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Egal, worum es geht: Unverdrossen wird Bildung als "universelle Lösungsstrategie gesellschaftlicher Probleme" beansprucht, sagt Heinz-Elmar Tenorth in seinem Beitrag zum Kursbuch 193: ob für Gerechtigkeit, Gleichheit, Aufstieg für alle, Wohlstand, eine bessere Zukunft schlechthin – für fast alle Versprechen, die die moderne Gesellschaft ihren Mitgliedern heute zu geben bereit ist, steht Bildung als der große Garant. Bildung soll es richten. Warum in Bildung dieses Potenzial gesehen wurde und wird, dieser Frage geht der Autor in seinem Beitrag kritisch nach und zeigt die Grenzen und die Möglichkeiten dieser "Erlösung durch Bildung als letzter Utopie".
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Seitenzahl: 21
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Inhalt
Heinz-Elmar TenorthNeu wird der Mensch!Der lange Marsch der Bildungsutopien
Der Autor
Impressum
Heinz-Elmar TenorthNeu wird der Mensch!Der lange Marsch der Bildungsutopien
1. Thema und These
Die öffentliche Rede über »Bildung« lebt von dem Versprechen, eine historisch notwendige und zugleich individuell wie gesellschaftlich wünschenswerte Zukunft herbeiführen zu können, und zwar zielsicher, gewaltfrei und konsensual – wenn man die Bildungspropheten nur lässt, wie sie wollen: in der aktuellen Gegenwart bessere Welten konstruieren, andere Zeiten eröffnen, neue Menschen schaffen. Das sind, für nüchterne Beobachter, ganz erstaunliche Versprechen, die dabei immer neu vorgetragen werden. Die Leistungen werden deshalb auch nicht zufällig, zum Beispiel in soziologischer Perspektive, als »Wunder« 1 qualifiziert, wenn man ihre Realisierbarkeit befragt. Der Attraktivität der Rede von Bildung hat das offenbar nicht geschadet. Unverdrossen wird Bildung immer neu beansprucht, gleich ob »Gerechtigkeit« und »Gleichheit«, »Aufstieg für alle«, Wohlstand und Glück oder die Zukunft der Menschheit in der digitalen Welt zum Thema werden. Bildung soll es richten.
Der hohe Ton und die emphatischen Versprechen sind auch nicht in nationaler Zuschreibung zu destruieren, wenn Bildung als spezifisch deutsche »Utopie« kritisch qualifiziert und als »semantisches Gefängnis der Deutschen« problematisiert wird.2 Unerschütterliche Beharrungskraft gilt selbst angesichts historisch scharfer Zäsuren, wie der von 1989/1990. Mögen die liebevoll tradierten sozialistischen Utopien ihre Überzeugungskraft damals für Beobachter auch definitiv eingebüßt haben, heute werden sie, antistalinistisch neu qualifiziert und mit einem globalisierungskritisch gelesenen Marx geschmückt, neu propagiert. Diese Stabilität scheint mir deshalb das wahre Wunder, die Tatsache, dass in der Rede von Bildung die schönsten Zukunftsbilder gegen alle Erfahrung tradiert werden, als Versprechen einer besseren Zukunft für alle, in der Sprache wie in den Wirkungsannahmen eindeutig und stark der religiösen Tradition der Exoduserzählung verbunden 3 – Erlösung durch Bildung als letzte Utopie, nachdem die Staatsutopien ihre Geltung verloren haben.
Hat Bildung dieses Potenzial? In bildungshistorischer Perspektive verwundert dieser unerschütterliche Glaube vor allem, denn schon ein Blick auf die Rolle von Bildung in den klassischen Utopien erzeugt eher starke Distanz als vertrauensvolle Zustimmung. In aller Varianz, die diesen Texten eigen ist, wie wünschenswert auch die Eigentums- und Staatsverhältnisse oder die neuen Welten und Menschen gezeichnet sein mögen, die Rolle von Bildung und Erziehung ist eher problematisch, subjektfeindlich und freiheitsbedrohend. In den klassischen Texten ist ihre sozialkonservative Funktion unverkennbar, nicht nur Marx, selbst die frühen Sozialisten wären nicht auf die Idee gekommen, sie anders zu denken.4