Elbe 511 - Nicole Weis - E-Book

Elbe 511 E-Book

Nicole Weis

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Beschreibung

Vor dem Mauerbau geht Wolfgang als 20-Jähriger mit seinem Freund über die innerdeutsche Grenze, um in Westdeutschland zu arbeiten. Acht Monate später kehrt er aus Heimweh zurück. Dies hat erhebliche Konsequenzen, die sein ganzes Leben prägen werden. Denn er wird von seinem Freund denunziert und wegen angeblicher Spionage zu vier Jahren Gefängnis in Bautzen verurteilt, wo er als politischer Häftling schlimmste Schikanen und Grausamkeiten erlebt. Nach der Entlassung darf Wolfgang nicht in seinem Heimatdorf leben und wird dadurch erneut seiner Freiheit beraubt. Erneut beschließt er zu fliehen und schwimmt bei Flusskilometer 511 über die Elbe. Im Westen baut er sich eine Existenz auf, heiratet und gründet eine Familie. Nach seinem Tod in der Schweiz macht sich die Tochter auf die Suche nach der verloren gegangenen Heimat. Sie besucht das Heimatdorf ihres Vaters, das Gefängnis in Bautzen und die eingezäunte Dorfrepublik an der Elbe am 511. Flusskilometer, wo für ihren Vater die persönliche Wende begann. Anhand der Fluchtgeschichte ihres Vaters rekonstruiert die Autorin auf brillante Weise die jüngere deutsche Geschichte und spannt dabei einen Bogen vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Fall der Mauer und in die Gegenwart. Dabei wird auch deutlich, was es für den Einzelnen bedeutet, sich zur Flucht zu entschließen, und welche Auswirkungen eine solche Entscheidung auf die hat, die gehen, und auf jene, die bleiben.

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NICOLE WEIS

ELBE511

ROMAN

Um die Persönlichkeitsrechte der Personen in diesem Buch zu schützen, wurden die Namen aller, die nicht zum engsten Familienkreis der Autorin gehören, geändert.

1. eBook-Ausgabe 2022

© 2022 Europa Verlag in Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Nicole Weis

Lektorat: Silwen Randebrock

Layout & Satz: Robert Gigler, München

Gesetzt aus der Minion Pro und der Klavika

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-451-4

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Das Geheimnis des Glücks ist Freiheit;das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut.

Perikles (490–429 v. Chr.),athenischer Geschichtsschreiber und Politiker

FÜR MEINEN VATER

Mein Vater wollte nicht viel über die Untersuchungshaft und über Bautzen reden, was in Ordnung war, weil er es zwar nicht vergessen hatte, aber weil es schon seit Langem nicht mehr zu seinem Leben gehörte.

Weil es aber zu seinem Leben gehörte, bevor er mit mir darüber sprechen konnte, spreche ich nun darüber, weil es durch ihn auch zu meinem Leben gehört.

Eines kommt noch erschwerend hinzu: Ich war so wie er noch nie gut darin, Worte einfach totzuschweigen.

Und ich weiß auch, er lässt mich beim Schreiben nicht allein.

INHALT

Chronologie

Steinmauern

Der Gefrierschrank der Herzen

Schuhe

Die Kiste

Freundschaft

Klaus

Überleben

Entlassung

Elbe 511

Die Flucht

Briefe

Helga

Hamburg

Familie

Gardinen

Ein Vierteljahrhundert

ADAC

Aufbruch

Osterfeuer

Das Waldbad

Das blaue Haus

Es brennt

Rüterberg

Bautzen

Gedicht »Das Spurenelement«

Nachtrag und Danksagung

Literatur

CHRONOLOGIE

19.5.1959

Verlassen der sowjetischen Besatzungszone in Berlin

12.2.1960

Wiedereinreise über Berlin

13.2.1960

Ankunft Alt Jabel

16.2.1960

Rückkehrerlager Pritzier

17.3.1960

1. Vernehmung seines Freundes

21.3.1960

Verhaftung

22.3.1960

Überführung von MfS, BV Schwerin nach MfS Hauptabt. IX/6, Haftanstalt II Berlin-Lichtenberg

29.6.1960

Überführung von UHA Berlin-Lichtenberg zur UHA Neustrelitz, Verhandlung in Neubrandenburg

30.8.1960

Verurteilung durch das Bezirksgericht Neubrandenburg wegen Spionage zu einer Zuchthausstrafe von 4 Jahren

30.9.1960

Überführung von UHA Neustrelitz nach UHA Lichtenberg

14.10.1960

Überführung nach Bautzen

20.12.1963

vorzeitige Haftentlassung

18.10.1964

Flucht von Rüterberg über die Elbe nach Landsatz

STEINMAUERN

Fast vier Jahre lang schaute Wolfgang auf Mauern aus Stein oder Beton. Es waren sehr alte Mauern. Die Steinmauern gehörten zur Haftanstalt II des Ministeriums für Staatssicherheit in Ost-Berlin und später zur Untersuchungshaftanstalt Neustrelitz. Die Betonmauern gehörten zur Strafvollzugsanstalt Bautzen I.

Die Zeit hatte Spuren auf den Steinen im Untersuchungsgefängnis hinterlassen. Die ersten Monate zählte Wolfgang die Steine in seiner fensterlosen Zelle von links nach rechts, eine Reihe nach der anderen. Er kam auf insgesamt 1371 Stück.

Da das Zählen nach einiger Zeit langweilig wurde, schaute sich Wolfgang irgendwann jeden Mauerstein genauer an. Er versuchte, die Farben und Oberflächen zu unterscheiden. Er versuchte, das Besondere, das man in jedem einzelnen Stein sehen konnte, zu identifizieren. So wie jeder Mensch ja auch etwas Besonderes ist, was man vielleicht nicht immer sieht, wenn man nicht genauer hinschaut.

Wolfgang hatte Zeit, genauer hinzuschauen. Er stellte sich jeden Stein mit seiner eigenen Geschichte vor. Die Risse und kleinen Vertiefungen untersuchte er mit seinen Fingerspitzen. Er machte die Augen zu. Er wusste nicht, was sich rauer anfühlte, seine Finger oder die Mauersteine. Fest stand, dass seine Hände wärmer waren als die Mauersteine. Dann kann es noch nicht so schlimm sein, dachte er und holte die Zettel und den Bleistiftstummel hervor, die sie ihm nach langem Bitten und weil er sich schließlich schuldig bekannt hatte, gegeben hatten. Wir sind ja keine Unmenschen, hatten sie gesagt. Womit sie aus ihrer Perspektive vermutlich recht hatten. Wolfgang sah das anders.

Während er seine ersten Gedichte schrieb, dachte er: Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, den Himmel zu sehen.

Ein Stein hatte es Wolfgang besonders angetan. Man sah ihn nicht gleich, weil er mit einer Ecke abschloss und Wolfgang sich hinlegen musste, um ihn genauer betrachten zu können. Er hatte nicht dieselbe Farbe wie die anderen Steine. Vielleicht war das der Grund, warum er aufmerksamer hinsah. Der Stein schimmerte ein bisschen grünlich. Zumindest hatte er grüne Einschlüsse, die abhängig von den Lichtverhältnissen fast azurblau leuchteten.

Für Wolfgang war dieser Stein wie ein Versprechen der Natur. Ein Versprechen, dass er hier wieder herauskommen und sich ins knietiefe Gras legen würde, um den Wind und den Regen auf seiner Haut zu spüren. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr kam er darauf, dass er dies neben seiner Mutter am meisten vermisste. Die Natur, den Wind, den Regen, den Geruch von frisch geschnittenem Gras, das Zwitschern der Vögel früh am Morgen und das nächtliche Froschkonzert, das er eigentlich hasste, aber sich nun danach sehnte, in diesem Kellerloch aus Steinen.

Heute nennt man so etwas Mikroerfahrung. Für ihn war es etwas, worauf er sich konzentrieren konnte, wenn sie ihn in Ruhe ließen. Und da es nicht oft vorkam, dass sie ihn in Ruhe ließen, teilte er sich seine Zeit gut ein. Erst musste er schlafen. Und wenn er nicht schlafen konnte oder durfte, robbte er zu dem Stein in der Ecke und ließ die Gedanken und Erinnerungen fließen.

Er war dann wieder in dem kleinen Dorf in Schlesien, in dem er zu Beginn des Zweiten Weltkrieges geboren wurde. An seinen Vater hatte er kaum eine Erinnerung. Er ging als Soldat in den Krieg nach Russland und kam nie wieder. Einmal saß er bei ihm auf dem Schoß und spielte ein Fingerspiel. Wolfgangs Mutter Meta flüchtete nach Kriegsende mit ihren fünf Söhnen und der gerade erst ein paar Monate alten Tochter vor den Russen in den Westen in ein kleines Dorf, an dem es damals noch einen Bahnhof gab. Sie nahm an, dass sie in der britischen Besatzungszone ausgestiegen waren. Wenig später jedoch wurde die Grenzlinie an die Elbe verlegt, sodass ihre Flucht in den Westen genau genommen ein Ankommen im Osten wurde. Bevor sie es erfuhr, war es schon zu spät. Und so kam Wolfgang als Sechsjähriger in der sowjetischen Besatzungszone an, obwohl seine Mutter eigentlich in die Westzone wollte. Sie waren angekommen, wo es später nicht mehr weiterging.

Der Krieg war endlich vorbei, die Armut und Entbehrung noch lange nicht. Sie wohnten nun südöstlich von Hamburg am 505. Streckenkilometer der Elbe in der »Griesen Gegend«, da wo sich auch heute noch Fuchs und Hase Gute Nacht sagen.

Genau genommen wohnten sie weit hinten, in der griesesten Ecke von der Griesen Gegend, da, wo es nicht mehr weitergeht, weil nördlich davon ein Militärsperrgebiet liegt.

Als Wolfgangs Mutter Meta mit ihren sechs Kindern vom Bahnhof zum Dorfzentrum lief, liefen sie auf dem Sandboden, dem die Griese Gegend ihren Namen verdankt. Im Plattdeutschen bedeutet »griese« arm und kärglich und beschreibt die aschgraue-gelbliche Farbe des nährstoffarmen Bodens, den der Regen über die Jahrhunderte hinweg ausgewaschen hat und auf dem wenig wächst außer Kiefern, Pilzen und Heidekraut.

Die Griese Gegend fängt überall dort an, wo der gute Boden aufhört, sagte der Volksmund. Denn auf dem leichten Sandboden waren die Erträge gering und die Bewohner außer ein paar Bauern immer schon arm. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen galten die Bewohner der Griesen Gegend als ruhig und gelassen. Sie redeten nicht viel. Sie redeten nur, wenn sie wollten. Das meiste ergibt sich doch von selbst, dachten sie, aber sie sagten es nicht. Der Dichter Johannes Gillhoff hat die Mentalität einmal so beschrieben: Langsam im Denken, Reden und Handeln, erwarten sie nichts vom Augenblick, halten aber zäh an dem fest, was sie sich einmal vorgenommen haben.

Wolfgangs Mutter hatte sich auch etwas vorgenommen. Sie fragte den Ortsvorsteher, ob er Platz für ihre Familie hat. Wir hebben hier kien Platz för so vööl lütte Kinner, war seine unfreundliche Antwort.

Der Ortsvorsteher schickte sie zur Kirche von Alt Jabel, deren Pfarrer schon damals für eine der weitläufigsten Kirchengemeinden zuständig war. Vor der Kirche standen sie direkt in der Nähe des Wendenwalls, dem Überrest einer slawischen Verteidigungsanlage. Von hier aus konnten die Slawen die Südseite von Jabel, das übersetzt Apfelbaum bedeutet, gut einsehen. Im Osten bildeten die Moore von Hohenwoos und Tewswoos einen natürlichen Schutzwall, während im Westen der Kiefernwald und im Norden die Heide und ab dem Zweiten Weltkrieg ein Militärsperrgebiet das Dorf begrenzten.

Beim Pastor der Gemeinde hatte Meta mehr Glück. Der Förster war ein guter Freund von ihm. Und im Wald gab es mehr als genug Arbeit für eine siebenköpfige Familie. Und so bekamen sie zwei Zimmer in einem Haus gegenüber dem Forsthaus zugewiesen. Eine Mutter mit sechs Kindern, die noch einmal von vorne anfangen musste. In den Augen der »Griesen« waren sie nur Flüchtlinge, die noch ärmer waren als sie.

Fast sieben Monate lang sah Wolfgang in den Untersuchungsgefängnissen nur zwei Wärter und den Vernehmer. Der Vernehmer war sowohl in Berlin als auch später in Neustrelitz immer derselbe und hatte eine auffällige Hakennase und gelbe Finger vom Rauchen.

An der Tür und am Fenster standen der Wärter, der ihn abgeholt hatte, und ein anderer Uniformierter. Im Verlauf der Verhöre befand sich nur noch der Wärter mit seinem übergroßen Schlüsselbund an der Tür.

Was denken Sie, warum Sie hier sind? Wolfgangs Gegenfrage, Wo bin ich denn hier?, wurde von dem Wärter mit einem unsanften Schlag auf den Hinterkopf quittiert. Der Vernehmer am Tisch vor ihm ging noch weiter. Er schlug ihm mit seiner Faust aufs Ohr und brüllte: Sie Verbrecher, Sie Spion, Sie Schwein. Wolfgang sah noch seinen Kragen mit der weinroten Paspel, der Erkennungsfarbe des Staatssicherheitsdienstes, bevor sein Oberkörper auf die Tischkante fiel. Kollabieren durfte er auch nicht. Dafür sorgte erneut der Wärter hinter ihm, der ihn an den Haaren wieder nach oben zog.

Von beiden wurde Wolfgang gemustert wie ein gefangen gehaltenes Tier. Für ihn wiederum waren sie Menschen, die sich gehäutet und eine Uniform übergezogen hatten. Wolfgang starrte durch sie hindurch und versuchte sein Zittern zu verbergen. Sie lauerten auf eine Antwort von ihm. Mit Augen, deren Pupillen vor lauter Unmenschlichkeit erweitert waren. Mit Mündern, aus denen Armseligkeit und Überlegenheit triefte. Eine Mischung, die eine Droge sein konnte und nach der sie sich sehnten, wenn sie anfingen, schon im Schlaf ihre Mitmenschen zu quälen.

Sie durchschauten Wolfgang, aber er durchschaute auch sie, und schließlich erhob er sich vor ihnen, obwohl er sitzen blieb. Sie merkten es nicht. Nur er spürte den Sieg in seiner Niederlage, der sein ganzes Herz ausfüllte, auch wenn es auf dem Blatt Papier nicht mehr schlug.

Während er still und stolz auf dem Stuhl im Vernehmungszimmer saß und es für den Vernehmer so aussah, als hätte er sich ergeben, wiederholte er in Gedanken immer wieder die eine Strophe eines Volksliedes, die auch Jahre später ein stiller Begleiter für ihn war:

Und sperrt man mich ein

im finsteren Kerker,

das alles sind rein

vergebliche Werke;

denn meine Gedanken

zerreißen die Schranken

und Mauern entzwei,

die Gedanken sind frei.

Ein Rechtsanwalt kam in den ersten Monaten nie. Das wurde ihm gleich am ersten Tag der Verhöre klargemacht, als er danach fragte und ihm der Vernehmer aus Absicht den noch heißen Kaffee über die Finger kippte. Oh, tut mir leid. Aber Ansprüche hat hier keiner. Es war weder der Inhalt des Gesagten noch der heiße Kaffee, der Wolfgang erschreckte, sondern diese seltsame Mischung aus Höflichkeit und Sadismus in seiner Stimme. Der Gesichtsausdruck des Vernehmers verzerrte sich zu einem breiten Grinsen, als er genüsslich diese Worte zischte. Wolfgang dachte nur: Das ist ihr wahres Gesicht.

Die, die ihr mich hasst, ihr werdet sehen,

dass ich euch liebe, weil ihr so gut hassen könnt.

Hassen muss doch eine Wonne sein,

nicht denken, nur voreingenommen sein,

bei manchen Menschen ihr einziges Ideal.

(von Wolfgang, wahrscheinlich 1964/65)

Wolfgang besaß nun nichts mehr, noch nicht einmal eine Uhr, sodass er in der fensterlosen Zelle, in der permanent das Licht brannte, auch nicht wusste, wie spät es war. Wann ein neuer Tag begann, wusste er auch nicht. Anfangs konnte er es noch erahnen, da er schon immer frühmorgens sehr regelmäßigen Stuhlgang hatte. Aber aufgrund des wenigen Essens und Trinkens, das immer aus Wasser und Schwarzbrot bestand, versagte allmählich auch diese einzige noch erhalten gebliebene biologische Uhr.

In der Zelle gab es nur eine Holzpritsche, einen Eimer mit Deckel und einen weißen Strich auf dem Fußboden. Der Eimer roch stark nach Desinfektionsmittel und war als Toilette gedacht. Es gab ein Blatt Toilettenpapier am Tag, und zum Waschen bekam er morgens einen zweiten Eimer mit Wasser.

Die erste Zeit durfte er sich nicht auf die Pritsche legen. Das überwachte der Wärter durch die Türklappe. Anfangs kam der Wärter alle fünf bis zehn Minuten, später jede halbe Stunde vorbei und kontrollierte seine Position. Erst nachdem er sich schuldig bekannt hatte, durfte er sich zu bestimmten Zeiten auf die Pritsche legen, aber auch nur dann, wenn sie von den Wärtern heruntergeklappt wurde.

Wenn die Wärter die Zellentür öffneten, musste Wolfgang mit dem Gesicht zur hinteren Wand treten. Erst wenn er angesprochen wurde, durfte er sich umdrehen. Wie der Vernehmer sprachen ihn die Wärter nur noch mit einer Nummer und nicht mit seinem Namen an.

Wolfgang besaß nichts mehr, außer seines unversehrten Herzens und seiner Würde. Aber auch die Würde war mit der Zeit ziemlich ramponiert. Denn Wolfgang stand in einer Zelle, die weder Fenster noch Möbel hatte. Der verbotene Kontakt nach draußen, die Verhöre, das ständige Licht, die peniblen Kontrollen, der fehlende Tag- und Nachtrhythmus, die Drohungen, der Schlaf- und Essensentzug waren schwer zu ertragen. Wenn es ganz schlimm wurde, war auch Dunkelhaft oder Fesselung drin. Sieben Monate lang schweigen, die Einsamkeit herunterschlucken, schließlich mit Wänden sprechen, seine innere Stimme verlieren.

Eine Liegeerlaubnis für den Tag darf nur der Haftarzt erteilen, besagte die Haftordnung. Schlafen dürfen Sie dann, wenn Sie uns alles erzählt haben, sagte der Vernehmer.

Als die Verhöre immer anstrengender wurden, fing Wolfgang an zu schwitzen, sobald er das Klirren der Zellenschlüssel hörte. Wenn sie ihm durch die Klappe nur seine Scheibe Brot reichten, war er erleichtert, aber auch schockiert, dass es so viele verschiedene Spielarten der Grausamkeit gab.

Die Stille war für Wolfgang das Schlimmste. Die Stille und die Isolation waren Absicht. Denn dadurch wurde seine Sehnsucht nach zwischenmenschlichem Kontakt nahezu unerträglich. Manchmal war der Augenkontakt über die Klappe tagelang die einzige Verbindung zu einem menschlichen Lebewesen. Oft sah er nur die Pupille. Und so war Wolfgang fast ein wenig froh, wenn er endlich zum Verhör gebracht wurde.

Die anderen Häftlinge sah er nie. Immer wenn er zum Verhör abgeholt wurde, ging er durch Flure, an deren Wänden rote Leuchten angebracht waren, die wie Ampeln aufblinkten und einen irrsinnigen Krach machten. Dadurch begegnete er auch auf den Gängen nie einem anderen Häftling. Manchmal hörte er sie jedoch durch die Mauern. Sie gaben sich gegenseitig Klopfzeichen, die Wolfgang nicht erwiderte. Nicht weil es verboten war, sondern weil er schon genug mit seinem eigenen Pulsschlag beschäftigt war, der in seinen Ohren anschwoll wie Trommelschläge.

Schon bei seiner Ankunft, als er sich nackt ausziehen musste, glaubte er nicht, dass es so ein Verhalten wirklich gibt. Ausziehen, schrien sie ihn an, als er in seiner Unterhose vor ihnen stand. Und weil er nicht reagierte, traten sie ihm in die Kniekehlen, und sie lachten, als er der Länge nach hinflog.

Wolfgang merkte erst spät, dass es besser war, sich anzupassen und sich wegzuducken. Am Anfang der Untersuchungshaft war er noch naiv und gab sich dem jugendlichen Glauben hin, dass es schon nicht so schlimm werden würde, was ihn manchmal dazu verleitete, seinem Vernehmer Gegenfragen zu stellen.

Als er seinen Vernehmer fragte, wann er endlich wieder rauskäme, lachte der nur und sagte: Vielleicht in fünfzehn Jahren. In diesem Moment lief Wolfgang ein kalter Schauer über den Rücken, denn er begriff, dass er seine besten Jahre im Gefängnis verbringen würde. Er war Anfang zwanzig und vollkommen unpolitisch. Er hatte nur den Wunsch nach Freiheit und Wahlmöglichkeiten, die es in der DDR nicht gab. Und da er in Armut aufgewachsen war, hatte er auch den Wunsch nach einem besseren Leben. Es war keine große Sache, sondern ein Traum, den viele junge Männer in seinem Alter träumten, zu allen Zeiten und auf allen Kontinenten.

Außer dass er Gedichte schrieb, fand er, dass er sich nicht von anderen unterschied, auch wenn das seine Geschwister immer zu ihm gesagt hatten. Dabei war er eigentlich nie wie die anderen gewesen. Er schrieb nicht nur Gedichte, sondern war auch der am besten gekleidete Mann in der Griesen Gegend östlich der Elbe. Es war ihm wichtig, gut angezogen zu sein, und er gab sein Geld nicht für Zigaretten und Alkohol aus, sondern für gute Kleidung.

Nach der Arbeit lief er nicht im Blaumann oder in den griesen Arbeitsklamotten herum, sondern er zog sich noch auf der Arbeit um. Und so lief er im Anzug mit Krawatte die unbefestigten Sandwege im Dorf entlang, wenn er von seiner Arbeit als Traktorfahrer und später als Fahrer bei der Volkspolizei nach Hause kam. Auf einem Foto liefen zwei Hühner hinter ihm her. Und es sah so aus, als wenn sie einem Hahn hinterherstolzierten.

Sein Bruder Hermann lief auch immer hinter ihm her, besonders wenn er für ihn im Haus seine neuen Schuhe einlaufen durfte. Nur im Haus, draußen durfte er nicht mit ihnen gehen.

Und Hermann, der nun ein schlechtes Gewissen hatte, weil er während Wolfgangs Haftstrafe dessen Schuhe trug, musste nach seiner Verhaftung nun immer öfter an ihn denken. Er liebte seinen Bruder mehr als jeden anderen Menschen im Dorf. Denn im Gegensatz zu vielen anderen in der Griesen Gegend war er nie feige, sondern immer bestechend ehrlich gewesen und schon allein deswegen, nicht nur wegen seiner Kleidung, etwas ganz Besonderes für ihn.

Hermann schrieb jetzt Briefe an die Volkspolizei, warum sie immer noch nichts von seinem Bruder gehört hatten. Und er korrigierte seiner Mutter die Briefe, die sie später an die Behörden als Gnadengesuch schrieb. Sie mache sich Vorwürfe, schrieb sie. Denn schließlich sei sie ja an allem schuld.

Seit man mir die Freiheit hat genommen

Hab ich’s Lachen ganz verlernt

Seit ich sie verloren hab

Schafft ich auch das Weinen ab

Fast vor Weh das Herz mir bricht

Aber weinen kann ich nicht

(von Wolfgang, Bautzen im Juli 1963)

DER GEFRIERSCHRANK DER HERZEN

Wolfgangs Herz lag in einem Gefrierschrank, zusammen mit denen der anderen Häftlinge. Er stellte sich vor, wie sie sortiert nebeneinanderlagen. Jedes Herz hatte eine Nummer. Die Nummer, die jedem am Anfang der Untersuchungshaft zugeteilt worden war. Sein Herz mit der Nummer 392 lag in der Mitte ganz vorne im Gefrierschrank. Wie die anderen pulsierte es noch unter einer Schicht aus dünnem Eis. Es schimmerte leicht rosa. Die Blutgefäße verästelten sich, und es schien, als ob die Venen und Arterien auch eine Verbindung zu den anderen Herzen im Gefrierschrank hatten. Das Blut strömte eiskalt durch alle hindurch. Auch wenn sie ihm seinen Willen herausreißen und brechen konnten. Mit seinem Herzen schafften sie es nicht, sosehr sie sich auch bemühten.

Wenn es besonders schlimm war, stellte sich Wolfgang sein Herz im Gefrierschrank vor und wie unversehrt es war. Diese Vorstellung, dass es für die kommenden Jahre tiefgefroren dort lag, beruhigte ihn. Er wusste, dass er es wieder auftauen konnte, wenn die Zeit gekommen war. Er hatte noch keine Vorstellung, wann das sein würde. Ob in wenigen Jahren, einer halben Ewigkeit oder in einer Zeitspanne, die nur ein lächerlicher Bruchteil seines Lebens sein würde.

Letztendlich wusste er nichts von diesem Staat und traute dessen Dienern nun doch alles zu. Die Schläge und Misshandlungen hallten noch lange nach, auch wenn sie nicht bis zu seinem Herzen vorgedrungen waren. Wolfgangs Körper war es, der stellvertretend alles Leid in sich aufnahm und einsaugte.

Nach den ersten Verhören konnte er noch stundenlang auf der weißen Linie stehen bleiben, ohne einzuschlafen. Später täuschte er die Wachheit nur vor, wenn im halbstündigen Rhythmus der Wärter an seiner Zelle vorbeikam. Er war dann eine Katze, die mit nur einer Gehirnhälfte schlief.

Irgendwann schaffte er auch das nicht mehr. Von einem Moment auf den anderen klappte er wie ein Taschenmesser in sich zusammen und blieb, ohne sich abzufangen, auf dem Boden liegen. Wenn er Glück hatte, konnte er eine halbe Stunde schlafen. Spätestens dann brüllte ihn der Wärter von draußen an: 392, aufstehen! Und wenn Wolfgang nicht reagierte, schloss er die Zelle auf, kam herein und richtete ihn mit einem Schlag auf den Rücken wieder auf.

Warum kamen Sie in die Deutsche Demokratische Republik?

Ich kam zurück, um für immer hierzubleiben und wieder zu meiner Mutter zurückzukehren.

Ihre Aussagen sind unglaubwürdig. Sagen Sie wahrheitsgetreu über die Gründe Ihrer Fahrt in die Deutsche Demokratische Republik aus!

Ich verfolgte kein anderes Ziel mit meiner Rückkehr, als zu meinen Angehörigen zurückzukehren.

Ihre Aussagen sind erlogen.

Es kam die Zeit, als der Schlafmangel zu groß wurde. Erst war es nur ein Zusammenzucken bei jedem kleinsten Geräusch. Dann war es ein leichtes Zittern in den Fingern, das sich schließlich in seinem ganzen Körper manifestierte. Er versuchte sich dagegen zu wehren, sich dagegen zu stemmen mit jeder Faser seines Körpers, um nicht das sagen zu müssen, was sie hören wollten. Dass er ein verdammter Spion war. Vom Westen angeheuert, um dem Arbeiter- und Bauernstaat zu schaden. Schließlich bekannte er sich schuldig, obwohl er es nicht war und sich alles in ihm sträubte.

Wiederholen!

Ja, ich habe die Grenze ungesetzlich übertreten.

Und weiter!

Ich bekenne mich schuldig.

Sie sind ein Spion.

Ich bin kein Spion.

Sie haben hier nicht zu widersprechen.

(Wolfgang schweigt)

Es liegt an Ihnen, ob Sie mit uns zusammenarbeiten.

Verurteilt werden Sie so oder so.

Dabei war Wolfgang am 19. Mai 1959 mit seinem Freund Edgar lediglich aus Abenteuerlust und dem Wunsch nach einem besseren Leben über die offene Grenze nach West-Berlin gegangen und nicht wieder zurückgekehrt. Beide hatten keine besonderen Vorbereitungen hierfür getroffen, sondern fuhren zuerst mit dem Zug und dann mit der S-Bahn einfach nach West-Berlin. Seinem Freund, der kein Geld hatte, bezahlte er die Flucht und die Bahnfahrt. Das Geld hierfür, insgesamt 600 Ostmark, hob er von seinem Sparkonto ab. In West-Berlin gingen sie zusammen ins Notaufnahmelager der amerikanischen Zone. Schließlich blieb Wolfgang eine knappe Woche bei seiner Tante in West-Berlin, bevor er ins Flugzeug steigen durfte und die erste Zeit bei einem Onkel im Schwarzwald wohnte. So einfach war das damals, als die Mauer noch nicht gebaut war.

Und da Heimat dort ist, wo man aufgewachsen ist, kam Wolfgang wieder nach Alt Jabel zurück. In Lorch hatte er bereits eine Arbeitsstelle, aber seine Mutter schrieb ihm Briefe. Wolfgang war Anfang zwanzig und bekam nach dem ersten Weihnachten fernab von zu Hause unerträgliches Heimweh. Komm doch wieder nach Hause, schrieb sie. Und immer wieder: Dir passiert schon nichts. Ich vermisse Dich, mein Jung.

Wolfgang war einer der wenigen Menschen, die aus der DDR in den Westen gegangen und dann wieder zurückgekehrt waren. Er war jung, und er hatte wirklich geglaubt, es würde ihm schon nichts passieren.

Nachdem sie den Bus direkt vor dem Ortsschild angehalten und Wolfgang herausgezerrt hatten, rissen sie seine Hände nach hinten und legten ihm Handschellen an: Sie sind vorläufig festgenommen. Bei Widerstand wird geschossen. Wolfgang wollte protestieren, aber seine Worte kamen ins Stocken, als sie ihn voranschubsten.

Ein letztes Mal schaute Wolfgang zurück zum Ortsschild, seinem Heimatort, bevor sie ihn wie ein Stück Vieh in den Wagen trieben und auf den Boden zerrten. Seinen Kopf steckten sie in einen Stoffsack und rissen seine Hände mit den Handschellen nach oben auf die Pritsche des Wagens, auf der zwei Soldaten saßen und ihn nach unten drückten.

Wolfgang konnte durch den Sack hindurch nicht sehen, wohin sie fuhren. Außerdem war das Verdeck verschlossen, und er roch nur seinen eigenen Angstschweiß, der sich während der Fahrt immer mehr mit dem Benzingeruch vermischte.

Als der Wagen anhielt und sie ihn in ein Gebäude führten, hatte er immer noch den Sack über dem Kopf. Eine Männerstimme schrie ihn an: Gesicht zur Wand! Da er unter dem Sack nichts sehen konnte und nicht gleich reagierte, drückte eine kräftige Hand von hinten sein Gesicht in Richtung Wand, sodass er fast nicht mehr atmen konnte. Das war auch das letzte Mal, dass er mit seinem Namen angesprochen wurde: Sie werden immer verlieren, Herr G.

Insgesamt verlassen zwischen Oktober 1949 und August 1961 fast drei Millionen Bewohner das Land, etwa ein Sechstel der Gesamtbevölkerung. Die DDR droht ihre Zukunft zu verlieren.

(GEO Epoche Nr. 64, Die DDR)

In letzter Konsequenz war es den Beamten egal, was sie aus ihm herausholten und weswegen sie Anklage erhoben. In einer Atmosphäre der Konkurrenz und der Befehle konnte es nur einen Weg geben. Die Schuld lag immer bei den anderen. Bei den Republikflüchtigen, die Verbrecher waren. Bei den Menschen, die sich im Aufnahmelager des Westens befragen ließen. Oder bei den Vorgesetzten, die den Schießbefehl gegeben hatten.

Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schusswaffe einzusetzen.

(Erich Honecker, 1961)

Warum sie aber trotzdem nicht einfach vorbeischossen, hatte Wolfgang noch nie verstanden. Man konnte doch zumindest so tun, als würde man zielen, und dann trotzdem das Ziel verfehlen.

So hatte er es bei seinem Freund Edgar gesehen, dessen Vater Jäger war und Edgar auch mal vom Hochstand schießen ließ. Nicht auf Menschen, aber auf Wildschweine und Rehe. Edgar, der Tiere mehr liebte als Menschen, tat dann so, als zielte er mit dem Gewehr genau in Richtung Wildschwein. Um seine Konzentration zu bekräftigen, kniff er das eine Auge professionell zu. In Wirklichkeit wusste Wolfgang, dass Edgar ein guter Schauspieler war, der nur seinem Vater zuliebe abdrückte und mit der Souveränität eines Dilettanten danebenschoss.

Weil Wolfgang meinte, Edgar richtig gut zu kennen, war die Verwunderung umso größer, als der ihn später an die Stasi verriet. Edgars Verrat war auch einer der Gründe, warum Wolfgang schon im Untersuchungsgefängnis wusste, dass er nach seiner Entlassung erneut fliehen würde.

Außerdem begann er, die Schergen, wie er sie nannte, zu hassen, weil sie sich als Autoritäten aufspielten, obwohl sie nur durch ihre Abzeichen dazu wurden. Immer wieder wurde er befragt und zu völlig willkürlichen Zeiten aus seiner Zelle geholt. Mal wartete er stundenlang auf das nächste Verhör. Und im nächsten Moment waren es plötzlich nur wenige Minuten.

Die Fragen, die sie ihm stellten, und die Mutmaßungen waren genauso irrsinnig wie die Zeiten, an denen sie ihn aus der Zelle holten. Fast ein Jahr nach seinem Grenzübertritt sollte er noch genau wissen, wie die amerikanischen, englischen und französischen Offiziere ausgesehen hatten, die ihn im Notaufnahmelager im Westen befragt hatten. In der Untersuchungshaft in Berlin-Lichtenberg wurde ihm unmissverständlich klargemacht, dass er auch hierzu eine Aussage machen musste: Sie wollen doch, dass Ihre Brüder weiter bei der Nationalen Volksarmee dienen dürfen und Ihre Schwester studieren darf?

Und so spann er sich so gut er konnte etwas zusammen: von der Farbe der Hemden, vom gescheitelten Haar, der Form der Nase, der Stellung der Augen und dem Sitz des Gürtels. Er wurde zum Karikaturisten der imperialistischen Feinde, auch wenn er eigentlich nur die Offiziere der DDR beschrieb.

Ihre Aussagen sind erlogen! Welche Spionageangaben machten Sie in den sogenannten Sichtungsstellen?

Ich kannte keine Sichtungsstellen. Ich bekam nur einen Laufzettel wie alle anderen republikflüchtigen Personen für das sogenannte Notaufnahmeverfahren.

Beantworten Sie meine Frage! Welche Spionageangaben machten Sie in den sogenannten Sichtungsstellen?

Ich gab keine militärischen Geheimnisse preis, weil ich über meine Dienstzeit bei den bewaffneten Kräften in der Deutschen Demokratischen Republik gar nicht befragt wurde.

Sie lügen! In Pritzier haben Sie noch etwas ganz anderes angegeben.

Ich gab dieses nur deshalb zu, weil mir damals der mich vernehmende Offizier Versprechungen machte, dass ich früher das Heim verlassen kann, wenn ich zugebe, militärische Geheimnisse verraten zu haben.

Später stand in den Verhörprotokollen, dass er absichtlich die verschiedenen ausländischen Stellen und Geheimdienste aufgesucht habe. Und dass er nur deswegen nach West-Berlin gegangen sei. Immer aufs Neue widerrief er diese Aussage, was ihm aber nichts nützte. Denn im nächsten Protokoll stand sie wieder drin. Und da er dazu gezwungen wurde zu unterschreiben und sie ihm mit weiterem Schlafentzug drohten, wollte er irgendwann nur noch eins: endlich schlafen.

Er wollte nicht mehr lesen, dass er sein ganzes Erspartes illegal aus dem Währungsgebiet der DDR gebracht und zum Schwindelkurs in Westgeld umgetauscht hatte. Und er wollte schon gar nicht mehr lesen, dass er bei den Vertretern imperialistischer Spionagezentralen vorstellig wurde, um absichtlich die DDR und den Weltfrieden zu gefährden. Während er auf der weißen Linie stand und der Schlaf ihn übermannte, wollte er nur eines: endlich Frieden.

Als Wolfgang nach seinem endgültigen Geständnis auf dem Fußboden seiner Einzelzelle schlafen durfte, verfolgte ihn das metallische Geräusch der Zellenschlüssel bis in den Schlaf. Als er aufwachte, konnte er sich im ersten Moment an nichts mehr erinnern. Nur die weiße Linie auf dem Fußboden kam ihm bekannt vor. Sie verlief geradewegs zum Gefrierschrank mit seinem Herzen, das er im Traum dort hineingelegt und beschriftet hatte.

SCHUHE

Nachdem die Verhöre und die Untersuchungshaft beendet waren, wurde er im Oktober 1960 in die Haftanstalt Bautzen I, bekannt als »Gelbes Elend«, verlegt. Auf dem Weg dorthin sah er das erste Mal seit Monaten den Himmel wieder.

Vor dem Abtransport wurden seine Hände mit Handschellen hinter dem Rücken fixiert. Mit leichten Hieben trieben sie ihn die Treppe hoch.