Neues Land - Nicole Weis - E-Book

Neues Land E-Book

Nicole Weis

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Beschreibung

Eine Neubausiedlung, drei Frauen und ihre Freundschaft. Anna, Sandra und Vanessa ziehen gemeinsam mit ihren Familien in die Neubausiedlung einer schwäbischen Kleinstadt, wo sie sich durch große Fensterfronten zuwinken können. Über ihre Kinder lernen sie sich näher kennen und stellen sich der Herausforderung, trotz unterschiedlicher Lebenseinstellungen von Nachbarinnen zu Freundinnen werden zu können. Auf dem Weg dorthin verändern sie nicht nur ihre Einstellung gegenüber sich selbst, sondern auch gegenüber der Umwelt und entdecken, dass Freundschaft in Zeiten des Wandels die beste Art ist, dem Leben zu begegnen. Dabei wird die Geschichte dieser besonderen Nachbarschaft durch Alltägliches, aber auch Belastendes skizziert: Das Verschwinden von Freundschaften, der technische Fortschritt, der Immobilienwahnsinn, der Tod von Sandras Großtante, das (Über-)Leben von Annas Mutter in Hamburg, die Trennung zwischen Sandra und ihrem Mann, die Coronazeit und der zunehmende Klimawandel. Ein Buch, das fein, leise und langsam wachsend hinter die Fensterfronten schaut, hinein in einsame Herzen, in scheues Kennenlernen und in ein vorsichtiges Entstehen von Freundschaften und dabei nachhaltig aufzeigt, was im Leben wirklich wichtig ist.

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Nicole Weis

Neues Land

© 2021 Nicole Weis

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-18693-4

Hardcover:

978-3-347-18694-1

e-Book:

978-3-347-18695-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für unsere Kinder.

Inhalt

Sommer 2020

Die neue Welt

Begegnungen

Annas Katze

Nachbarn

Gegensätze

Kein Empfang

Pakete

Der Balkon

Die Schaukel

Grenzüberschreitungen

Anna

Das Frühjahr

Hinter dem Walnussbaum

Unsere gemeinsame Geschichte

Fast Dating

Sandra

Potenzial

Die Handballkatze

Vanessa

Annas Mutter

Das Tiny House

Rebellion

Annas Koffer

Geburtstage

Der Sommer, der nicht endete

Veränderung

Manche Dinge

Träume

Das Jahr, das nicht endete

Trennung

Kaleidoskop

Abschied

Die neue Welt

Nachwort - Ein Sommer

Seite fürs Poesiealbum

Das möchten wir?

Eine Villa aus Fenstern mit großer Terrasse

Vorne der Bodensee und hinten die Königsstraße

Mit unverbaubarer Aussicht, ländlich, aber mondän

Vom riesigen Badezimmer ist der Fernsehturm zu sehn

Abends zum Fitnessstudio ist es nicht weit

Morgens im Büro zelebrierst du die Heimarbeit

Das Ganze schlicht, die Dekoration von Algorithmen ausgewählt

Dank Facebook und Co kocht in deiner Küche auch die ganze Welt

Kein Garten, wo Eichen oder Linden draufstehen

Dafür eine Tiefgarage, größer als manch eine Wohnung anzusehen

Schrankzimmer, Smart-Home, Vakuum

Eine Dienerschaft, digital, aber nicht dumm

(modifiziert nach einem Gedicht von Kurt Tucholsky, 1927, „Das Ideal“)

Sommer 2020

Ich stehe mit dem Rücken zu den Dünen und beobachte das Meer.

Wir sind insgesamt zehnmal umgezogen, haben jedes Mal die Heringe aus dem Sand gezogen und uns dem stetigen Herankriechen des Meeres geschlagen gegeben.

Es ist nur ein Zelt, kein Haus und keine Heimat, die wir mit uns herumschleppen. Aber es wird mir klar, was das Ansteigen des Meeresspiegels für uns alle bedeuten kann.

Keiner hat es für möglich gehalten, dass heute die Flut den größten Sandstrand an der Nordsee überfluten wird. Es ist eine weite Ebene, die sich langsam mit Wasser füllt. Die Ausläufer des Meeres kommen immer näher. Wie kleine Zungen, die nach dem Land lecken.

Immer mehr wird der Strand zu einer endlosen Ebene aus Wasser. Nur die Holzstangen, die den Hundestrand begrenzen sollen, zeigen uns, wo wir vor einer halben Stunde gesessen haben. Wie weit entfernt wir davon sind. Wie nah das Wasser gekommen ist.

Und dabei schleppen wir nur ein Zelt und kein Zuhause mit uns herum.

Die neue Welt

Die neue Welt liegt heute nicht in Amerika. Man spart auch nicht für eine Reise über den Ozean, sondern ist froh, wenn man ein bezahlbares Grundstück in einem der Vorstädte gefunden hat.

Anna hatte dieses Glück. Sie und ihre Familie zogen in die neue Welt der Immobilien, nach Salzbach, einer Kleinstadt in der Nähe von Stuttgart. Schon damals wohnten hier vor allem Menschen, die von der Automobilindustrie abhängig waren. Und je mehr Automobilzulieferer sich um die Kleinstadt herum ansiedelten, umso teurer wurde es, dort zu wohnen. Anna und ihr Mann waren froh, ein paar Jahre vor diesem Boom das Grundstück direkt von der Stadt kaufen zu können. Denn erst ein paar Jahre später kam die Baubehörde auf die Idee, die restlichen Grundstücke an die Meistbietenden zu versteigern. Schon allein dafür war Anna dankbar.

Sie lebten nun in einem kleinen Wohngebiet, das einigermaßen überschaubar war. Kleine Grundstücke, die von oben wie Briefmarken aussahen. Aber immer noch besser, als unten am Salzbach in einer der neu entstehenden Wohnungen zu wohnen, die inzwischen dasselbe kosteten wie noch vor wenigen Jahren ihr Haus.

Als sie hier einzogen und Anna das erste Mal in der Küche stand, mit Blick auf den alten Walnussbaum des unteren Nachbarn, fühlte sie sich frei, vielleicht auch das erste Mal angenommen in einer Region, die nicht ihre Heimat war.

Der Ausblick nach vorn streckte sich weit, anders als bei den Häusern rechts unterhalb, die so lang wie Dackel waren und die noch ein halbes Stockwerk obendrauf gebaut hatten, für die Kinderschlafzimmer, damit überhaupt genügend Platz war für eine ganze Familie. In diesen Häusern gingen die Kinder nicht über eine Treppe, sondern sie kletterten über eine Leiter ins Schlafzimmer. Je älter sie wurden, umso mehr mussten sie sich bücken. Ein aufrechter Gang war nur als Kleinkind möglich. Wenn sie in ihren Betten lagen, schauten sie auf die LED-Lampen an der Zimmerdecke und sahen nicht die Sterne, weil das nächste Haus den Blick in den Himmel versperrte.

Im Dunkeln sahen diese Häuser wie stolze Eulen aus, mit rechteckigen Fenstern als Augen, die abends in die Landschaft starrten. Tagsüber wehrten sich große Fensterfronten gegen den mangelnden Ausblick.

Das Haus, in dem Anna mit ihrer Familie wohnte, sah fast genauso aus wie die anderen neuen Häuser drum herum. Fast alle waren weiß verputzt mit großen Fensterfronten und dunkelgrauen Fensterrahmen. Ein einheitlicher Baustil, wo es dem Betrachter schon auffiel, wenn eine Eingangstür in Weiß und nicht in anthrazitgrauer Trendfarbe verbaut worden war.

In der Straße, in der Anna wohnte, standen immer drei Häuser nebeneinander. Dann kamen drei Reihenhäuser und dann wieder drei freistehende Häuser. Anna wohnte in einem der mittleren freistehenden Häuser. Leider gab es zwischen den Häusern nicht mehr als drei Meter Abstand. Dadurch blieb genügend Platz für eine Garage, aber kein Platz für aufwändige Vorgärten.

Die offenen Wohnküchen, die nach hinten in den eigentlichen Garten rausgingen, hatten Eckfenster, durch die sie unfreiwillig bis in die Küche des Nachbarn hineinschauen konnte, oder wenn sie im Wohnbereich stand, in die Küche des anderen Nachbarn. Wenn Anna nach rechts und links schaute, fiel ihr daher auch nicht der unfertige Garten auf, sondern der geringe Abstand zwischen den Häusern. Zwar wusste sie vorher schon, dass die Grundstücksfläche nicht an das ihres Elternhauses in Hamburg heranreichte, wo die Grundstücke mindestens doppelt so groß waren und es noch genügend Platz für kleine Streuobstflächen gab. Aber nun, als sie in der Küche stand und nur mit einem Kopfdrehen von rechts nach links in die Küchen der anderen beiden Häuser schauen konnte, wurde ihr doch ein bisschen schwindelig.

Sie wollte ihren Kopf gerade wieder in Richtung Walnussbaum drehen, als sie sich im Spiegelbild sah. Sie sah eine Frau so wie sie, die fast in derselben glänzenden Küche stand und die ihr zuwinkte. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück, wie wenn sie im eigenen Haus als Einbrecherin ertappt worden war.

Als sie vorsichtig wieder einen Schritt nach vorne ging, klammerte sie ihren Blick an den Walnussbaum vom Nachbarn gegenüber, und doch sah sie im Augenwinkel diese Frau, die immer noch winkte, und nun auch eine zweite, die es ihr von der anderen Seite her gleichtat. Anna musste daran denken, wie sie beim Kindergeburtstag ihres Sohnes in einem Spiegellabyrinth gestanden hatte und dabei das Gefühl hatte, die Spiegel würden von allen Seiten auf sie zukommen und sie verschlingen.

Anna konzentrierte sich wieder auf den Walnussbaum, den ersten Punkt in der Ferne und schaute langsam nach links und dann nach rechts. Sie kam sich vor wie bei der Gymnastik auf dem Trampolin, wenn sie einen Punkt fixierte und den Einbeinstand übte.

Je mehr Anna den Walnussbaum fixierte, umso sicherer fühlte sie sich und fing auch an zu winken. Erst zögernd, dann zunehmend mutiger, schließlich lächelnd. Sie lächelten sich gegenseitig an und winkten sich zu: Anna, die Ärztin, Sandra, die technische Zeichnerin und Vanessa, die Lehrerin. Sie kannten einander nicht, und sie wussten nichts voneinander. Nur der Blick durch das Küchenfenster verband sie und machte diesen ersten Moment zu etwas Magischem.

Erst durch ihre Kinder lernten die Nachbarinnen sich richtig kennen. Der kleine Spielplatz unterhalb des Wohngebietes bot hier die idealen Voraussetzungen.

Als sie sich dort das erste Mal persönlich trafen, überwog der Zauber des Anfangs. Gepaart mit einer Prise Neugier erfuhren sie schnell sehr viel voneinander. Mehr als vermutlich andere Nachbarn oder sogar manche Ehepaare voneinander wussten. Dies lag einfach daran, weil sie alle Kinder in demselben Alter hatten und zur selben Zeit am selben Ort neu angefangen hatten. Alle drei Familien hatten mehr oder weniger Schulden gemacht. Alle drei Mütter hatten die Hoffnung, dass die Schulden bis zur Rente abbezahlt sein würden. Und alle Kinder gingen in denselben Kindergarten oder in dieselbe Schule. Das reichte für den Anfang. Das war schon Grund genug, sich näher kennen lernen zu wollen, egal ob man auch dieselben Lebenseinstellungen teilte. Da sie sich von den Küchenfenstern aus zuwinkten, war zumindest der Humor schon mal der Gleiche, darin waren sich alle drei Frauen schnell einig.

Wenn Anna auf der Terrasse stand, konnte sie hinter dem Walnussbaum die nächste Hügelkette sehen. Eigentlich ein Traumblick, wenn sie sich vorstellte, ganz allein zu sein. Anna fühlte sich dann fast wie in den Bergen, wenn sie ihren Blick über die Kante der Terrasse schweifen ließ. Sie kam sich gefährlich nah am Himmel vor. Und auf einmal fühlte sich das lachsfarbene Morgenrot wie Medizin in ihren Haaren an.

Wenn sie auf der Terrasse stand, dachte Anna immer auch an ihre Kindheit. In der Wohnsiedlung, wo sie aufgewachsen war, waren die Spielplätze verschwunden und durch Parkplätze ersetzt worden. Dadurch schrumpfte die Grünfläche noch mehr in sich zusammen. Die Wiese hinter den Häusern war längst nicht mehr so groß wie in ihrer Erinnerung, jetzt, da sie nicht mehr durch die Augen eines Kindes hindurchsah. Sie spürte noch die Enttäuschung, als auf einmal alles so klein geworden war. Der Spielplatz, der verschwunden war. Die Wiese, auf denen sie Fangen gespielt hatten. Es war ein Ort, der unendlich weit war für sie als Kinder, aber sehr überschaubar für sie als Erwachsene. Vielleicht war sie genau deswegen auf die Halbhöhenlage nach Salzbach gezogen, wo die Weite ein bisschen weniger vorgetäuscht war.

Schon allein deswegen war Anna glücklich. Der Blick von der Terrasse, wo das Grün der Bäume nur hingetupft wirkte und Kondensstreifen wie scharfe Klingen den Horizont zerteilten. Dann fühlte sich das Leben leicht an, und die Geräusche zerteilten sich über die Welt. Das Knarren der Holzterrasse, und Anna stand schließlich still, weil sie merkte, dass sie nicht inmitten von Reisterrassen, sondern in Salzbach stand.

Sie hatte es nicht gleich gemerkt, aber das Kratzen der Raben auf dem Metall der Dachabdeckung hatte sie aus ihren Träumen gerissen. Helles Kinderlachen oben am Berg brach auf sie herunter. Das Singen der ersten Frühlingsvögel. Das Rascheln der Blätter. Wind bis unter die Haut. Anna hält inne und hält den Atem an. Als der Wind dreht, hört sie das Rauschen der Autos auf dem Asphalt. Unten an der Autobahn, ein Rauschen wie das Meer, nur ohne Rhythmus. Gleichförmig und auch beruhigend, wenn man sich darauf einlassen kann.

Begegnungen

Den Tag, an dem die Nachbarinnen gegenseitig an der Haustür klingelten, gab es anfänglich nie. Denn als ihre Kinder noch klein waren, trafen sich die Nachbarinnen meistens auf dem Spielplatz.

Drei Frauen, ihre Kinder, Äpfel und Kekse, so fing es an. Sie redeten über alles und über nichts. Seltsam war nur, dass sie erst darüber sprachen, wer sie waren und viel später über Belanglosigkeiten redeten. Über die Milch vom Discounter, die sich nicht mehr aufschäumen ließ. Über den Bäcker, der an Feiertagen nicht mehr geöffnet hatte. Über die Ungewissheiten des täglichen Lebens redeten sie erst, nachdem sie die Lebensläufe der anderen geknackt hatten. Als müssten sie sich zuerst und mit einem Mal alles anvertrauen, weil morgen die Welt zusammenbrechen könnte. Dabei waren sie nur froh, wenn die Kinder friedlich spielten und sie endlich ungestört reden konnten. Nicht mit dem Ehepartner, der meistens zu spät nach Hause kam, sondern mit den Nachbarinnen, die mindestens genauso neugierig waren, etwas vom Gegenüber zu erfahren. Über den Mann, den Job, die Geburten und die Kinder, die sich währenddessen willensstark wie ihre Mütter gegenseitig die Sandformen wegnahmen.

Anna war ein bisschen außer Übung. Wenn sie zu viel auf einmal dachte, stotterte sie. Sandra hingegen liebte diese Gespräche und tauchte wie ein schillernder Fisch in sie hinein. Während Vanessa beim Sprechen kleine Löcher in den Sand grub und die anderen zuerst nicht ansah, aber dann zunehmend auftaute, weil es irgendwie doch ganz nett war. Anna, die ihr schließlich beim Ausgraben half. Und Sandra, die keine Geheimnisse hatte. Sie konnte über ihre Gebärmutterentfernung reden als wäre es das Normalste von der Welt.

Nur über Annas Beruf unterhielten sich Vanessa und Sandra nicht gern. Anna spürte es sofort, als sie das erste Mal auf dem Spielplatz waren. Anna, eine Ärztin für Krebserkrankungen. So etwas ließ man nicht gern an sich heran. So etwas brauchte und wollte keiner. Anna kannte das schon aus anderen Situationen. Sie wusste schon, wann die anderen Gesprächspartner mit Abwehr reagierten und wann man besser nicht darüber sprach. So war es auch bei Vanessa, die nur kurz sagte: Oh mein Gott, das muss bestimmt total anstrengend sein! Anna erwiderte daraufhin wie ein Automat: Deswegen mache ich die andere Hälfte des Tages auch etwas anderes. Damit war das Thema durch. Sie sprachen nie wieder darüber. Wie wenn man sich von der Ferne aus damit anstecken konnte.

Über alle anderen Themen unterhielten sich die drei Frauen gerne. Das musste reichen für den ersten Sommer, als die Kinder noch klein waren und noch nicht zur Schule gingen. Und wenn die Themen mal ausgingen, konnten sie sich immer noch um die Kinder kümmern, sich ein Alibi suchen, wenn das eine Kind schrie und das andere sich im Schoß der Mutter vergrub, weil es einfach nicht verstehen konnte, wieso die Erwachsenen nicht mitspielten.

Irgendwann schwiegen sie, weil sie sich fast alles gesagt hatten: Anna, aus Hamburg, Ärztin, zwei Söhne, verheiratet mit einem Bioniker (was sie erst erklären musste). Vanessa, aus Stuttgart, Gymnasiallehrerin, ein Sohn, verheiratet mit einem Porsche Senior Chief Challenge Manager (keine traute sich nachzufragen, was das eigentlich bedeutete). Und Sandra, einheimisch, technische Zeichnerin, eine Tochter und ein Sohn, verheiratet mit einem Ingenieur bei Mercedes (das war doch mal bodenständig!).

Und nachdem sie sich fast alles gesagt hatten, kamen schließlich die Details. Eine Gemeinschaft aus dem Bilderbuch ihrer Zeit: Anna mit fünfzig Prozent erwerbstätig, Vanessa fünfundsiebzig Prozent und Sandra seit kurzem auch wieder fünfzig Prozent berufstätig. Nur bei Vanessa reichte das Geld, das ihr Mann verdiente, für mindestens eine ganze Familie. Bei Anna und Sandra war es so wie bei den meisten anderen. Man konnte es sich nicht mehr leisten, dass nur ein Partner arbeiten ging.

Es waren drei Mütter am Rand einer Sandkiste, die sich auch etwas anderes vorstellen konnten, außer der Sonne über Salzbach. Ihr Blinzeln in die Ferne hinein. Sprechblasen, die durch die Luft flogen. Man brauchte sich. Man brauchte sich nicht. Das war die Welt.

Einen Sommer später war klar, dass man auch mit den Jahreszeiten lebte. Das bedeutete, dass die Frauen sich im Winter eher selten sahen, im Sommer dafür umso mehr.

Im Winter trafen sie sich immer dann, wenn Schnee gefallen war. Sie zogen die Kinder auf dem Schlitten zusammen durch den Schnee und tauschten Neuigkeiten aus.

Im Sommer hingegen war die Zeit des Draußen-Spielens und des Spielplatzes. Dann trafen sich die drei Frauen untereinander sogar häufiger als mit dem eigenen Ehemann. Aber bevor sich der Eindruck festigte, man wäre mit den Nachbarinnen liiert, schlich sich der Herbst ein. Stürmisches Wetter, das die Drachen davon wehte und mit ihnen die Vorstellung von einem Sommer, der ruhig ewig dauern könnte.

Die Nachbarinnen winkten sich nun wieder häufiger durch die Fensterscheiben zu und bekamen das Gefühl, in einem großen bunten Bild von Van Gogh zu sitzen. So dachte jedenfalls Sandra, die an einem dieser langen Herbsttage wieder zu malen anfing. Erst gemeinsam mit ihren beiden Kindern, eine Fingerfarbensauerei, dann allein, mit warmen Pastelltönen. Allein malte sie nur, wenn alle schliefen und wie durch Watte das leichte Rauschen der Autobahn zu hören war.

Sandras erstes Bild kaufte Vanessa. Ein Aquarell, kubistisches Siena, aber noch als Siena erkennbar. Starke Pinselstriche um den Piazza del Campo. Farbige Palazzi, in orangenes Terrakotta getaucht. Ein Ort der Sehnsüchte, Türme inmitten von Träumen. Wer das Bild anschaute, vergaß das Denken. Wenn der Himmel nirgendwo endete, dann hier.

Aber vor allem war es das Glück, das in diesem Bild zu spüren war, als Sandra nach langer Zeit wieder zu malen angefangen hatte. Kein Meisterwerk, aber ein Kunstwerk von Sandra. Vanessa wollte es unbedingt haben, als orangenen Farbklecks in ihrem Wohnzimmer. Unmissverständlich teilte sie den anderen Frauen mit: Durch dieses Bild scheint jetzt jeden Tag die Sonne.

Und Sandra, die gerade an ihrem zweiten Bild malte, hatte nichts dagegen. Anna wiederum, die gerade kein Geld hatte, um es zu kaufen, konnte es nun durch ihr Küchenfenster sehen. Sie schwärmte: Ja, es ist wirklich schön.

Ein paar Jahre später hing das Bild immer noch in Vanessas Wohnzimmer und neben ihr ein anderes Bild von Sandra, die nun regelmäßig Gast in der Stadtbücherei war, um dort ihre Bilder auszustellen. Die Sommer wurden länger, die Winter kürzer. Und immer mehr richtete sich die Häufigkeit, wie oft sich die drei Frauen trafen, auch nach dem Alter der Kinder. Wenn die Kinder nicht mehr auf den Spielplatz gingen, sondern für die Schule lernten oder Computerspiele spielten, mussten sie andere Gründe finden, um sich zu treffen. Es war schwierig, aber nicht unmöglich. Meistens trafen sie sich dann bei der Gartenarbeit oder gingen dazu über, dass die Kinder zusammen Hausaufgaben machten. Die Großen halfen den Kleinen. So etwas gab es sonst nur in den Büchern über Bullerbü.

Es war ein magisches Dreieck, eine stille Übereinkunft zwischen den drei Frauen, die füreinander da waren, obwohl sie nie darüber sprachen, über ihre Gemeinschaft, die scheinbar zufällig entstand und die keine Gewissheiten brauchte.

Das Großartigste war, dass sie sich nicht vergleichen mussten. Sie hatten alle ein Haus, Kinder, einen Job und einen Mann. Dies waren die besten Voraussetzungen, um sich nicht am Glück der anderen messen zu müssen.

Immer mehr gelang es ihnen auch, dass sie nicht zurückschauten, sondern nach vorne, wenn sie sich etwas erzählten. Und während sie von den Zukunftsplänen erzählten, begannen sie immer mehr, sich auch in die Herzen hineinzuschauen.

Irgendwie sind es immer die gleichen Fragen, die man sich stellt, wenn man potenziellen Freunden begegnet: Welche Geschichte habe ich anderen von mir zu erzählen? Können wir das Lebensgefühl, das wir in uns tragen, anderen verständlich machen? Und können wir nicht nur in den Schuhen des anderen, sondern auch in seinem Seelengarten spazieren gehen? Dieser Garten, der nicht von der Sonne, sondern nur von den orangefarbenen Lichtstrahlen unseres Herzens erleuchtet wird.

Es ist eine knifflige, fast unmögliche Umarmung und nicht in Worten zu beschreiben, weil wir fast keine Worte dafür haben, um zu beschreiben, wer wir wirklich sind.

Annas Katze

Wie sehr sich die Frauen auf die anderen verlassen konnten, erfuhren sie erst durch Notsituationen. So wie bei Vanessa, als sie sich im Winter ausschloss und sich mit ihren Kindern bei Sandra aufwärmen konnte. Oder Sandra, die einen wichtigen Termin vergaß und nun ihre Kinder bei Anna lassen konnte, bis sie wieder zurückkam.

Besonders schlimm erging es Anna, die mit einer Grippe im Bett lag, ihre zwei kleinen Kinder zuhause, Großeltern nicht vor Ort, Mann auf Geschäftsreise. Es war der ganz normale Wahnsinn in einer globalen und durchgetakteten Welt, wäre nicht auch noch ihre Katze gestorben. Altersschwach, nicht unerwartet, aber trotzdem schlechtes Timing, dachte Anna, die im nächsten Moment vor Fieber schon nicht mehr klar denken konnte.

Es half nur ein verzweifeltes Winken über die Küchentheke, und Sandra kam sofort. Vanessa, die eigentlich nicht wirklich Tiere mochte, kam auch, nur etwas später, als die Katze schon verpackt vor der Terrassentür lag.

Ihr schlechtes Gewissen ließ Vanessa hinter sich und griff gleich nach der Schaufel, um es möglichst schnell hinter sich zu bringen. Sandra beruhigte die Kinder, die Vanessa hinterher liefen, als würden sie einem Fackelzug folgen, in den kleinen Händen eine Kerze, die fast größer war als sie selbst.

Sandra war in ihrem Element. Taschentücher austeilen, Erklärungen abgeben, warum die Katze jetzt in einem Jutesack lag und nicht in ihrer Box auf dem Weg zum Tierarzt. Gottseidank waren die Kinder noch zu klein, um genau zu verstehen, was da vor sich ging. Während sie weinten, zogen sie an Vanessas Mantel, die sich schließlich weigerte, das Loch weiter zu graben, wenn ständig an ihr herumgefummelt wurde.

Echte Freunde bleiben auch da, wenn es schwierig wird. Anna stand hinter der Terrassentür und kippte fast um vor Fieber und Schmerz. Ausgerechnet jetzt, ein Jahr nachdem sie hier eingezogen waren, starb Annas Katze, die ihr zugelaufen war, lange bevor sie an ein geregeltes Leben mit Risikolebensversicherungen gedacht hatte. Jetzt stand sie hier und fühlte sich wieder ganz wie am Anfang, bevor sie ihren Mann getroffen hatte und bevor sie sich überhaupt für irgendetwas oder irgendwen entscheiden musste. Nur ihre Katze, die hatte schon längst entschieden, wo sie bleiben wollte. Nämlich bei Anna, von der sie nun in einem farblosen Sack mit grünem Umweltlogo im Garten versenkt wurde.

Anna wankte schließlich wie auf einem Schiff bei einem starkem Sturm und fiel in Sandras Arme, die sie zurück ins Schlafzimmer brachte. Als sie wieder im Bett lag, hörte sie Sandra und die Kinder lachen und sich um Vanessas Apfelkuchen streiten. Weil sie aus der Ferne die vertrauten Stimmen hörte, schlief sie fast ein. Aber nur fast, denn die Trauer hielt sie wach. Außerdem empfand es Anna als unerhört, dass sich die Welt einfach weiterdrehte, nein, sie blieb nicht einmal stehen. Nur Annas Fieberträume rotierten weiter um den Stern, auf dem sie zusammen mit ihrer Katze spazieren ging.

Nachbarn

Mit den Nachbarn der anderen Häuser hatte Anna viel weniger Kontakt, obwohl die Abstände zwischen den Grundstücken eine Reihenhausreihe weiter auch dort nicht groß waren. Und obwohl sie mehrere Häuser weiter immer noch bis in die Küche hineinschauen konnte, weil niemand mehr Gardinen hatte, reichte der Blick dann doch nicht für ein Winken. Anna schaute in die Häuser, vielleicht auch durch die Ritzen der heruntergelassenen Jalousien, aber nicht in die Herzen der Menschen hinein. Und da sie nicht so direkten Kontakt bis ins Wohnzimmer hatte, traf sie im Winter die anderen Nachbarn nur, wenn sie die Mülleimer herausstellte.

Ja, die meisten Nachbarn waren nett. Aber man kannte sich zu wenig. Und schließlich konnte man auch nicht so wie auf Facebook mit jedem befreundet sein. Im wirklichen Leben war es dann doch etwas ganz anderes.

Zwischen den Männern war es noch schwieriger, Freundschaften zu schließen. Denn wer den ganzen Tag arbeitete, war fast nie zuhause. Und doch gab es Freundschaften, die langsam entstanden, zwischen den Radfahrern, den Gärtnern oder den Oldtimerliebhabern. Letztere fuhren dann mit geruchsintensiven Autos einmal durch die ganze Neubausiedlung, wie um zu zeigen, dass früher die Feinstaubbelastung noch viel schlimmer gewesen war.

Nein, Männer winkten sich nicht gegenseitig durch Fenster zu. Männer trafen sich auch nicht auf dem Spielplatz. Dafür standen sie im Sommer zusammen am Grill oder liehen sich Gartengeräte aus. Und im Winter gab es auch nette Nachbarn, die den Weg mit der Schneeschippe bis zum Eingang des anderen verlängerten, wenn die eigenen Männer es vergessen hatten.

Anna fand, dass sich im Vergleich zu früher nicht viel geändert hatte: Die Liebe zu alten Autos, die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Sandra war da anderer Meinung: Schließlich gingen die Männer neuerdings sogar zu Grillseminaren, um kochen zu lernen. Anna, die Feministin und Hobbyköchin, musste ihr natürlich widersprechen: Das nennst Du kochen, wenn man nur ein Steak ankokelt? Bevor ein Streit entbrannte, lenkte Vanessa lieber ein: Ist doch alles halb so schlimm. Denkt doch nur mal daran, dass unsere Väter und Großväter noch in Schützengräben gelegen haben. Der Satz saß richtig, so spitz wie ein Pfeil. Und Anna, die Vergleiche liebte, verstummte und war froh, eine Geschichtslehrerin als Nachbarin und Freundin zu haben.

Die anderen Nachbarn hingegen wurden keine Freunde. Das zeigte sich schon recht früh, als sich die ersten Unterschiede offenbarten und die ersten Streitigkeiten über kleine und große Nichtigkeiten ausgetragen wurden. Am häufigsten wurde sich um Parkplätze gestritten, da einige Familien mehr als zwei Autos hatten, die dann nicht mehr in die Garagen passten. Wenn dann auch noch ein Oldtimer dazu kam, konnte es schon mal eng werden. Der Streit, wenn sich die Autos gegenseitig blockierten, war jedes Mal heftig, besonders weil sich alle im Recht fühlten. Worte fielen, die woanders ein Hausverbot zur Folge gehabt hätten. Für einen Moment vergaß man, dass man sich jeden Tag sah und nun im Gesicht des anderen im schlimmsten Fall das MoFu-Wort ablesen konnte.

Wie bei jeder guten Ehe gingen sich die Nachbarn danach aus dem Weg, auch wenn es eigentlich aufgrund der Grundstücksgrenzen unmöglich war. Zwangsläufig kam irgendwann der point of no return, an dem jeder sein eigenes Leben lebte und die jährlichen Straßenfeste im Sommer vergessen wurden. Es fand sich auch keiner mehr, der das Risiko eingehen wollte, sich bei den notorischen Nörglern wegen der nicht enden wollenden Suche nach einem passenden Termin unbeliebt zu machen. Nun blieb man eben unter sich, und aus dem Straßenfest wurde eine spontane Glühwein-Hocketse unter denen, die sich sowieso trafen, wenn ihre Kinder Schlitten fuhren. Wie bei einer guten Ehe, blieb es bei dem einen Mal Spontanität. Ist doch nicht weiter schlimm, entgegnete Vanessa, die sowieso nicht in der Kälte stehen wollte, um sich den Allerwertesten abzufrieren.

Nachdem die ersten Namensschilder angebracht waren, kamen auch die Hausierer. Die erste, die von Tür zu Tür ging, machte sich schon von weitem bemerkbar. Sie schlich nicht am Straßenrand entlang, sondern trippelte auf der Mitte der Straße, summte und kreiste mit den Armen als wäre sie eine Tänzerin, die Flugblätter für Zumbakurse verteilte. Neugierig wie anfangs alle waren, wurden die Türen geöffnet, wenn sie klingelte. Nachdem man jedoch herausbekommen hatte, was sie wirklich wollte, tat man lieber so, als wäre niemand da und als seien die lachenden Kinder hinter der Tür nur ein ganz normaler Klingelton.

Einmal klopfte sie bei Sandra vorne an die Fensterscheibe zum Treppenaufgang. Sandras Kinder spielten gerade im Flur. Sandra, die gerade keine Lust hatte, die Tür aufzumachen, robbte in den Flur und erklärte den Kindern, dass sie jetzt Indianer spielen würden. Gemeinsam robbten die Kinder ihr hinterher ins Wohnzimmer, außer Sichtweite der Treppe, wo Sandra das Chaos der gestrigen Tage überblicken konnte. Die Haufen aus Spielzeugautos und Kuscheltieren und die Reste vom Mittagessen, die noch auf dem Fußboden klebten. Nein, Besuch wollte Sandra an so einem Tag von niemandem empfangen, und schon gar nicht von Hausierern, die an die Fensterscheibe klopften.

An geeigneteren Tagen war die Hausiererin mit dem tänzerischen Hüftschwung jedoch gern gesehen, vorausgesetzt man hatte Zeit. Denn sie war ein echtes Unikat und verteilte als Ökomissionarin Flugblätter und gute Ratschläge und wies einem zur Begrüßung auf die neuesten Ökosünden hin: das vom Wind herbeigewehte Plastik im Vorgarten, der Brandgeruch der Komfortöfen oder das neueste Auto des Nachbarn. Wenn sie mit ihrem Das müssen wir erst noch lernen begann, machte man am besten gleich die Tür wieder zu, oder ließ sich von ihr eine halbe Stunde lang geduldig erklären, warum sie eine Palmölphobie hatte, eine Planetendiät durchzog und wie sie ihren Hund zum Vegetarier umerzogen hatte.

Wenigstens ihre Verabschiedung gab keine Rätsel auf, wenn sie einem in breitestem Schwäbisch ein Adeele entgegen trällerte.