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James Poskett

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Beschreibung

»Wissenschaft ist kein ausschließlich europäisches Unterfangen – und war es auch nie.« James Poskett Wer steckt hinter den großen Entdeckungen moderner Wissenschaft? Eine Frage, deren Antworten auf der Hand zu liegen scheinen, sind Namen wie Nikolas Kopernikus und Sir Isaac Newton doch untrennbar mit Ansätzen wie dem heliozentrischen Weltbild oder den Gravitationsgesetzen verbunden. Mit diesen Antworten einher geht eine eurozentrische Weltanschauung, und damit ein nicht nur einseitiges, sondern vor allem unvollständiges Bild wissenschaftshistorischer Entwicklungen. James Poskett nimmt uns mit auf eine Zeitreise um die Welt und zeichnet die Ursprünge moderner Wissenschaft nach. Von den Palästen der Azteken bis hin zu chinesischen Universitäten erzählt er die Geschichte vergessener Pioniere großer Erkenntnisse und zeigt, dass wissenschaftlicher Fortschritt unweigerlich vom globalen kulturellen Austausch abhängt – schon immer und noch heute.

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www.piper.de

Für Alice und Nancy

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Horizons. A Global History of Science bei Viking, einem Imprint von Penguin Random House UK, London

© James Poskett 2022

Für die deutsche Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Penguin Random House UK

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Anmerkung zu Schreibweisen und Übersetzung

Einleitung: Die Ursprünge der modernen Naturwissenschaften

Teil I

Die naturwissenschaftliche Revolution, ca. 1450 –1700

1 Neue Welten

Naturkunde in der Neuen Welt

Aztekische Medizin

Die Entdeckung der Menschheit

Die Kartierung Amerikas

Schlussfolgerungen

2 Himmel und Erde

Die Alten übersetzen

Islamische Wissenschaft im Europa der Renaissance

Die osmanische Renaissance

Afrikanische Astronomen

Astronomie in Peking

Indische Observatorien

Schlussfolgerungen

Teil II

Imperien und Aufklärung, ca. 1650 –1800

3 Newtons Sklaven

Gravitation in Gorée

Inka-Astronomen

Pazifische Navigatoren

Newton in Russland

Schlussfolgerungen

4 Die Ökonomisierung der Natur

Sklaverei und Botanik

Naturgeschichte in Ostindien

Das China-Getränk

Das Studium der Natur während des Tokugawa-Shogunats in Japan

Schlussfolgerungen

Teil III

Kapitalismus und Konflikt, ca. 1790 –1914

5 Kampf ums Dasein

Fossilienjäger in Argentinien

Evolution im zaristischen Russland

Darwinismus im Japan der Meiji-Zeit

Natürliche Selektion im China der Qing-Zeit

Schlussfolgerungen

6 Industrielle Experimente

Krieg und das Wetter im zaristischen Russland

Osmanische Technik

Wellen schlagen im kolonialen Indien

Erdbeben und Atome im Japan der Meiji-Epoche

Schlussfolgerungen

Teil IV

Ideologie und ihre Nachwirkungen, ca. 1914 – 2000

7 Mit Lichtgeschwindigkeit um die Welt

Physik im revolutionären Russland

Einstein in China

Quantenmechanik in Japan

Die Physik und der Kampf gegen das Empire

Schlussfolgerungen

8 Genetik und Politik

Mutationen in Mexiko

Indische Genetik nach der Unabhängigkeit

Der Vorsitzende Mao und die Genetik der Kommunisten

Genetik und der Staat Israel

Schlussfolgerungen

Epilog: Die Zukunft der Wissenschaft

Danksagung

Bildteil

Abbildungsnachweis

Hinweis zu den Anmerkungen

Stichwortverzeichnis

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Register

Anmerkung zu Schreibweisen und Übersetzung

Dieses Buch deckt eine große Vielfalt von Sprachen, geografischen Regionen und historischen Perioden ab. Im Allgemeinen habe ich mich an die Regel gehalten, die Rechtschreib- und Reihenfolgekonventionen zu benutzen, die an diesem bestimmten Ort und in der Zeit üblich waren, über die ich in dem jeweiligen Kapitel schreibe. In einigen Fällen habe ich Ausnahmen gemacht, um die Lesbarkeit zu erhöhen. Diakritische Zeichen wurden bei der Transliteration nicht lateinischer Schriften weggelassen. Alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, aus den in den Anmerkungen aufgelisteten Quellen.

Einleitung: Die Ursprünge der modernen Naturwissenschaften

Woher kommen die modernen Naturwissenschaften? Noch in jüngster Zeit hätten die meisten Historiker Ihnen die folgende Geschichte erzählt: Irgendwann zwischen 1500 und 1700 wurden die modernen Naturwissenschaften in Europa erfunden. Dies ist eine Historie, die gewöhnlich mit dem polnischenAstronom Nikolaus Kopernikus beginnt. In seinem Werk Über die Umschwünge der himmlischen Kreise (1543) behauptete Kopernikus, die Erde kreise um die Sonne. Das war eine radikale Idee. Seit der Zeit der alten Griechen hatten Astronomen angenommen, die Erde stehe im Zentrum des Universums. Erstmals stellten wissenschaftliche Denker im Europa des 16. Jahrhunderts diese alte Weisheit infrage. Auf Kopernikus folgten weitere Pioniere einer Bewegung, die oft als »naturwissenschaftliche Revolution« bezeichnet wird – der italienische Astronom Galileo Galilei, der 1609 erstmals die Jupitermonde beobachtete, und der englische Naturforscher und Mathematiker Isaac Newton, der 1687 die Bewegungsgesetze formulierte. Die meisten Historiker würden Ihnen dann erzählen, dass dieses Muster sich die nächsten 400 Jahre lang fortsetzte. Die Historie der modernen Naturwissenschaften, wie sie traditionell wiedergegeben wird, ist eine Geschichte, die sich fast ausschließlich auf Männer wie Charles Darwin konzentriert, den britischen Naturforscher, der im 19. Jahrhundert die Theorie der Evolution durch natürliche Selektion entwickelte, und Albert Einstein, den deutschen Physiker, der im 20. Jahrhundert die Spezielle Relativitätstheorie formulierte. Vom Gedanken der Evolution im 19. Jahrhundert zur kosmischen Physik im 20. Jahrhundert sind die modernen Naturwissenschaften – so hören wir – allein ein Produkt Europas.[1]

Diese Geschichte ist ein Mythos. In diesem Buch möchte ich Ihnen eine ganz andere Geschichte über die Entstehung der modernen Naturwissenschaften erzählen. Die Naturwissenschaften waren nicht das Produkt einer einzigartigen europäischen Kultur. Vielmehr waren die modernen Naturwissenschaften stets darauf angewiesen, Menschen und Ideen aus verschiedenen Kulturen rund um den Globus zusammenzubringen. Kopernikus ist dafür ein gutes Beispiel. Er verfasste seine Schriften zu einer Zeit, als Europa neue Verbindungen mit Asien knüpfte, als Karawanen die Seidenstraße entlangzogen und Galeonen über den Indischen Ozean segelten. In seinem wissenschaftlichen Werk stützte sich Kopernikus auf mathematische Methoden, die er in arabischen und persischen Texten gefunden hatte und von denen viele erst kurz zuvor nach Europa gebracht worden waren. Ein ähnlicher wissenschaftlicher Austausch fand in ganz Asien und Afrika statt. Zur selben Zeit reisten die osmanischen Astronomen über das Mittelmeer, um ihre Kenntnisse in den islamischen Wissenschaften mit neuen Ideen christlicher und jüdischer Denker zu kombinieren. In Westafrika, an den Höfen von Timbuktu und Kano, studierten Mathematiker arabische Manuskripte, die von jenseits der Sahara stammten. Im fernöstlichen Peking lasen Astronomen chinesische Klassiker neben lateinischen wissenschaftlichen Texten. Und in Indien beschäftigte ein reicher Maharadscha hinduistische, muslimische und christliche Mathematiker und ließ sie einige der präzisesten astronomischen Tabellen zusammenstellen, die jemals angefertigt wurden.[2]

All das spricht für ein völlig anderes Verständnis der Geschichte der modernen Naturwissenschaften. In diesem Buch argumentiere ich, dass wir die Geschichte der modernen Naturwissenschaften vor dem Hintergrund von Schlüsselmomenten der globalen Geschichte denken müssen. Wir beginnen mit der Kolonialisierung der beiden Amerikas im 15. Jahrhundert und bewegen uns bis in die Gegenwart. Unterwegs erforschen wir die wichtigsten Entwicklungen der Wissenschaftsgeschichte, von der neuen Astronomie im 16. Jahrhundert bis zur Genetik im 21. Jahrhundert. In allen Fällen möchte ich zeigen, dass die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften von einem globalen kulturellen Austausch abhing. Dabei soll jedoch betont werden, dass dies nicht einfach eine Geschichte des Triumphes der Globalisierung ist. Schließlich fand der kulturelle Austausch in ganz verschiedenen Formen statt, von denen viele ausgesprochen ausbeuterisch waren. Einen großen Teil der Frühen Neuzeit hindurch wurde Wissenschaft durch ein Primat von Sklaverei und Herrschaft geformt. Im 19. Jahrhundert wurde Wissenschaft vom Aufkommen des industriellen Kapitalismus geprägt, während sie sich im 20. Jahrhundert am besten unter dem Aspekt des Kalten Krieges und der Entkolonialisierung erklären lässt. Doch trotz dieser eklatanten Machtungleichgewichte haben Menschen aus allen Teilen der Welt bedeutende Beiträge zur Entwicklung der modernen Naturwissenschaften geleistet. Welche Zeitspanne wir uns auch ansehen, die Geschichte der Wissenschaft lässt sich nicht als ein Narrativ erzählen, das sich allein auf Europa konzentriert.[3]

 

Die Notwendigkeit einer solchen Art der Darstellung war nie so groß wie heute. Das Gleichgewicht der wissenschaftlichen Welt verlagert sich. China hat die Vereinigten Staaten überholt, was die Finanzierung von wissenschaftlichen Projekten angeht, und in den letzten Jahren haben in China tätige Forscher mehr naturwissenschaftliche Artikel veröffentlicht als Forscher in anderen Teilen der Welt. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben im Sommer 2020 eine unbemannte Mission zum Mars auf den Weg gebracht, während Computerwissenschaftler in Kenia und Ghana eine zunehmend wichtigere Rolle bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz spielen. Gleichzeitig haben europäische Wissenschaftler mit den Verheerungen des Brexit zu kämpfen, während russische und amerikanische Sicherheitsdienste einander per Cyberkrieg das Leben schwer machen.[4]

Die Naturwissenschaften selbst werden von Kontroversen geplagt. Im November 2018 schockierte der chinesische Biologe He Jiankui die Welt mit der Erklärung, er habe erfolgreich die Gene zweier Babys verändert. Viele Genetiker waren der Ansicht, ein solcher Eingriff in die menschliche Keimbahn sei zu riskant, um ein solches Experiment zu rechtfertigen. Wie die Welt jedoch rasch erfuhr, ist es sehr schwierig, einen internationalen Kodex wissenschaftlicher Ethik durchzusetzen. Offiziell distanzierte sich die chinesische Regierung von Hes Forschung und verurteilte ihn zu einer dreijährigen Haftstrafe. Doch 2021 drohen Forscher in Russland bereits, sein umstrittenes Experiment zu wiederholen. Neben Problemen rund um ethische Fragen leidet die Wissenschaft heute wie schon in der Vergangenheit unter tiefgreifenden Ungleichheiten. Wissenschaftler, die ethnischen Minderheiten angehören, sind an der Spitze ihrer Profession unterrepräsentiert. Jüdische Wissenschaftler und Studenten leiden weiterhin unter Antisemitismus, während Forscher, die außerhalb von Europa und den Vereinigten Staaten arbeiten, oft keine Visa erhalten, um internationale Konferenzen zu besuchen. Wenn wir solche Probleme angehen wollen, brauchen wir eine neue Wissenschaftsgeschichte, die die Welt, in der wir leben, besser widerspiegelt.[5]

Heutige Naturwissenschaftler sind rasch bereit anzuerkennen, dass ihre Arbeit eine internationale Basis hat. Sie halten dies jedoch für ein relativ neuzeitliches Phänomen, ein Produkt der »Big Science« des 20. Jahrhunderts, statt für eine Angelegenheit, die mehr als 500 Jahre zurückreicht. Wenn Beiträge zur Wissenschaft von außerhalb Europas anerkannt werden, werden sie in der Regel in ferner Vergangenheit verortet und nicht als Teil der Geschichte der naturwissenschaftlichen Revolution und des Aufstiegs der modernen Naturwissenschaften gesehen. Wir hören eine Menge über das »Goldene Zeitalter« der islamischen Wissenschaft im Mittelalter, die Zeit um das 9. und 10. Jahrhundert, als Denker in Bagdad die Algebra und viele weitere neue mathematische Methoden entwickelten. Die naturwissenschaftlichen Leistungen des alten China werden ebenso betont, beispielsweise die Erfindung des Kompasses und des Schießpulvers, beides vor deutlich mehr als 1000 Jahren. Diese Geschichten dienen jedoch nur dazu zu unterstreichen, dass Regionen wie China und der Nahe Osten wenig mit der Historie der modernen Naturwissenschaften zu tun haben.[6] Tatsächlich vergessen wir oft, dass der Begriff des »Goldenen Zeitalters« im 19. Jahrhundert erfunden wurde, um die Expansion europäischer Reiche zu rechtfertigen. Britische und französische Imperialisten förderten die falsche Vorstellung, die Zivilisationen in Asien und im Nahen Osten seien seit dem Mittelalter im Niedergang begriffen und müssten modernisiert werden.

Überraschend ist vielleicht, dass diese Geschichten in Asien ebenso populär sind wie in Europa. Denken Sie nur an die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking 2008. Sie begann mit einer riesigen Schriftrolle, die auf die Erfindung des Papiers im alten China verwies. Die ganze Zeremonie hindurch sah ein Fernsehpublikum von mehr als einer Milliarde Menschen zu, wie China auch seine anderen in der Antike vollbrachten wissenschaftlichen Leistungen, darunter die Entwicklung des Kompasses, in Szene setzte. Passenderweise schloss das Spektakel mit einer weiteren grandiosen Errungenschaft der chinesischen Antike: Feuerwerk erhellte den Himmel über dem Vogelnest-Stadion, eine Verneigung vor der Erfindung des Schießpulvers in der Song-Dynastie. Doch während der ganzen Zeremonie gab es nur sehr wenige Anspielungen auf die vielen wissenschaftlichen Durchbrüche, zu denen China seitdem beigetragen hat, beispielsweise zur Entwicklung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert oder zur Quantenmechanik im 20. Jahrhundert. Dasselbe gilt für den Nahen Osten. Im Jahr 2016 hielt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf dem türkisch-arabischen Kongress über höhere Bildung in Istanbul eine Rede. Darin beschrieb er »das Goldene Zeitalter der islamischen Zivilisation«, die mittelalterliche Periode, in der »islamische Städte wissenschaftliche Zentren« waren. Doch offensichtlich war sich Erdoğan nicht der Tatsache bewusst, dass viele Muslime, einschließlich solcher, die in der heutigen Türkei leben, genauso viel zur Entwicklung der modernen Naturwissenschaften beigetragen haben und weiterhin beitragen. Von der Astronomie im Istanbul des 16. Jahrhunderts bis zur Humangenetik im Kairo des 20. Jahrhunderts reichte der naturwissenschaftliche Fortschritt in der islamischen Welt weit über das mittelalterliche »Goldene Zeitalter« hinaus.[7]

 

Warum sind diese Geschichten so weit verbreitet? Wie viele Mythen entstand die Vorstellung, dass die modernen Naturwissenschaften in Europa geboren wurden, nicht durch Zufall. Mitte des 20. Jahrhunderts begann eine Gruppe von Historikern in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, Bücher mit Titeln wie The Origins of Modern Science zu veröffentlichen. Fast alle Autoren waren davon überzeugt, dass die modernen Naturwissenschaften – und damit die moderne Zivilisation – irgendwann im 16. Jahrhundert in Europa entstanden waren. »Wir müssen die naturwissenschaftliche Revolution … als kreatives Produkt des Westens ansehen«, schrieb der einflussreiche Cambridger Historiker Herbert Butterfield 1949. Auf der anderen Seite des Atlantiks sah man die Dinge ähnlich. In den 1950er-Jahren lernten Studenten der Yale University, dass »der Westen die Naturwissenschaften geschaffen hat … der Osten tat dies nicht«, während Leser des renommierten Wissenschaftsmagazins Science erfuhren, dass »ein kleiner Kreis westlicher europäischer Nationen die ursprüngliche Heimat der modernen Naturwissenschaften« bildete.[8]

Die politische Absicht hinter alldem konnte nicht klarer sein. Diese Historiker lebten während der ersten Jahrzehnte des Kalten Krieges, einer Zeitspanne, in der der Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus die Weltpolitik beherrschte. Sie stellten sich die zeitgenössische Welt als streng in Ost und West geteilt vor und projizierten diese Teilung dann – ob bewusst oder unbewusst – auf die Vergangenheit zurück. In dieser Zeit galten Naturwissenschaften und Technologie allgemein als Kennzeichen politischen Erfolgs, vor allem, nachdem die Sowjetunion im Oktober 1957 mit »Sputnik« den ersten künstlichen Satelliten ins All geschossen hatte. Die Vorstellung, dass die modernen Naturwissenschaften in Europa entwickelt worden waren, diente deshalb als bequeme Fiktion. Für die politischen Führer in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten war es sehr wichtig, dass sich ihre Bürger auf der richtigen Seite der Geschichte sahen, als Träger des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Diese Wissenschaftsgeschichte sollte darüber hinaus postkoloniale Staaten davon überzeugen, den Weg des Kapitalismus einzuschlagen und sich von kommunistischen Ideen fernzuhalten. Im Verlauf des Kalten Krieges gaben die Vereinigten Staaten Milliarden Dollar für Entwicklungshilfe aus, um eine Kombination aus freier Marktwirtschaft und wissenschaftlicher Entwicklung in asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern zu fördern. Damit sollte ein Gegengewicht zum Auslandshilfe-Programm der Sowjetunion geschaffen werden. »Westliche Wissenschaft« versprach in Kombination mit »Marktwirtschaft« nichts weniger als ein wirtschaftliches »Wunder«, zumindest, wenn man amerikanischen Politikern Glauben schenkte.[9]

Eine gewisse Ironie lag darin, dass sowjetische Historiker schließlich eine sehr ähnliche Geschichte erzählten, was den Ursprung der modernen Naturwissenschaften anging. Sie ignorierten in der Regel die Leistungen früher russischer Wissenschaftler im Zarenreich und betonten stattdessen den spektakulären Aufstieg der Wissenschaft im Kommunismus. »Bis ins 20. Jahrhundert gab es so gut wie keine Physik in Russland«, schrieb der Präsident der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften 1933. Wie wir noch sehen werden, stimmte das nicht. Peter der Große förderte einige der wichtigsten astronomischen Beobachtungen, die Anfang des 18. Jahrhunderts gemacht wurden, während russische Wissenschaftler im 19. Jahrhundert eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung des Radios spielten. Einige sowjetische Historiker unternahmen später den Versuch, frühere russische Leistungen in den Naturwissenschaften zu betonen, doch zumindest in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war es viel wichtiger, die revolutionären Fortschritte während des Kommunismus zu unterstreichen statt irgendwelche Errungenschaften unter dem alten Regime.[10]

In Asien und im Nahen Osten entwickelten sich die Dinge etwas anders, wenn auch letztlich mit ähnlichen Konsequenzen. Der Kalte Krieg war eine Zeit der Entkolonialisierung, in der viele Länder schließlich ihre Unabhängigkeit von europäischen Kolonialmächten erlangten. Politische Führer in Ländern wie Indien und Ägypten waren verzweifelt darum bemüht, ein neues Gefühl nationaler Identität zu schaffen. Viele griffen dafür auf die antike Vergangenheit zurück. Sie feierten die Leistungen mittelalterlicher und antiker naturwissenschaftlicher Denker und ignorierten viel von dem, was während der Kolonialzeit geschah. Tatsächlich wurde die Vorstellung eines islamischen und hinduistischen »Goldenen Zeitalters« in den 1950er-Jahren populär – nicht nur in Europa, wie im 19. Jahrhundert, sondern auch im Nahen Osten und in Asien. Indische und ägyptische Historiker griffen die Idee einer glorreichen wissenschaftlichen Vergangenheit auf, die es wiederzuentdecken galt. Damit verstärkten sie unabsichtlich den Mythos, der von europäischen und amerikanischen Historikern verbreitet wurde. Die moderne Wissenschaft war westlich, die antike Wissenschaft war östlich, erzählte man den Menschen.[11]

 

Der Kalte Krieg ist vorbei, doch die Geschichte der Naturwissenschaften steckt noch immer in der Vergangenheit fest. Von der gängigen Geschichtsdarstellung bis zu akademischen Lehrbüchern bleibt die Vorstellung, dass die modernen Naturwissenschaften in Europa erfunden wurden, einer der populärsten Mythen der modernen Historie. Es gibt jedoch nur sehr wenige Belege, die sie stützen. In diesem Buch liefere ich eine neue Geschichte der modernen Naturwissenschaften, die nicht nur besser belegt ist, sondern auch besser in die Zeit passt, in der wir leben. Ich zeige, dass die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften grundlegend auf dem Austausch von Ideen zwischen verschiedenen Kulturen auf der ganzen Welt basierte. Das galt für das 15. Jahrhundert genauso, wie es heute gilt.

Von aztekischen Palästen und osmanischen Sternwarten bis hin zu indischen Laboren und chinesischen Universitäten folgt dieses Buch den modernen Naturwissenschaften rund um die Welt. Aber dies ist keine Enzyklopädie. Ich habe nicht versucht, jedes Land oder jede wissenschaftliche Entdeckung abzudecken. Ein solcher Ansatz wäre verrückt und zudem kein besonderes Lesevergnügen. Vielmehr möchte dieses Buch zeigen, wie die Weltgeschichte die modernen Naturwissenschaften formte. Aus diesem Grund habe ich mir vier Schlüsselperioden herausgesucht, in denen es zu einem weltweiten historischen Wandel kam, und jede von ihnen mit einigen der wichtigsten Entwicklungen in der Geschichte der Naturwissenschaften verknüpft. Dadurch, dass dieses Buch die Geschichte der Naturwissenschaften ins Zentrum der Weltgeschichte stellt, enthüllt es auch eine neue Perspektive hinsichtlich der Entstehung der modernen Welt – wenn wir die moderne Geschichte, von der Geschichte der Großreiche bis zur Geschichte des Kapitalismus, verstehen wollen, müssen wir uns der globalen Geschichte der Naturwissenschaften zuwenden.

Und schließlich möchte ich betonen, dass ich das Betreiben von Wissenschaft als ureigene menschliche Tätigkeit ansehe. Die modernen Naturwissenschaften wurden zweifellos von umfassenderen weltweiten Entwicklungen geformt, doch sie basierten nichtsdestoweniger auf den Leistungen wirklicher Menschen. Diese Menschen lebten zwar zu ganz anderen Zeiten an ganz anderen Orten, doch sie unterschieden sich nicht grundsätzlich von Ihnen oder mir. Sie hatten Familien und Beziehungen. Sie kämpften mit ihren Gefühlen und hatten Gesundheitsprobleme. Und jeder von ihnen wünschte sich mehr als alles andere, das Universum, in dem wir leben, besser zu verstehen. In diesem Buch habe ich versucht, diese menschlichere Seite der Wissenschaft herauszuarbeiten: ein osmanischer Astronom, der von Piraten im Mittelmeer gefangen genommen wurde, ein versklavter Afrikaner, der auf einer südamerikanischen Plantage Heilpflanzen sammelte, ein chinesischer Physiker, der vor dem Angriff der Japaner aus Peking floh, und ein mexikanischer Genetiker, der Blutproben von Olympioniken sammelte – sie alle haben wichtige Beiträge zur Entwicklung der modernen Naturwissenschaften geleistet. Dies ist ihre Geschichte – die der Wissenschaftler, die von der Historie vergessen wurden.

Teil I

Die naturwissenschaftliche Revolution, ca. 1450 –1700

1 Neue Welten

Wenn der Herrscher Moctezuma II. in die mexikanische Sonne hinaustrat, konnte er die Vögel zwitschern hören. Sein Palast, der im Herzen der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlan lag, beherbergte ein Aviarium, in dem Vögel aus ganz Amerika gehalten wurden. Grüne Sittiche hockten auf den Sitzstangen, während purpurrote Kolibris durchs Geäst schwirrten. Neben dem Aviarium gab es in Moctezumas Palast eine Menagerie, in der Großtiere gehalten wurden, darunter ein Jaguar und ein Kojote. Von all den Wundern der Natur schätzte Moctezuma jedoch Blütenpflanzen am meisten. Jeden Morgen machte er einen Spaziergang durch den königlichen Botanischen Garten. Rosen und Vanilleblumen säumten die Wege, während sich Hunderte aztekischer Gärtner um die vielen Reihen von Heilpflanzen kümmerten.[12]

Dieser aztekische botanische Garten, der 1467 angelegt wurde, ging vergleichbaren europäischen Einrichtungen um fast 100 Jahre voraus. Und er diente nicht nur zur Ausstellung von Pflanzen. Die Azteken entwickelten ein komplexes Verständnis der natürlichen Welt. Sie kategorisierten Pflanzen nach ihrem Bau wie auch nach ihrer Wirkung und unterschieden insbesondere zwischen Schmuck- und Arzneipflanzen. Aztekische Wissenschaftler machten sich zudem Gedanken über die Beziehung zwischen der natürlichen Welt und dem Himmel und argumentierten – ganz ähnlich wie in der christlichen Tradition –, dass Pflanzen und Tiere eine Schöpfung der Götter seien. Moctezuma selbst interessierte sich sehr für all diese Dinge. Er gab Erhebungen über die Naturgeschichte des Aztekenreiches in Auftrag und ließ große Sammlungen von Tierbälgen und getrockneten Pflanzen anlegen. Moctezuma, der selbst ein versierter Naturforscher war, wird in aztekischen Chroniken als »von Natur aus weise, ein Astrologe, ein Philosoph, geschickt in allen Künsten« beschrieben. Er stand an der Spitze eines riesigen Reiches, in dem die Naturwissenschaften neue Höhen erreichten.[13]

Tenochtitlan war ein ingenieurtechnisches Meisterwerk. 1325 auf einer Insel im Texcoco-See erbaut, war die aztekische Hauptstadt nur über drei Dämme zu erreichen, die sich allesamt mehrere Kilometer über das Wasser erstreckten. Wie Venedig war die Stadt von zahlreichen Kanälen durchzogen, auf denen aztekische Kaufleute in ihren Kanus ihre Ware transportierten, während sie ihrem Tagwerk nachgingen. Ein Aquädukt versorgte die Stadt mit Süßwasser, während Bauern auf neu gewonnenem Festland im See Mais, Tomaten und Chilis anbauten. Im Zentrum der Stadt stand der Große Tempel, eine riesige Steinpyramide, über 60 Meter hoch. Aztekische Architekten hatten den Tempel so gebaut, dass er an wichtigen Festtagen mit der aufgehenden und der untergehenden Sonne perfekt auf einer Linie lag. Moctezuma selbst wohnte solchen Zeremonien bei, pries die Götter und zollte ihnen Tribut in Form von Blumen, Tierhäuten und manchmal Menschenopfern. Mitte des 15. Jahrhunderts war Tenochtitlan auf eine bisher noch nie da gewesene Größe gewachsen. Mit mehr als 200 000 Einwohnern war diese aztekische Megacity viel größer als die meisten europäischen Großstädte, einschließlich London und Rom. Im Lauf der folgenden Jahrzehnte expandierte das Aztekenreich immer weiter, erstreckte sich über die ganze mexikanische Hochebene und umfasste mehr als drei Millionen Menschen.[14]

All das wurde durch den hoch entwickelten Stand von Naturwissenschaften und Technik im Aztekenreich ermöglicht. Vom Studium des Himmels bis zur Beobachtung der natürlichen Welt legten die Azteken großen Wert auf die Pflege von Wissen. Anders als ihre Altersgenossen in den meisten europäischen Königreichen jener Zeit erhielt ein bedeutender Anteil der aztekischen Kinder, Jungen wie Mädchen, eine Art formeller Erziehung. Es gab auch spezielle Schulen für adlige Jungen, die wünschten, sich auf das Priesteramt vorzubereiten, eine Profession, die ausgezeichnete Kenntnisse in Astronomie und Mathematik verlangte, um den aztekischen Kalender zu erarbeiten. Neben den Priestern gab es eine spezielle Klasse von Menschen, die als »Wissende« bezeichnet wurden. Dabei handelte es sich um bestens ausgebildete Männer, das Äquivalent eines Universitätsgelehrten in Europa. Sie bauten große Bibliotheken auf und steuerten häufig eigene Werke bei. Die Azteken entwickelten auch eines der zu ihrer Zeit weltweit fortschrittlichsten medizinischen Systeme. In Tenochtitlan konnte man eine breite Palette an Heilkundigen konsultieren, von Ärzten, die als ticitl bekannt waren, bis zu Chirurgen, Hebammen und Apothekern. In der Stadt gab es sogar einen medizinischen Markt, auf dem Händler aus dem ganzen Reich Kräuter, Wurzeln und Salben feilboten. Heute wissen wir, dass viele aztekische Heilpflanzen tatsächlich pharmakologisch wirksame Substanzen enthalten. Dazu gehört ein Typ Gänseblümchen, das zum Einleiten von Wehen benutzt werden kann, wie auch eine mexikanische Ringelblumenart, mit der sich Entzündungen bekämpfen lassen.[15]

Viel von dem, was wir über Tenochtitlan wissen, stammt von den Menschen, die es zerstörten. Am 8. November 1519 betrat der spanische Konquistador Hernán Cortés erstmals die Stadt. Anfangs hieß Moctezuma die Spanier willkommen und beherbergte sie im königlichen Palast. Das, was sie dort sahen, überwältigte sie. Bernal Díaz del Castillo, einer der Soldaten, die Cortés begleiteten, beschrieb Moctezumas Gärten später in der Historia verdadera de la conquista de la Nueva España so:

Wir gingen in den Obstgarten und in den Blumengarten, und es war so wunderbar, das alles zu sehen und darin zu spazieren, dass ich nie müde wurde, die Vielfalt der Bäume zu bewundern und die unterschiedlichen Gerüche eines jeden wahrzunehmen, und die Wege voller Rosen und Blumen, und die vielen Obstbäume und einheimischen Rosen, und den Teich voller Süßwasser.

 

Díaz beschrieb auch das Aviarium. Er erinnerte sich, dass es dort alles gab, »vom Adler … bis zu winzigen Vögeln mit buntem Gefieder … Federn in fünf Farben – Grün, Rot, Weiß, Gelb und Blau«. Es gab auch ein »großes Becken mit Süßwasser und darin Vögel anderer Art mit langen gestelzten Beinen, deren Körper, Flügel und Schwanz allesamt rot waren«.[16]

Die friedliche Ruhe hielt nicht lange an. Cortés nutzte die Lage aus, nahm Moctezuma als Geisel und kämpfte sich einen Weg durch die Stadt frei. Und obgleich die Spanier zunächst zurückgeschlagen wurden, kehrte Cortés zwei Jahre später mit einer weitaus größeren Streitmacht zurück. Mit Kanonen bewaffnete Schiffe umzingelten die Stadt im See, als spanische Soldaten durch die Tore drangen. Moctezuma wurde ermordet und der Große Tempel zerstört. Cortés selbst zündete den Palast an. Das Aviarium, die Menagerie und die Gärten – alles verbrannte. Díaz klingt für einen Soldaten recht betrübt, als er schrieb: »Von all den Wundern, die ich damals hier erblickte … heute ist alles zerstört und verloren, nichts steht mehr.« Die Eroberung des Aztekenreichs kennzeichnete den Beginn des Spanischen Reichs in den beiden Amerikas. Im Jahr 1533 gründete Karl V. das Vizekönigreich Neuspanien. Die Hauptstadt, Mexiko-Stadt, wurde auf der Asche von Moctezumas Palast errichtet.[17]

 

Die meisten Historien der Naturwissenschaften beginnen nicht mit den Azteken in Mexiko. Traditionell beginnt die Geschichte der modernen Naturwissenschaften im Europa des 16. Jahrhunderts mit einem Phänomen, das oft als »naturwissenschaftliche Revolution« bezeichnet wird. Uns wird erzählt, dass es im Zeitraum zwischen ca. 1500 und 1700 zu einer unglaublichen Wandlung des wissenschaftlichen Denkens kam. In Italien beobachtete Galileo Galilei die Monde des Jupiters, während in England Robert Boyles als Erster das Verhalten von Gasen beschrieb. In Frankreich entwickelte René Descartes eine neue Weise, Geometrie zu betreiben, während in Holland Antoni van Leeuwenhoek zum ersten Mal Bakterien unter einem Mikroskop betrachtete. In der Regel gipfelt das Narrativ in dem Werk von Isaac Newton, dem großen englischen Naturforscher und Mathematiker, der 1687 die Bewegungsgesetze formulierte.[18]

Historiker haben lange über das Wesen und die Gründe für die naturwissenschaftliche Revolution diskutiert. Einige sehen diese Zeit als eine Periode intellektuellen Fortschritts an, in der einige wenige einsame Genies neue Beobachtungen machten und den mittelalterlichen Aberglauben infrage stellten. Andere argumentieren, es sei eine Zeit großer sozialer und religiöser Veränderung gewesen, in der der Englische Bürgerkrieg und die protestantische Reformation die Menschen zwang, eine ganze Reihe grundlegender Überzeugungen über die Natur neu zu bewerten. Dann gibt es die, die die naturwissenschaftliche Revolution als eine Folge technischer Veränderungen ansehen. Von der Druckerpresse bis zum Teleskop kam es in dieser Zeitspanne zur Entwicklung einer ganzen Reihe neuer Werkzeuge, von denen jedes einzelne das Studium der Natur und die Verbreitung wissenschaftlicher Ideen in einer bisher noch nie da gewesenen Größenordnung erlaubte. Und schließlich bestreiten einige Historiker, dass es sich tatsächlich um eine Zeit bemerkenswerter Veränderung handelte. Denn viele große Denker der naturwissenschaftlichen Revolution stützten sich in mancher Hinsicht auf weitaus ältere Ideen, wie man sie schon in der Bibel oder bei antiken griechischen Philosophen findet.[19]

Bis vor Kurzem haben allerdings nur sehr wenige Historiker innegehalten und sich gefragt, ob sie überhaupt an der richtigen Stelle anfangen. Ist die Historie der naturwissenschaftlichen Revolution wirklich eine Geschichte, in der es allein um Europa geht? Die Antwort ist nein. Vom Aztekenreich in den beiden Amerikas bis zum Ming-Reich in China ist die Historie der naturwissenschaftlichen Revolution eine Geschichte, die die ganze Welt einbezieht. Und es ist nicht etwa so, dass die Menschen in den beiden Amerikas, in Afrika und in Asien zufällig zur selben Zeit wie die Menschen in Europa eine fortschrittliche wissenschaftliche Kultur entwickelten. Vielmehr ist es die Geschichte der Begegnungen zwischen diesen verschiedenen Kulturen, die erklärt, warum die naturwissenschaftliche Revolution gerade in der Zeitspanne stattfand, in der sie stattfand.

Deshalb möchte ich eine neue Geschichte der naturwissenschaftlichen Revolution erzählen. In diesem Kapitel geht es darum, wie Begegnungen zwischen Europa und den beiden Amerikas eine wichtige Neubewertung von Naturkunde, Medizin und Geografie in Gang brachten. Vieles, was wir über die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse wissen, die zu jener Zeit in der Neuen Welt gewonnen wurden, wird aus der Sicht europäischer Entdecker geschildert, ein Erbe der Kolonialgeschichte, das wir in diesem Kapitel untersuchen wollen. Wenn wir jedoch etwas genauer hinschauen und Quellen wie die aztekischen Kodizes und die Geschichtsschreibung der Inka hinzuziehen, stoßen wir auf eine andere Seite dieser Geschichte, die den verborgenen Beitrag indigener Völker zur naturwissenschaftlichen Revolution offenlegt. Im nächsten Kapitel wenden wir uns dann nach Osten und Süden und zeigen, wie Verbindungen zwischen Europa, Afrika und Asien die Entwicklung der Mathematik und der Astronomie beeinflussten. Diese beiden Kapitel stehen am Anfang eines immer wiederkehrenden Themas, bei dem es um die Bedeutung der Weltgeschichte für das Verständnis der Geschichte der modernen Naturwissenschaften geht. Um die naturwissenschaftliche Revolution zu verstehen, dürfen wir nicht nur nach London und Paris schauen, sondern müssen uns auch Schiffen und Karawanen zuwenden, die die Welt der Frühen Neuzeit miteinander verbanden.[20]

Naturkunde in der Neuen Welt

Nach mehr als zwei Monaten auf hoher See sichtete Christoph Kolumbus Land. Kolumbus, der im Auftrag der Spanischen Krone mit der Santa Maria unterwegs war, suchte eine Westpassage nach Indien. Stattdessen stieß er auf einen neuen Kontinent. Am 12. Oktober 1492 landete Kolumbus auf einer Insel, die er San Salvador nannte; sie ist Teil der Bahamas. Das war der Beginn einer langen Historie europäischer Kolonialisierung in den beiden Amerikas. Wie viele, die ihm später in die Neue Welt folgten, war Kolumbus erstaunt über die Vielfalt an tierischem und pflanzlichem Leben, auf die er stieß. In seinem Tagebuch notierte er: »All diese Bäume unterschieden sich von den unseren so sehr wie Tag und Nacht, und das galt auch für die Früchte, das Laub, die Wurzeln und alle anderen Dinge.« Kolumbus erkannte auch rasch das kommerzielle Potenzial der beiden Amerikas und notierte, es gebe »viele Pflanzen und viele Bäume, die in Spanien zum Färben und für Medizinen eine Menge wert sind«. Besonders alarmierend aber war, dass die Insel bewohnt war. Bei der Landung traf die spanische Crew auf eine Gruppe Einheimischer. Noch immer in dem Glauben, er habe den Osten Indiens erreicht, nannte Kolumbus sie indios oder »Indianer«. Ermutigt durch die Fülle an pflanzlichem, tierischem und menschlichem Leben, machte Kolumbus sich in den folgenden Monaten daran, die Karibik oder »Westindien« weiter zu erforschen, und erreichte schließlich Kuba und Hispaniola. Später kehrte er noch dreimal in die Region zurück und kam dabei bis Mittel- und Südamerika.[21]

Die Kolonisation des amerikanischen Doppelkontinents war eines der wichtigsten Ereignisse in der Weltgeschichte. Es war darüber hinaus ein Ereignis, das die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften tiefgreifend beeinflusste und traditionelle Annahmen über den bestmöglichen Erwerb naturwissenschaftlichen Wissens infrage stellte. Vor dem 16. Jahrhundert nahm man an, solches Wissen lasse sich praktisch ausschließlich aus antiken Texten gewinnen. Das galt besonders für Europa, obgleich ähnliche Traditionen, wie wir im nächsten Kapitel noch sehen werden, auch in großen Teilen Asiens und Afrikas existierten. So überraschend es heute auch klingen mag – die Vorstellung, Beobachtungen anzustellen und Experimente zu machen, war mittelalterlichen Denkern weitgehend fremd. Stattdessen verbrachten die Studenten an europäischen Universitäten ihre Zeit damit, die Werke antiker griechischer und römischer Autoren zu lesen, sich einzuprägen und zu diskutieren. Diese Tradition war als Scholastik bekannt. Zu den häufig gelesenen Texten gehörte Aristoteles’Physik, verfasst im 4. Jahrhundert v. Chr., und die Naturalis historia (»Naturgeschichte«) von Plinius dem Älteren aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. Denselben Ansatz verfolgte man in der Medizin. Wer an einer mittelalterlichen Universität in Europa Medizin studierte, hatte so gut wie keinen Kontakt mit echten menschlichen Körpern. Es gab definitiv keine Sektionen oder Experimente, um die Funktion bestimmter Organe zu klären. Stattdessen lasen und rezitierten mittelalterliche Medizinstudenten die Werke des antiken griechischen Arztes Galen.[22]

Warum wandten sich die europäischen Gelehrten dann irgendwann zwischen 1500 und 1700 von den antiken Texten ab und begannen, die wirkliche Welt selbst zu erforschen? Die Antwort hat eine Menge mit der Kolonisation der Neuen Welt und der damit einhergehenden Aneignung des Wissens der Inka und Azteken zu tun, etwas, das die traditionelle Geschichtsschreibung unter den Tisch fallen lässt. Wie viele frühe europäische Entdecker rasch erkannten, wurden die Pflanzen, Tiere und Menschen, auf die sie in den beiden Amerikas stießen, in keinem der antiken Texte beschrieben. Aristoteles hatte nie eine Tomate gesehen, geschweige denn einen Aztekenpalast oder einen Inkatempel. Diese Erkenntnis führte zu einer grundlegenden Veränderung des europäischen Wissenschaftsverständnisses.[23]

 

Der italienische Entdecker Amerigo Vespucci, nach dem Amerika benannt ist, gehörte zu den Ersten, die die Konsequenzen von Kolumbus’ »Entdeckung« für die Naturgeschichte erkannten. Nach seiner eigenen Rückkehr aus der Neuen Welt 1499 schrieb Vespucci an einen Freund in Florenz. Er berichtete über unglaubliche Tiere aller Art, die er gesehen hatte, darunter eine »Schlange« – höchstwahrscheinlich ein Leguan –, die die Einheimischen rösteten und aßen. Vespucci erinnerte sich auch an Vögel »so zahlreich und so viele Arten mit so vielfältigem Gefieder, dass man seinen Augen kaum trauen mag«. Besonders wichtig war, dass Vespucci eine direkte Verbindung zwischen der Naturgeschichte der Neuen Welt und dem herstellte, was aus antiken Texten bekannt war. Er endet mit einer vernichtenden Kritik an Plinius’ Naturalis Historia, der traditionellen Autorität auf diesem Gebiet. »Plinius spricht nicht einmal ein Tausendstel der Arten von Papageien und anderer Vögel und Tiere an«, so Vespucci, die in den beiden Amerikas beheimatet waren.[24]

Vespuccis Kritik an Plinius war nur der Anfang. Im Lauf der folgenden Jahre kehrten Tausende von Reisenden mit Berichten über Dinge aus der Neuen Welt zurück, die den antiken Denkern offenbar unbekannt gewesen waren. Einer der einflussreichsten Berichte stammte von einem spanischen Priester namens José de Acosta. Acosta wurde 1540 als Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie geboren und versuchte stets, seinem komfortablen, aber langweiligen Elternhaus zu entkommen. Mit zwölf Jahren riss er aus, um sich der Gesellschaft Jesu, einer missionarischen katholischen Organisation, anzuschließen, die eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der frühen modernen Naturwissenschaften spielte. Der Gründer des Ordens, Ignatius von Loyola, forderte seine Anhänger auf, »Gott in allen Dingen zu finden«, ob beim Lesen der Bibel oder beim Erforschen der natürlichen Welt. Daher legten die Jesuiten großen Wert auf das Studium der Natur, zum einen, um Gottes Weisheit zu preisen, zum anderen aber auch, um potenziellen Konvertiten die Macht des christlichen Glaubens zu demonstrieren. Nachdem Acosta sich den Jesuiten angeschlossen hatte, besuchte er die Universität von Alcalá, wo er die klassischen Werke von Aristoteles und Plinius studierte. Nach seinem Abschluss erhielt Acosta den Auftrag, als Missionar in die Neue Welt zu reisen, und so setzte er 1571 die Segel. Die nächsten 15 Jahre verbrachte er auf dem Doppelkontinent und reiste auf der Suche nach Bekehrungswilligen über die Anden. Nach seiner Rückkehr nach Spanien begann Acosta, in einem Buch alles zu beschreiben, was er gesehen hatte, von den Vulkanen in Peru bis zu den Papageien in Mexiko. Das Werk wurde 1590 unter dem Titel Historia natural y moral de las Indias veröffentlicht.[25]

In den beiden Amerikas beobachtete Acosta viele seltsame Dinge. Seine vielleicht wichtigste Erfahrung machte der junge Priester jedoch auf seiner ersten Atlantiküberquerung. Er fürchtete sich vor der Überfahrt nicht zuletzt deswegen, was antike Autoren über den Äquator sagten. Aristoteles zufolge war die Welt in drei Klimazonen eingeteilt, Nord- und Südpol waren durch extreme Kälte gekennzeichnet und als »kalte Zonen« bekannt. Rund um den Äquator lag die »heiße Zone«, eine Region glühender, trockener Hitze. Und schließlich befand sich zwischen diesen beiden Extremzonen etwa auf dem Breitengrad von Europa die »gemäßigte Zone«. Maßgeblich war in diesem Zusammenhang Aristoteles’ Behauptung, dass Leben, vor allem menschliches Leben, nur in der gemäßigten Zone auf Dauer möglich sei. Überall sonst sei es entweder zu heiß oder zu kalt.[26]

Daher erwartete Acosta, bei der Annäherung an den Äquator unerträgliche Hitze zu verspüren. Aber das war nicht der Fall. »Die Wirklichkeit war so anders, dass mir zum Zeitpunkt der Äquatorüberquerung so kalt war, dass ich mich in die Sonne begab, um mich warm zu halten«, schrieb Acosta. Die Konsequenzen, die dies für die antike Philosophie hatte, waren klar. Acosta fuhr fort:

Ich muss gestehen, ich lachte und spottete über Aristoteles’ meteorologische Theorien, weil ich sah, dass genau an dem Ort, wo seinen Regeln zufolge alles brennen und in Flammen stehen musste, mir und all meinen Schiffsgenossen kalt war.

 

Auf seiner Reise durch Süd- und Zentralamerika fand Acosta, dass die Region rund um den Äquator nicht immer heiß und sicherlich nicht so trocken war, wie Aristoteles geglaubt hatte. Vielmehr erlebte Acosta eine große Vielfalt an Klimata und stellte fest, dass das Klima »in Quito und auf den peruanischen Hochebenen recht gemäßigt« war, in Potosí hingegen »sehr kalt«. Und nicht nur dies: Besonders erstaunlich fand er, dass die Region voller Leben war – nicht nur Pflanzen und Tiere, sondern auch Menschen. Acosta kam daher zu dem Schluss: »Die heiße Zone ist durchaus bewohnbar und stark besiedelt, obwohl die Alten sagten, dies sei unmöglich.«[27]

Das war zweifellos ein Schlag für die Autorität der Klassiker. Wenn Aristoteles bei den Klimazonen falschgelegen hatte, wobei mochte er noch geirrt haben? Von diesem Gedanken beunruhigt, verbrachte Acosta einen großen Teil seines Lebens mit dem Versuch, das, was er in der Neuen Welt erlebt hatte, mit dem in Einklang zu bringen, was in den antiken Texten stand. Die Vielfalt von zuvor unbekannten Tieren war besonders schwierig zu erklären. Von Faultieren in Peru bis zu Kolibris in Mexiko, es gab »Tausende Arten von Vögeln und Geflügel und Waldtieren, von denen zuvor weder Name noch Form bekannt waren, noch werden sie bei den Lateinern oder Griechen erwähnt noch von irgendeiner anderen Nation unserer Welt«, erklärte Acosta. Plinius’Naturalis Historia war eindeutig unvollständig.[28]

Acosta verstand die Konsequenzen seiner Entdeckungen. Er war jedoch nicht bereit, das klassische Wissen komplett aufzugeben. Als Christ legte Acosta noch immer großen Wert auf antike Autoritäten. Schließlich war die Bibel der ultimative antike Text. Wie viele frühe Amerikareisende mischte Acosta daher das Alte mit dem Neuen. In einigen Fällen behauptete er, zwar habe sich Aristoteles vielleicht geirrt, andere antike Quellen seien hingegen korrekt. Im Fall der heißen Zone wies Acosta darauf hin, dass der antike griechische Geograf Ptolemäus eine andere Sicht vertrat und »glaubte, es gebe in den Tropen durchaus komfortable bewohnbare Regionen«. Acosta betonte überdies, dass einige antike Texte sogar die Existenz von neuen Welten jenseits der bekannten Meere andeuteten. Platon beschrieb die legendäre Insel Atlantis, während die Bibel ein fernes Land namens Ophir erwähnte, aus dem König Salomon Schiffsladungen an Silber erhielt. Tatsächlich waren klassische Texte voll von unbekannten Ländern, von denen sich jedes leicht als der amerikanische Doppelkontinent deuten ließ. Zunächst führten die Begegnungen in der Neuen Welt daher nicht zu einem vollständigen Bruch mit antikem Wissen. Vielmehr waren europäische Gelehrte gezwungen, klassische Texte im Licht der neuen Erfahrungen neu zu interpretieren.[29]

 

Bernardino de Sahagún verbrachte den größten Teil seines Lebens in den beiden Amerikas. 1499 in Spanien geboren, schloss sich Sahagún während seines Studiums an der Universität von Salamanca dem Franziskanerorden an. Wie José de Acosta erhielt er eine für seine Zeit typische Ausbildung und studierte die klassischen Texte von Aristoteles und Plinius als Vorbereitung auf das Priesteramt. 1529 überquerte Sahagún den Atlantik und erreichte Neuspanien in einer der ersten Kohorten von Missionaren, die in der Neuen Welt eintrafen. Er verbrachte den Rest seines Lebens in den beiden Amerikas und starb mit 90 Jahren in Mexiko-Stadt. Während er dort tätig war, machte sich Sahagún daran, einen der umfassendsten Berichte über das Mexiko des 16. Jahrhunderts zusammenzustellen. Er nannte das Werk Historia general de las cosas de Nueva España (1578). Besser bekannt als Códice Florentino, beschreibt dieses monumentale Werk nicht nur Flora und Fauna der Neuen Welt, sondern auch die aztekische Medizin, Religion und Geschichte. Das komplette Werk umfasst zwölf Bände und enthält mehr als 2000 handkolorierte Abbildungen.[30]

Der Códice Florentino war nicht das Werk von Sahagún allein, es entstand in Zusammenarbeit mit der einheimischen Bevölkerung. Kurz nach seiner Ankunft in Neuspanien übernahm Sahagún einen Posten am Franziskanerkolleg Santa Cruz in Tlatelolco in einem Randbezirk von Mexiko-Stadt, um dort Latein zu unterrichten. Das Kolleg war 1534 gegründet worden, um die Söhne aztekischer Adliger auf das Priesteramt vorzubereiten. Im Kolleg lebten mehr als 70 indigene Jungen und erhielten eine traditionelle scholastische Ausbildung ähnlich derjenigen, die Sahagún in Spanien durchlaufen hatte. Die Jungen lernten Latein und lasen Aristoteles. Darüber hinaus lernten die aztekischen Schüler am Kolleg, ihre eigene Sprache, Nahuatl, im lateinischen Alphabet zu schreiben. Das war eine wichtige Entwicklung, denn traditionellerweise benutzten die Azteken kein geschriebenes Alphabet. Stattdessen war Nahuatl eine Bildersprache, in der bestimmte Bilder verschiedene Wörter und Satzstücke darstellten. Die Spanier verunglimpften die Piktogramm-Bücher der Azteken oft als primitiv oder gar als götzendienerisch. Ein anderer Missionar behauptete, die Azteken seien »ein Volk ohne Schrift, ohne Buchstaben, ohne schriftliche Chroniken und ohne irgendeine Art von Aufklärung«. Das war, wie wir heute wissen, unwahr. Doch solche Haltungen kamen den Spaniern bei ihrem Versuch, die Azteken in europäisierte Christen zu verwandeln, sehr entgegen. Es gehörte zu einem breit angelegten europäischen Bestreben, die Eroberung des amerikanischen Doppelkontinents damit zu rechtfertigen, dass man behauptete, der Neuen Welt das Christentum zu bringen.[31]

Sahagún erkannte den Wert der aztekischen Kultur jedoch weit besser als viele seiner Zeitgenossen. Er lernte Nahuatl und begann 1547 mit der Arbeit an dem Códice Florentino. Um die Naturgeschichte der Neuen Welt wirklich zu verstehen, so begriff Sahagún, musste er von den Menschen lernen, die bereits hier lebten. Also sammelte er eine Gruppe von Schülern des Kollegs um sich. Die Namen von vier dieser Schüler sind überliefert: Antonio Valeriano, Alonso Vegerano, Martín Jacobita und Pedro de San Buenaventura. (Leider sind ihre ursprünglichen Nahuatl-Namen verloren gegangen.) Gemeinsam mit seinem Trupp machte sich Sahagún auf den Weg und reiste kreuz und quer durch Neuspanien, um nach aztekischem Wissen zu suchen. Wenn sie in eine Stadt kamen, arrangierte Sahagún ein Gespräch mit einer Gruppe indigener Ältester. Oft trugen die Ältesten dann alte aztekische Geschichten vor oder beschrieben eine ihm unbekannte Pflanze bzw. ein unbekanntes Tier. Manchmal holten die Ältesten sogar einen erhaltenen aztekischen Kodex hervor, jede Seite bebildert mit einer komplexen Anordnung von Glyphen. »Sie gaben mir all die Sachen, über die wir diskutierten, in Bildern, denn das war die Schrift, die in alten Zeiten verwendet wurde«, schrieb Sahagún. Da er diese Bilder nicht selbst interpretieren konnte, zog er seine aztekischen Schüler zurate, die ihm übersetzten, was sie an geschriebenem Nahuatl sahen. Nach ihrer Rückkehr ins Kolleg übersetzten Sahagún und seine Helfer das Nahuatl ins Spanische. Zudem beauftragte er eine Gruppe von indigenen Künstlern, den Text zu illustrieren. Im Jahr 1578, nach zwei Jahrzehnten Arbeit, sandte Sahagún das vollständige Manuskript schließlich an Philipp II. von Spanien.[32]

Wie Acosta verschmolz Sahagún das Alte mit dem Neuen. Der Códice Florentino nahm sich Plinius’Naturalis Historia zum Vorbild. Tatsächlich kannten Sahagúns Schüler am Kolleg dieses antike Werk. Ähnlich wie die Naturalis Historia besteht der Códice Florentino aus einer Reihe von Bänden, in denen es um Geografie, Medizin, Anthropologie, Botanik, Zoologie, Landwirtschaft und Religion geht. Das wichtigste Buch, das die Naturgeschichte behandelt, trägt den Titel »Irdische Dinge«. Wenn man diesen Band öffnet, entdeckt man eine ganze Welt voller Tiere und Pflanzen, die den antiken Gelehrten unbekannt waren. Dieser Band ist dementsprechend auch der am reichsten illustrierte; abgebildet sind 39 Säuger, 120 Vögel und über 600 Pflanzen. Die Strahlkraft der Illustrationen ist frappierend; sie bilden nicht nur die natürliche Welt ab, sondern zeigen auch das Verhalten von Tieren, die Nutzung von Pflanzen und die aztekischen Glaubensinhalte, die damit einhergingen.[33]

Der Códice Florentino listete Hunderte Pflanzen der Neuen Welt auf, alle dem aztekischen Taxonomiesystem entsprechend klassifiziert. Die Azteken ordneten Pflanzen gewöhnlich in vier große Gruppen ein: essbare Pflanzen, Schmuckpflanzen, wirtschaftlich wertvolle Pflanzen und Arzneipflanzen. Diese Unterteilung spiegelte sich in ihren Namen wider: So waren Pflanzen, die mit dem Suffix -patli endeten, Heilpflanzen, diejenigen, die auf -xochitl endeten, Schmuckpflanzen. Diese Ordnung wurde im Códice Florentino beibehalten. Alle Heilpflanzen sind dort gemeinsam mit ihren Namen aufgelistet, zum Beispiel iztac patli (ein Kraut, das fiebersenkend wirkte). Darauf folgen all die Schmuckpflanzen, zum Beispiel cacaloxochitl (in Europa nach einem italienischen Adligen des 16. Jahrhunderts, der sie importierte, als Frangipani oder auch Tempelbaum bzw. Westindischer Jasmin bekannt).[34]

Darstellung von Kolibris aus dem Códice Florentino (1578). Man beachte den Kolibri, der in einem Zustand der Starre (Torpor) von einem Baum herabhängt. [1]

 

Auch Tiere spielen im Códice Florentino eine bedeutende Rolle. Es gibt eine Abbildung, die zeigt, wie eine Klapperschlange ein Kaninchen fängt, und eine andere, auf der Ameisen einen Ameisenhügel bauen. Eine ganze Reihe von Illustrationen ist insbesondere Kolibris gewidmet; eine zeigt, wie sie Nektar aus einer Blüte saugen, eine andere, wie eine Gruppe Kolibris nach Süden zieht, um dort den Winter zu verbringen. Dieser Fokus auf Kolibris spiegelte einen wichtigen aztekischen Glauben wider. Huitzilopochtli (»Kolibri des Südens«) war der Schutzpatron Tenochtitlans. Der Große Tempel der Stadt war Huitzilopochtli gewidmet, und Krieger, die in der Schlacht starben, verwandelten sich der Legende nach in Kolibris. Daher beobachteten die Azteken die Kolibris genau. Die Fähigkeit dieser Vögel, in einen Zustand der Starre – eine Art Winterschlaf, der als Torpor bezeichnet wird – zu verfallen, faszinierte sie. Kein Europäer hatte dies jemals zuvor gesehen, daher musste sich Sahagún auf die Aussagen seiner aztekischen Informanten verlassen, von denen einige tatsächlich in Moctezumas Aviarium gearbeitet hatten:

Im Winter hält der Kolibri Winterschlaf. Er steckt seinen Schnabel in einen Baum; dort schrumpft er, schrumpelt, mausert … wenn die Sonne wieder wärmt, der Baum sprießt, Blätter treibt, dann wachsen [dem Kolibri] auch wieder neue Federn. Und wenn der Donner Regen ankündigt, wacht er auf, bewegt sich, kommt ins Leben zurück.[35]

 

Das Verhalten des Kolibris passte perfekt zur Weltsicht der Azteken, denn ihrer Meinung nach wurde die Welt von einem ständigen Zyklus von Leben und Tod gelenkt. Krieger konnten wie Kolibris wiedergeboren werden. Der Tod war niemals das Ende.[36]

Aztekische Medizin

Für Bernardino de Sahagún war der Códice Florentino vor allem ein religiöses Werk. Durch eine umfassende Beschreibung des aztekischen Wissens wollte er »den Grad an Perfektion des mexikanischen Volkes« illustrieren. Das, so hoffte Sahagún, werde die Christen daheim in Europa überzeugen, dass die Azteken eine »zivilisierte Rasse« waren und durchaus in der Lage, das Wort Gottes zu empfangen. Andere interessierten sich hingegen mehr für die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die die Neue Welt bot. Im Jahr 1580 erwarb Ferdinando I. de’ Medici, Großherzog der Toskana und Haupt der berühmten italienischen Familie Medici, den Códice Florentino. Er stellte ihn in den berühmten Uffizien in Florenz aus, daher der Name, unter dem das Werk heute bekannt ist. In den Uffizien fand der Códice Florentino neben der unglaublichen Sammlung der Medici an Gemälden, Skulpturen und Kuriositäten aus aller Welt seinen Platz. Dazu gehörten auch ein Kopfschmuck aus grünen Federn sowie eine aztekische Maske aus Türkisen. Um diese Zeit entwickelten die Medici ein starkes kommerzielles Interesse an der Neuen Welt. Ferdinando I. de’ Medici begann, Koschenille (zur Herstellung eines karmesinroten Farbstoffs) aus Mexiko und Peru zu importieren, während in den Gärten des Medici-Palazzo in Florenz Mais und Tomaten – beide in Amerika heimisch – wuchsen. Für Ferdinando I. de’ Medici war der Códice Florentino in erster Linie ein Warenkatalog: eine Liste der wertvollsten natürlichen Ressourcen, die die Neue Welt zu bieten hatte.[37]

Diese kommerzielle Haltung gegenüber der Neuen Welt führte zu einer wirklichen Transformation des Studiums der Naturgeschichte. Kaufleute und Ärzte legten in der Regel viel größeren Wert auf das Sammeln und Experimentieren als auf klassische Autoritäten. Amerikanische Pflanzen stellten eine potenziell lukrative Einkommensquelle dar, und es war kommerziell eindeutig von Vorteil, diese Entdeckungen als etwas Neues anzupreisen. Tabak, Avocados und Chilis wurden allesamt als fantastische neue Heilmittel vermarktet, während der erste Bericht über den Kauf einer Kartoffel aus den Geschäftsbüchern eines spanischen Hospitals im 16. Jahrhundert stammt. Zur gleichen Zeit begannen Universitäten in ganz Europa, ihre eigenen botanischen Gärten anzulegen. Sie waren den aztekischen botanischen Gärten, die die Spanier in Mexiko gesehen hatten, nicht unähnlich – spezielle Stätten, um Arzneipflanzen zu kultivieren und zu studieren. Im Jahr 1545 legte die Universität Padua den ersten botanischen Garten in Europa an; bald folgten Gärten in Pisa und Florenz. Mitte des 17. Jahrhunderts besaß jede wichtige europäische Universität einen botanischen Garten, und in all diesen Gärten wuchsen Pflanzen aus der Neuen Welt. Einige reiche Ärzte begannen sogar, sich private botanische Gärten zuzulegen, und vermarkteten neue medizinische Heilmethoden, die auf amerikanischen Medizinalpflanzen beruhten.[38]

Vieles, was die Europäer über die medizinische Verwendung von Pflanzen aus der Neuen Welt wussten, basierte auf aztekischen Quellen. Vor allem die Spanische Krone unternahm enorme Anstrengungen, Pflanzen aus der Neuen Welt nicht nur zu sammeln und zu katalogisieren, sondern auch festzuhalten, was die Azteken über sie wussten. Im Jahr 1570 gab Philipp II. von Spanien eine umfassende Studie über die Naturgeschichte der Neuen Welt in Auftrag. Als Leiter der Expedition bestimmte Philipp seinen Leibarzt, Francisco Hernández. Im Laufe der folgenden sieben Jahre bereiste Hernández Neuspanien, sammelte Pflanzen und lernte viel über die medizinischen Verfahren der Azteken.[39]

Hernández, geboren 1514, studierte an der Universität von Alcalá, bevor er eine erfolgreiche medizinische Praxis in Sevilla aufbaute. Wie bei den meisten Ärzten im 16. Jahrhundert und wie bereits erwähnt, bestand Hernández’ medizinische Ausbildung aus wenig mehr als dem Studium alter Texte. Er las die Werke von Galen und Dioskurides, beides antike griechische Ärzte. In Dioskurides’ De materia medica fand sich eine Liste von pflanzenbasierten Behandlungsmethoden für verschiedene Leiden, während Galens umfangreiches Werk die grundlegende Theorie beschrieb, auf der die griechische Medizin basierte. In dieser Theorie ging es im Wesentlichen darum, ein Gleichgewicht zwischen den vier Körpersäften zu schaffen: Blut, Schleim, schwarzer Galle und gelber Galle. Zur Behandlung von Fieber wurde in der Regel Aderlass empfohlen, während Lorbeerblätter zum Abführen von überschüssiger gelber Galle dienten.[40]

Hernández lebte jedoch in einer Zeit, in der es in der Medizin zu großen Umbrüchen kam. Viele Ärzte begannen, sich von antiken Autoritäten abzuwenden, und konzentrierten sich stärker auf Sektionen und Experimente. Viele ließen sich vom Werk des Andreas Vesalius inspirieren, dessen De humani corporis fabrica libri septem (Sieben Bücher über den Aufbau des menschlichen Körpers, 1543) einen auf Sektionen basierenden Überblick über die menschliche Anatomie bot. Andere folgten dem Werk von Paracelsus, einem nicht unumstrittenen Schweizer Alchemisten, der pflanzliche und mineralische Heilmethoden aller Art vorantrieb. Hernández selbst war ein großer Befürworter dieser medizinischen Reformen und legte, während er an einem Hospital im Westen von Spanien arbeitete, einen botanischen Garten an. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass sich diese neue Weise, über Medizin zu denken, mit einem Blick auf Europa allein erklären ließe. Vielmehr trug Wissen aus der Neuen Welt, geschaffen von der indigenen Bevölkerung des Doppelkontinents, dazu bei, eine Vision von Medizin als einer experimentellen und praktischen Wissenschaft zu schaffen.[41]

 

Francisco Hernández traf im Februar 1571 in Mexiko-Stadt ein, begleitet von seinem Sohn Juan und einem Team von Schreibern, Illustratoren und Übersetzern. Die Stadt befand sich mitten in einer Epidemie, die von der indigenen Bevölkerung als cocoliztli und von den Spaniern als »große Pestilenz« bezeichnet wurde. Menschen, die sich diese Krankheit zuzogen, starben innerhalb weniger Tage, wobei sie schreckliche Schmerzen litten und aus Augen und Nase bluteten. Hernández, der zum »Obersten Gesundheitsbeamten Indiens« ernannt worden war, verbrachte die ersten Wochen nach seiner Ankunft damit, die Leichen gerade Verstorbener zu sezieren. Als der Ausbruch zurückging, brachen Hernández und sein Trupp zu ihrer Reise durch Neuspanien auf und verbrachten sieben Jahre auf der Suche nach neuen Pflanzen, Tieren und Mineralien – allem, was sich als medizinisch wertvoll erweisen konnte. Hernández besuchte sogar einen aufgegebenen aztekischen botanischen Garten in Texcoco und kopierte einige der Blumenillustrationen auf den Mauerruinen. Insgesamt identifizierte Hernández mehr als 3000 zuvor in Europa unbekannte Pflanzen. Zum Vergleich: Der antike griechische Arzt Dioskurides listete in De materia medica lediglich 500 Pflanzen auf. Das war daher eine große Herausforderung für die Vorstellung, die antiken Autoren hätten schon alles gewusst.[42]

Bei seiner Erhebung hing Hernández völlig von der indigenen Bevölkerung und ihrem medizinischen Wissen ab. Tatsächlich hatte Philipp II. Hernández ausdrücklich aufgefordert, die lokale Bevölkerung zu befragen. Die offiziellen Instruktionen für die Expedition wiesen Hernández an, »alle Ärzte, Medizinmänner, Kräuterkenner, Indianer und andere Leute mit Kenntnissen von solchen Dingen zu konsultieren«. Hernández nahm diesen Befehl ernst und begann, Nahuatl zu lernen. Dann machte er sich daran, indigene Mediziner zu befragen, notierte sorgfältig die Namen der Pflanzen und Tiere, die sie ihm beschrieben, und achtete überdies darauf, die einheimischen Namen zu verwenden. Hernández beschrieb die Eigenschaften von zacanélhuatl, einer Art Wurzel, die von indigenen Ärzten zerdrückt und mit Wasser gemischt wurde. Diese Zubereitung, so notierte Hernández, sei ein mögliches Heilmittel gegen Nierensteine, das »den Harnfluss anregt und den Harntrakt säubert«. Er erfuhr auch von einem Kraut namens zocobut mit »Blättern wie ein Pfirsich, doch breiter und dicker«. Es ließ sich verwenden, um Kopfschmerzen und Schwellungen zu lindern, und »wirkt gegen Gifte und giftige Stiche und Bisse«. Dieses besondere Kraut wurde »von den Einheimischen sehr geschätzt«, so sehr, dass es »nicht einfach ist, sie dazu zu bringen, etwas über dessen Eigenschaften zu erzählen«. Hernández untersuchte auch die medizinische Verwendung von Tieren der Neuen Welt. Nach der Beschreibung des Opossums notierte er: »Der Schwanz dieses Tieres ist ein ausgezeichnetes Heilmittel.« Verrieben und mit Wasser gemischt, »säubert es den Harntrakt … heilt Knochenbrüche und Koliken … beruhigt den Magen«. Besonders interessant war, dass indigene Heilkundige berichteten, der Schwanz des Opossums wirke als Aphrodisiakum – »er fördert die sexuelle Erregung«, schrieb Hernández. Auch wenn wir uns nicht bei jeder von Hernández aufgelisteten Pflanze sicher sein können, haben heutige Wissenschaftler nachgewiesen, dass einige tatsächlich medizinisch wirksame Eigenschaften aufweisen. Die Blätter des Stechapfels beispielsweise enthalten ein Schmerzmittel (Analgetikum). Andere, wie die Samen der Weißen Sapote, können, wie sich gezeigt hat, gewissen Krebsformen vorbeugen.[43]

Stich eines Gürteltieres oder Armadillo, kopiert von Francisco Hernández nach einer Zeichnung eines indigenen Künstlers im Mexiko des 16. Jahrhunderts, aus Francisco Hernandez Rerum medicarum Novae Hispaniae (1628). [2]

 

Aussehen und Eigenschaften von Pflanzen und Tieren zu beschreiben, war gut und schön. Doch wenn alles so neu war, zumindest für Europäer, konnte nur ein Bild die Vielfalt der amerikanischen Naturgeschichte wirklich wiedergeben. Wie Sahagún entschied sich Hernández daher, eine Gruppe einheimischer Künstler anzustellen, um Bilder von all dem zu schaffen, was er sah. Im Lauf von sechs Jahren fertigten diese Künstler – Pedro Vázguez, Baltazar Elías und Antón Elías – Hunderte von Illustrationen an, alle vor Ort, darunter eine von einer Sonnenblume und eine weitere von einem Gürteltier. Viele dieser Illustrationen wurden später in europäischen Werken über Naturgeschichte reproduziert, einschließlich Hernández’ eigenen Publikationen. 1577 kehrte er mit 16 handgeschriebenen Bänden samt den zugehörigen Illustrationen nach Spanien zurück. Hernández’ Manuskript, das später als Rerum medicarum Novae Hispaniae (1628) veröffentlicht wurde, wurde der Bibliothek von El Escorial außerhalb von Madrid zur Aufbewahrung übergeben. Der königliche Bibliothekar, José de Sigüenza, war beeindruckt, vor allem von den Illustrationen. »Dies ist eine Historie all der Tiere und Pflanzen, die man in Westindien finden kann, dargestellt in ihren natürlichen Farben«, erklärte er und fügte hinzu: »Es bietet denjenigen, die es sich anschauen, große Freude und Vielfalt, und denjenigen, deren Aufgabe es ist, sich über die Natur Gedanken zu machen, beträchtlichen Nutzen.«[44]

 

Francisco Hernández’ Rerum medicarum war typisch für eine neue Art und Weise, Naturgeschichte zu vermitteln: Es verpackte das medizinische Wissen der Azteken für ein europäisches Publikum neu. Nichtsdestoweniger war es letztlich immer noch das Werk eines Konquistadors. Hernández war ein Mann, der vom spanischen König auf eine Expedition geschickt worden war, bei der es im Kern um die Aneignung von Wissen und Reichtum ging. Doch die Europäer waren nicht die einzigen Autoren von bedeutenden naturkundlichen Werken jener Epoche. Zu fast derselben Zeit, als Hernández sein Werk verfasste, kompilierte ein aztekischer Gelehrter seine eigene Naturgeschichte der Neuen Welt, die später nach Europa gelangte und eine Reihe früher moderner medizinischer Texte beeinflusste.

Martín de la Cruz wurde vor der spanischen Eroberung in Mexiko geboren. Über seine frühen Jahre wissen wir nur wenig, wir kennen nicht einmal seinen Nahuatl-Namen. Cruz beschrieb sich selbst später einfach als »indianischen Arzt« und war wahrscheinlich ein aztekischer Arzt mittleren Ranges. Wir wissen, dass Cruz zum Christentum übertrat und am Kolleg von Santa Cruz in Tlatelolco Medizin lehrte, derselben Institution, in der Bernardino de Sahagún mit der Arbeit an seinem Códice Florentino begonnen hatte. Am 22. Mai 1552 übergab Cruz dem Vorsteher des Kollegs ein Manuskript mit dem Titel Libellus de Medicinalibus Indorum Herbis. Cruz hatte das Buch ursprünglich in Nahuatl verfasst, es aber von einem anderen indigenen Lehrer am Kolleg, Juan Bandino, ins Lateinische übersetzen lassen. Mehr als jedes andere Buch dieser Zeit stellt dieses Kleine Buch der Heilkräuter der Indianer eine Verschmelzung von europäischem und aztekischem Wissen dar. Auf den ersten Blick erinnert es stark an ein typisches klassisches Kompendium über Heilkräuter, Dioskurides’Materia medica nicht unähnlich. Cruz unterteilte sein Buch in 13 Kapitel, begann beim Kopf und arbeitete sich den Körper abwärts bis zu den Füßen. Auf jeder Seite wird ein bestimmtes Leiden beschrieben, wie »Zahnschmerzen« oder »Schwierigkeiten beim Wasserlassen«, und anschließend die Präparation von Heilkräutern zu dessen Behandlung. Die meisten Seiten zeigen überdies eine Abbildung der einzelnen Pflanzen, von Cruz selbst skizziert und koloriert.[45]

Wenn man sich das Buch etwas näher anschaut, wird jedoch deutlich, dass sich Cruz stark auf das medizinische Wissen der Azteken stützte. Alle Pflanzennamen sind in Nahuatl angegeben und spiegeln wie im Códice Florentino die aztekischen Klassifikationssysteme wider. In diesem Fall verweisen die Namen nicht nur auf die Verwendung der Pflanze, sondern auch auf den Ort, wo man sie finden konnte: So wuchsen Pflanzen mit dem Präfix a- (was »Wasser« bedeutet) in der Nähe von Seen oder Flüssen, solche mit dem Präfix xal- (»Sand«) hingegen in Wüstengebieten. Im ganzen Buch stützt sich Cruz zudem auf das traditionelle aztekische Verständnis des Körpers. Die Azteken nahmen an, der Körper beherberge drei Kräfte, die im Kopf, in der Leber beziehungsweise im Herzen lokalisiert waren. Krankheiten resultierten aus einem Ungleichgewicht dieser Kräfte, wie sie oft von überschüssiger Wärme oder Kälte in einem bestimmten Körperteil hervorgerufen werde. (Das erinnert durchaus an die antike griechische Lehre von den vier Körpersäften.)[46]

Wenn man Cruz’ Beschreibung der Heilpflanzen sorgfältig liest, erkennt man, dass sein Fokus auf der Wiederherstellung dieses Gleichgewichts liegt. Schmerzende und geschwollene Augen beispielsweise galten als Resultat starker Hitze im Kopf. Dagegen wurde eine Zubereitung aus kühlenden Heilkräutern angewandt. Blüten von matlal-xochitl (in Europa als Dreimasterblume bekannt) und Blätter des Mesquitebaums wurden zerrieben und mit Muttermilch und »klarem Wasser« gemischt. Diese Heilsalbe wurde auf das Gesicht gestrichen. Cruz riet darüber hinaus, »Geschlechtsverkehr« oder den Verzehr von Chilisauce zu meiden, bis sich der Zustand bessere, weil beides zu überschüssiger Hitze führen könne.[47]

Eine Illustration aus Martín de la Cruz,Kleines Buch der Heilkräuter der Indianer (1552). Die Wurzeln an der itzquin-patli genannten Pflanze (Dritte von links) zeigen die Nahuatl-Glyphe für Stein. [3]

 

Der letzte Hinweis auf aztekischen Einfluss ist der wichtigste, aber auch der am schwersten zu entdeckende. Frühe Historiker sahen in Cruz’ Illustrationen häufig Imitationen typischer europäischer Pflanzenzeichnungen – jede Pflanze wird einzeln dargestellt, wobei Wurzeln und Blätter sichtbar sind, um eine Identifizierung zu erleichtern. In neuerer Zeit haben sich Kenner der aztekischen Kultur die Bilder jedoch nochmals genau angeschaut und bemerkt, dass sie Nahuatl-Glyphen enthalten. Cruz versuchte tatsächlich, den europäischen Stil der Pflanzendarstellung mit einem traditionellen aztekischen Bilderkodex zu kombinieren. Er verwendete Glyphen überall, um anzuzeigen, wo eine Pflanze wächst, und unterstrich so das bereits beschriebene Namenssystem. Die spezifische aztekische Glyphe für »Stein« taucht in der Wurzelregion einer Reihe von Pflanzen in Cruz’ Zeichnungen auf, ebenso die Glyphe für »Wasser«. Letztlich kombinierte Cruz europäische und aztekische Tradition in medizinischer wie in künstlerischer Hinsicht, um eine völlig neue Form der Naturgeschichte zu schaffen. Damit war er typisch für die Art und Weise, wie im 16. Jahrhundert Naturforschung betrieben wurde: ein Produkt kulturellen Austauschs und kultureller Begegnung.[48]

 

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts konnte man Pflanzen der Neuen Welt in Gärten in ganz Europa finden. Sonnenblumen blühten in Bologna, Yuccas sogar in London. Diese Pflanzen wurden bald in neuen naturkundlichen und medizinischen Werken abgebildet, von denen viele den Wert der Erfahrung über denjenigen antiker Texte stellten. In London beschrieb der Apotheker John Gerard in seinem Bestseller Herball (1597) die medizinische Verwendung von Tabak, während der Arzt Nicolás Monardes in seinem Werk Historia medicinal de las cosas que se traen de nuestras Indias Occidentales (1565) in Sevilla seinen Patienten zum Kauf von Kakao riet. (Monardes machte auch erfolgreiche Geschäfte mit der Zucht und dem Verkauf von amerikanischen Pflanzen, die er in seinem eigenen botanischen Garten heranzog.) Selbst Andreas Vesalius, wohl der berühmteste Anatom des 16. Jahrhunderts, zeigte Interesse an der Neuen Welt und spekulierte darüber, ob sich Syphilis vielleicht mit dem Gummi des Guajak-Baums (einer Blütenpflanze, die aus Mexiko stammt) heilen lasse. Diese Idee ging auf eine weitverbreitete – aber heute in Zweifel gezogene – Überzeugung zurück, die Syphilis selbst stamme aus Amerika und ein Heilmittel könne daher am ehesten dort gefunden werden.[49]