Neue Schweizer Bildung (E-Book) - Andreas Pfister - E-Book

Neue Schweizer Bildung (E-Book) E-Book

Andreas Pfister

0,0

Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Strukturwandel, Digitalisierung, Industrie 4.0 – die Arbeit und die Gesellschaft sind im Wandel. Um hier mithalten zu können, gilt es, das Schweizer Bildungssystem auszubauen und voranzubringen. Dieses Buch präsentiert Vorschläge, wie das Potenzial der Jugendlichen besser gefördert werden kann: Berufs- und Fachmaturität als neuer Standard, mehr Jugendliche an die Gymnasien, tertiäre Bildung ausbauen Nur gemeinsam können der duale und der akademische Bildungsweg die Schweizer Bildung auf ein neues Niveau heben, mehr Fachkräfte bereitstellen und Jugendliche befähigen, den Wandel aktiv mitzugestalten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 351

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

Andreas Pfister

Neue Schweizer Bildung

Upskilling für die Moderne 4.0

 

ISBN Print: 978-3-0355-2010-1

ISBN E-Book: 978-3-0355-2011-8

 

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 hep Verlag AG, Bern

 

hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Abstract

1 Skizze

Neue Schweizer Bildung

Bildungskultur

Chancen

Finanzen

2 Upskilling

Paradigmenwechsel

Ein Volk von Akademiker*innen

Moderne 4.0

Strukturwandel und Fachkräftemangel

3 Positionen

Schweizer Spezifitäten

Wirtschaftsverbände und Arbeitgeber*innen

Politik und Publikationen

4 Bildungsmythen und Statistik

Maturitätsquote

Tertiärstufe: Abschlussquoten und Bildungsstand

Vom Studium in den Arbeitsmarkt

Szenarien

Studienerfolg

5 Was lernen?

Bildung 5.0

Digitale Skills

Digitalisierung als Bildungsinhalt

Nachwort

Referenzen

Anhang

Zahlen

Grafiken

Der Autor

Abstract

Reform des Schweizer Bildungssystems

Die Digitalisierung, Automatisierung und Robotisierung erreichen ein neues Level. Die digitale Revolution betrifft nicht nur die Industrie, sondern alle Branchen. Mehr noch: Sie verändert alle Lebensbereiche unserer Moderne 4.0. Der Strukturwandel betrifft die Schweiz besonders stark. Schweizer Qualität benötigt gut gebildete Fachkräfte, doch die Nachfrage nach Hochqualifizierten wird wenig wahrgenommen. Eine Bildungsreform ist eine pragmatische Antwort auf den Fachkräftemangel. Lebenslanges Lernen und Weiterbildung können eine verbesserte Grundbildung nicht ersetzen. Es braucht einen systematischen Ausbau von Bildung auf allen Stufen.

Moderne 4.0

Der Begriff «Industrie 4.0» bezeichnet den gegenwärtigen Stand der Digitalisierung in der industriellen Produktion. In Anlehnung daran kann man die Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche als «Moderne 4.0» bezeichnen. Teil dieser «Moderne 4.0» ist der fortlaufende Strukturwandel. Er ist Chance und Bedrohung zugleich. Die OECD rechnet damit, dass bis 2033 14 Prozent der Jobs durch die Digitalisierung verschwinden. Weitere 30 Prozent verändern sich tiefgreifend. Es entstehen neue Jobs in anspruchsvollen Bereichen, doch sie erfordern höhere Qualifikationen. Gegenwärtig findet eine doppelte Tertiarisierung statt: Zum einen erleben wir einen gesellschaftlichen Strukturwandel vom zweiten in den dritten Sektor. Gleichzeitig benötigt man für die neuen Jobs vermehrt tertiäre Bildung. Für diese neue Realitäten muss die Schweiz ihr Bildungssystem überdenken.

Veränderte Arbeit

Im Zuge der Digitalisierung wechselt ein Grossteil der Arbeit auf ein neues Level. Der Anteil physischer und manueller Arbeit nimmt ab, kognitive Tätigkeiten nehmen zu. Arbeiten heisst vermehrt organisieren, kommunizieren, programmieren, steuern, evaluieren. Upskilling ist das Gebot der Stunde. Es gilt, sich höher zu qualifizieren. Verschärft wird die Situation durch den demografischen Wandel. Die Babyboomer werden pensioniert und die Nettozuwanderung geht derzeit zurück. Nach einem Höchststand im Jahr 2013 beträgt sie 2019 noch 30700. Dieser Rückgang der Zuwanderung verschärft den Fachkräftemangel – besonders bei den Hochqualifizierten. 60 Prozent der Zugewanderten haben heute einen Hochschulabschluss. In der Schweiz sind erst 43 Prozent tertiär gebildet. Es fehlen vor allem Hochqualifizierte, aber nicht nur. Neben den Ärzt*innen braucht es Pflegende, neben Ingenieur*innen sind Elektroinstallateur*innen gefragt.

Dualer Erfolgsweg

Die Bildungsexpansion der Sechziger- und Siebzigerjahre setzte auf den akademischen Weg. Mitte der Neunzigerjahre fand eine Kehrtwende statt: Die Schweiz baute den dualen Weg mit Berufsmaturität und Fachhochschulen aus, der akademische Weg stagniert seither. Den Mangel an Hochqualifizierten deckt man mit Zuwanderung. Die Gymnasialquote tief zu halten, um die Berufslehre zu schützen, entspricht einer verbreiteten Grundhaltung in der Schweiz. Doch das Denkmuster der begrenzten Talente ist das falsche Bild. Angemessen ist das Bild von Potenzial. Kompetenzen entstehen, indem man sie bildet. Und zwar im Wortsinn: indem man sie fördert und entwickelt. Die Berufslehre wird dadurch nicht entwertet. Als Grundlage für tertiäre Bildung und lebenslanges Lernen behält sie ihren Wert.

Gemeinsam stark

Die Gesamtmaturitätsquote beträgt derzeit gut 40 Prozent. Das leichte Wachstum wird von der Berufs- und Fachmaturitätsquote getragen, sie erreichen heute 16 beziehungsweise 3 Prozent. Derweil stagniert die gymnasiale Maturitätsquote seit einem Vierteljahrhundert bei rund 20 Prozent. Dabei ist das Gymnasium keine Bedrohung für die Berufsmaturität. Kantone mit hoher Gymnasialquote haben in der Regel auch hohe Berufsmaturitätsquoten. Der akademische und der duale Weg sind gemeinsam stark.

Ein ähnliches Bild zeigt sich auf der Tertiärstufe: Die Hochschulquote steigt in den letzten zwanzig Jahren auf gut 30 Prozent. Auch hier wird das Wachstum von den Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen getragen, ihre Quoten steigen auf 17 Prozent. Die universitäre Quote hingegen stagniert seit Jahren bei 15 Prozent. Zur tertiären Bildung gehört auch die höhere Berufsbildung mit einer Quote von 17 Prozent. Das führt zu einer Abschlussquote auf Tertiärstufe von knapp 50 Prozent. Damit liegt die Schweiz nur im Durchschnitt der OECD-Länder. Für die Schweizer Wirtschaftsstruktur ist eine durchschnittliche Quote nicht ausreichend. Der Anteil tertiär Gebildeter steigt zu langsam.

Bildungsmythen im Faktencheck

Alte Mythen prägen die Bildungsdiskussion. Arbeitslose Akademiker*innen sind ein solcher Mythos. Die Statistik zeigt: Bei den UH-Master- und FH-Bachelor-Absolvent*innen beträgt die Erwerbslosigkeit rund 2 Prozent. Der Schweizer Schnitt liegt bei 4 Prozent. Auch bei Geisteswissenschaftler*innen liegt die Erwerbslosenquote fünf Jahre nach Studienabschluss bei 1,9 Prozent. Im Durchschnitt der UH-Master liegt sie bei 2,3 Prozent. Absolvent*innen im Bereich der exakten und Naturwissenschaften weisen eine Erwerbslosigkeit von 4,6 Prozent auf, was am hohen Spezialisierungsgrad liegt. Geisteswissenschaftler*innen sind auch nicht überqualifiziert. Die Ausbildungsniveauadäquanz ist in allen Fachbereichen hoch. Bei den Geistes- und Sozialwissenschaften beträgt sie 82 Prozent, bei den Wirtschaftswissenschaften 85 Prozent.

Obwohl oft bemüht, ist die Dropout-Quote an der Uni kein Argument gegen eine neue Bildungsoffensive. Der Studienerfolg hängt vor allem von sozio-ökonomischen Faktoren ab. Die kantonalen Maturitätsquoten spielen da eine untergeordnete Rolle. Im Vergleich zu den kantonalen Unterschieden zwischen den Maturitätsquoten sind die Unterschiede zwischen den Dropout-Quoten gering. Die historische Entwicklung zeigt: Der Studienerfolg hängt nicht von der Anzahl Studierenden ab. Ausserdem gilt es auch beim Thema Dropout, das Ganze im Auge zu behalten und die Verhältnismässigkeit zu wahren. Wichtiger als die Abbruchquote ist die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Die Diskussion um die Dropout-Quote ist vor allem Empörungsbewirtschaftung. Die Studienerfolgsquote in der Schweiz ist hoch.

Neue Schweizer Bildung

Es braucht eine Maturapflicht für alle. Das heisst: Alle Jugendlichen in der Schweiz sollen entweder die Berufsmaturität, die Fachmaturität oder die gymnasiale Maturität erlangen. Der Anteil Jugendlicher, die eine gymnasiale Maturität erwerben, soll bis 2030 auf 30 Prozent steigen. Die Berufsmaturität soll flächendeckend eingeführt werden; ihr Anteil soll 50 Prozent betragen, jener der Fachmaturität 10 Prozent, der Anteil Abschlüsse für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, etwa Berufsatteste, ebenfalls 10 Prozent. Für die Berufsmaturität bedeutet das: Sie wird zum neuen Standard und so zum festen Bestandteil der neuen Lehre.

Es braucht eine neue Governance, die sowohl den dualen als auch den akademischen Weg umfasst. Den Hauptharst der Bildungsreform bilden die Absolvent*innen der Berufsmaturität. Mit der Maturitätspflicht wird die Sekundarstufe II Teil der obligatorischen Bildung. Innerhalb der Berufsmaturität soll es eine Binnendifferenzierung in ein Niveau A und ein Niveau B geben. Niveau A fokussiert auf die Fachhochschulen, Niveau B auf die erweiterte Allgemeinbildung und das lebenslange Lernen. Ziel der Berufsmaturität Niveau B ist die Stärkung der schulischen Kompetenzen innerhalb der Berufslehre. Tertiäre Bildung kann, muss aber nicht daran anschliessen. BM-Lernende mit Niveau B erlangen ebenfalls die Berechtigung zum Fachhochschulstudium. Ein Vorbereitungskurs verbessert den Studienerfolg.

Lehrgeld

Das Zusammenspiel von berufspraktischer und schulischer Bildung wird weiter flexibilisiert. Idealerweise findet die schulische Bildung in Blöcken während der gesamten Dauer der Lehre statt. Um die Doppelbelastung durch die Berufsmaturität zu mindern, braucht es eine Reduktion der Arbeit im Betrieb und/oder eine Verlängerung der Lehre wie in der BM2. Die Ausbildungsdauer wird verbundspartnerschaftlich mit den Organisationen der Arbeit neu geregelt.

Die Betriebe verstehen das Ausbilden als Pflege ihrer Zunft und als Dienst an der Gesellschaft. Gleichzeitig lohnt sich für sie das Ausbilden von EFZ-Lernenden. Gegenwärtig bremsen viele Betriebe die Entwicklung der Berufsmaturität, weil sie an BM-Lernenden kurzfristig nicht verdienen. Betriebe, die BM-Lernende ausbilden, sollen deshalb ein staatliches Lehrgeld erhalten. Dieses Lehrgeld wird über die Steuern erhoben.

Bildung und Ausbildung

Die neue Bildungsreform setzt auf die Wertschätzung des dualen Wegs. Sie sieht ein moderates Wachstum des akademischen und ein massives Wachstum des dualen Wegs vor. Der Ausbau des dualen Wegs etabliert eine neue Bildungskultur in humanistischer Tradition. Die Berufsmaturität versteht sich als erweiterte Allgemeinbildung. Ihre Bildungsziele werden von Bildungsexpert*innen gesetzt und verbundspartnerschaftlich festgelegt, nicht allein von den Organisationen der Arbeit. Mit der Berufsmaturität kehrt die Bildung in die Ausbildung zurück. Auch Berufslernende haben ein Recht auf Bildung, nicht nur Gymnasiast*innen.

Mehr Chancengerechtigkeit

Nachobligatorische Bildung steht grundsätzlich allen Menschen aus allen sozialen Schichten offen. Darauf ist man in der Schweiz zu Recht stolz. Doch es zeigt sich je länger desto mehr: Von höherer Bildung profitieren vor allem bildungsnahe Schichten. Warum ist das so? Und was kann man tun, um das zu ändern? Kampagnen und Appelle sind wichtig, doch sie reichen nicht. Soll man sie in Ruhe lassen, die Bildungsmüden und Bildungsfernen? Sollen sie erst später lernen, lebenslang und eigenverantwortlich? Das Lernen auf die lange Bank schieben, statt die Schulbank jetzt zu drücken – das geht zwar heute, doch es rächt sich morgen. Jugendliche werden mit schnellem Geld gelockt, mit schneller Unabhängigkeit. Ohne ausgebaute frühe Bildung bleiben sie im Rückstand. So findet kaum sozialer Aufstieg statt. So bleiben die Bildungsfernen unten, während die oben sagen: Es gibt kein Unten.

Soll man bildungsferne Jugendliche zum Glück zwingen? Ein wenig, ja. Es braucht den Schritt von der Chance zur Pflicht. Die Maturapflicht ist Ausdruck von Respekt vor bildungsfernen Jugendlichen. Respekt insofern, als man ernst nimmt, wie sie geprägt sind und funktionieren. Als Menschen nämlich. Jugendliche aus bildungsfernen Schichten entscheiden sich nicht aus eigenen Stücken für mehr Bildung. Der Punkt ist: Sie können nicht wollen. Ihre Denkweise, ihre kulturelle und soziale Prägung lässt das nicht zu. Das Gerede von Freiwilligkeit und Eigenverantwortung ist eine romantische Vorstellung – bestenfalls. Nicht zur Schule gehen zu wollen, ist das gute Recht der Jugend. Sie trotzdem zur Schule zu schicken, ist unsere Pflicht. Wir sind verantwortlich – nicht sie. Fürsorglich haben wir die Jugendlichen in die Pflicht zu nehmen. Und es braucht noch etwas: den Glauben an sie.

 

 

(In Auszügen erschienen als Gastkommentar in der NZZ: «Upskilling» – Schweizer Bildung für die Zeit nach der Pandemie. 22.3.2021)

1Skizze

Neue Schweizer Bildung

Die Schweizer Bildung wird auf ein neues Niveau gehoben.

Wir schreiben das Jahr 2030. Die Berufsmaturität wurde flächendeckend eingeführt. Ihre Quote beträgt 50 Prozent, die der gymnasialen Maturität 30 Prozent, jene der Fachmaturität 10 Prozent. Der Anteil Abschlüsse für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, z.B. Berufsatteste, beträgt ebenfalls 10 Prozent.

Im Jahr 2050 liegen die gymnasiale Maturität einerseits und die Berufs- und Fachmaturität andererseits gleichauf. Ihre Quoten betragen je knapp 50 Prozent. Die Tertiärquote beträgt 75 Prozent.

Die Schweizer Bildung hat eine Governance, die sowohl den dualen als auch den akademischen Weg umfasst.

 

Die Berufsmaturität wird fester Bestandteil der neuen Lehre.

Das Zentrum der Bildungsreform stellt die Berufsmaturität dar.

Es wird eine Maturitätspflicht eingeführt. Die Sekundarstufe II gehört neu zur obligatorischen Bildung.

 

Es gibt eine Binnendifferenzierung in die Niveaustufen A und B.

Innerhalb der Berufsmaturität gibt es eine Binnendifferenzierung in ein Niveau A und ein Niveau B. Niveau A fokussiert auf die Vorbereitung für die Fachhochschule, Niveau B auf die erweiterte Allgemeinbildung und das lebenslange Lernen.

Ziel der Berufsmaturität Niveau B ist die Stärkung der schulischen Kompetenzen innerhalb der Berufslehre. Tertiäre Bildung kann, muss aber nicht daran anschliessen.

BM-Lernende mit Niveau B erlangen ebenfalls die Berechtigung zum Fachhochschulstudium. Ein Vorbereitungskurs verbessert den Studienerfolg.

 

Duales Lernen wird weiterentwickelt.

Denkbar ist ein BM-Schuljahr vor Lehrbeginn.

Dieses Modell einer BM3 hat weitreichendes Potenzial zur Neugestaltung der Sekundarstufen I und II.

 

Das Modell BMX bringt mehr Flexibilität.

Das Zusammenspiel von berufspraktischer und schulischer Bildung wird weiter flexibilisiert. Idealerweise findet die schulische Bildung in Blöcken während der gesamten Dauer der Lehre statt.

Um die Doppelbelastung durch die Berufsmaturität zu mindern, braucht es eine Reduktion der Arbeit im Betrieb und/oder eine Verlängerung der Lehre wie in der BM2. Die Ausbildungsdauer wird verbundspartnerschaftlich mit den Organisationen der Arbeit neu geregelt.

Die Reform der Sekundarstufe II ist offen für eine stärkere Vereinheitlichung der Sekundarstufe I. Sie setzt diese aber nicht voraus, sondern kann auf den bisherigen Strukturen aufbauen.

 

Ausbilden ist ein Dienst an der Gesellschaft.

Viele Betriebe verstehen das Ausbilden als Pflege ihrer Zunft und als Dienst an der Gesellschaft.

Gleichzeitig lohnt sich für sie das Ausbilden von EFZ-Lernenden.

 

An der Berufsmaturität verdienen die Betriebe nicht.

Da die BM1-Lernenden mehr fehlen im Betrieb, ist ihre Rentabilität geringer.

Die Betriebe stehen beim Ausbilden im Zielkonflikt von kurzfristiger Rendite und langfristigen Interessen.

 

Betriebe erhalten ein Lehrgeld.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bremsen viele Betriebe die Entwicklung der Berufsmaturität, denn an BM-Lernenden verdienen sie kurzfristig nicht.

Bis 2030 wird ein staatliches Lehrgeld für Betriebe, die BM-Lernende ausbilden, eingeführt. Dieses Lehrgeld wird über die Steuern erhoben.

 

Die gymnasiale Maturitätsquote soll bis 2030 auf 30 Prozent steigen.

Nach einem Vierteljahrhundert der Stagnation soll der akademische Weg zum Wachstum zurückkehren.

Die Gymnasialquote soll jährlich um einen Prozentpunkt steigen, bis sie 2050 die Hälfte aller Abschlüsse ausmacht.

Die Öffnung des akademischen Wegs eröffnet neue Chancen für sozial benachteiligte Jugendliche.

Die Schweizer Bildung wird auf ein neues Niveau gehoben.

Der erste Schritt auf dem Weg zu mehr tertiärer Bildung ist eine Erhöhung aller drei Maturitätsquoten. Das Buch «Matura für alle»[1] hat diesen Vorschlag 2018 erstmals formuliert. Die gymnasiale Maturitätsquote soll erhöht und die Berufsmaturität flächendeckend eingeführt werden. Auch die Fachmaturität soll ausgebaut werden. Im Jahr 2030 soll die gymnasiale Maturitätsquote 30 Prozent betragen, Tendenz steigend. Die Berufsmaturität soll bis zum Jahr 2030 fester Bestandteil der neuen Lehre werden und ihre Quote soll 50 Prozent betragen. Die Fachmaturitätsquote beträgt dann 10 Prozent. Auch knapp 10 Prozent beträgt der Anteil Abschlüsse für Personen, die besondere Förderung brauchen, etwa Berufsatteste. Bis ins Jahr 2050 soll das Verhältnis der gymnasialen Maturitätsquote einerseits und der Berufs- und Fachmaturitätsquote andererseits etwa im Gleichgewicht sein. Es soll je knapp 50 Prozent betragen.

Die Skizze eines neuen Schweizer Bildungssystems, die hier gezeichnet wird, berücksichtigt die Schweizer Besonderheiten und entwirft eine massgeschneiderte Lösung für unser Land. Sie ist, wie wir das hierzulande schätzen, pragmatisch. Der erste Schritt auf dem Weg zu einer neuen Bildungsinitiative kann ganz unauffällig aussehen, typisch schweizerisch. Es braucht keine Pauken und Trompeten. Es braucht keine Kehrtwende, kein plötzliches Herumwerfen eines Steuers. Es geht darum, auf bestehende Strukturen aufzubauen. Der Ausbau des dualen Wegs seit den Neunzigerjahren ist bereits der eigentliche Anfang. Es gilt, künftig wieder beide Bildungswege, den akademischen und den dualen, gemeinsam zu fördern.

Was derzeit fehlt, ist eine übergeordnete Perspektive auf die Bildung auf struktureller Ebene. Die meisten Protagonist*innen, welche die Schweizer Bildungspolitik gestalten, gehören ins eine oder andere Lager, entweder ins duale oder ins akademische. Sie ermahnen die Exponenten des jeweils anderen Lagers, sie möchten doch bitte das eine nicht gegen das andere ausspielen. Wirklich ändern wird sich erst etwas, wenn die beiden Lager, die sich derzeit fremd sind, in eine übergeordnete Struktur zusammengeführt werden. Erst ein solches übergeordnetes Gremium kann die verschiedenen Partikularinteressen vertreten, gleichzeitig relativieren und ausgleichen. Es hält die Konkurrenzsituation zwischen den Bildungswegen aus und hebt sie in sich auf. Es gewährt keinem Weg einen Vorrang vor dem anderen und überlässt keiner Seite die Definitionsmacht. Erst diese neue Governance definiert, was Schweizer Bildung wirklich ist.

Eine neue Bildungsgovernance hatte schon 2009 ein Weissbuch der Akademien der Wissenschaften gefordert.[2] Die Bildung sollte gemäss diesem Weissbuch auf Bundesebene zusammengeführt werden, eventuell sogar in einem eigenen Departement. Dem Vorschlag konnte man damals nicht viel abgewinnen. Die Kantone wollten und wollen ihre Hoheit über die Bildung nicht an den Bund abgeben. Ein neues Staatssekretariat für Bildung ist ihnen ein Graus. Eine solche Zentralisierung passt auch nicht zur Geschichte der schulischen Bildung in der Schweiz: Volksschulen, Mittelschulen und Universitäten sind seit der Gründung des Bundesstaats kantonal organisiert. Angesichts dieser Verhältnisse ist es nicht zielführend, auf einem neuen Departement oder Staatssekretariat für Bildung zu beharren. Es ist auch nicht nötig. Gegenwärtig entsteht im Zuge der Revision des Gymnasiums eine Neustrukturierung der Governance.[3] Es soll ein neues Gremium innerhalb der Schweizerischen Konferenz der Erziehungsdirektor*innen EDK entstehen, also innerhalb der kantonalen Hoheit. Dieses neue Gremium führt die schulische Bildung nicht über-, sondern interkantonal zusammen – und es beteiligt den Bund an der neuen Struktur. Die Schweizer Bildung wird damit stärker zusammengeführt – ohne zentralisiert zu werden. Das ist ein gutschweizerischer Kompromiss: Auf der einen Seite gibt es das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI, das die Berufsbildung organisiert. Auf der anderen Seite, auf der Seite der Kantone, entsteht derzeit ein gleichwertiges Gegenüber. Das zeigt: Die Bildungsoffensive, die hier skizziert wird, ist ein konkreter Vorschlag, der bereits am Entstehen ist. Die Zeichen der Zeit sind erkannt, auch auf Ebene der Bildungsgovernance.

Warum braucht es eine neue Governance? Nun, seitens der Berufslehre befürchtet man, bei einer Erhöhung der gymnasialen Maturitätsquote die besten Berufslernenden ans Gymnasium zu verlieren. Diese Bedenken sind besonders ausgeprägt in anspruchsvollen Berufen, die von der Digitalisierung stark betroffen sind und viele Berufsmaturand*innen ausbilden. Aus diesem Grund hat man ein weiteres Wachstum des Gymnasiums in den letzten beiden Jahrzehnten verhindert. Die Bedenken der Akteur*innen der Berufslehre sind verständlich. Es gibt keine einfachen Lösungen. Genau deshalb darf die Scheinlösung nicht darin bestehen, einfach die Gymnasialquote einzufrieren. Man kann in einem sich dynamisch entwickelnden System nicht jahrzehntelang mit einem Status quo weitermachen, der mittlerweile ein Vierteljahrhundert alt ist. Es braucht eine übergeordnete Perspektive, ein sorgfältiges Abwägen zwischen den verschiedenen Partikularinteressen. Das Interesse der Lehre an möglichst guten Berufslernenden ist legitim – doch es gibt auch ein gesamtgesellschaftliches Interesse daran, die steigende Nachfrage nach universitär gebildeten Fachkräften besser zu decken. Lange wurde in der Schweiz ein Interesse absolut gesetzt: das Ausbilden von hervorragenden Berufsleuten. Das wurde mit Bravour erreicht. Mit Schweizer Berufsleuten kann es kaum jemand aufnehmen, das zeigen unter anderem die Berufsweltmeisterschaften eindrücklich. Diese Verdienste sollen nicht in Abrede gestellt werden. Das Blickfeld muss jedoch ausgeweitet werden, denn es gibt auch eine Nachfrage nach Akademiker*innen. Die müssen wir ebenfalls ausbilden. Es geht nicht, dass man dort die Quote plafoniert. Es geht nicht, dass man sich nur um seinen Garten kümmert, diesen ausgiebig düngt, aber die Augen verschliesst vor dem Mangel im benachbarten Feld.

In einer Demokratie haben Bildungswege auch mit Mehrheitsverhältnissen zu tun. Es gibt mehr Berufsleute als Akademiker*innen, das bleibt für die Politik nicht ohne Folgen. Hier braucht es ein Korrektiv, sonst droht die akademische Bildung einer Diktatur der Mehrheit zum Opfer zu fallen. Es mag absurd klingen, doch heutzutage braucht die akademische Bildung eine Art Minderheitenschutz. Es darf nicht einfach die breite Masse bestimmen, dass die akademische Bildung eingefroren wird – ungeachtet der drängenden Nachfrage, des technologischen Wandels, der gesellschaftlichen Entwicklung. Eine Erhöhung der Gymnasial- und Akademiker*innenquote gilt zu Unrecht als Bedrohung für die Berufslehre. Wenn schon, ist der akademische Weg bedroht. Lange schon ist dort das dringend nötige Wachstum faktisch verunmöglicht worden. Das ist ein Angriff auf die akademische Bildung, der im öffentlichen Diskurs kaum Platz findet. Noch immer inszeniert man sich seitens der Berufslehre als Opfer, dem die besten Lernenden durch das Gymnasium genommen werden. In diese Opferrolle gehört heute wenn schon der akademische Weg, dem man ein massvolles Wachstum verunmöglicht – vorgeblich zum Schutz der Berufslehre. Man kann sich fragen, wer hier vor wem geschützt werden muss.

Der jahrzehntelange Wachstumsstopp aufseiten des Gymnasiums führt in der Berufslehre zu einer komfortablen Situation. Dank dem Rückstau, der sich dadurch bildet, können sie aus Jugendlichen auswählen, die auch das Gymnasium besuchen könnten. Die Berufslehre hat aus diesem Potenzial viel gemacht, das muss man anerkennen. Der duale Weg hat sich so stark entwickelt, weil viele fähige Leute vorhanden sind. Wenn das Gymnasium wieder moderat wachsen soll, wird das die Berufslehre nicht so stark treffen, wie manchmal behauptet wird. Der Berufslehre stehen immer noch begabte Jugendliche mit viel Potenzial zur Verfügung. Bei derzeit 80 Prozent eines Jahrgangs, die eine Berufslehre machen, ist die Klage über fehlende Talente vor allem Rhetorik. Es leuchtet nicht ein, dass unter einer Grossmehrheit der Jugendlichen nicht genügend Begabte sein sollten für anspruchsvolle Lehren. Die Frage ist, woran die Berufslehre ihre Klagen über fehlende Talente festmacht. Die Frage ist auch, wer der Lehre mal widerspricht. Alle zucken zusammen, wenn die Berufsbildner*innen über Mangel an Lernenden klagen, und gucken vorwurfsvoll rüber zum Gymnasium. Klagen sind immer relativ. Klagen kostet nichts, das können alle Institutionen ganz gut. Diesen haltlosen Klagen gilt es entgegenzutreten. Die Berufslehre muss die Jugendlichen dort abholen, wo sie stehen. Sie zu bilden, lautet der gesellschaftliche Auftrag.

Was die Lehre in Wirklichkeit zu spüren bekommt, sind nicht fehlende Talente und schon gar nicht die Konkurrenz eines stagnierenden Gymnasiums. Es ist der Upskilling-Prozess. Die Lehren werden anspruchsvoller. Da stösst man an Grenzen, das ist nicht verwunderlich. Die Lösung liegt nicht darin, das Gymnasium zu deckeln. Die Lösung liegt darin, die Bildung den neuen Ansprüchen anzupassen, sprich, auszubauen und nötigenfalls zu verlängern. Es geht nicht darum, Bocksprünge zu vollführen. Es geht um massvolle Bewegungen in einem angemessenen Tempo, in dem alle Beteiligten mitgehen können.

Die Berufsmaturität wird fester Bestandteil der neuen Lehre.

Im Zentrum der angestrebten Bildungsreform steht der duale Weg. Es geht darum, das bestehende Erfolgsmodell, die Berufsmaturität und die Fachhochschule, zu öffnen. Bei der Berufsmaturität soll der grösste Schritt erfolgen. Sie soll flächendeckend für alle Berufslernenden eingeführt werden. Damit findet ein Paradigmenwechsel statt vom nachobligatorischen Modell hin zur Pflicht. Die neue Bildungspflicht bis zum Alter von 18 Jahren ist eine Verlängerung der bisherigen Schulpflicht. Schon heute wird praktisch flächendeckend eine Berufslehre oder eine allgemeinbildende Schule in Angriff genommen. Die Bildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr ist also nichts Neues, sondern sie hält gesetzlich fest, was faktisch weitgehend der Fall ist. Eine Bildungspflicht bis 18 kennt zum Beispiel der Kanton Genf seit Längerem.[4] Im Fokus stehen in Genf jene Jugendlichen, die keine Berufslehre antreten. Es geht vor allem um Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder beziehungsweise Jugendliche aus prekären Verhältnissen, die durch das soziale Netz zu fallen drohen. Die Genfer Bildungspflicht verpflichtet vor allem den Staat, den gefährdeten Jugendlichen Bildungsangebote zur Verfügung zu stellen, um ihnen einen Start ins Erwerbsleben zu ermöglichen.

Dieser Vorschlag geht aber weiter und fordert die Maturapflicht. Das Erlangen einer der drei Maturitäten soll obligatorisch werden. Übertragen auf die Berufsmaturität 1 bedeutet das: Es muss nicht nur ein Tag Schule pro Woche besucht werden, sondern anderthalb bis zwei Tage. Die Betriebe werden verpflichtet, ihren Lernenden die nötige Schulzeit zu gewähren. Im Fall der Berufsmaturität 2 findet die zusätzliche Schulbildung im Anschluss an die Lehre statt.

Ob man eine Berufsmaturität machen will oder nicht, soll nicht länger von den einzelnen Jugendlichen beziehungsweise deren Eltern abhängen. Die BM soll zum Normalfall werden. Mit dem Schritt von der Chance zur Pflicht werden zwei Ziele erreicht. Zum einen ist die ausgebaute Lehre Teil des dringend notwendigen Upskillings. Zum anderen ist dies ein Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit. Die bisherige nachobligatorische Bildung basiert auf Freiwilligkeit. Es wird ein enormer Aufwand betrieben mit Kampagnen, Informationsveranstaltungen, mehrsprachigen Broschüren. Das ist bewundernswert. Doch diesem Ansatz sind Grenzen gesetzt, die Grenzen der bildungsfernen Kultur. Dazu gehört, nicht zur Schule gehen zu wollen. Allzu oft prallen Angebote an dieser Kultur ab. Bildung wird nicht als Chance wahrgenommen, eher als notwendiges Übel, das man so schnell wie möglich hinter sich lassen möchte. Chancengerechtigkeit, die den Namen verdient, nimmt diese kulturellen Barrieren ernst. Sie nimmt die bildungsfernen Jugendlichen samt ihrer kulturellen Prägung ernst. Sie erwartet keine Wunder von ihnen. Sie erwartet nicht, was man mit dem gänzlich unangebrachten Begriff der Eigenverantwortung bezeichnet: dass sie von sich aus jenen Sprung tun. Dass sie quasi Verrat begehen an ihrem Umfeld, ihrer Kultur. Dass sie ihre Bildungsverachtung ablegen. Dass sie letztlich ihre eigene Identität hinterfragen und sich selbst neu erfinden – gegen den Widerstand ihres Umfelds, allein und ohne Hilfe, noch als halbe Kinder. So etwas zu erwarten und dies Eigenverantwortung zu nennen – man fragt sich, wovon das zeugt. Jedenfalls nicht von Menschenkenntnis.

Der Schritt von der Chance zur Pflicht macht Ernst mit der Chancengerechtigkeit. Das war bei der Einführung der allgemeinen Schulpflicht so und es ist bei der Ausweitung dieser Schulpflicht nicht anders. Die Frage, die sich hier als Erstes aufdrängt, ist die nach dem Niveau. Die Annahme, das Niveau sinke zwangsläufig bei einer steigenden Maturitäts- oder Akademiker*innenquote, beruht auf einem klassischen Denkfehler. Er ist vielfach aufgezeigt und widerlegt worden. Trotzdem hält er sich hartnäckig. Man verwendet, wenn man von einem sinkenden Niveau ausgeht, ein falsches Bild. Das Denkmuster vom leergefischten Teich und was der diesbezüglichen Metaphern mehr sind, trifft hier nicht zu. Passendere Bilder wären jene von einem Garten, dessen Blumen besser wachsen, wenn man sie hegt und pflegt. Die historische Erfahrung lehrt zur Genüge, dass sowohl qualitatives als auch quantitatives Wachstum möglich ist – in der Bildung, im Wohlstand, im gesamten Fortschrittsgedanken und der gesellschaftlichen Entwicklung. Jede Bildungsexpansion war begleitet von Ängsten um das Niveau. Solche Ängste begleiteten die flächendeckende Einführung der Berufslehre in der Nachkriegszeit oder die Expansion der Gymnasialquoten ab den Sechzigerjahren. Die Ängste erwiesen sich jeweils als unbegründet. Die neuen Quoten etablierten sich schnell als neuer Normalfall – der aber, Ironie der Geschichte, ja nicht weiter erhöht werden durfte, weil sonst das Niveau sinken würde … und so weiter.

Mit der Steigerung des Bildungsniveaus wie auch der Quote dehnte sich die Dauer der Bildung aus. Der Primarschule folgte eine Sekundarschule. Dieser folgten breiter zugängliche Mittel- und Hochschulen. Der jetzt fällige Schritt schreibt sich ein in die Geschichte dieser langen Bildungsexpansion. Es ist an der Zeit, die Berufsmatur, die man aus heutiger Perspektive als Pilotversuch verstehen kann, flächendeckend einzuführen.

Es gibt eine Binnendifferenzierung in ein Niveau A und ein Niveau B.

Es ist sinnvoll, innerhalb der Berufsmaturität verschiedene Niveaustufen einzuführen, also eine Berufsmaturität A und eine Berufsmaturität B. Dies in Analogie zu den unterschiedlichen Leistungsklassen innerhalb der Sekundarschule. Eine solche Differenzierung wird den unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden besser gerecht. Gegenwärtig wird die Berufsmatura von einzelnen Berufsgruppen intensiv, von anderen aber kaum absolviert. Um auch sie zu erfassen, ist eine Binnendifferenzierung der Berufsmaturität hilfreich.

Im Kern geht es darum, den Anteil schulischer Bildung in der Berufslehre zu erhöhen. Wenn man das erreichen will, ohne den ebenso wichtigen praktischen Anteil abzubauen, braucht es eine Verlängerung der Lehre. Will man eine solche Verlängerung nicht, müssen bei der praktischen Ausbildung Abstriche gemacht werden. Nicht alle Berufslernenden schaffen die BM1 in ihrer jetzigen Form, sie ist zu anspruchsvoll. Diese Entscheidung kann nur in Absprache mit Akteur*innen der Berufslehre getroffen werden. Es gilt, bei den Erwartungen realistisch zu bleiben. Die Lernenden erreichen nicht auf mirakulöse Weise bessere schulische Leistungen. Sie werden schlicht anders oder länger gebildet.

Das Wording ist nicht entscheidend, doch der Begriff der Maturität ist treffend. Er bringt zum Ausdruck, dass beide Wege, der duale und der akademische, zu Reife führen, zu Mündigkeit und Vollwertigkeit. Matur ist nicht nur ein Teil der Bevölkerung, matur werden alle. Der Begriff zeigt, um was es in der Bildung geht: um den Menschen, seine Entfaltung und sein Recht, vollwertiger Teil der Gesellschaft zu werden. «Maturität» ist deshalb ein Begriff, der zu Recht nicht dem Gymnasium vorbehalten ist. Er sollte auch nicht einem kleinen Teil der Berufslernenden vorbehalten bleiben. Auf der anderen Seite ist es verständlich, dass gewisse Lernende vor dem Begriff «Matura» zurückschrecken. Sie sehen darin nicht das Versprechen, nicht das Schillernde und Noble, sondern Matura ist für sie bloss Ausdruck der verhassten Schule. Wenn sie noch mehr davon über sich ergehen lassen müssen, verzichten sie lieber darauf. Wenn das Wort abschreckend wirkt, so wie der Begriff «Akademiker*innen» für Gewisse ein Reizwort ist, dann ist es kontraproduktiv, den Begriff zu verwenden. Es braucht dieses Siegel nicht. Aber mehr Schule in der Lehre – das braucht es.

Gegenwärtig verfolgt die Berufsmaturität ein doppeltes Ziel:[5] Zum einen die Vorbereitung auf das Studium an einer Fachhochschule, zum anderen eine erweiterte Allgemeinbildung. Letzteres ist Bildung in einem umfassenden Sinn. Es geht darum, sich in einer von Upskilling geprägten Welt selbstbestimmt zu bewegen. Es geht um Entwicklung – im Beruf, in der Gesellschaft, privat. Dazu gehört der Aufbau von Wissen und Kompetenzen, von Arbeits- und Lernstrukturen, von reflektierten Haltungen. Sowohl die gymnasiale als auch die Berufs- und Fachmaturität stehen in humanistischer Bildungstradition. Ihr gemeinsames Bildungsziel ist die persönlichen Reife. Mit der flächendeckenden Einführung der Berufs- und Fachmaturität verschiebt sich die Gewichtung der bisherigen Bildungsziele. Wichtiger wird neben der Studienreife die erweiterte Allgemeinbildung. Die neue Berufsmaturität befähigt weiterhin zum Wechsel auf die Tertiärstufe. Sie hat aber nicht den Anspruch, dass alle Lernenden diesen Wechsel vollziehen. Es müssen nicht alle Berufsmaturand*innen studieren gehen. Wenn ein grösserer Teil als bisher auf die tertiäre Stufe wechselt, ist ein wichtiges Ziel bereits erreicht. Das ist keine Verschwendung von Bildungsressourcen. Berufs- und Fachmaturand*innen, die nicht studieren, hat man nicht «umsonst» gebildet. Die erweiterte Bildung der Berufsmaturität erfüllt klare Aufgaben. Sie passt die duale Bildung an die Anforderungen der Gegenwart an. Sie legt eine stabile, zukunftstaugliche Grundlage für weitere Bildung. Das schafft die Voraussetzungen, dass mehr junge Erwachsene ein Fachhochschulstudium aufnehmen oder den Weg über die höhere Berufsbildung in Angriff nehmen können. Die Berufsmaturität verbessert die Anschlussfähigkeit für das lebenslange Lernen, auch ausserhalb der Hochschule. Sie verkleinert die Lücke zwischen den steigenden Anforderungen und der bisherigen Bildung. Damit reduziert sie die Gefahr von Überforderung. Sie eröffnet berufliche Chancen und mindert das Risiko von Arbeitslosigkeit. Sie platziert die Allgemeinbildung ins Jugendalter, wo sie hingehört. Man soll sie nicht während des Erwerbslebens nachholen müssen.

Eine flächendeckende Berufsmaturität wertet die Lehre auf. Die Berufslehre wird noch stärker als bisher zu einer echten Alternative, die nicht nur ausbildet, sondern Bildung in humanistischem Sinn umfasst. Das nimmt Druck vom Gymnasium – und es nimmt das Recht aller Jugendlichen auf Bildung ernst. Die Binnendifferenzierung in ein Niveau A und ein Niveau B erlaubt eine spezifische Gewichtung der jeweiligen Bildungsziele innerhalb der Berufs- und Fachmaturität. Niveau A kann stärker auf die Fachhochschulen ausgerichtet sein als Niveau B. Diese Unterschiede im Niveau sind kein Novum für die Berufsmaturität. Schon jetzt lebt sie mit Niveauunterschieden zwischen den verschiedenen Branchen. Die Berufs- oder Fachmaturität mit Niveau B soll ebenfalls zum Studium an der Fachhochschule berechtigen. Das ist insbesondere für jene Jugendlichen aus bildungsfernen Verhältnissen eine Chance, die erst später Ambitionen auf ein Studium entwickeln. Diese Möglichkeit soll offen bleiben, selbst wenn sie nicht intensiv genutzt wird. Um die Chancen auf ein erfolgreiches Studium zu verbessern, können Vorbereitungskurse eingeschoben werden. Ähnlich wie die Passerelle auf das Studium an der Universität vorbereitet, können diese Vorbereitungskurse auf das Studium an einer Fachhochschule vorbereiten. Die Anforderungen der Fachhochschulen bleiben auf demselben Niveau wie bisher. Wer Mühe mit diesem Niveau hat, kann seine Chancen über den Vorbereitungskurs verbessern. Das verlängert die Bildungszeit, steht aber im Dienste der dringend notwendigen Tertiarisierung. Und es verbessert die Aufstiegschancen von schulisch Schwächeren oder Spätzündern.

Duales Lernen wird weiterentwickelt.

Die Frage, wie die schulische Bildung mit der Arbeit im Betrieb kombiniert werden soll, ist alles andere als trivial.[6] Die Doppelbelastung der Lernenden durch Arbeit und Schule ist gross, so gross, dass man sich immer wieder die Frage stellt, ob die Berufsmaturität im Grunde nicht ein Murks ist, eine Zwängerei. Ob versucht wird, den schulischen Anteil in die Lehre zu stopfen. Das Problem zeigt sich schon bei der normalen Berufslehre mit einem Tag Schule pro Woche. Bei der Berufsmaturität verschärft es sich. Wenn das Modell auf alle Lernenden ausgeweitet wird, verschärft es sich noch einmal. Das Modell kann nur funktionieren, wenn der Doppelbelastung der Jugendlichen von beiden Seiten her Rechnung getragen wird: von der schulischen und der betrieblichen. Der duale Weg ist nicht einfach. Trotzdem ist es sinnvoll, diesen Weg in der Schweiz auszubauen. Es ist die Berufslehre, die hierzulande die grösste Akzeptanz geniesst. Es ist sinnvoll, dieses hohe Prestige zu nutzen, und auf diesem Weg mehr schulische Bildung in die Ausbildung einfliessen zu lassen, so wird sie eher akzeptiert. Jugendliche sind in vielen Fällen eher bereit, die Doppelbelastung des dualen Wegs auf sich zu nehmen, als weiterhin die ganze Woche die Schulbank zu drücken.

Beim SBFI ist man sich der hohen Belastung natürlich bewusst. Eine Steuergruppe hat eine Reihe von Modellen entwickelt, mit denen sich Arbeit und Schule kombinieren lassen:[7] Gegenwärtig werden in einzelnen Kantonen verschiedene Modelle erprobt. Je nach Branche sieht eine sinnvolle Verknüpfung von Schule und Arbeit unterschiedlich aus. Aktuell wird intensiv darüber debattiert, ob eher BM1-nahe oder BM2-nahe Flexibilisierungsmodelle geeignet sind. Im Modell BM1 gehen die Lernenden anderthalb bis zwei Tage in die Schule. Schule und Praxis können laufend aufeinander abgestimmt und optimal verknüpft werden. Der Nachteil: Die Doppelbelastung ist hoch.

Im Modell BM2 wird der schulische Anteil gebündelt und in einem zusätzlichen Jahr am Ende der Lehre vermittelt. Vorteil: Man kann sich auf beides besser konzentrieren. Nachteil: Es gibt diesen biografischen Knick: Man steht am Ende der Lehre, hat seinen eigenen Lohn – und soll plötzlich wieder in die Schule. Hängt sich an diese BM2 noch die Passerelle an, so gibt das lange Bildungswege.

Die Erfolgsquote in der BM1 beträgt nur zwei Drittel. Das ist tief, deutlich tiefer zum Beispiel als in der BM2 (84 Prozent) oder am Gymnasium (86 Prozent). Das Drittel, das die BM1 abbricht, tut dies meist früh in der Ausbildung. Die Anforderungen in der BM1 sind derart hoch, dass sie selbst leistungsstarke Lernende überfordern. Auf möglichst kurze Bildungswege drängen Wirtschaftsverbände wie economiesuisse. Sie wollen die BM1 – nicht die BM2. Die gegenwärtige Reform «Berufslehre 2030» verschärft das Problem bereits auf Ebene der Grundbildung. Wie in jeder Reform – nicht nur der Berufslehre – versucht man auch dort, in der Grundbildung, noch mehr hineinzupacken. Doch bekanntlich soll man das Fuder nicht überladen. Die BM1 kann nur wachsen, wenn der schulischen Bildung mehr Zeit zuteilkommt. Noch mehr Lektionen in einen bereits vollen Schultag zu drücken, funktioniert nur auf dem Papier. In der Praxis führt es dazu, dass die Lernenden abschalten. Wenn sie schon acht Lektionen an einem Tag haben, kann man nicht einfach eine neunte anhängen.

Ein Modell mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen kann man hier als BM3 bezeichnen. In diesem Modell steht ein Jahr schulischer Bildung am Anfang der Lehre. Man könnte es als ein Schuljahr zwischen dem Abschluss der Sekundarschule und dem Beginn der Lehre bezeichnen. Das SBFI hat ein Modell vorgeschlagen, das dieses Jahr zur Sekundarstufe II rechnet. Der Unterricht wird an Berufsfachschulen erteilt. Ein Lehrvertrag kann, muss aber nicht vorliegen. Während diesem Berufsmaturitätsschuljahr werden allgemeinbildende Fächer wie Mathematik, Informatik, Deutsch, Französisch und Englisch unterrichtet, nicht aber spezifische Berufsbildung. Die Idee ist bestechend: Ein solches Modell kann interessant sein für anspruchsvolle Berufslehren, in denen die Lernenden erst richtig von Nutzen sind, wenn sie eine gewisse schulische Basis mitbringen. Allerding hält sich die Begeisterung für dieses Modell bisher in Grenzen. Eine Umfrage des SBFI unter Verbundspartnern (Politik, Bildung, Wirtschaft) zeigt, dass die Idee mehrheitlich abgelehnt wird.[8] Trotzdem sollte man die Variante einer BM3 nicht vorschnell abschreiben. Das Modell eröffnet neue Kombinationsmöglichkeiten mit der Sekundarstufe I. Führt man das Modell BM3 flächendeckend ein, wird daraus ein zusätzliches Schuljahr für alle. Statt wie bisher elf Jahre (mit Kindergarten) bis zum Abschluss der obligatorischen Schulzeit sind es mit dem Modell BM3 zwölf.

Theoretisch kann man einen Schritt weitergehen und das zusätzliche Schuljahr der Sekundarstufe I zuordnen. Der Unterricht kann an der Sekundarschule stattfinden. Diese würde dann vier Jahre dauern statt drei. Gestaltet man die Sekundarstufe als Einheitsschule mit Binnendifferenzierung, so findet die Aufteilung der Schüler*innen nach Gymnasium oder Lehre erst nach zwölf gemeinsamen Schuljahren und im Alter von 16 Jahren statt. Entscheidend in diesem Modell wäre die Ausgestaltung der Binnendifferenzierung beziehungsweise der Durchlässigkeit. Es müsste möglich werden, vom zwölften Schuljahr aus sowohl in eine Lehre als auch in den gymnasialen Zug zu wechseln.

Vieles spricht für eine solches System, aber einiges auch dagegen. Das frühe Aufteilen der Kinder in unterschiedliche Schultypen ist in der Schweiz breit abgestützt, einer Aufweichung der Grenze zwischen Sekundarstufe I und II begegnet man skeptisch. Oft ins Feld geführt wird die Schulmüdigkeit. Dieses Argument ist jedoch problematisch. Keinem käme es ernsthaft in den Sinn, Kinder nicht zur Schule zu schicken, weil sie keine Lust dazu haben. Trotzdem sei das Argument hier ein Stück weit berücksichtigt. Viele Jugendliche freuen sich auf die Lehre, auf die Arbeit im Betrieb. Ihnen diese Möglichkeit ein Jahr länger vorzuenthalten, kann kontraproduktiv sein. Mit zunehmendem Groll gegen die Schule, empfunden als Gefängnis, als Ort von Misserfolg, sind die Voraussetzungen für effizientes Lernen nicht gegeben. Vielleicht wird das Lernen als sinnvoller empfunden, wenn man in der Arbeit erfährt, wofür man es braucht. Allerdings kann zum Nachteil werden, was zunächst als Vorteil erscheinen mag: Nach zwölf Jahren Schule könnte man fälschlicherweise meinen, dass die schulische Bildung erledigt sei. Das ist kontraproduktiv im Hinblick auf die Tertiarisierung. Wenn die Schule in der Lehre nur noch an einem Tag pro Woche stattfindet und einzelne Fächer jahrelang nicht unterrichtet werden, tut sich ein ziemliches Loch auf bis zur Fachhochschule. Vieles wird vergessen. Auch die Haltung wird dadurch beeinflusst. Wird die Schule während der Lehre als erledigt abgehakt, begreift man sie nicht als Zwischenschritt im Hinblick auf die tertiäre Stufe und auf das lebenslange Lernen.

Der Vorschlag einer «Matura für alle», also die flächendeckende Einführung der Berufsmaturität, verleiht dem Modell BM3 eine ganz neue Bedeutung. Wenn alle das neue Schuljahr besuchen, kann daraus ein neues Scharnier werden zwischen Sekundarstufe I und II. Das ist eine Variante, die man unbedingt im Blick behalten muss. Die Bildungsreform, die hier skizziert wird, ist offen dafür. Sie setzt aber eine Vereinheitlichung der Sekundarstufe I nicht voraus.

Das Modell BMX bringt mehr Flexibilität.

Ein Modell, das immer mehr Verbreitung findet, ist der Blockunterricht. In mehrwöchigen Blöcken, die über die ganze Lehre verteilt werden, kann konzentriert und vertieft schulische Bildung stattfinden. Viele Betriebe begrüssen diese Bildungsform. Es kann die Arbeitsplanung vereinfachen, wenn der*die Lernende blockweise fehlt statt tageweise. In anderen Betrieben ist es gerade umgekehrt. Im Blocksystem wird schulische Bildung immer wieder aufgegriffen und wiederholt. Es entsteht kein mehrjähriges Loch im Hinblick auf die tertiäre Stufe. Meist lässt sich der Blockunterricht mit anderen Formen kombinieren, etwa dem weiterhin üblichen Tag Berufsschule pro Woche.

Es gibt kein einzig richtiges Modell der Berufsmaturität. Was es braucht, ist ein flexibles Modell. Hier soll ein Modell mit dem Namen BMX vorgeschlagen werden. X steht für Flexibilität. Wenn man die Abkürzung noch mit anderem assoziiert als mit Bildung, ist das auch gut. Um Verwechslungen vorzubeugen: Das vorgeschlagene Modell BMX ist nicht dasselbe wie die bereits existierenden Modelle «BM1 Flex»[9] und «BM2 Flex»[10]. Diese stellen eine Art Verbindung aus BM1 und BM2 dar. Wie das Modell BMX aussehen kann, ist noch offen. Sinnvollerweise knüpft es an bei Modellen, wie sie im SBFI derzeit diskutiert und in den Kantonen erprobt werden.[11] Das Modell BMX gibt lediglich den Umfang des schulischen Anteils vor sowie das obligatorische Ziel der Berufsmaturität. Wie die schulische Bildung und die betriebliche Arbeit kombiniert werden, wissen die jeweiligen Branchen am besten, entsprechend soll die Entscheidung zur genauen Ausgestaltung verbundspartnerschaftlich erfolgen. Derzeit wird von Expert*innen der Berufslehre grosse Arbeit in diesem Gebiet geleistet. Ihre Erfahrungen kann man nutzen, um das System flächendeckend einzuführen. Flächendeckend muss nicht einheitlich heissen. Es sollen Innovation und Flexibilität möglich bleiben.

Ausbilden ist ein Dienst an der Gesellschaft.

Der ökonomische Nutzen ist ein wichtiger, doch nicht der alleinige Grund, weshalb Betriebe Lernende ausbilden. Es geht den meisten Betrieben darum, den Nachwuchs zu fördern für Beruf und Branche. Das entspricht der Tradition der Berufsbildung. Aus dem Zunftwesen entwickelt, dient sie der Pflege und Tradierung des Berufs. Daran kann man anknüpfen, wenn es gegenwärtig darum geht, Betriebe für die Berufsmaturität zu gewinnen.

Zunächst zur Bildungsrendite aus betrieblicher Sicht: 3100 Franken pro Jahr. So viel verdiente ein Betrieb im Schnitt an einem*einer Lernenden im Ausbildungsjahr 2016/17.[12] 60 Prozent der Betriebe erreichen einen Nettonutzen, 40 Prozent legen drauf. Die Unterschiede in der Rendite sind gross. Am höchsten ist der Nettonutzen in der Baubranche. Auch im Gewerbe und in den persönlichen Dienstleistungen ist er überdurchschnittlich. Angehende Maler*innen, Sanitärinstallateur*innen, Elektriker*innen, Coiffeusen und Coiffeure sind rentabel, sie bringen dem Betrieb während der Lehre über 20000 Franken ein. Auch die vielen Lernenden im KV-Bereich werfen eine gewisse Rendite ab. Am teuersten hingegen kommt einen Betrieb die Ausbildung einer IT-Fachkraft zu stehen. Dort betragen die Kosten über 20000 Franken. Auch die Ausbildung von Polymechanikerinnen und Automobil-Mechatronikern geht richtig ins Geld.

Fast ein Drittel der Betriebe (29 Prozent) bildet Lernende aus. Die Pflege des Nachwuchses und der ökonomische Nutzen gehen Hand in Hand. Die Betriebe geben eine Reihe von Gründen an, weshalb sie Lernende ausbilden. Sie sehen es als Gemeinschaftsaufgabe der Wirtschaft und damit als Dienst an der Gesellschaft. Oft gehört die Lehre zur Firmentradition. Zudem ist sie ein Instrument, um künftige Fachkräfte zu rekrutieren. Und warum bilden zwei Drittel der Firmen keine Lehrlinge aus? Als Gründe nennen die Firmen die fehlende Zeit, eine zu hohe Spezialisierung oder einen zu geringen Nutzen.

Gegenwärtig ist die Berufsmaturität ins Stocken geraten, obwohl sie ein strategisches Ziel des Bundes darstellt und obwohl viel zu ihrer Förderung getan wird.[13] Hauptgrund für die Stagnation sind die Betriebe. Es muss sich lohnen, Berufslernende auszubilden. Wenn diese zu oft im Betrieb fehlen, geht die Rechnung nicht mehr auf. Es sind vor allem Branchen mit anspruchsvollen Lehrstellen, etwa die Maschinen-, Elektro- und Metallbau-Branche, welche die Berufsmaturität fördern. Zudem sind es oft grosse Firmen, die entsprechende Kosten tragen können. Andere, kleinere Betriebe sind oft stärker auf den ökonomischen Nutzen der Lernenden angewiesen. Genaue Zahlen dazu liefert der vierte Trendbericht zur Berufsmaturität des Eidgenössischen Hochschulinstituts für Berufsbildung EHB.[14] Umfragen unter Firmen zeigen: Wenn sie keine Berufslernenden ausbilden, liegt dies weniger an der erschwerten Arbeitsorganisation als vielmehr am ökonomischen Faktor.

Es fällt auf, dass sich die BM-Absolvierenden nur auf wenige Berufe konzentrieren. Es sind vor allem Berufe mit schulisch anspruchsvoller Grundbildung. Drei Viertel aller BM-Lernenden verteilen sich auf nur acht EFZ-Berufe. Besonders hoch ist der BM-Anteil in den Berufen Elektroniker*in, Laborant*in, Konstrukteur*in, Mediamatiker*in, Zeichner*in, Informatiker*in, Automatiker*in und bei den Kaufleuten. Diese Berufe setzen eine hohe schulische Leistungsfähigkeit voraus. Zudem sind es typische Mangelberufe, die mit der Berufsmaturität attraktiver werden für motivierte Jugendliche mit guten Leistungen. Viele der BM-Lernenden haben tertiär gebildete Eltern, eher wenige – aber mehr als am Gymnasium – kommen aus sozial benachteiligten Familien.

An der Berufsmaturität verdienen die Betriebe nicht.

Derzeit bilden nur neun Prozent der Betriebe BM1-Lernende aus. Selbst die Branchenorganisationen versuchen, die Betriebe zu überzeugen. Teilweise zahlen sie ihnen Beiträge. Im Unterschied zur EZF-Ausbildung ergibt sich aus der BM1-Ausbildung kein Nettonutzen für die Betriebe. Ein*e BM1-Lernende*r kostet sie pro Jahr 800 Franken. Dass einige Betriebe dennoch bereit sind, BM1-Lernende auszubilden, hat vor allem mit ihrem Verständnis von Lehrlingsausbildung zu tun.

Abbildung 1: EFZ mit und ohne BM: Nettonutzen pro Ausbildungsjahr[15]

Trotz etwas höherem Leistungsgrad der BM-Lernenden führt ihre häufige Abwesenheit zu tieferer Produktivität. Der Aufwand für die Betreuung der Lernenden mit BM ist praktisch gleich hoch wie bei EFZ-Lernenden ohne BM, an die Schule lässt sich die Betreuung nicht delegieren. Als Kostenpunkt kann ausserdem gelten, dass BM-Lernende den Betrieb mehrheitlich für ein Studium verlassen – und somit für den Lehrbetrieb häufiger verloren sind als EFZ-Lernende ohne BM