist ein schwaches Nicken, als sie sich daran macht, die Wandleuchter in der großen Zimmerflucht zu entzünden. Dunkelheit kriecht vom Balkon herein und legt sich über uns, als wäre ein Nebel aus Kajalstaub hereingeweht. Mutter gähnt und hält sich mit dem Handrücken den Mund zu.

Dann erhebt sie sich und sagt: »Mein Liebling, es ist wunderbar, dich wiederzusehen. Jetzt muss ich gehen und mich zum Essen umziehen. Und es sieht so aus, als müsste deine Gesichtsfarbe aufgefrischt werden.« Mit diesen Worten umarmt sie mich erneut, aber so, wie man ein schmutziges Kind umarmen würde – steif und ohne Zuneigung in gespieltem Anstand, obwohl Anku nicht hinsieht.

Vielleicht löst sich jetzt, da Mutter hier ist, die Befangenheit bei den Mahlzeiten. Sie versteht sich darauf, Vater zu unterhalten, und sie ist eine außergewöhnliche Gastgeberin. Aus einem Grund, den ich nicht erklären kann, wünsche ich mir, dass sie Tarik beeindruckt, dass sie ihm zeigt, dass Serubel kein Königreich grober Barbaren mit primitiven Sitten ist. Wenn es einen Menschen gibt, der das beweisen kann, dann ist es meine Mutter.

Oh, da ist noch etwas, fast hätte ich es vergessen. Es ist vielleicht das Wichtigste. Ich halte Mutter am Arm fest, bevor sie die Tür erreicht, die Anku offen gelassen hat. »Mutter, weißt du, was ein Lingot ist?«

4

Tarik

Tarik weiß nicht so recht, was er von Königin Hanlyn erwartet hat, aber das bestimmt nicht. Vielleicht, dass sie so störrisch, unwirsch und förmlich wie König Eron wäre. Oder vielleicht, dass sie still und unterwürfig wäre, nur eine Zierde an der Seite ihres Mannes. Wichtiger noch, er hatte damit gerechnet, dass sie mit jedem Wort verwirrende Unwahrheiten und Lügen von sich geben würde, so wie der König von Serubel es tut – oder dass sie Unaufrichtigkeit zumindest durch ihre Körpersprache vermitteln würde. Er hatte gehofft, weitere Hinweise darauf zu bekommen, was die beiden wirklich für seine Vereinigung mit Sepora geplant haben.

Doch die Körpersprache der Königin ist offen und selbstbewusst, und ihre Worte klingen wahr. Das Einzige, was sie zu verbergen scheint, ist, wie müde sie von ihrer Reise nach Theoria ist. Tatsächlich ist sie so bemüht, es zu verbergen, dass sie das Abendessen übernommen hat, als sei sie die Gastgeberin und er der Gast.

Und er stellt fest, dass es ihm nicht das Geringste ausmacht. Es war anstrengend gewesen, Eron so viele Abende lang zu unterhalten. Der König von Serubel spricht nur von Krieg, von dem Bedarf an Kratorium oder davon, wie wichtig es ist, Sepora zum Schmieden zu zwingen. Er hat zugegeben, sie geschlagen zu haben, wenn sie sich in Serubel widersetzt hat. »Manchmal muss man sie eher bestrafen als ermutigen«, erklärte der König. »Es geht doch nichts über eine scharfe Rute.« Hätte Rashidi Tarik nicht sanft eine Hand auf die Schulter gelegt, hätte er seine Hände um Erons Hals geschlossen, bevor dieser noch einmal hätte Luft holen können. Selbst jetzt schwelgte er in Fantasien, was er dem serubelanischen König antun könnte.

Es ist ein Wunder, dass Sepora ihren Vater nicht früher verlassen hat.

Doch Tarik verspürt ein Gefühl der Erleichterung darüber, dass Königin Hanlyn ein ganz anderer Mensch zu sein scheint. Sie spricht in den höchsten Tönen von Sepora und versichert ihm, dass sie eines Tages eine großartige Königin sein werde. Sie wirft ihrer Tochter ermutigende Blicke zu, wenn sie denkt, dass niemand hinsieht. Sie macht Tarik Komplimente über die Speisen, die Tischdekoration und die gut ausgestattete Schar von Dienern, die ihnen aufwarten. Sie hat sogar mehr als einmal versucht, Sethos in die Unterhaltung mit einzubeziehen, doppelt so oft wie Tarik. Doch Sethos scheint für Hanlyns Charme unempfänglich zu sein und schiebt das Essen auf dem Teller herum, statt es wie sonst in sich hineinzuschlingen.

Sie erinnert ihn in mehr als einer Hinsicht an ein Mädchen, das einst aus seinem Harem geflohen ist und seinen Palastwachen eine muntere Verfolgungsjagd geliefert hat. Ein Mädchen mit angeborener Tapferkeit und einem Hang zum Lösen von Problemen.

Natürlich sollte es ihn nicht überraschen, dass Sepora ihrer Mutter gleicht. Doch bei all den körperlichen Merkmalen, die Königin Hanlyn ihrer Tochter vererbt hat, wie zum Beispiel ihrer weiblichen Figur und ihren vollen Lippen, sind es die stillen Eigenschaften, die er an beiden Frauen am meisten bewundert, wie ihr gesundes Selbstbewusstsein und ihr strategisches Denken. An diesem Abend hat Königin Hanlyn bereits Rashidi in seine Schranken verwiesen und ist mit Sethos’ untragbarer Laune mit einer Mühelosigkeit und einem Lächeln umgegangen, die die Vermutung nahelegen, dass Gastfreundlichkeit für sie eine Kunst ist. Auch entgeht es Tarik nicht, dass Sepora mit stolzem Blick jede Bewegung ihrer Mutter verfolgt und ihr an den Lippen hängt.

Tarik ist dankbar, dass wenigstens Seporas Mutter so ausgeglichen ist, da ihr Vater ziemlich wahnsinnig zu sein scheint.

»Als Sepora damals gelernt hat, Nuna zu reiten, hat sie sich nachts hinausgeschlichen, um zu üben«, erzählt Königin Hanlyn gerade. »Wenn es am nächsten Morgen Zeit für ihren Unterricht war, schlief sie am Tisch ein.« Sie schüttelt in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Selbst ich würde es nicht wagen, mitten in einer Stunde von Aldon einzuschlafen. Er zwang sie danach, während des Unterrichts zu stehen, und sie hat sehr schnell gelernt, dass mit den nächtlichen Ausflügen Schluss sein muss.«

»Du wusstest, dass sie sich hinausgeschlichen hat, und hast nichts dagegen unternommen?«, wirft Eron mit einem finsteren Stirnrunzeln ein.

Hanlyn sieht ihren Mann lächelnd an – ihre erste unaufrichtige Tat an diesem Abend. »Aber natürlich. Eine Mutter weiß immer, was ihre Tochter gerade macht. Oh, sei nicht böse auf mich, Liebster. Es war nicht wichtig genug, um dich damit zu behelligen. Außerdem habe ich darauf vertraut, dass Aldon sie wieder in die Spur bringen würde, und das hat er getan.« Sie nimmt einen zierlichen Bissen von ihrem Honigkuchen und erstickt damit wirkungsvoll jeden weiteren Kommentar zu dem Thema.

Aha. Die Königin hat ihren König also nicht gern. Das Wort »Liebster« klang in Tariks Ohren vollkommen falsch. Genau wie die Bemerkung, sie habe ihn nicht behelligen wollen. Doch seltsam, dass sie anscheinend über alles Bescheid weiß, was ihre Tochter so treibt, oder zumindest glaubt sie es. Tarik ist neidisch darauf, dass sie aus erster Hand alles erfahren durfte, was es über Sepora zu wissen gibt.

Ihm stellt sich auch die Frage, was Sepora ihr erzählt haben mag, und wie ausführlich. Bei dem Gedanken windet er sich beinahe auf seinem Stuhl. Manche Dinge behält man besser für sich, das ist Sepora sicherlich klar. Eine Reihe ihrer Küsse fallen ihm ein, aber Tarik schiebt die Erinnerungen energisch beiseite. Es geht einfach nicht an, vor seinen Gästen zu erröten.

»Königin Hanlyn«, sagt Rashidi mit diplomatischem Blick. Wie es scheint, ist sein Ratgeber beflissen wie immer. »Prinzessin Sepora sagt, Ihr stammt aus Pelusia.«

Die Königin nippt an ihrem Kelch, und Tarik fragt sich, ob sie Zeit schinden will. Eigenartig, dass sie zögern muss, bevor sie eine so einfache Frage beantwortet. Schließlich sagt sie: »Ja, das stimmt. Mein Vater war Serubelaner, meine Mutter Pelusianerin, aber gelebt habe ich in Pelusia. Natürlich nur, bis ich Eron geheiratet habe.«

»Und korrespondiert Ihr noch mit Eurem Heimatkönigreich?«

Ein weiterer Moment verstreicht, bevor sie nickt. »Ja. Sehr oft sogar.«

Die Wahrheit. Aber Tarik spürt, dass Rashidi auf etwas anderes hinauswill. Der ältere Mann sagt: »Nehmen wir an, es käme aufgrund dieser Heiratsallianz mit Hemut zum Krieg: Haltet Ihr es für möglich, dass Pelusia uns Unterstützung anbieten würde?«

Tarik kneift sich in den Nasenrücken. Die Königin ist gerade erst vor wenigen Stunden hier eingetroffen und jetzt wird sie beim Abendessen einen solchem Verhör unterzogen? Es wird nicht angenehm werden, seinen ältesten Freund später unter vier Augen dafür zu tadeln.

»Natürlich würden sie das«, schaltet Eron sich ein. »Pelusia ist seit der Spaltung der Königreiche unser Verbündeter. Wir hätten seine volle Unterstützung.«

Zu Tariks Erleichterung vertraut der König auf seine Worte. Es ist gut zu wissen, dass Pelusia, per Dekret ein neutrales Königreich, ihre Bemühungen unterstützen würde, sollte Hemut einen Krieg mit ihnen anstreben. Bisher haben sie nichts von diesem Königreich gehört, was bedeuten könnte, dass ein schneller Vergeltungsschlag bereits im Gange ist. Hemut wird Theoria zwar nicht überraschen, könnte es jedoch durchaus ungenügend vorbereitet treffen. Die Majai sind natürlich allzeit bereit, aber Anyars übrige Schutzeinrichtungen befinden sich noch nicht an Ort und Stelle. Es sind Befehle erteilt und Maßnahmen angestoßen worden, aber wird genug Zeit sein, um alles zu vollenden, was begonnen wurde? Tarik weiß es nicht. Sein oberster Kommandant tut gut daran, seinem König mit Worten Treue zu geloben, aber seine Körpersprache lässt vermuten, dass er Eron beipflichtet – sie brauchen Kratorium, und zwar so viel, wie sie bekommen können.

Tarik wirft Sepora einen Blick zu und fragt sich, ob er nicht mit ihr über diesen Druck reden sollte. Sie wird eines Tages Königin werden. Sie muss in der Lage sein, unerfreuliche Situationen objektiv zu betrachten, denkt er. Doch im Moment gilt es vor allem, dafür zu sorgen, dass sie überhaupt Königin wird. So, wie sie miteinander umgehen, kommt es ihm wahrscheinlicher vor, dass sie wieder wegläuft, als ihn zum Mann zu nehmen.

»Pelusia könnte Schiffe bereitstellen«, bemerkt Eron. »Mit Schiffen könnten wir von Norden aus Hemuts Grenze angreifen, wo sie auf Walfang gehen. Wir würden sie völlig überrumpeln.«

Das könnte wahr sein. Wie Pelusia liegt Hemut im nördlichsten Teil der fünf Königreiche und grenzt an das Meer. Aufgrund von Pelusias berüchtigter Neutralität würde Hemut wahrscheinlich nicht mit einem Angriff an seiner nördlichen Grenze rechnen.

Tarik erinnert sich an einen Besuch in Hemut, als er noch sehr jung war und Sethos noch zu klein, um zu reisen. Sein Vater und König Ankor hatten Tarik zum Walfang mitgenommen, und obwohl sie mit leeren Händen ans Ufer zurückkehrten, war es für ihn ein aufregendes Erlebnis gewesen. Er war noch nie zuvor auf einem Schiff gefahren; die einzigen Boote, die er kannte, waren die kleinen schmalen Fischerboote auf dem Nefari. Die Taue und Segel des Walfangschiffs hatten bei jeder kräftigen Welle geknarrt und geächzt. Zuerst war er unsicher auf den Beinen gewesen, aber am Ende der Fahrt kletterte er die Leiter bis ins Krähennest hoch über dem Deck hinauf. Er fragt sich, wie ein pelusianisches Handelsschiff im Vergleich zu einem gewaltigen hemutianischen Walfänger abschneiden würde.

»Ja, nun«, sagt Rashidi, »natürlich hoffen wir, dass wir Ihre pelusianischen Freunde nicht mit einem Krieg belasten müssen. Ich bin zuversichtlich, dass man mit König Ankor vernünftig reden kann. Schließlich sind auch unsere Königreiche schon seit Jahrhunderten starke Verbündete.«

»Ja, nun«, äfft Eron Rashidi nach. »Ihr seid ein ziemlicher Optimist. Ich hoffe nur, Ihr seid nicht so idealistisch, dass Ihr Euch nicht auf das Schlimmste vorbereitet – und soweit ich sehe, tut Ihr es nicht. Das, Freund, ist Torheit.«