Neue Wege - Azita Renken - E-Book

Neue Wege E-Book

Azita Renken

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: ibidem
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Wie erleben junge Menschen mit Migrationserfahrung die Phase des Erwachsenwerdens in der Aufnahmegesellschaft? In diesem Band kommen Frauen zu Wort, die in ihrer Kindheit bzw. frühen Jugend aus dem Iran nach Deutschland immigrierten. Auf der Basis biografischer Interviews begibt sich die Autorin auf die Spurensuche nach den Entwicklungsverläufen in der Phase der Identitätsfindung ihrer Gesprächspartnerinnen und stellt diese in ihrer einfühlsamen Studie aus soziologischer und psychoanalytischer Perspektive vor. Die Untersuchung zeigt entlang intergenerationaler Beziehungsdynamiken und zentraler Themen wie - Mädchenfreundschaften, - erste Partnerschaft, - kulturelle Zuschreibungen, - moralische Werte exemplarisch die Suche der Heranwachsenden nach Lösungsmöglichkeiten zur Verknüpfung und Vereinbarung unterschiedlicher soziokultureller Aspekte ihrer Lebenswelt. Es geht um kreative Potenziale, um Perspektivenwechsel und um die Entstehung neuer Lebensentwürfe, die zunehmend in unserer globalisierten Welt üblich werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 385

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

I. Stand der Forschung

1. Adoleszenz und Identitätsbildung von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationserfahrung

2. Intergenerationale Beziehungen in Familien mit Migrationserfahrung

II. Methodologie und Methode

1. Qualitiative Forschung und Rekonstruktion von Biografien

2. Das biografisch-narrative Interview

3. Erhebung und Auswertung der Daten

3.1 Memos

3.2 Methodentriangulation

4. Auswertungssettings und Ergebnisvalidierung

III. Die empirische Untersuchung

1. Die Untersuchungsgruppe

2. Suche nach Interviewpartnerinnen

3. Forschungssituation

3.1 Der Interviewrahmen

3.2 Prinzip der freien Sprachwahl

4. Die Interviewpartnerinnen im alphabetischen Überblick

IV. Feinanalytische Interpretationen von zwei ausgewählten Biografien

1. Shirin

1.1 Vor dem Interview

1.2 Kurzbiografie

1.3 Erste Interviewsequenz – Kindheit im Krieg

1.4 Intergenerationale Beziehungsverläufe

1.5 Kindheit in der „Fremde“

1.6 Beste Freundin

1.7 Erste Beziehung zu einem Jungen

1.8 Eine (un-) mögliche Iranreise

1.9 Identitätsprozesse im „Exil“

1.10 Moralische Werte

1.11 Resümee

2. Roxana

2.1 Vor dem Interview

2.2 Kurzbiografie

2.3 Erstes Interviewsegment - Die Leichtigkeit des Seins

2.4 Intergenerationale Beziehungsverläufe

2.5 Position der Muttersprache

2.6 Familienfeste - Norus und Weihnachten

2.7 Kulturelle Zuschreibungen: Iranischsein - Deutschsein

2.8 Soziale Kontrolle

2.9 Peers türkischer Herkunft

2.10 Aktuelle Partnerschaft

2.11 Resümee

V. Ergebnisse der Feinanalysen

VI. Themenspezifische Analyse

1 Väter und Töchter

2 Mütter und Töchter

3 Mädchenfreundschaften

4 Die Entwicklung der Herkunftssprache

5 Glaube

6 Beruf und Familie

7 Resümee

VII. Die Entstehung des Neuen - Zusammenfassung und Perspektiven

Literatur

Transkriptionssystem

Vorwort

 

Dieses Buch handelt von den Lebensgeschichten junger Frauen iranischer Herkunft, die als Kinder oder Jugendliche während des ersten Golfkrieges nach Deutschland kamen. Im Rahmen von biografischen Interviews erzählen sie rückblickend über die Phase des Erwachsenwerdens zwischen den unterschiedlichen Anforderungen ihrer Lebenswelt. Im Mittelpunkt stehen die Analyse der Entwicklungsverläufe sowie die Herausarbeitung der Bewäligungsstrategien soziokultureller Aspekte entlang zentraler Themen aus den Erzählungen meiner Interviewpartnerinnen mit Fokus auf der lebensgeschichtlichen Phase der Adoleszenz. Es handelt sich um eine Neuauflage der im Jahr 2012 veröffentlichten Studie, die erstmals im Rahmen der Schriftenreihe der Oldenburger Beiträge zur Geschlechterforschung im BIS-Verlag der Universität Oldenburg unter dem Titel „Adoleszenz und Migration“ erschien. Die vorliegende Auflage enthält neben einem neuen Titel ein ebenfalls neues Vorwort sowie einige wenige orthografische, inhaltliche und formale Anpassungen.

 

Vieles hat sich in den letzten Jahren seit der Entstehung dieser Studie geändert. Unsere Gesellschaft ist nicht zuletzt durch zunehmende globale Wanderungsprozesse pluraler geworden und noch vielfältiger. Krieg, Vertreibung, wirtschaftliche Not zwingen die Menschen weiterhin, sich auf den Weg begeben, in der Hoffnug auf eine sicherere und bessere Zukunft. Aktuelle Beispiele dafür sind die Zuwanderungen aus Syrien seit dem Bürgerkrieg 2011, aus dem Irak und Afghanistan sowie die jüngste Krise in der Ukraine, die die Flucht von Millionen Menschen verursacht, darunter auch viele Kinder und Jugendliche. Unser Leben wird auf unterschiedlichen Ebenen des sozialen, kulturellen, politischen, ökologischen und wirtschaftlichen Zusammenwirkens auf die Probe gestellt. Des Weiteren erleben wir durch die weltweite Pandemie der letzten drei Jahre, dass die Strukturen, in denen wir uns bewegen, nicht selbstverständlich sind und dass wir in der Lage sein müssen, uns auf Veränderungen einzustellen und solidarisch zu handeln. Ein solches Ereignis wie eine Pandemie zwingt uns erneut dazu, uns Gedanken zu machen, wie es gelingen kann, neue kollektive Strukturen zu entwickeln, in denen sich die Individuen als soziale Wesen wahrnehmen können, die nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Veranrwortung tragen. Schaffen wir es, ein neues Wir-Gefühl zu entwickeln, welches uns ermöglicht, verschieden und gerade in der Vielfalt vereint zu sein? Und wie können wir, jede und jeder Einzelne von uns, einen Beitrag zur Dialogbereitschaft und zur Stärkung demokratischer Strukturen leisten?

Die Chancen und Risiken, die eine solche postmoderne Gesellschaft des 21. Jahrhunderts in sich birgt, liegen auf der Hand. Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen uns deutlich, dass wir nur vorankommen, wenn wir einander zu Wort kommen lassen, bereits sind zuzuhören und uns aufeinander zubewegen. Wenn Menschen die Gelegenheit erhalten, über ihre Erfahrungen zu berichten, werden sie verlanlasst, ihre eigenen Geschichten zu konstruieren. Sie bekommen die Möglichkeit, dafür Worte zu finden und auch über das Erzählte nachzudenken. Auf diese Weise kann das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte dazu verhelfen, mehr Mündigkeit und Bewusstsein für das eigene Denken und Handeln zu entwickeln. Und die Hörer:innen und Leser:innen können ihre Fähigkeit stärken, hinzuhören und versuchen zu verstehen. Gewissermaßen handelt auch diese Arbeit auf einer Metaebene von der Kraft des Erzählens, des Hinhörens und der Sichtbarwerdung von Lebensthemen aus Biografien, die in einer pluralen Gesellschaft existieren.

Die hier gewählte Form des biografisch-narrativen Erzählens gestattet eine in hohem Maße authentische Wiedergabe der thematischen Schwerpunkte. Viele der interviewten Frauen bekommen in diesem Rahmen erstmalig die Möglichkeit über ihre Erfahrungen zu berichten. In ihrem Bemühen, als Heranwachsende zur Mehrheitsgesellschaft zu gehören, berichten sie, hätten sie häufig ihre eigenen Bedürfnisse und Emotionen „zurückgestellt“, diese gar „versteckt“. Sie hatten das Gefühl, dass ihre (Herkunfts-) Geschichte im öffentlichen Raum der Schule, in ihrem Verein und in der Politik nicht „zählte“, als habe sie keine wirkliche gesellschaftliche „Relevanz“ gehabt. Aus dieser „benachteiligten“ Situation heraus versuchten sie für sich Wege zu finden, um die widersprüchlichen Anforderungen ihrer Lebenswelt, in die eigene Biografie zu integrieren. Dieser Prozess ermöglichte die Freisetzung kreativer Poteziale, die, wie die Studie zeigt, den Weg ebnen für die Entstehnung eines kulturell Dritten. In dieser dritten Dimension liegt eine große Chance für neue Wege des interkulturellen Zusammenlebens der Gegenwart und der Zukunft. Die produktiven Potenziale können sich im Prozess der Identitätsbildung nur entfalten, wenn sie auch bildungspolitisch und institutionell unterstützt werden und Beachtung erfahren. Aus dieser Perspektive heraus ist die Untersuchung von Lebensthemen unterschiedlicher Gruppierungen mit Bezug auf ihre Besonderheiten und Gemeinsamkeiten aktueller und bedeutsamer denn je. Dazu möge diese Studie einen sensibilisierenden sowie motivierenden Beitrag leisten.

 

Einleitung

 

 

Überall entstehen kulturelle Identitäten, die nicht fixiert sind, sondern im Übergang zwischen verschiedenen Positionen schweben, die zur gleichen Zeit auf verschiedene kulturelle Traditionen zurückgreifen und die das Resultat komplizierter Kreuzungen und kultureller Verbindungen sind, die in wachsendem Maße in einer globalisierten Welt üblich werden.

Stuart Hall

 

 

Das zentrale Anliegen dieser empirischen Studie besteht darin, anhand der Rekonstruktion von erzählten Lebensgeschichten junger Frauen mit iranischer Migrationsgeschichte und der Analyse zentraler Lebensthemen die Bewältigungsstrategien heterogener soziokultureller Aspekte im Identitätsbildungsprozess der Adoleszenz herauszuarbeiten und sichtbar zu machen. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es innerhalb einer (Leit-) Kultur viele verschiedene gelebte Kulturen, die unser soziales Zusammenleben bestimmen und mitgestalten. Die Entwicklung einer Identität setzt die Existenz und auch die Erkämpfung von Möglichkeitsräumen voraus, in denen sich Wege der Entfaltung für Jugendliche anbahnen können. Innerhalb dieser Räume können die Heranwachsenden experimentieren, sich mit gegebenen Fähigkeiten und Grenzen auseinandersetzen, diese akzeptieren, umgestalten und überschreiten, um Neues entstehen zu lassen.

 

Die Reflektion über die eigene Identität und die Bedingungen des Gewordenseins sind ein biografischer Prozess, der in der lebensgeschichtlichen Phase der Adoleszenz zum ersten Mal bewusst stattfindet.Wie die Adoleszenz verläuft, hängt gleichzeitig auch von den Potenzialen ab, welche im Laufe der Kindheit in der Auseinandersetzung mit der Umwelt von den Individuen erworben werden. So ist die Adoleszenz stets als eine prozesshafte Lebensphase aus der Gesamtbiografie heraus zu betrachten. Aus diesen Gründen erweist sich die biografische Methode als ein geeignetes Instrument, um die facettenreiche und komplexe Lebenswelt von jungen Frauen mit Migrationserfahrung zu durchleuchten.

 

Der Untersuchung liegen Interviews mit jungen Frauen iranischer Herkunft zugrunde, die auf der Basis der Grounded Theory geführt wurden. Sie sind zwischen zwanzig und dreiunddreißig Jahre alt und befinden sich damit in einem Alter, in dem sie rückblickend über ihr Leben erzählen und sich selbst und ihre Umwelt kritisch zueinander in Beziehung setzen sowie darüber reflektieren können (vgl. Nökel 2002: 19). Aus den Interviews heraus wurden die Biografien der Frauen rekonstruiert und ausgewertet.

Die erste theoretische Säule der Arbeit bildet Kapitel I mit einem Überblick zum aktuellen Stand der Forschung über die Adoleszenz junger Frauen mit Migrationserfahrung und deren Identitätsbildungsprozesse sowie die Rolle intergenerationaler Beziehungen bei der Bewältigung adoleszenter Anforderungen. Als nächstes wird in Kapitel II die Rekonstruktion von Biografien als eine qualitative Methodologie der Sozialforschung, wie sie der vorliegenden Studie zugrunde liegt, erläutert. Zudem wirddas biografisch-narrative Interview hinsichtlich seiner Bedeutung und Sinnhaftigkeit zur Erhebung identitätsbildender Prozesse und familialer Beziehungsgefüge in der Migration vorgestellt. Desweiteren befasst sich Kapitel II mit derMethodentriangulation für die Auswertung der erhobenen Daten. Diese setzt sich zusammen aus dem narrationsanalytischen Ansatz nach Fritz Schütze (1983) sowie der psychoanalytisch orientierten Methode der Tiefenhermeneutik, wie sie von Alfred Lorenzer (1986) für die sozialwissenschaftliche Forschung entwickelt wurde. Die Entscheidung für die Zusammenführung dieser Analysemethoden erwies sich als ertragreich, um sowohl die unterschiedlichen Lebensstadien der jungen Frauen mit ihren unterschiedlichen Dimensionen der Erfahrungsaufschichtung narrationsanalytisch zu untersuchen als auch die tiefgreifenden und die nicht zur Sprache gekommenen latenten Wünsche und Ängste der Gesprächspartnerinnen zu erfassen, die sich häufig in den Leerstellen eines Textes, in abgebrochenen Worten und nicht zu Ende geführten Sätzen und in missverständlichen Kommunikationspassagen zwischen der Interviewerin und der Interviewten niederschlagen. Die in der Interviewsituation erzeugten spezifischen Spannungsverhältnisse werden hinterfragt und auf ihre Bedeutung hin für die Forschungsergebnisse überprüft und einbezogen. Die Forschungsgruppen, in denen die Interviews ausgewertet wurden, sind nicht nur für die psychoanalytisch orientierte Methode unentbehrlich gewesen, sondern erwiesen sich auch für die narrative Analyseform als sinnvoll und unersetzbar. Kapitel III widmet sich der Differenzierung der empirischen Untersuchung. Dabei werden zum einen die spezifischen Forschungsfragen und Ziele der Studie ausformuliert und zum anderen die Interviewpartnerinnen als die Untersuchungsgruppe in ihrer Gesamtheit und ihrer Binnendifferenzierung präsentiert1. Weitere Schwerpunkte bilden der Such- und Auswahlprozess der Interviewpartnerinnen sowie dieForschungssituation an sich.

 

Im empirischen Teil der Arbeit werden zunächst in Kapitel IV feinanalytische Interpretationen von zwei ausgewählten Biografien dargelegt. Dabei handelt es sich um die Lebensgeschichten von Shirin und Roxana, die jeweils detailliert mit dem Fokus auf der Phase der Adoleszenz aufgeschlüsselt werden, um daraus Schlussfolgerungen hinsichtlich der Verarbeitung adoleszenter Anforderungen zu ziehen.Eine solche detaillierte Analyse aus den Erzählungen aller meiner Interviewpartnerinnen hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt und die zur Verfügung gestandene Zeit weit überschritten. Daher fiel die Wahl auf zwei Biografien, in denen eine möglichst große Vielfalt an zentralen identitätsbildenden Lebensthemen und ihre Verarbeitung zum Tragen kommen. Die Ergebnisse der Feinanalysen werden in Kapitel V als eine Zwischenbilanz zu Umgehensweisen mit den adoleszenten Anforderungen präsentiert. Kapitel VI widmet sich anschließend der themenspezifischen Analyse aus den gesamten der Arbeit zugrunde liegenden biografischen Erzählungen. Dabei werden nach zentralen thematischen Schwerpunkten einzelne Lebensbereiche unter Berücksichtigung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Umgangsweisen und Erfahrungen der jungen Frauen untersucht und erläutert.

 

Die Einbeziehung sowohl personenbezogener feinanalytischer Interpretationen als auch einer themenzentrierten Untersuchung zielt darauf ab, die Phase der Identitätsbildung mit all ihren besonderen Facetten und Schichten zu erfassen. Auf diese Weise soll eine größere Einsicht in die Entwicklungsverläufe gewonnen und folglich ein umfassenderes Verständnis für die Konflikte und die daraus resultierenden Handlungsstrategien der jungen Frauen erreicht werden, um der Bildung möglichst gegenstandsnaher Theoriekonzepte näherzukommen. Den Abschluss bildet das Kapitel VII mit der theoretischen Einbettung der empirischen Ergebnisse und der Diskussion der Entstehung neuer Identitäten als eine zentrale Schlussfolgerung dieser Arbeit.

 

 

1 Sämtliche Namen und Daten, die mögliche Rückschlüsse auf die Interviewpartnerinnen

ziehen lassen, wurden selbstverständlich verändert und anonymisiert.

I. Stand der Forschung

 

1. Adoleszenz und Identitätsbildung von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationserfahrung

 

Die Adoleszenzforschung befasste sich bis zum Ende der 1980er Jahre weitgehend mit den Identitätsbildungsprozessen und der psychosozialen Entwicklung nordamerikanischer und westeuropäischer Jugendlicher. In Anbetracht der anhaltenden Migrationsprozesse wird jedoch die Betrachtung der Entwicklungverläufe von Jugendlichen mit Migrationserfahrung zunehmend bedeutsam. Sozial- und erziehungswissenschaftliche Forschungen seit dem Jahr 2000 liefern in Verbindung mit nationaler, kultureller und ethnischer Diversität der Adoleszenz in der Einwanderungsgesellschaft Ergebnisse, die die Identitätsdebatte nachhaltig beeinflussen (King/Koller 2006; Boos-Nünning/Karakasoglu 2005; Mecheril 2003; Badawia 2002; Nohl 2001). Die Untersuchungen zeigen unter anderem die Entstehung neuer Identitäten auf, die die Vereinbarkeit unterschiedlicher soziokultureller Aspekte von Adoleszenten in kritischer Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt beinhalten. Tarek Badawia (2002) spricht von einer neuen Identitätsposition bildungserfolgreicher Immigrantenjugendlicher, die sich durch die herkunftsbedingte Konfrontation mit zwei Kulturen herausbildet. So wird das herkömmliche sprachliche Bild, sich „zwischen zwei Stühlen“ zu befinden, im Prozess der Entstehung einer neuen Identität aufgeweicht und letztlich durch das Bild eines eigenen dritten Stuhls dieser Jugendlichen ersetzt. Es geht um die Transformation soziokultureller Bedingungen durch die Doppelrolle der sozialen „Beobachtung“ und „Teilnahme“ von Immigrantenjugendlichen, welche häufig mit strukturell ungünstigen Entwicklungsbedingungen einhergeht (vgl. Badawia 2002; Gomolla/Radtke 2000).

Die Auseinandersetzung mit Jugendlichen, die Migrationserfahrungen aufweisen, beinhaltet stets die Beschäftigung mit einer soziokulturellen Vielfältigkeit, die in der mehrfachen ethnischen, nationalen und kulturellen Zugehörigkeit begründet liegt. Alexandra Alund (2003) stellt in ihrer Studie über Migrantinnen zweiter Generation in multiethnischen Umgebungen Schwedens fest, dass der Alltag der Jugendlichen geprägt sei von „engem und dauerhaftem Kontakt mit einer intensiven kulturellen Vielfalt“ (Alund 2003: 38). In der Vermischung und Überschneidung kultureller Einflüsse entstehen Prozesse, in denen sich neue Identitäten entfalten. Der Minderheitenstatus der Jugendlichen bedeutet gleichzeitig ein Zugang zu „alternativen kulturellen Referenzrahmen“ und stellt eine Ressource dar, die auf innovative Weise genutzt werden kann. Die Innovation beinhaltet das Verbinden alternativer Kulturen und die Entwicklung neuer Bedeutungen und sozialer Strategien. Alund thematisiert weiterhin die Bemühung der Jugendlichen, ein Kontinuum zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart herzustellen. Mit „Vergangenheit“ ist die Sozialisation der Herkunftskultur gemeint, die vor allem die Kindheit der Jugendlichen z.B. durch vorangegangene Generationen geprägt hat. Die „Gegenwart“ ist das, womit sich die Jugendlichen im Hier und Jetzt beschäftigen. DieseGegenwart kann jedoch nicht abgetrennt von der Vergangenheit existieren. Erst in der Herstellung eines Kontinuums zwischen diesen beiden Zeiten wird ein größeres emanzipatorisches Potenzial freigegeben, mit dem eine eigene Zukunft produktiv gestaltet werden kann. Alund stellt fest, dass die Fähigkeit, Altes und Neues zu verbinden, sich als „kreative Kraft“ darstellt, „um in Wechselbeziehung stehen zu können, um zu übersetzen, um zu überschreiten.“ (Alund 2003: 62).

 

Um diese Fähigkeiten nutzen und entfalten zu können, bedarf es eines geeigneten rechtlichen und politischen Rahmens für die Heranwachsenden. In Deutschland besteht die Gesellschaft mittlerweile aus diversen Ethnien, die nebeneinander existieren, jedoch rechtlich und politisch einander vielfach über- bzw. untergeordnet sind. Dies bekommen die Jugendlichen auch in der staatlichen Institution Schule zu spüren, die in ihrem weitgehend monokulturell orientierten Strukturaufbau die eine Ethnie anderen voranstellt und der sozialen Vielfalt der Schülerschaften auf diese Weise nicht länger gerecht werden kann. In der vergleichenden Dreiländer-Studie (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) von Werner Schiffauer (2002) präsentiert sich die Bundesrepublik Deutschland als eine Schicksalsgemeinschaft der Deutschen, wobei „Ausländer“ nicht Teil dieser Schicksalsgemeinschaft seien. Anders als in Großbritannien fände die langjährige Geschichte der Migration in Deutschland wenig bzw. kaum Beachtung. Weiterhin wird festgestellt, dass in Deutschland die Vermittlung von gesellschaftlich akzeptiertem Verhalten in der Verantwortung der Familien liege, während in Frankreich diese Verantwortung von den Schulen getragen würde. Dies sei eine Erklärung für die häufig fehlende Interaktion zwischen unterschiedlichen kulturellen Gruppen in Deutschland, da sie sich nicht verstehen. Heike Diefenbach und Bernhard Nauck (2000) betonen die Notwendigkeit einer Umgestaltung des deutschen Bildungswesens, so dass eine „institutionelle Diskriminierung“ der Einwander:innen ausgeschlossen werden könne, da der Bildungserfolg von Jugendlichen mit Migrationsgeschichte für ihre Lebenschance von zentraler Bedeutung sei (vgl. Diefenbach/Nauck 2000: 43). Auch Mechthild Gomolla und Frank-Olaf Radtke (2000) konstatieren, dass institutionelles Handeln eine wesentliche Ursache für die vorhandenen Ungleichheitsmuster zwischen Kindern und Jugendlichen verschiedener Ethnien an deutschen Schulen sei. Sie sprechen von „Mechanismen“ direkter und indirekter Diskriminierung allochthoner Schüler:innen, die meist unsichtbar, nur an ihren Effekten ablesbar und auf der Entscheidungsebene schwer nachzuweisen seien. Die Autor:innen sprechen die Notwendigkeit von bildungs- und schulpolitischen Maßnahmen sowie einer aktiven Antidiskriminierungspolitik an, um die „Sonderbehandlung“ von Migrantenkindern und ihre Ausgrenzung zu unterbinden. Zur gerechten Handhabung der Heterogenität in den Schulen und zur Unterstützung mehrsprachiger Jugendlicher plädiert Martina Weber für eine schulbegleitende Unterstützung allochthoner Schüler:innen in Form einer Vermittlung von unterrichtsbezogenen Fachsprachen, individueller Beratung und Hilfestellung beim Lernen und bei der Entwicklung eigener Zukunftsperspektiven (vgl. Weber 2003: 272 f.).

 

Eine differenzierte Untersuchung der Lebensphase der Adoleszenz in Verbindung mit Migrationserfahrung bedarf ebenfalls der Einbeziehung von „Geschlecht“ als eine zentrale Forschungskategorie. Trotz der vorhandenen Untersuchungen über die geschlechtsspezifische Identitätsbildung und der bewussten Einbeziehung der ethnischen Herkunft in die Erforschung der Lebenssituation von Menschen mit Migrationsgeschichte ((King/Flaake 2005, Nökel 2002, Rohr 2001, Bohnacker 2001) herrscht auf dem sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Forschungsgebiet nach wie vor die Grundtendenz, sowohl in der Jugend- als auch in der Geschlechter- und der Migrationsforschung eine Differenzierung nach dem Genderaspekt zu vernachlässigen (vgl. Booos-Nünning/Karakasoglu 2005: 15). Dies verwundert umso mehr, da die Notwendigkeit einer differenzierten genderspezifischen Betrachtungsweise der heterogenen sozialen Gruppen in der Einwanderungsgesellschaft längst nicht mehr zur Debatte steht. Die Geschlechtsidentität hat sowohl Einfluss auf die Wahrnehmung als auch auf die Bewältigung adoleszenter Anforderungen. Nach Ursula Apitzsch (2003) stellt Adoleszenz in der Migration nicht nur im Vergleich zur Adoleszenz autochthoner Jugendlicher etwas Spezifisches dar, sondern auch in ihrem Prozess des „doing gender“. Die Betrachtung der geschlechtsspezifischen Entwicklung in der Adoleszenz ist für das Verständnis der individuellen und kollektiven Entscheidungs- und Handlungsstrategien einer sozialen Gruppe von enormer Wichtigkeit. Der Prozess des Zur-Frau- oder Zum-Mann-Werdens leitet den Abschied von der Kindheit ein und veranlasst oder - präziser ausgedrückt - erzwingt die Heranwachsenden, sich auf eine neue Weise mit ihrer zukünftigen Geschlechterrolle zu beschäftigen. Körperliche, psychische und soziale Prozesse treten in eine besondere und neue Wechselwirkung zueinander (vgl. Flaake/King 2003). Die Heranwachsenden begeben sich auf einen neuen Pfad der geschlechtsspezifischen Selbstfindung und der Verortung ihrer biografisch angeeigneten und weiterzuentwickelnden Geschlechterzugehörigkeit in der Gesellschaft. Hierbei spielen die Eltern als Identifikationsfiguren eine zentrale Rolle. Die Tochter nimmt wahr, dass sie nun eindeutig zum Geschlecht der Mutter gehört (vgl. Flaake 2001: 226). Das Gleiche gilt für den Sohn im Verhältnis zu seinem Vater. Dieser Prozess, bei dem es um das Akzeptieren einer eindeutigen soziokulturellen Geschlechterzugehörigkeit geht, verläuft nicht immer reibungslos, besonders wenn sich ein Kind bis dahin eher am gegengeschlechtlichen Elternteil orientiert hat. Sich nun als Mädchen endgültig dem Geschlecht der Mutter bzw. als Junge dem Geschlecht des Vaters anzunähern, stellt sich dann als eine Herausforderung dar, die mit innerfamiliären Konflikten einhergehen kann. Carol Hagemann-White (2003) spricht in diesem Zusammenhang von Konflikten mit den Eltern und der älteren Generation, die durch den biologischen Wandel der Pubertät ausgelöst werden (vgl. Hagemann-White 2003: 65). Der Blick auf die Herkunftsfamilie als ein konfliktbeladener Ort der Auseinandersetzung mit Geschlechterzugehörigkeiten und Identitätsfragen schließt die erzieherischen und sozialisationsbedingten Merkmale individueller Prägung der Heranwachsenden mit ein. So ist es wichtig zu schauen, welche soziokulturellen Geschlechterbilder in der Familie reproduziert und welche Anteile daraus von den Jugendlichen übernommen, reflektiert und umgestaltet werden.

 

Meine Interviewpartnerinnen nehmen die Adoleszenz als eine Lebensphase wahr, in der sie verstärkt mit ihrer Geschlechterrolle und den Vorstellungen und Bildern von Weiblichkeit und Männlichkeit aus zwei kulturellen Räumen konfrontiert werden. Sie sind um die Herstellung einer Kontinuität zwischen ihren beiden kulturellen Sphären bemüht und versuchen, Lösungsstrategien zu entwickeln, um die differenten kulturellen Anforderungen zu vereinbaren. Diese Bemühungen und die daraus resultierenden Strategien der jungen Frauen bei der Bewältigung kultureller Differenzen sind es, die den Weg für die Entstehung neuer Identitäten anbahnen und die in den erzählten Lebensgeschichten zum Tragen kommen.

2. Intergenerationale Beziehungen in Familien mit Migrationserfahrung

 

Seit Ende der 1990er Jahre gibt es zunehmend Untersuchungen zu den Beziehungsstrukturen zwischen den Generationen in der Migration, die nicht wie zuvor üblich aus einem defizitären Blick, sondern aus der Sicht der Betroffenen selbst und lösungsorientiert durchgeführt wurden (Boos-Nünning/Karakasoglu 2005, King 2005, Hummrich 2003, Baros 2001). Die Autor:innen signalisieren die Unerlässlichkeit der Betrachtung familialer Beziehungsgefüge für die Jugend- und Migrationsforschung, da die Familie einen zentralen Faktor der Lebenswelt der Individuen mit dem jeweiligen kulturellen, religiösen und bildungsspezifischen Hintergrund darstelle. Die Auseinandersetzung mit den Familienmitgliedern bedeutet in der Phase des Heranwachsens gleichzeitig auch eine Auseinandersetzung mit der Migrationsgeschichte der Familie und den damit verbundenen Erfahrungen. So wie die Migration an sich ein Wandel bedeutet, sind die innerfamiliären Dynamiken nach der Ankunft im Aufnahmeland ebenfalls von Bewegungsabläufen gekennzeichnet, die sich während der Adoleszenz in der Auseinandersetzung der Heranwachsenden mit der Elterngeneration im neuen gesellschaftlichen Kontext innerhalb von zwei bzw. mehrfach soziokulturellen Räumen vollziehen.

Die Transformation der Migrationsprozesse gepaart mit der Transformation adoleszenter Anforderungen wird von Vera King und Angelika Schwab als eine „doppelte Transformationsanforderung“ beschrieben, mit der es diese jungen Menschen zu tun haben (King/Schwab 2000). Die Aspekte der „Trennung“ und der „Umgestaltung“ benennen die Autorinnen als spezifische Merkmale sowohl der Adoleszenz als auch der Migration. Nicht nur die Veränderungsprozesse zwischen Kindheit und Erwachsensein, sondern auch die Erfahrung der Migration an sich bedürften einer von den Individuen selbst geleisteten Transformation. Diese Transformation, an der die Töchter und Söhne wie die Eltern beteiligt sind, bezeichnet King als „intergenerational“ (King 2005: 61). Das bedeutet, dass die Bewältigung der Adoleszenz in Verbindung mit der Migrationserfahrung seitens der Kinder und die Verarbeitung der Migration seitens der Eltern in einer „subtilen Weise“ in Wechselwirkung zueinander stehen. In der Adoleszenz der Kinder werden „die Migration, ihre Folgen für die Familie und der Art der Verarbeitung seitens der Eltern zwangsläufig ein Thema“ (King 2005: 61). Dies beinhaltet eine sich gegenseitig bedingende Transformationsentwicklung der Migration sowohl in der Generation der Adoleszenten als auch in der ihrer Eltern. Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakasoglu (2005) sprechen in diesem Zusammenhang von Veränderungen in den Erziehungsstilen der Eltern in der Migration und deren Einfluss auf die Entwicklung der Familienstrukturen. Merle Hummrich (2003) belegt in ihrer Untersuchung zu „Generationsbeziehungen bildungserfolgreicher Migrantinnen“ auf anschauliche Weise, dass Angehörige der ersten Migrantengeneration in ihrer Rolle als Eltern von den Handlungen und Bestrebungen ihrer Kinder bewegt und beeinflusst würden und dass die Transformationsentwicklungen der Kinder in einem generationalen Zusammenhang stünden, so dass die Wandlungen und möglichen Veränderungen in der Elterngeneration hinsichtlich kultureller Wahrnehmungen und Überzeugungen bei der Untersuchung adoleszenter Herausforderungen der Töchter und Söhne in der Migration stets mitzubedenken seien. Weiterhin spricht Hummrich von einer „internen Transformation“ im Prozess der Subjektrekonstruktion, die in einem Balanceakt zwischen den Differenzen der Herkunftsfamilie und den Werten und Normen der Aufnahmegesellschaft, wie sie im Bildungssystem repräsentiert würden, stattfinde. Während sich die Übertragung soziokultureller Werte im familiären Prozess vollzieht, geschieht deren Übernahme und Umsetzung in einem gesellschaftlichen Kontext. Folglich ist die Identitätsbildung in ein Geflecht aus familialen und gesellschaftlichen Möglichkeitsräumen eingebunden, in die sich die Heranwachsenden hineinbegeben. Daher ist die Betrachtung der Beziehung zu der Elterngeneration und deren Veränderungen für das Verständnis der Entscheidungsmotive und der Bewältigungsstrategien der Adoleszenten in der Phase des Erwachsenwerdens unabdingbar; dies stets in dem Bewusstsein, dass die Entwicklung bei Mädchen und Jungen sowohl zeitlich als auch sozial- und entwicklungspsychologisch unterschiedlich verläuft (vgl. Hagemann-White 2003: 66).

 

Um einen möglichst gegenstandsnahen und realistischen Eindruck von den intergenerationalen Beziehungen zu gewinnen, bieten sich besonders empirische Untersuchungen mit Interviews und teilnehmender Beobachtung an, in denen die Untersuchungsgruppen selbst zur Sprache kommen. So ist es auch mein Anliegen gewesen, über biografische Interviews mit den jungen Frauen herauszufinden, wie sie die Phase der Adoleszenz im intergenerationalen Kontext wahrnehmen und die soziokulturellen Anforderungen in der Lebenswelt der Familie und der Lebenswelt der Aufnahmegesellschaft bewältigen und verarbeiten. Daher werden unter der Berücksichtigung der Gesamtbiografie die migrationsbedingten Entwicklungs- und Veränderungsprozesse in der Beziehung der Heranwachsenden zu ihren Müttern, Vätern und Geschwistern beleuchtet.

II. Methodologie und Methode

 

1. Qualitiative Forschung und Rekonstruktion von Biografien

 

Das Wort „qualitativ“ stammt von dem griechischen „qualia“ ab, was „ganzheitlich“ bedeutet. So versucht die qualitative Forschung, ganzheitliche Merkmale eines sozialen Feldes möglichst gegenstandsnah zu erfassen (vgl. Terhart 1997: 27). Kennzeichnend für eine qualitative Annäherung ist die Offenheit der Forscherin und des Forschers gegenüber dem Untersuchungsfeld und die Entdeckungsbereitschaft für das Neue. Dabei wird auf vorab formulierte Hypothesen und deren Überprüfung an der Wirklichkeit weitgehend verzichtet. Bei dieser Herangehensweise werden entstehende Fragestellungen und theoretische Überlegungen im Laufe des Forschungsprozesses ständig modifiziert und erweitert. Ein weiteres Merkmal qualitativer Forschungsansätze ist das Einbeziehen der Forscherin und des Forschers in das Feld und die Reflektion über die Interaktion mit dem Untersuchungsgegenstand. Aufgabe der Forschenden ist es, die Sicht der Handelnden sowie den Ablauf sozialer Situationen oder Regeln im Untersuchungsfeld zu verstehen und verstehbar zu machen. Klassische Güterkriterien, die weitgehend aus der quantitativen Forschung stammen und für die qualitative zum Teil reformuliert wurden (vor allem die Güterkriterien der Validität und der Reliabilität), wurden in den letzten Jahren durch neuere methodenangemessene qualitative Kriterien ersetzt. Dazu zählen unter anderem das Konzept der analytischen Induktion sowie die Kombination zweier oder mehrerer Auswertungsverfahren, wie sie dieser Studie zugrunde liegen.

 

Die analytische Induktion zielt auf die Entwicklung einer vorläufigen Theorie auf der Basis von Fallanalysen. Dabei wird so lange nach abweichenden Fällen gesucht, bis eine universelle Annahme erreicht ist. Diese Herangehensweise macht sich die Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967/2005) zu eigen, indem sie weniger als eine Methode, sondern als ein Stil und eine Methodologie versucht, soziale Phänomene analytisch zu erforschen und die in den Daten schlummernden Theorien zu entdecken. Im Forschungsprozess ist das Benutzen wissenschaftlicher Vorkenntnisse und das Wissen der Forschenden über das Untersuchungsthema genauso wichtig wie die Bereitschaft zu deren Revision. Dazu bedarf es die Fähigkeit, sensibel, detailliert und gründlich bei der Untersuchung und der Analyse empirischer Phänomene vorzugehen und gleichzeitig offen zu sein für neue Entdeckungen. Das Prinzip der Offenheit spielt im gesamten Forschungsprozess eine zentrale Rolle, da jederzeit neue Aspekte und unerwartete Gesichtspunkte auftauchen können, die zur Umstrukturierung des Forschungsablaufes oder gar der anfänglichen Fragestellung führen können. Eine Vorgehensweise bei der Untersuchung sozialer Phänomene, die zunehmend in der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Einsatz kommt, stellt die Analyse von erzählten Lebensgeschichten dar.

 

Die Migrationsprozesse und Globalisierungsfolgen der letzten Jahrzehnte haben die Herausbildung diversifizierender Lebensverhältnisse enorm begünstigt und dazu geführt, dass das sozialwissenschaftliche Muster der „Normalbiografie“ von einer Vielzahl an unterschiedlichen Biografieentwürfen abgelöst worden ist. Die Existenz eines leitenden Konzeptes von Biografie gehört längst nicht mehr zu den Alltagsstrukturen unserer Gesellschaft. Dies bewirkt, dass unsere Gesellschaft heute mehr Risiken in sich birgt, da sie undurchsichtiger geworden ist, aber auch mehr Chancen als je zuvor bietet auf soziale Veränderungen und den Ausbau und die Weiterentwicklung demokratischer Strukturen, da sie durch die Komplexität der Lebensverhältnisse der darin lebenden Menschen dazu herausgefordert wird. Insofern erweist sich die Rekonstruktion von Biografien als äußerst hilfreich, um über die Untersuchung von individuellen Erfahrungs- und Erlebniswelten in Verbindung mit den sozialen Gegebenheiten dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft näherzukommen (vgl. Rosenthal 1995). Um komplexe Biografien rekonstruieren zu können, bedarf es geeigneter sozialwissenschaftlicher Instrumente und Methoden der Erhebung und der Analyse. Drei rekonstruktive Verfahren der empirischen Sozialforschung, die sich in der Biografieforschung etabliert haben, sind das biografisch-narrative Interview nach Fritz Schütze, die objektive Hermeneutik nach Ulrich Oevermann und die dokumentarische Methode nach Ralf Bohnsack. Da hier das biografisch-narrative Interview als Instrument zur Rekonstruktion von biografischen Erzählungen zugrunde liegt, soll die Vorgehensweise mit diesem Verfahren im Folgenden näher erläutert werden.

 

2. Das biografisch-narrative Interview

In meiner Untersuchung versuche ich mich auf der Basis biografisch-narrativer Interviews (Schütze 1983) der Erhebung lebensweltlicher Erfahrungsräume meiner Gesprächspartnerinnen anzunähern. Die Frage, die zu Anfang des Interviews als Erzählstimulus gestellt wird, lautet: „Kannst du mir etwas über dein Leben erzählen?“ Die Gesprächspartnerin beginnt mit ihrer spontanen Erzählung, ich höre zu und unterbreche sie nicht, bis ihre Erzählung zu Ende ist und sie mir dies in irgendeiner Form signalisiert. Die Anfangserzählungen können unterschiedlich lang sein; so dauern sie bei meinen Gesprächspartnerinnen zwischen zehn Minuten und einer Stunde. Erst wenn ihre Antwort auf die Eingangsfrage beendet ist, was häufig durch eigene Coda wie „Das war´s.“ oder „Mehr fällt mir im Moment nicht ein.“ etc. signalisiert wird, folgen Verständnisfragen von meiner Seite zum Erzählten. In einem vorbereiteten Nachfrageteil werden zusätzliche thematische Fragen zur Lebensphase der Adoleszenz angesprochen und beantwortet. Diese Form des Interviews ermöglicht es den Befragten, ihre Prioritäten beim Erzählen ihrer Biografie selbst zu setzen und somit den Schwerpunkt auf die ihnen wichtig erscheinenden Aspekte und Ereignisse im Prozess der Identitätsfindung zu legen.

 

Durch die Wahl meiner Eingangsfrage, mir „etwas“ aus ihrer Lebensgeschichte zu erzählen, sortieren die Interviewpartnerinnen im raschen Tempo ihre Gedanken und legen spontan den Fokus ihrer Erzählung auf einen bestimmten Sachverhalt. Somit beinhaltet das wie beiläufig in meiner Frage enthaltene Wort „etwas“ eine lenkende Funktion auf die Entscheidung der Interviewten bezüglich ihrer Erzählung. Sie legen sich zu Beginn des Interviews auf einen für sie als wichtig und erzählenswert erscheinenden Aspekt oder einen wichtigen Abschnitt aus ihrem Leben fest. Shirin zum Beispiel entscheidet sich spontan dafür, mir „etwas“ über das Iranischsein aus ihrem Leben zu erzählen, um später auf Ereignisse zurückzukommen, die zeitgleich zu ihrer Geburt und danach passiert sind. Sie möchte mir als erstes über ihre Kriegserlebnisse berichten, die sie unter anderem mit der Tatsache in Verbindung bringt, dass sie eine Iranerin ist, die einen Teil ihrer Kindheit in einer Kriegssituation verbracht hat. Roxana beginnt ihre Erzählung mit ihrer Kindheit in Deutschland. Ihre frühen Erlebnisse aus dem Iran baut sie erst später in ihre Erzählung ein. Ihr ist es wichtig, mir zunächst über die schönste Zeit ihres Lebens zu berichten, nämlich ihre Kindheit in Deutschland. Sara wiederum antwortet mir auf meine Eingangsfrage, mir etwas aus ihrem Leben zu erzählen, ebenfalls mit einer Frage. Sie möchte wissen, ob sie mir etwas aus ihrem Leben „in Deutschland“ oder „überhaupt“ erzählen soll. Für sie scheint in Deutschland ein neues Kapitel ihres Lebens begonnen zu haben, was sich im Laufe des Interviews bestätigt. Die Kontinuität, die sie in ihrer Bindung zu ihren Eltern im Iran erfahren hat, wird zwei Jahre nach der Auswanderung nach Deutschland durch den plötzlichen Tod ihrer Mutter unterbrochen, der Vater kehrt in den Iran zurück und Sara lebt fortan bei ihren „iranischen“ Großeltern in Deutschland. Vida erzählt als Erstes, wann sie nach Deutschland gekommen ist und knüpft daran sogleich ihre Erinnerung an die Auswanderung, die ihr als Kind zunächst wie eine Reise mit Rückkehr vorgekommen ist, bis ihr nach zwei Wochen langsam „bewusst“ wurde, dass „es für immer ist“. Sie hat Sehnsucht nach all den Dingen gespürt, die sie nicht in ihren Koffer gepackt hatte, und sich mit neun Jahren gefragt: „Ah Mann, was hast du alles liegen lassen?“

Indem sich die Gesprächspartnerinnen zunächst für die Erzählung von „etwas“ Bestimmtem aus ihrem Leben entscheiden, erfahre ich als Interviewerin gleich am Anfang, was ihnen aus ihrer Biografie spontan zentral erscheint und sie zum Zeitpunkt des Interviews besonders beschäftigt. Möglich, dass meine Gesprächspartnerinnen diese Eingrenzung ohnehin vorgenommen hätten, auch wenn die Eingangsfrage gelautet hätte: „Kannst du mir bitte über dein Leben erzählen?“, denn bereits die besondere Interviewsituation und die nicht endlos verfügbare Zeit verursachen „narrative Zugzwänge“, denen die Darlegung lebensgeschichtlicher Daten folgen (Schütze 1981). Meine Art der Fragestellung stützt den „Zugzwangcharakter“ des narrativen Interviews und macht der Interviewten das Angebot, „etwas“ aus dem großen Repertoire des Lebens zu erzählen, was die jungen Frauen positiv aufnehmen, wie es in der Reaktion meiner Interviewpartnerin Narges auf die Eingangsfrage besonders deutlich wird:

„Über ein Leben kann man stundenlang erzählen, aber ich versuch´s mal äh so bisschen einzuschränken, das was ... ... irgendwie den äußeren Rahmen meines Lebens ausmacht. So, ich bin […]“

 

Die jungen Frauen beginnen auf eine authentische Weise aus ihrem Leben zu berichten. Dabei komponieren und kommentieren sie die Erlebnisse und Erfahrungen aus ihrem Alltag und setzen dabei stets sich selbst und ihre Umwelt, Subjekt und System, in einen Zusammenhang (vgl. Nökel 2002). So können über die Analyse einzelner narrativer Interviews Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge gezogen werden, in denen die Erzählenden ihre Sozialisation erfahren haben.

 

Die Tatsache, dass ich die Herkunft meiner Interviewpartnerinnen teile, verschafft uns eine vertrauensvolle Atmosphäre, die vor allen Dingen auf dem gemeinsamen Sozialisationshintergrund und dem Teilen eines gemeinsamen geschichtlichen Zeitverständnisses beruht. Meist am Ende der narrativen Erzählungen betonen die Gesprächspartnerinnen, dass diese Art der Erzählung ihnen geholfen habe, über Erlebnisse zu berichten, die sie auf diese Weise noch nicht zur Sprache gebracht hätten. Dass sich jemand mit ähnlichem Erfahrungshintergrund auf wissenschaftlicher Basis für ihre Lebensgeschichte interessiert, wirkt auf sie erfrischend und hoffnungsbeladen. Die narrativen Erzählungen meiner Interviewpartnerinnen können als „Teil eines kollektiven Gedächtnisses seit der iranischen Revolution von 1979“ bezeichnet werden, das sich durch Migration und Neuanfang in der deutschen Ankunftsgesellschaft formiert.

 

3. Erhebung und Auswertung der Daten

Meine Studie basiert auf vierzehn biografisch-narrativen Erzählungen von Frauen iranischer Herkunft, die zum Zeitpunkt der Interviews zwischen zwanzig und dreiunddreißig Jahre alt gewesen sind. Die Interviews wurden in einer zeitlichen Abfolge von etwa vier Monaten auf der Grundlage der Grounded Theory durchgeführt. Mit der Verschriftlichung und der Rekonstruktion der ersten erzählten Lebensgeschichten wurde bereits während der laufenden Interviewphase in den Interpretationsgruppen begonnen. Folglich konnten bereits in einem frühen Forschungsstadium die empirischen Daten miteinander in Vergleich gesetzt und auf ihre Übereinstimmungen und Kontrastierungen hin überprüft werden, so dass sich erste Annahmen und Konzepte herauskristallisierten, die im weiteren Arbeitsverlauf präzisiert und zusammengefügt werden konnten. Beim Ordnen der vielfältigen Einsichten und bei der Untersuchung der aus der Empirie entstandenen theoretischen Entdeckungen wurde so lange nach abweichenden Fällen gesucht, bis sich ein Zustand der Datensättigung (theoretical sampling) einstellte. Sicherlich hätte ich zur weiteren Überprüfung und Festlegung der Erkenntnisse noch viele weitere Interviews führen können, die wiederum das Feld für neue Entdeckungen geöffnet hätten. Genau aus diesem Grund ist die Entscheidung für eine qualitative Studie stets auch eine Entscheidung gegen die Erhebung von massenhaften Daten, die bei ihrer Auswertung nach anderen Kriterien verlangen als eine auf wenige Daten und Einsichten komprimierte Studie, die sich die detaillierte Analyse der bisher wenig entdeckten Lebensphase der Adoleszenz bei einer spezifischen Gesellschaftsgruppe zum Thema macht. Die gleichzeitige Erhebung und Auswertung der Daten als ein zirkuläres Verfahren erwies sich als eine ertragreiche Vorgehensweise, um die wechselseitige Wirkung der in den Interviews schlummernden Informationen zuzulassen und so die fortlaufende Entdeckung und Bildung neuer Theorien in einem fluiden Forschungsprozess (vgl. Strauss/Corbin 1994: 279) zu ermöglichen.

 

3.1 Memos

Zur gesamten Untersuchungsdauer gehörten Einträge in ein Forschungstagebuch, das sich als unentbehrlich für den Fortschritt der Studie erwies. Darin wurden unmittelbar nach den Interviews Ideen sowie methodische und konzeptuelle Fragen festgehalten, die im weiteren Verlauf geordnet und präzisiert in das Analyseverfahren integriert wurden. Auch die von mir als Forscherin wahrgenommenen Empfindungen in der Interviewsituation und die Eindrücke zu den jeweiligen Interviews und den Gesprächspartnerinnen konnten mit Hilfe der Memos zunächst in einem geschützten Rahmen ohne äußere Beurteilung verschriftlicht und daran anknüpfend in unterschiedlichen Settings (vgl. II. 4) aufgearbeitet und reflektiert werden. Die Eindrücke und Zwischenergebnisse der einzelnen Gruppensettings wurden ebenfalls in das Forschungstagebuch eingetragen und so in einen kontinuierlichen Denkprozess eingebunden. Das Integrieren einer fortlaufenden Reflektion sowohl der Arbeitsschritte als auch der Reaktionen der Forscherin und des Forschers selbst als ein im Prozess involviertes Subjekt bieten Strategien, die einzelnen Vorgehensschritte transparent zu gestalten, eigene Grenzen und Chancen kennen zu lernen und diese für die Arbeit nutzbar zu machen. Die Memos und deren Aufarbeitung leisteten einen erheblichen Beitrag bei der konstruktiven Weiterführung der Arbeitsschritte und der Entwicklung theoretischer Konzepte.

 

 

3.2 Methodentriangulation

Die Auswertung der Interviews basiert auf einem triangulären Verfahren, welches Elemente aus der Narrationsanalyse von Fritz Schütze (1983) und der Tiefenhermeneutik, wie sie von Alfred Lorenzer (1986) als sozialwissenschaftliche Methode zur psychoanalytischen Kulturforschung entwickelt wurde, zusammenführt und miteinander verknüpft.

Die Narrationsanalyse oder die narrationsstrukturelle Auswertungsmethode wurde in den 1980er Jahren von Fritz Schütze in Anlehnung an die Grounded Theory von Barney Glaser und Anselm Strauss (1967/ 2005) zur Auswertung narrativer Erzählungen konzipiert und konnte seitdem in zahlreichen Untersuchungen der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung erfolgreich angewandt werden (vgl. Schreiber 2005, Nökel 2002, Rosenthal 1995, Riemann 1987). Mittlerweile gehört sie zu den am häufigsten verwendeten Methoden in der qualitativen Sozialforschung und ist ein fester Bestandteil der Biografielandschaft im deutschsprachigen Raum. Das narrationsanalytische Vorgehen nimmt besonders die Prozesshaftigkeit eines Lebenslaufes unter die Lupe und versucht, die Struktur des Erzählten genau zu beschreiben. Es wird untersucht, wie die Erzählenden ihre subjektive Erfahrung in die Kette der Lebensereignisse integrieren und welche Haltung sie dazu einnehmen. Dabei wird vorrangig der manifeste Sinn des Textes aus der Erzählung heraus erforscht, während gleichzeitig auch Irritationen, die durch Brüche im Text, Pausen und Leerstellen entstehen, mit in die Analyse einbezogen werden. Diese irritierenden Stellen in einem Text können Hinweise geben auf eine mögliche unbewusste und somit latente Ebene der Erzählung, deren Erforschung einer analytisch tiefgehenden Betrachtungsweise der Texte bedarf, die mittels tiefenhermeneutischer Textinterpretation ermöglicht werden kann.

Alfred Lorenzer entwickelte in den 1980er Jahren in einer kritischen Auseinandersetzung mit den psychoanalytischen Grundpositionen Sigmund Freuds ein Interpretationsverfahren für sozialwissenschaftliche Untersuchungen. Er wollte die psychoanalytische Hermeneutik, deren Begriffe für ihn nicht direkt auf die kulturwissenschaftliche Praxis übertragbar waren, für sozialwissenschaftliche Arbeiten zugänglich und anwendbar machen. Es gelang ihm, anknüpfend an die kulturtheoretischen Ansätze Freuds, ein methodologisch und methodisch reflektiertes psychoanalytisches Verfahren für die Sozialwissenschaften zu entwerfen, die er mit dem Begriff „Tiefenhermeneutik“ versah. Eine tiefenhermeneutische Analyse setzt die Annahme voraus, dass sich hinter dem gesprochenen Wort und dem manifesten Sinngehalt eines Textes ein latenter Erzählgehalt befindet, der aus verschiedenen Gründen nicht versprachlicht, jedoch stets mittransportiert wird. Das Unbewusste beschreibt Lorenzer als „die vom gesellschaftlichen Konsens ausgeschlossenen Lebensentwürfe“ (Lorenzer 1986: 27), welche jenseits der Werte und Normen liegen, die der Mensch sich im Laufe seines Lebens „aufzwängen“ lässt.

Das biografische Interview wird trotz seines narrativen Charakters und der als Monolog erscheinenden Erzählung am Anfang als ein Dialog zwischen zwei Akteur:innen verstanden, die sich durch ihre Vorerfahrungen, ihre Körpersprache und ihre Reaktionen beinflussen. Die Haltung der forschenden Person gestaltet von Beginn der Forschungssituation an den Gesamtprozess. Insofern liegt die Notwendigkeit der Betrachtung des Verborgenen weit vor dem Interview, nämlich bereits im Prozess der Suche nach geeigneten Interviewpartner:innen. Der erste Kontakt mit den Gesprächspartner:innen hat Einfluss auf den weiteren Verlauf der Beziehung zwischen der/dem Forschenden und den Interviewten. Die Art und Weise wie die Akteur:innen beim ersten Treffen aufeinander zugehen, und die Interviewsituation an sich beeinflussen die Reaktionen und die Antworten des jeweiligen Gegenübers und sollten mit in die Analysen einfließen. Als Forschende und Interviewerin muss ich mir meiner eigenen Rolle im Prozess bewusst werden und bereit sein, mich selbst immer wieder aus der Distanz und im Verhältnis zu den Informantinnen kritisch zu betrachten. Welche Rolle wird mir als Interviewerin im Gespräch übertragen und wie gehe ich damit um? Was löst mein Gegenüber in mir aus? Wie wirkt das Interview auf mich und auf die Gruppen, in denen es ausgewertet wird? Welche Assoziationen setzt das Interview beim Anhören vom Tonband und beim Lesen frei? Wie wirkt die Stimme der Interviewten auf mich als Forschende und auf die Gruppenmitglieder? Was macht das Erzählte mit uns? Welche Bilder und Eindrücke setzt es in uns frei? Die Übertragungen und Gegenübertragungen im gesamten Forschungsprozess, welche die Reaktionen und Assoziationen beinhalten, die bei den Akteur:innen durch ihre Anwesenheit und ihren verbalen und nonverbalen Austausch ausgelöst werden, sind fester Bestandteil in einem hermeneutischen Verstehensprozess (vgl. Devereux 1967).

 

Der erste Schritt bei der tiefenhermeneutischen Interpretation des transkribierten Interviews in der Gruppe ist es, den Text aufmerksam und „freischwebend“ zu lesen und dabei allen spontanen Assoziationen freien Lauf zu lassen. Alle Einfälle und Ideen, die entstehen, werden in Form von „brainstorming“ festgehalten und im späteren Verlauf auf ihre Verwendbarkeit hin überprüft. Das „freie Assoziieren“ ermöglicht ein sich Loslösen vom Text und ein Produzieren von Interpretationsmöglichkeiten, um zu den unbewussten Ebenen des Textes durchzudringen. Brüche im Text und Unstimmigkeiten im Erzählfluss lassen das freie Assoziieren ins Stocken geraten und geben Hinweise auf mögliche verborgene Sinngehalte. Das Festhalten von Irritationen und deren Bündelung zu einem Gesamtkomplex eröffnen die Möglichkeit von ersten Deutungsversuchen innerhalb der Interpretationsgruppe. Die entstehenden Deutungen müssen stets am Text belegbar sein und auf ihre Stimmigkeit hin innerhalb der Gruppe(n) so lange geprüft werden, bis sie als triftig gelten können oder verworfen werden. Diese Überprüfung der Deutungsversuche in einer zweiten und dritten Interpretationsgruppe kann als eine hilfreiche Korrektivvariable in der Bekräftigung der Interpretationsaussagen dienen. Bei der hier vorliegenden Untersuchung wurden diejenigen Analyseergebnisse übernommen, die sich in allen Forschungsgruppen bei der Rekonstruktion der Interviews als argumentativ gerechtfertigt erwiesen.

Im konkreten Analyseprozess der lebensgeschichtlichen Interviews sah die Zusammenführung der Elemente aus der narrationsanalytischen Methode und der Tiefenhermeneutik für diese Arbeit wie folgt aus: Zunächst wurde die Erzählung nach dem narrationsanalytischen Verfahren auf ihre formale Textsstruktur hin untersucht und in Segmente aufgeteilt. Das heißt, es wurde jeweils kodiert, wo die Erzählung zu einem bestimmten Thema beginnt und wo sie aufhört. Dabei wurde zwischen den narrativen und nicht-narrativen Abschnitten unterschieden. Während die narrativen Abschnitte das Handlungsmuster der Interviewpartnerin (Wie handelt sie?) widerspiegeln, enthalten die nicht-narrativen Abschnitte das Deutungsmuster der Erzählung (Wie steht die Interviewte zum Erzählten, was sind ihre Theorien und Gedanken?). Die narrativen Segmente wurden mit Überschriften versehen, die im Laufe der Analyse und mit zunehmender Übersichtlichkeit der Gesamtgestalt der Interviews zum Teil verändert oder ergänzt wurden. Die herausgearbeiteten Segmente wurden einzeln auf ihren Erzählgehalt hin beschrieben. Eine solche deskriptive Vorgehensweise ermöglicht die Bildung von ersten biografieanalytischen und theoretischen Kategorien, die im Verlauf der Arbeit im Sinne der Grounded Theory verworfen, modifiziert und erweitert werden können.

Diese Auswertungsphase leitete einen tieferen Einstiegsprozess in die einzelnen Themenfelder und Lebensphasen der jungen Frauen ein. Ich begann, mich mit den unterschiedlichen biografischen Lebensabschnitten zu befassen, die in den Interviews häufig unchronologisch auftauchten, um einen analytischen Blick für die Erzählungen zu gewinnen. Dabei stellte sich der Inhalt der ersten Sequenz als ausschlaggebend für die gesamte biografische Erzählung heraus, da hier häufig das für die Erzählende zentrale Thema der Lebensgeschichte zum Tragen kommt. Transparent wird dieser Aspekt besonders in der Darlegung der ausführlichen Interpretation von den Interviews mit Shirin und Roxana in Kapitel IV. Die erste Sequenz erwies sich in allen vierzehn geführten Interviews als eine Art Inhaltsangabe der gesamten Erzählung.

Nach der deskriptiven Textanalyse einzelner Interviewabschnitte wurden die Abschnitte in eine chronologische Reihenfolge gebracht, um einen Zusammenhang zwischen zeitlich aufeinanderfolgenden biografischen Erlebnissen herzustellen und die gesamte Lebensgeschichte zunächst in ihrem Verlauf transparent zu machen. In dieser Phase begann ich, durch das wiederholte Lesen und Beschreiben der Texte und durch die gleichzeitige Interpretation in Forschungsgruppen unterschiedliche Lesarten der Interviews zu entdecken und wie eine „Archäologin“ die tieferen Sinnstrukturen der Erzählungen Schicht für Schicht zu rekonstruieren (vgl. Belgrad 1996). Die Interviews mit Shirin und Roxana, welche eine besondere Anhäufung an adoleszenten Themen und Konflikten aufweisen, wurden in ihrer gesamten Erzähl- und Textfülle tiefenhermeneutisch interpretiert. Das Interview von Roxana war zudem mit dreiundfünfzig transkribierten Seiten das längste Interview und enthält die längsten narrativen Passagen. Da eine tiefenhermeneutische Analyse aller Interviews aus zeitlichen Gründen nicht möglich war, wurde der Fokus bei den weiteren Interviews auf die besonders für die Untersuchung der Phase der Adoleszenz relevanten Passagen gelenkt. So stellte sich die strukturelle Beschreibung der Interviews als ein vielschichtiger Analyseprozess heraus, in dessen Verlauf ganze Textpassagen ständig voneinander abgesetzt sowie wieder aufeinander bezogen wurden, um einzelne Textstellen und Erzählstränge besser verstehen, Irritationen entschlüsseln und vergleichen zu können.

Diese Kombination aus Beobachten, Sichentfernen von den Texten, um sich ihnen wieder anzunähern, erfordert vor allen Dingen eines: Geduld. Als Forscherin musste ich die Bereitschaft aufweisen, Zeit als eine dehnbare Einheit in meinem Arbeitsvorgehen zu akzeptieren, da sich der Arbeitsprozess nicht nach einem bestimmten Schema abwickeln lässt, sondern vielmehr nach - zum Teil unvorhersehbar - intensiver Zeit und einem psychologischen Spürsinn im Umgang mit den Texten verlangt. Manifeste und latente Sinngehalte der Erzählungen erschließen sich häufig erst beim wiederholten Betrachten aus verschiedenen Perspektiven. Gerade die unscheinbaren Erzählformen, ausgelassenen Worte und Brüche im Text offenbarten sich häufig bei der wiederholten Durchsicht der Protokolle und der Memos als essenzielle Stellen, um Sinngehalte zu erschließen.

Im Anschluss an die strukturelle Beschreibung der narrativen Segmente folgte die Einbettung aller Segmente in einen größeren biografischen Zusammenhang. Was gibt die biografische Analyse und die Herausarbeitung der Lebensphase der Adoleszenz mit ihren vielschichtigen Themenfeldern in ihrer Gesamtheit her und wie schätzen die Befragten ihre Lebensgeschichte selbst ein? Was wurde erzählt und welche Einstellung haben die Interviewten selbst zu ihren Lebensgeschichten? Wie gehen sie damit um? Die Klärung dieser Fragen und die Betrachtung der Biografie in ihrer Gesamtheit mit dem Fokus auf der Phase der Adoleszenz ist ein zentraler Schritt der Arbeit, um die Interviews miteinander in Beziehung setzen und vergleichen zu können. Bezogen auf das Thema meiner Arbeit war es für die vergleichende Analyse ausschlaggebend, wie die jungen Frauen die Phase des Erwachsenwerdens erleben und welche Bewältigungsstrategien sie im Umgang mit den adoleszenten Anforderungen in der Migration entwickeln. Auf diese Weise wurden die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede in den adoleszenten Umgehensweisen der jungen Frauen festgehalten und über den Vergleich der verschiedenen Erzählungen zugunsten der Gewinnung allgemeiner Aussagen in die Theoriegenerierung eingebettet. Bereits früh zeigte sich die Kombination der beiden Erhebungsverfahren der narationsanalystischen und der an die Tiefenhermeneutik angelehnten Methode als bereichernd und als sich gegenseitig ergänzend. Die einzelnen Arbeitsschritte verschmelzen im konkreten Analyseprozess miteinander, was sich auch in der Art der Wiedergabe der Gesamtergebnisse widerspiegelt.

 

Bei der Theoriegewinnung handelt es sich um eine vornehmlich induktive Vorgehensweise, bei der die theoretischen Forschungshypothesen in einer synchron verlaufenden Auseinandersetzung mit dem empirischen Material entwickelt wurden. Zwar gab es im Vorfeld Hypothesen, die aufgrund bereits vorhandener Forschungsergebnisse und eigener Vorannahmen existierten, jedoch fungierten diese - im Gegensatz zu einer deduktiven, auf die Prüfung der Hypothesen ausgerichteten Vorgehensweise -, nicht als leitende Variablen im Forschungsprozess. Die Entscheidung für eine rekonstruktive induktive Methode zielt darauf, die Gefahr einer Datenverzerrung durch das Einbringen möglicher unangemessener Vorannahmen zu verringern, um sich dem Entdecken neuer und gegenstandsbezogener Konzepte im Sinne von Glaser und Strauss (1984) zuwenden zu können.

 

4. Auswertungssettings und Ergebnisvalidierung

Die Interviews wurden in einem kontinuierlichen zweijährigen Analyseprozess in zum Teil parallel verlaufenden Forschungsgruppen zur Diskussion gestellt und ausgewertet. Dabei handelt es sich um sozial-psychologisch ausgerichtete interdisziplinäre Kolloquien sowie eine Forschungswerkstatt für qualitative empirische Sozialforschung, eine Auswertungsgruppe für für tiefenhermeneutische psychoanalytische Kutlturforschung, die gleichzeitig auch als Forschungsgemeinschaft zur Supervision fungierte, sowie einzelne Settings mit Wissenschaftler:innen für zusätzliche Besprechungen und Reflektionen der Interviews.

Die Interpretationsgruppen waren im gesamten Forschungsprozess eine zuverlässige Quelle und ein zentrales Korrektiv für die Ergebnisse der Untersuchung, ohne die das Auswertungsziel der Daten in dieser Kombination nie zustande gekommen wäre. Die vielfältigen Gelegenheiten der Präsentation und Diskussion des „work in progress“ auf Tagungen und Workshops trugen wesentlich zur weiteren Ergebnisvalidierung bei.

III. Die empirische Untersuchung

 

1. Die Untersuchungsgruppe

 

Meine Gesprächspartnerinnen kamen in ihrer Kindheit oder frühen Jugend in den 1980er Jahren aus dem Iran nach Deutschland, wo sie seitdem ihren Lebensmittelpunkt haben. Grund für die große Welle der Emigration in den 1980er Jahren, die in dieser Form erstmalig in der Geschichte Irans stattfand, waren die politischen, soziokulturellen und ökonomischen Folgen der iranisch-islamischen Revolution von 1979 und des darauffolgenden achtjährigen Krieges zwischen Iran und Irak (der erste Golfkrieg). Daher war die Emigration auch gepaart mit der Hoffnung der Eltern auf mehr Sicherheit und Chancen für die Zukunft sowie auf bessere Bildungsmöglichkeiten für die Kinder.