Neun Autorinnenporträts – von Aichinger bis Zürn - Inge Stephan - E-Book

Neun Autorinnenporträts – von Aichinger bis Zürn E-Book

Inge Stephan

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Beschreibung

Der Band enthält Porträts von Ilse Aichinger, Hilde Domin, Geno Hartlaub, Marlen Haushofer, Marie Luise Kaschnitz, Ilse Langner, Johanna Moosdorf, Ruth Rehmann, Unica Zürn. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Inge Stephan | Regula Venske | Sigrid Weigel

Neun Autorinnenporträts – von Aichinger bis Zürn

FISCHER Digital

Inhalt

Die Literatur von Frauen vor der Frauenliteratur – VorbemerkungSigrid Weigel – Schreibarbeit und Phantasie: Ilse Aichinger1.2.Regula Venske – »Flucht zurück als Flucht nach vorn«?: Hilde Domin und die »Rückkehr ins Zweite Paradies«1. Biographisches2. »Von der Natur nicht vorgesehen«? – Die Situation der schreibenden Frau3. Hilde Domins Lyrik – Klischees einer ›weiblichen Poetik‹?4. Das Zweite Paradies – »Flucht zurück als Flucht nach vorn«?Sigrid Weigel – Der Mythos der Geschwisterliebe: Geno Hartlaub1.2.3.Regula Venske – »… das Alte verloren und das Neue nicht gewonnen …«: Marlen Haushofer1.2.3.4.Inge Stephan – Männliche Ordnung und weibliche Erfahrung: Überlegungen zum autobiographischen Schreiben bei Marie Luise Kaschnitz1.2.Inge Stephan – Weiblicher Heroismus: Zu zwei Dramen von Ilse Langner1. Zur Biographie2. Zur Traditionslosigkeit weiblicher Dramatiker3. »Aber ich will frei sein« – Die Chronik »Frau Emma kämpft im Hinterland«4. »Der wahre Aufstand fängt im Eh’bett an« – Die Tragödie »Klytämnestra«AnmerkungenRegula Venske – Schriftstellerin gegen das Vergessen: Johanna Moosdorf1.2.3.4.5.6.7.Inge Stephan – Von Bildern umstellt: Zu den Frauenfiguren bei Ruth Rehmann1.2.3.4.5.6.Sigrid Weigel – »Wäre ich ein Mann, hätte ich aus diesem Zustand vielleicht ein Werk geschaffen«: Unica Zürn1. Ungleichzeitigkeiten2. »Vieles läßt sich nur mit Papier machen. Auf Papier wird letztenendes alles hinauslaufen.«3. »Dass es nämlich die Distance und nichts als die Distance ist, die das Wunderbare für mich bedeutet«4. »Die Angst leben zu müssen oder sterben zu müssen – ist das nicht das Gleiche?«5. »Der Mann wird in ihren Augen zu einem großen Zauberer, zu einem Wesen, das alles, selbst das Unwahrscheinliche vollbringen kann.«6. »Das Messer im Herzen«

Die Literatur von Frauen vor der Frauenliteratur Vorbemerkung

Als in den siebziger Jahren in der Bundesrepublik unter dem Titel ›Frauenliteratur‹ eine Bewegung begann, in der Schreibende und Leserinnen sich über eine eigene, genuin weibliche Literatur verständigten und Schriftstellerinnen sich zunehmend ihren Ort in der Gegenwartsliteratur eroberten, schien es so, als könnten sie auf keinerlei eigene Literaturtradition zurückgreifen. Das Programm der ›Frauenliteratur‹ markierte vielmehr einen Bruch gegenüber jeglicher Tradition, auch und gerade gegenüber der von Schriftstellerinnen aus der jüngsten Vergangenheit. Namen wie Aichinger und Kaschnitz waren aus Schullesebüchern bekannt und verbanden sich mit Vorstellungen und Werten, von denen die Frauen aus der Studenten- und Frauenbewegung sich gerade emanzipieren wollten. Sie waren zudem in Anspruch genommen durch die herrschende, männlich dominierte Literaturgeschichte, hatten dort ihren Ort als ›Ausnahmefrauen‹, indem sie die wenigen weiblichen Namen abgaben, die in die Reihe der großen Männer aufgenommen worden waren. Die Literatur anderer, weniger bekannter Schriftstellerinnen aus den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren galt als Lesestoff der Müttergeneration und war belastet durch die Atmosphäre der Nachkriegszeit und der Restauration.

So wurde ein überwiegend konservatives Image von der Schriftstellerinnengeneration vor der Frauenliteratur weitgehend ungeprüft durch den Diskurs der Frauenliteratur überliefert. Eine deutsche Simone de Beauvoir, Vermittlerin zwischen der älteren Generation und den jüngeren Frauen, gab es nicht. Die Debatten über ›weibliche Ästhetik‹ und die Untersuchungen über eine eigene, weiblichen Erfahrungen entsprechende Sprache und Schreibweise wenden ihre Aufmerksamkeit weiter zurückliegenden Zeiten zu; ›Vorläuferinnen‹ wurden und werden immer noch eher in der Romantik, im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgesucht und ausgemacht. Viele Autorinnen aus der Nachkriegszeit blieben so gänzlich unbeachtet oder ›vergessene‹. Erst die Bachmann-Renaissance hat den Blick auf die vorfeministische Literatur von Frauen verändert. Es folgten Entdeckungen ihrer Zeitgenossinnen wie beispielsweise Marlen Haushofer.

Dieser Band mit neun Autorinnenporträts erprobt am Beispiel ausgewählter Texte von Ilse Aichinger, Hilde Domin, Geno Hartlaub, Marlen Haushofer, Marie Luise Kaschnitz, Ilse Langner, Johanna Moosdorf, Ruth Rehmann und Unica Zürn eine Neulektüre, die sich am heutigen Interessen- und Problemhorizont weiblicher Schreibpraxis orientiert. Das Ziel dieser Lektüre ist es allerdings nicht, einen neuen Kanon zu begründen oder gar eine Traditionsbildung im Sinne einer Literaturgeschichte ›großer Schriftstellerinnen‹ vorzunehmen. Die Autorinnenporträts haben einen exemplarischen Charakter; die Auswahl ist insofern zufällig und beliebig, als sie unseren individuellen Arbeitszusammenhängen, Interessen, Lektüregeschichten und Vorlieben entsprungen ist. Es könnten jedoch auch andere Autorinnennamen an der Stelle der hier genannten stehen. Es geht uns um eine Anregung zur (Wieder-)Entdeckung bzw. Neulektüre einer Schriftstellerinnengeneration, die einen eigentümlichen Ort im Dazwischen einnimmt: zwischen Tradition und Moderne, zwischen männlichem Literaturbetrieb und noch nicht existenter Frauenbewegung bzw. Frauenöffentlichkeit, zwischen mythischem, phantastischem und realistischem Schreiben. Auffällig ist, daß die Literatur dieser Generation thematisch um die Erfahrungen, Mythen und Bilder des ›Weiblichen‹ kreist, daß in ihr eine Kritik am Mann und an der herrschenden (männlichen) Ordnung und den ihr innewohnenden Gewaltverhältnissen zum Ausdruck kommt, die deutliche Analogien zur heutigen Frauenliteratur aufweist, daß sich in ihr aber dennoch signifikante Unterschiede in Schreibweise, Perspektive und in der Art und Weise, wie das ›Weibliche‹ in den Blick gerät, zeigen. Die betreffenden Schriftstellerinnen sollen nun nicht als ›Vorläuferinnen‹ verstanden werden, deren Literatur etwa als ›Vorstufe‹ und ›Vorbereitung‹ der heutigen Frauenliteratur deren Niveau noch nicht erreicht hätte. Vielmehr sind in ihrer Literatur eine Fülle von Motiven vorweggenommen, die heute gern als Merkmal der ›Frauenliteratur‹ verstanden werden, die dort aber anders – teils verschwiegener, teils widerspruchsvoller, teils mit anderen Bewertungen und Bedeutungen verbunden und manchmal auch radikaler als in der gegenwärtigen Literatur von Frauen – gestaltet sind. In den einzelnen Beiträgen sollen die Ähnlichkeiten ebenso wie die Differenzen zur Sprache gebracht werden.

Die Unterschiede verweisen auch auf den anderen kulturellen und zeitgeschichtlichen Kontext und auf die Rezeption der Literatur von Frauen im Literaturbetrieb der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre. Der Mangel eines öffentlichen Diskurses über die Situation von Frauen machte sich vor allem in den Rezensionen bemerkbar, die sich durch selektive Wahrnehmung (die von Christa Wolf so bezeichnete »Teilblindheit« männlicher Kritiker gegenüber Texten von Frauen), Nichtbeachtung, Trivialisierung und Vereinnahmung für eigene Literaturpostulate auszeichnen. Das systematische Mißverständnis der Bachmannschen Literatur im zeitgenössischen Feuilleton kann als prototypisch gelten. In den Rezensionen vieler Texte, die für uns heute von besonderem Interesse sind, wurde die Thematisierung von Gewaltstrukturen ausgeblendet, während die Wahrnehmungen der Autorinnen und ihrer Frauenfiguren gerne als Ausdruck »weiblicher Krankheit« oder (»Über-)Empfindsamkeit« bewertet wurden. Dabei wird häufig die konkrete Handlungsebene der Texte von der symbolischen Ebene getrennt, mit der sie vermittelt ist. Frauen mußten in der Gegenwart offenbar erst eine politische und direkte Sprache entwickeln, um ihren sozialen und kulturellen Ort zu thematisieren, damit sie schließlich heute mit einer Aufmerksamkeit rechnen können, die auch für die verborgenen Strukturen der Geschlechterdichotomie und deren Funktionsweise für die bestehenden Verhältnisse sensibel ist.

 

Hamburg, im April 1986

Sigrid Weigel

Schreibarbeit und Phantasie: Ilse Aichinger

Ilse Aichinger (Foto: Isolde Ohlbaum)

1.

»Ich schreibe, weil ich keine bessere Form zu schweigen finde.«[1] Mit diesem Satz hat Ilse Aichinger selbst die treffendste Charakterisierung ihrer Schreibweise gefunden: einer Schreibweise der Paradoxien. In ihrer Literatur bemüht sie sich nämlich um eine Sprache für das Unaussprechliche, für das Unfaßbare und Nichtsichtbare. Ihre Texte leben vom Zusammenstoß des Wirklichen mit dem Visionären und Mystischen, sie sind voller Phantasie, aber auch voller Begriffsarbeit und Formanstrengung. Und obwohl derartige ästhetische Merkmale in den aktuellen Diskussionen um ›weibliche Ästhetik‹ bedeutsam geworden sind, gehört Ilse Aichinger bisher nicht zu den Wiederentdeckungen weiblicher Literaturtradition in der Folge der ›Frauenliteratur‹. Daß die Thematisierung weiblicher Erfahrung bei der Lektüre ihrer Texte nicht ins Auge springt, mag ein Grund für die bislang ausbleibende Popularität Aichingers beim neuen weiblichen Lesepublikum sein; es ist aber wohl nicht der einzige. Ilse Aichingers Literatur gilt als unverständlich und für einen kleinen, exklusiven Leserkreis geschrieben. Diese Verurteilung zur Exklusivität hängt ihren Publikationen seit Beginn an, seitdem ihr erster Roman, »Die größere Hoffnung«, 1948 erschien – obwohl doch gerade für dieses erste Buch das Urteil der Unverständlichkeit am wenigsten nachvollziehbar ist. Unverständlich sind ihre Texte nur, wenn man hinter der Schrift einen anderen, verborgenen oder verschlüsselten Sinn vermutet, nicht aber wenn man ihre Texte wörtlich nimmt. In dem ersten und einzigen Roman der Autorin ist jüngste Vergangenheit, nämlich die traumatische Erfahrung der Judenverfolgung im Nationalsozialismus, verarbeitet. Der Stoff des Buches ist so realistisch wie in wenigen Nachkriegstexten, wenn auch durch die Schreibweise Aichingers die unglaublichen Ereignisse in einer traumhaften, phantastischen Sphäre vergegenwärtigt werden. Ihr Roman hat damit an der in der Nachkriegszeit üblichen Tabuisierung, Verharmlosung und Verdrängung des Grauens nicht teil. Die Direktheit der Sprache Aichingers widersetzt sich den sanktionierten Verarbeitungsweisen der Geschichtsschreibung, wie sie in der beginnenden Restauration der Adenauer-Ära populär wurden. Noch 1982 legitimiert Joachim Kaiser in der »Süddeutschen Zeitung« nachträglich eine zeitgenössische Abwehr gegen den Roman:

 

»Dergleichen bedeutete damals, obschon relativiert als Ausdruck kindlichen Mißverstehens, durchaus Zumutung. (…) Daß Ilse Aichingers poetische Gewalt sich auch von so Schrecklichem wie der Judenverfolgung und KZ nicht zügeln ließ: es war nicht so leicht zu ertragen.«[2]

 

In der bald folgenden Würdigung der Schriftstellerin Aichinger wurden dann auch konsequenterweise ihre poetischen und ästhetischen Qualitäten hervorgehoben, während man das Schreckliche, worüber sie sprach, gerne unter den Tisch fallen ließ. Doch wenn auch die Inhalte ihrer Literatur z.T. schwer faßbar sind, so ist die Sprachanstrengung der Autorin fast immer auf etwas gerichtet: auf das Verdrängte und – zumindest am Anfang ihrer Karriere – auch auf konkrete Stoffe. Statt sich nämlich mit der Abstraktion politischer Begrifflichkeit – z.B. in den Diskussionen um die ›Kollektivschuld‹-Frage – das gerade beendete Grauen vom Leibe zu halten, stellt Aichinger schreibend eine Nähe dazu her, die dennoch niemals unmenschlich wird. Und anstatt über die Opfer zu sprechen, hat sie in dem Roman »Die größere Hoffnung« eine Sprache für die Verfolgten gefunden, in der diese nicht noch einmal zu Objekten werden. Es geht in dem Buch nicht um die Frage der Schuld und auch nicht um eine Nach-Erzählung des Geschehens. Eher handelt es sich um eine Erinnerung aus der Perspektive einer Verfolgten, bei der wirkliches und imaginäres Geschehen ununterscheidbar sind. Die Zeit des Nationalsozialismus erscheint darin nicht als etwas Abgelebtes; die Handlung ist zwar in der Zeit des Faschismus angesiedelt, die Wege der Hauptfigur führen sie aber nicht durch historische Orte – der Text verzichtet auf konkrete Orts- und Zeitangaben –, sie führen sie durch mythische Orte und durch Vorstellungen, ihre Spuren kreuzen dabei das »Denken, das zum Sterben führt«, und jenes, »das zum Verbrechen führt«.[3] Mit dieser Darstellungsweise reagiert die Autorin auf die Unmöglichkeit, der Erlebnisse unter dem Faschismus durch Sprache habhaft zu werden; die Sprache selbst wird statt dessen im Roman als Problem thematisiert.

Die Fabel des Romans läßt sich nur schwer wiedergeben. Er handelt von dem Mädchen Ellen, ihrer jüdischen Großmutter und ihren Freunden/innen, einer Gruppe jüdischer Kinder, von deren Verfolgung, Angst und Fluchtversuchen. Doch der Text verzichtet auf ein konventionelles Handlungsschema, auf psychologisch stimmige Figuren, überhaupt auf einen epischen Erzählmodus. Er besteht aus einer Abfolge von zehn Kapiteln, die jeweils in sich geschlossene Szenen darstellen – Dagmar Lorenz hat ihn mit einem Stationendrama verglichen[4] –, und enthält lyrische und dramatische Elemente.

Die Hauptfigur, das Mädchen Ellen, lebt im Dazwischen, wozu sie schon durch ihre rassische Zuordnung prädestiniert ist. Sie gehört nämlich weder ganz zu der Gruppe jüdischer Kinder, die durch den Judenstern gekennzeichnet – in der Umkehr der Perspektive ausgezeichnet – sind, noch zu den anderen. Denn sie hat zwei »richtige« und zwei »falsche« Großeltern. Sie muß deshalb den Judenstern nicht tragen; d.h. aus ihrer Perspektive: sie darf ihn nicht tragen. Die Konkretisierung dessen, was richtig und was falsch ist, wird nämlich im Text in Opposition zur herrschenden Sprachregelung verkehrt, indem die Perspektive der Verfolgten eingenommen und im Laufe der Darstellung radikalisiert wird. Es zeigt sich bald, daß die jüdische Großmutter, mit der Ellen zusammenlebt, bis die sich durch Gift der Deportation entzieht, die richtige Großmutter ist. Durch den Tod dieser Großmutter wird die Ortlosigkeit der Hauptfigur endgültig. Sie hat kein Zuhause: äußerlich, weil ihr Vater, ein Arier, sich von der Familie getrennt hat und ihre Mutter, eine Jüdin, ins Ausland emigriert ist; im übertragenen Sinne hat sie kein Zuhause, weil sie identitäts- und heimatlos geworden ist. Ellen ist eine Grenzgängerin zwischen Realität und Traum, teilweise trägt sie die Züge eines Fabelwesens, das an verschiedenen Orten auftaucht und wieder verschwindet. Sie ist buchstäblich überall und nirgends.

In der Rezeption wurde der Roman vielfach als versöhnend bewertet. Diese Deutung bezieht sich auf Anfang und Ende des Buches, die dann als Anfang und Endpunkt einer als programmatisch gewerteten Entwicklung der Hauptfigur gelesen werden: Die »große Hoffnung«, so die Überschrift des ersten Kapitels, die Hoffnung auf ein Ausreisevisum, zerschlägt sich für Ellen und wird durch die »größere Hoffnung«, so die Überschrift des letzten Kapitels, ersetzt. Die größere Hoffnung, das ist Ellens Streben nach dem Stern als Zeichen einer symbolischen Identität der Verfolgten. Der Text endet in einer visionären Szene, in der Ellen von einer umkämpften, gesprengten Brücke in die Luft springt und – noch in der Luft – von einer explodierenden Granate zerrissen wird.

Dieses visionäre Ende wird in seiner Bedeutung klarer, wenn man es mit zwei anderen möglichen Schlußvarianten für diesen Roman vergleicht, für die die Autorin sich nicht entschieden hat. In einer realistischen Variante, die der historischen Wahrscheinlichkeit eher entspräche, würde Ellen als Opfer enden. Damit wären die Verfolgten in der literarischen Beschreibung nochmals in ihrer Opferrolle reproduziert. Denn das ist das Dilemma aller Texte, die von Verbrechen handeln, daß sie die Opfer in der literarischen Darstellung in ihrer ohnmächtigen Position zu fixieren drohen.

Eine andere Variante, in der Ellen gerettet würde – eine Möglichkeit, die in der Wirklichkeit nur vereinzelt, zufällig, als Ausnahme zutraf –, erhielte in einem Roman, der dies im realistischen Erzählmodus berichtete, tatsächlich eine versöhnende Bedeutung. Ein solcher Text würde gelesen als Beruhigung, als Angebot zur Aussöhnung und zur Verdrängung des real Geschehenen: Die Literatur, die schöner und glücklicher ist als die Wirklichkeit, das ist das Muster trivialer Romane.

»Es ist nicht wahr, daß die Opfer mahnen, bezeugen, Zeugenschaft für etwas ablegen, das ist eine der furchtbarsten und gedankenlosesten, schwächsten Poetisierungen. Aber der Mensch, der nicht Opfer ist, ist im Zwielicht, er ist zwielichtige Existenz par excellence, auch der beinah zum Opfer gewordene geht mit seinen Irrtümern weiter, stiftet neue Irrtümer, er ist nicht ›in der Wahrheit‹, er ist nicht bevorzugt. Auf das Opfer darf keiner sich berufen. Es ist Mißbrauch. Kein Land und keine Gruppe, keine Idee, darf sich auf ihre Toten berufen.«[5]

 

Diese Überlegungen wurden von Bachmann formuliert, nicht von Aichinger, von der es wenige literaturtheoretische Reflexionen gibt. Die literarische Bearbeitung ihrer Erfahrungen mit dem Faschismus in dem Roman »Die größere Hoffnung« folgt aber ähnlichen Einsichten. Sie schreibt aus der Position einer zufällig Überlebenden. Doch in ihrem Text macht sie nicht dieses zufällige Überleben zum Thema, sondern das Leben in der Verfolgung, im Ausgeschlossensein.

Aus dem Dilemma, das ich mit den zwei nicht gewählten Varianten realistischer Erzählweise kennzeichnen wollte, führt ein Weg hinaus, der sich auf die Möglichkeit besinnt, in der Literatur einem »anderen Begriff von Wirklichkeit« sich hinzugeben – wie Christa Wolf es in ihren »Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra« (1983) postuliert hat. Dazu sei eine andere Art zu erzählen notwendig. Es geht also um die Schreibweise, um eine Literatur, die weder Illusionen bildet noch die reale Gewaltordnung bloß reproduziert. Einer solchen Literatur ist Aichingers Schreibanstrengung auch nach dem Roman gewidmet. In ihrem ersten Roman »Die größere Hoffnung« hat sie diese Schreibweise entwickelt im Bestreben, gegen die Schicksalsbereitschaft von Verfolgten, gegen die Unterwerfung unter die Rolle als Opfer zu opponieren – in einer historischen Situation, in der realer, offener Widerstand kaum möglich war. Es ist ein Roman, der mit den Tatsachen nach eigenem Willen verfährt, nicht um sie zu verleugnen, sondern um die unterhalb des Sichtbaren liegenden Strukturen kenntlich zu machen. Insofern empfinde ich ihn nicht als versöhnlich, sondern eher als beunruhigend, im produktiven Sinne irritierend.

Auch das Phantastische des Textes – die phantastischen Tagträume der Kinder z.B. – erhält nicht die Funktion einer schönen Gegenwelt. Es ist in einem konfliktreichen Verhältnis zum Verbrechen und zur realen Ohnmacht gestaltet. Mythische und religiöse Bezüge, die z.T. die Bedeutung von Identitätsangeboten erhalten – vor allem der Stern –, werden in diese widerspruchsvolle Beziehung von Realität und Phantasie eingeflochten, so daß ihr Sinn immer mehrdeutig bleibt. In einigen Passagen des Romans ist darüber hinaus die Realismus- und Sprachkritik, aus der sich ein derartiges Literaturkonzept ableitet, selbst zum Thema gemacht.

Die erste Station des Romans, »Die große Hoffnung«, vollzieht den Übergang von der realen zur Phantasieebene in der Vorstellung der Hauptfigur Ellen. Sie zeigt die schlafende, träumende Ellen nachts im Konsulat, wo sie sich versteckt hat, um ihr Visum zu erhalten, damit sie mit der Mutter, die ausgewiesen wurde, zusammen ausreisen kann. »Bei Nacht geht alles viel schneller, weil es keine Amtsstunden gibt«[6], lautet ihre Begründung, als der Konsul sie findet. Im Gespräch mit dem Konsul tappt sie in die Falle ihrer eigenen kindlichen Phantasie, indem sie ihm ihren Traum erzählt von den Kindern ohne Paß, für die niemand bürgen will, und vom ebenfalls verfolgten Haifisch, der sie tröstet. Der Konsul kontert, um sie loszuwerden, auf ihrer Ebene und bringt sie dazu, sich selbst ein Visum zu zeichnen mit den Worten: »Du kannst es. Jeder Mensch ist im Grunde sein eigener Konsul. Und ob die Welt wirklich weit ist, das liegt an jedem Menschen.«[7] Wieder zu Hause, folgt die Ent-Täuschung. Die Mutter ist fort, und Ellen empfindet das »Grauen der Verlassenheit«. Auf ihren Wegen durch die verdunkelte Stadt setzt sie sich nun ab von der ›Wirklichkeit‹ der anderen, die von ihr als Leben im Surrogat betrachtet wird:

 

»Sie waren so gierig, als verkaufte er (der Zeitungsjunge, S.W.) ihnen nicht den Kriegsbericht und das Kinoprogramm, sie waren so gierig, als verkaufte er ihnen das leibhaftige Leben.«[8]

 

Mit einem Blinden irrt sie durch die immer unwirklicher werdenden Gassen und landet schließlich in einer Kirche vor dem Bild eines Heiligen. Als sie bei ihm Trost und Hilfe sucht, verharrt der Heilige zwar im Status eines Bildes, aber im (Selbst-)Gespräch verabschiedet sie ihre Hoffnung auf Auswanderung, auf äußere Freiheit und fragt nach einer anderen Freiheit:

 

»Ich weiß nicht, was notwendig ist, damit ich frei werde. (…) Hilf mir, über das Wasser zu gehen, auch wenn ich hierbleiben muß!«[9]

 

Wäre der Roman mit dieser ersten Station zu Ende, könnte man die Lesart von einem versöhnenden Text vielleicht verstehen, doch es folgen noch zahlreiche Stationen auf den Wegen der Figur.

In der zweiten Station, »Der Kai«, geht nämlich Ellen nicht über das Wasser, sondern ins Wasser, um einen Säugling vor dem Ertrinken zu retten. Aber über diese im Sinne christlicher Nächstenliebe gute Tat vermag sie nicht glücklich zu werden, weil sie damit ihren jüdischen Freunden deren große Hoffnung geraubt hat. Die Szene zeigt Ellen mit der Gruppe Kinder »mit falschen Großeltern«, die seit sieben Wochen am Kai warten, um ein ertrinkendes Kind retten zu können. Damit wollen die sich die Gunst der Behörden und die ihnen entzogene Gleichberechtigung zurückerobern. Ein typischer Plan kindlicher Tagträumerei, der durch Ellens Tat vereitelt wird, wodurch sie erneut aus der Gruppe ausgeschlossen ist. Dieses Gefühl des Ausgeschlossenseins wird für sie besonders in der Umkehr der herrschenden Ausgrenzungen, ausgeschlossen von den Ausgeschlossenen, evident: als nämlich der Budenbesitzer auf dem Jahrmarkt den Kindern eine verbotene Fahrt im Kettenkarussell erlaubt und zu Ellen bemerkt, sie brauche nicht mit, denn sie dürfe ja sonst immer fahren. Die zweite Station enthält außerdem eine Begegnung mit dem Vater, dem »Mann, der Ellen gebeten hatte, ihn zu vergessen«. Sie erkennt ihn in einer Uniform, als die verbotenerweise auf den Bänken sitzenden jüdischen Kinder von einer Gruppe Soldaten kontrolliert werden. Indem sie ihn als »Vater« anspricht, geht Ellen in die Offensive und verunsichert ihn. Währenddessen können die anderen Kinder fliehen.

Die dritte Station, »Das heilige Land«, zeigt Ellen und die Kinder auf einer phantastischen Flucht. »Ins heilige Land« oder »zur Grenze«, das sind verschiedene Bezeichnungen, die von den Kindern im Spiel an die Stelle eines mangelnden realen Zieles für ihre Fluchtwünsche eingesetzt werden, Täuschungen allesamt, Utopien im ursprünglichen Sinne, Wunschorte außerhalb der Orte, Namen für das Nirgendwo. Das zeigt ein Gespräch zwischen den Kindern und dem Kutscher:

 

»Die Grenze, wo ist die Grenze?« – »Seht ihr sie nicht? Da, wo die Linie zwischen Himmel und Erde läuft, da ist die Grenze.« – »Sie machen sich lustig!« – »Wie könnte ich?« – »Sie führen uns im Kreis!« – »Weshalb seid ihr so mißtrauisch?« – »Wir sind müde.« – »Das ist dasselbe.« – »Die Linie, die Sie meinen, ist immer gleich weit weg!«[10]

 

In dieser Desillusionierung der Hoffnung, über die Grenze zu kommen, spiegelt sich die reale Erfahrung vieler Verfolgter und Bedrohter im Nationalsozialismus, deren Ausreisebemühungen mißlangen. Für sie wird der Faschismus zur Totalität. Im Roman erfolgt angesichts der Aussichtslosigkeit einer äußeren Grenzüberschreitung die Darstellung einer visionären Fahrt über die Grenzen von Zeit und Raum. Auf dieser Fahrt steigen drei Fremde zu den Kindern: zuerst »der Mann mit dem Dudelsack«, der Pestverkünder Augustin:

 

»Die Pest ist ausgebrochen, aber niemand bemerkt es. Sie haben gelebt, ohne es zu bemerken, und jetzt sterben sie, ohne es zu bemerken.«[11]

 

Diese Worte von ihm lassen sich verstehen als Anspielung auf die Blindheit gegenüber dem Faschismus, die hier als Folge einer bewußtlosen Haltung gegenüber dem Leben überhaupt gewertet wird. Der zweite ist der »Mann mit der Weltkugel«, Kolumbus, nach dem alles Unbenannte benannt ist, »alles, was noch zu entdecken ist«. Seine Worte lauten:

 

»Träume sind wachsamer als Taten und Ereignisse, Träume bewachen die Welt vor dem Untergang, Träume, nichts als Träume!«[12]

 

Der dritte ist König David, ein Knabe mit einer Schleuder, der seine Predigten damit begleitet, daß er die Fensterscheiben der Dorfbewohner mit Steinen zerbricht, damit sie ihm zuschauen – eine alttestamentarische Figur, die die Leute mit dem Zeichen der Kristallnacht, den zerbrochenen Fensterscheiben, konfrontiert und sie zwingt, sich damit auseinanderzusetzen. Als er als Fremder abgewehrt wird, kontert er:

 

»Wer ist fremder, ihr oder ich? Der haßt, ist fremder, als der gehaßt wird, und die Fremdesten sind, die sich am meisten zu Hause fühlen!«[13]

 

Die Position, die er gegenüber den Kindern vertritt, entspricht einer nicht selten anzutreffenden Haltung von Verfolgten während des Faschismus, einer positiv gewendeten Annahme des Leids, nämlich: »Nur die zweifeln an sich, dürfen landen, nur die gelitten haben.«[14] Begleitet von einem Lied der drei Männer, einem gemeinsamen Lied mit derart dissonanten Tonlagen – der Stimme für das reale Verbrechen, der Stimme der Sehnsucht und der Stimme des Predigers – mit diesem dreistimmigen Lied geht die Fahrt der Kinder zu Ende – und sie landen an ihrem Ausgangspunkt.

Die vierte Station, »Im Dienste einer fremden Macht«, bringt eine Konfrontation der Uniformierten mit den Verfolgten. Dabei geht es vor allem um die Sprache. Die Kinder werden verdächtigt, einen fremden Sender zu hören, deshalb werden sie von den Uniformierten überwacht. Sie sind schon deshalb verdächtig, weil sie keine Uniform tragen und weil sie Englisch lernen wollen. Der Wunsch der Kinder, eine andere Sprache zu lernen, wird von einem Alten als falsch bezeichnet. Es ginge nicht um eine neue Sprache, sondern um einen anderen Umgang mit der Sprache:

 

»Und ihr wollt das Deutsche verlernen? Ich helfe euch nicht dazu. Aber ich helfe euch, es neu zu erlernen, wie ein Fremder eine fremde Sprache lernt, vorsichtig, behutsam, wie man ein Licht anzündet in einem dunklen Haus und wieder weitergeht.«[15]

 

Ein neuer Umgang mit der Sprache ist nötig geworden, nachdem die Beziehung zwischen Sinn und Wort fragwürdig geworden ist. In diesen Szenen über die Sprache ist eine Schreibweise vorweggenommen, die für die späteren Texte Aichingers typisch werden soll. Dabei werden beispielsweise Abstrakta personifiziert und entwickeln ein eigenes Leben.

Die Sprache wird dabei selbst zum Handelnden, zum Subjekt, womit dem Sprechenden oder Schreibenden die Gewalt über den Sinn der Rede entzogen ist. Zwei Passagen über das ›Übersetzen‹ aus dem vierten Kapitel können dies deutlich machen:

 

»In der Mitte der Gasse lag auf dem grauen Pflaster ein offenes Schulheft, ein Vokabelheft für Englisch. Ein Kind mußte es verloren haben. Sturm blätterte es auf. Als der erste Tropfen fiel, fiel er auf den roten Strich. Und der rote Strich in der Mitte des Blattes trat über die Ufer. Entsetzt floh der Sinn aus den Worten zu seinen beiden Seiten und rief nach einem Fährmann: Übersetz mich, übersetz mich!

Doch der rote Strich schwoll und schwoll, und es wurde klar, daß er die Farbe des Blutes hatte. Der Sinn war immer schon in Gefahr gewesen, nun aber drohte er zu ertrinken, und die Worte blieben wie kleine verlassene Häuser steil und steif und sinnlos zu beiden Seiten des roten Flusses. Es regnete in Strömen, und noch immer irrte der Sinn rufend an den Ufern. Schon stieg die Flut bis zu seiner Mitte. Übersetzt mich, übersetzt mich!

Aber das Heft war verloren. Herbert hatte es verloren, als er zur englischen Stunde ging, seine Tasche hatte ein Loch. Und hinter dem Kleinen ohne Uniform kam einer in Uniform. Er sah das Heft, hob es auf und nahm es gierig an sich. Er blieb stehen, blätterte darin und versuchte die Worte nachzusprechen, doch es regnete zu stark. Der Regen verlöschte die letzten Lichter in den Worten. Wieder rief der Sinn: Übersetz mich, übersetz mich! Aber der in Uniform wollte es nicht hören. Der Strich hatte die Farbe des Blutes. Eher soll der Sinn ertrinken, als daß wir das Blut verraten! Er klappte das Heft zu, steckte es zu sich und rannte in seinen Dienst. Er rannte hinter dem Kleinen ohne Uniform her.«

»Übersetzen, über einen wilden, tiefen Fluß setzen, und in diesem Augenblick sieht man die Ufer nicht. Übersetzt trotzdem, euch selbst, euch selbst, die andern, übersetzt die Welt. An allen Ufern irrt der verstoßene Sinn: Übersetz mich, übersetz mich! Helft ihm, bringt ihn hinüber! Weshalb lernt man Englisch? Warum habt ihr nicht früher gefragt?«[16]

 

Es ist ersichtlich, daß diese durch das Sprachenlernen der Kinder ausgelöste Bewegung der Sprache einer anderen Logik folgt als der Fahndungswille und das Ordnungsdenken der Uniformierten. So werden diese schließlich mit ihrer Fixierung auf den gesuchten fremden Sender, der in der Form eines technischen Apparates gar nicht existiert, als die Gescheiterten dargestellt. Ihre Machtdemonstration entpuppt sich als Schwäche, und ihr Handlungsmotiv liegt in der Schwäche des einzelnen, ihr Postulat lautet: »Wer keine Uniform trägt, der bleibt allein, wer allein bleibt, denkt nach, und wer nachdenkt, der stirbt.«[17] Die Uniformierten, eine Schutzgemeinschaft der Unfähigen.

In der fünften Station, »Die Angst vor der Angst«, wird dieses Motiv fortgesetzt. Es geht um die Bedeutung des Judensterns und um das Schwanken zwischen dem Wissen über die drohende Vernichtung und dem Nicht-Wissen-Wollen. »Der Stern bedeutet den Tod!« Dieser Satz eines Mädchens aus der Gruppe wird mehrmals zitiert und wieder verworfen. Er bildet das verborgene Leitmotiv für das ganze Kapitel. In dieser Station des Textes wird der Stern zum fast mystischen Symbol für die eigene Stärke und kollektive Identität. Die Stärke speist sich aus dem Wissen um die Angst der Verfolger, welche sich aus der Frage nach dem Motiv für die Verfolgung ableitet:

 

»Ihr seid in der Minderheit. Ihr seid verhältnismäßig kleiner und schwächer als sie. Ihr habt keine Waffen. Und doch läßt es ihnen keine Ruhe.«[18]

 

Solche Überlegungen lassen nur eine Antwort zu: »Die geheime Polizei hat Angst!« – eine Antwort, die die eigene Angst zu bewältigen hilft.

Die sechste Station, »Das große Spiel«, zeigt die Kinder beim Weihnachtsspiel, bei dem neben den bekannten Figuren Josef, Maria und den Königen noch der Krieg, der Frieden und die Welt auftreten. Durch diese dem Weihnachtsspiel fremden Figuren ereignet sich eine Einmischung zeitgeschichtlicher Wirklichkeit, wodurch es gelingt, die Angst vor dem Konzentrationslager im Spiel zur Sprache zu bringen. Im Spiel ist den Kindern das aus Angst verdrängte Grauen am nächsten:

 

»Zu spielen. Es war die einzige Möglichkeit, die ihnen blieb, die Haltung knapp vor dem Unfaßbaren, die Anmut vor dem Geheimnis. Dieses verschwiegenste Gebot: Spielen sollst du vor meinem Angesicht!«[19]

 

»Aber was mit uns gespielt wird, verwandelt sich nur unter Schmerzen in das, was wir spielen. Sie befanden sich inmitten der Verwandlung, spürten deutlicher den Dunst der Fetzen um ihre Leiber und ahnten zugleich stärker den verborgenen Glanz der Christbaumketten um Hüften und Hals. Schon begannen die beiden Spiele ineinanderzuströmen und flochten sich untrennbar zu einem neuen. Die Kulissen schoben sich beiseite, die vier engen Wände der Faßbarkeiten zerschellten, siegreich wie fallendes Wasser brach das Unfaßbare hervor. Spielen sollst du vor meinem Angesicht!«[20]

 

Das Spiel der Kinder wird an einer Stelle als eine »Art Rebellion« bezeichnet und als Alternative zur Hoffnung auf Flucht oder Erlösung gesetzt. Im Spiel inszenieren die Kinder eine Nachahmung ihrer Situation und ihrer Angst, hier werden sie als Verfolgte aktiv. Durch den Einbruch des Realen in der Gestalt eines Häschers der geheimen Polizei am Ende dieser Szene wird das Spiel der Kinder allerdings jäh beendet.

In der siebten Station, »Der Tod der Großmutter«, versucht Ellen, ihre Großmutter davon abzubringen, Gift zu nehmen, indem sie sie bittet, ihr ein Märchen zu erzählen. Doch die Großmutter hat die Fähigkeit zum Märchenerzählen verlernt, weil sie »nicht mehr groß« ist. Sie hat sich entschlossen, mit der Selbsttötung ihrer Deportation zuvorzukommen bzw. zu entkommen. An ihrer Stelle erzählt nun Ellen ein Märchen; in der Umkehr der Positionen von Zuhören und Erzählen erscheint auch eine veränderte Version der ›Rotkäppchen‹-Geschichte, in der das Rotkäppchen seiner Großmutter statt eines Kuchens die Sehnsucht bringen will, weil die vor dem gefräßigen Wolf, d.h. vor dem Krieg, sicherer sei. In dieser Szene sind die Ebenen des Realen und Phantastischen am eindrucksvollsten und spannungsreichsten komponiert. Ellens Vorstellungen können keine praktischen Konsequenzen für die Großmutter haben, und dennoch enthalten sie eine enorme Lebenssehnsucht und -energie. Die Großmutter verkörpert dagegen den Mut zur Angst und zur Schwäche.

In der achten Station, »Der Flügeltraum«, gewinnt Ellens Gestalt Konturen vom Eulenspiegel. In einer wilden Verfolgungsjagd auf einem Bahnhof werden die Polizisten, die Ellen auf der Spur sind, teilweise zu den Gejagten. Als Ellen sich schließlich zum Verhör abführen läßt, wird dessen Fragestruktur durch ihre Antworten ad absurdum geführt. Sie bringt einige Polizisten zur Verzweiflung, andere zum Selbstzweifel, z.B. den Schreiber, dem sie die Absurdität seiner Tätigkeit bewußt macht und der sich schließlich weigert, noch irgend etwas niederzuschreiben:

 

»›Papier ist ein steiniger Boden‹, sagte der Schreiber erschrocken und starrte blinzelnd um sich, ›wahrhaftig, ich habe zu viel notiert, mein ganzes Leben lang habe ich zuviel notiert.‹ Seine Stirne furchte sich. ›Was ich bemerkt habe, habe ich festgestellt, und was ich festgestellt habe, ist umgefallen. Nichts habe ich wachsen lassen, nichts habe ich verschwiegen. Nichts habe ich mir einfallen lassen, ohne es zu hindern. Zuerst habe ich Schmetterlinge gefangen und festgenagelt, und später alles übrige.‹ Er packte den Federhalter und warf ihn von sich. Tinte spritzte befreit über den Fußboden, dunkelblaue Tränen trockneten ein und wurden schwarz. ›Es tut mir leid, ich will nichts mehr aufschreiben, nein ich schreibe nichts mehr nieder!‹ Der Schreiber glühte. Schwindel stieg ihm in die Schläfen. ›Wasser‹, lachte er unter Tränen, ›Wasser!‹«[21]

 

In dieser Situation, in der es Ellen gelingt, völlige Verwirrung zu stiften, in der die Schrift aus der Indienstnahme für polizeiliche Zwecke befreit wird, dient dem Oberst sein Ordnungspostulat als einzig mögliche Orientierung. Ohne inneren Zusammenhang buchstabiert er sich die Notwendigkeiten von Reih und Glied, von Ordnung und Vernunft vor. Am Ende der Szene verschwindet Ellen auf ebenso phantastische Weise, wie sie aufgetaucht war.

Die neunte Station, »Wundert euch nicht«, beginnt in einem Keller, wo Ellen mit zwei Plünderern zusammen verschüttet ist, und endet in einer apokalyptischen Vision, einer Plünderung der Schlachthöfe.

In der letzten Station, »Die größere Hoffnung«, gerät Ellen zwischen die Fronten und schließt Freundschaft mit einem fremden Soldaten, Jan. Ihr gemeinsamer Weg zu den Brücken wird unterbrochen durch einen kurzen Moment des Glücks, als nämlich Jan von einer Kugel verwundet ist und beide sich zusammen in ein verlassenes Haus flüchten: ein kleines Stückchen konkreter Utopie. Hier, da im Roman das erste Mal eine Verbindung von Mann und Frau in den Blick gerät, bricht jäh und unvermittelt mit einem Satz die Gewalt der Geschlechterbeziehung in die Szenerie. Noch ehe die beiden in das Haus eintreten, heißt es:

 

»Der du mein Schöpfer bist, warum läßt du es zu? Warum schaffst du dieses Geschlecht, das mich zerbrechen muß, um zu erkennen? Warum schaffst du es immer neu?«[22]

 

Mit Bezug auf den Schöpfungsmythos wird die darin enthaltene Hierarchie, Gott – Mann – Frau, angeklagt. In einem Satz ist der Aufruhr gegen die installierte Geschlechterordnung formuliert. Danach wird die Szene fast idyllisch fortgesetzt. Doch kurz darauf deutet sich im Konkreten ein Motiv der Geschlechterdifferenz an, und zwar in der unterschiedlichen Glücksvorstellung von Mann und Frau:

 

»Jan lag still. Der Sessel war weich und tief. Durch die Wände hörte er ihre Schritte, das Splittern des Holzes und das Klirren von Geschirr. Es war möglich, sich vorzustellen, daß es immer so gewesen war und daß es immer so bleiben würde. Hatten die vor ihnen es fertiggebracht, daran zu glauben, so würden auch sie es fertigbringen. Schweigend hielt Ellen die Hände über die Herdplatte. Es war möglich, sich vorzustellen, daß alles das erste und das letzte Mal war. Hatten die vor ihnen es nicht fertiggebracht, daran zu glauben, so würden doch sie es fertigbringen. Sie goß den Tee auf und stellte die Tassen auf ein Brett. Sie hörte ihn rufen. ›Gleich!‹ sagte sie.«[23]

 

In dieser Szene treten die beiden in eine alte Geschichte ein, für die die Muster vorhanden sind. Indem sie sich auf »die vor ihnen« beziehen, werden die Mythen über das Leben zu zweit zitiert und ihr eigenes Verhalten wird in Übereinstimmung bzw. in Abgrenzung dazu betrachtet. Die Differenz zwischen seinem Wunsch nach Dauer und ihrem Verlangen nach Einmaligkeit ist nur aufgehoben im Moment des innigen Zusammenseins:

 

»Und ihre Augen verbündeten sich der Tiefe. Sie sahen sich an und lachten leise. Es war wie das erste Mal und es war wie das letzte Mal und es war wie immer. Es war eins und sie waren eins und hinter dem Fluß war ein großes Fest.«[24]

 

Die Differenz aber zwischen beiden wird noch dadurch akzentuiert, daß sie – obwohl sie nicht an die Dauer des Glücks glaubt – dennoch mehr Hoffnung und mehr Vertrauen in die Beziehung investiert. Sie ist es aber dann auch, die die Trennung forciert, die den schlafenden Jan zurückläßt, um allein ihren Weg zu den Brücken fortzusetzen. Es folgt im Text nur noch die letzte Szene, ihr Sprung von der gesprengten Brücke. Daß dieser Sprung nicht als realer Schritt in den Tod und als End- und Zielpunkt einer Entwicklung der Heldin zu verstehen ist, wird daran deutlich, daß die Schlußszene mit dem Begriff der Mitte eingeleitet wird. »In der Mitte, Jan, zu den Brücken«, hatte Ellen ihren Fortgang begründet. In dem Verhör im »Flügeltraum« hatte Ellen auf die Aufforderung des Obersten, »der Reihe nach« zu sprechen, geantwortet: »In der Mitte ist nichts der Reihe nach, (…) in der Mitte ist alles auf einmal.«[25] Diese Hinweise auf das Prinzip der Gleichzeitigkeit lassen sich lesen im Zusammenhang mit dem Bemühen Ilse Aichingers, den Schluß ihres Romans nicht mit dem Ende einer Entwicklung zur Deckung zu bringen, damit nicht das notwendige Ende eines Textes und einer Erzählung die Bedeutung eines angestrebten Zieles erhält und zum Sinn des vorausgegangenen Geschehens wird. »Die Mitte« und »alles auf einmal« am Ende, damit ist eine Gegenbewegung gegen die konventionelle Art zu erzählen in den Text eingeschrieben. Darüber hinaus ist der Text durch die ständigen Übergänge zwischen realem, mythischem und phantastischem Geschehen geprägt.

Diese Komposition, bei der die formale Struktur des Textes den dargestellten Ereignissen eine eindeutige Lesart entzieht, andererseits aber Szenen und Äußerungen aus der dargestellten Handlung das Prinzip der Form erläutern, ist für die frühe Literatur Ilse Aichingers typisch. In ihren Texten werden Spracharbeit und Phantasieproduktion eins. Mythen werden als interpretierbar und veränderbar in den Text einbezogen; sie bilden Bezugspunkte für Wahrnehmungsbilder und Erinnerungsspuren, für Hoffnung und für die Artikulation unaussprechlicher Ängste. Die mythischen Verweise erhalten nicht den Charakter von Eindeutigkeit, als Utopie oder Programm, nicht den Ewigkeitswert eines unhinterfragbaren Mythos. Für die Verfolgten enthalten die Mythen Widersprüchliches: Widerstandsmomente ebenso wie die Flucht in den Traum, an einen anderen Ort.

2.

Für die heutige Lektüre von Aichinger-Texten scheint es mir unergiebig und unangebracht, zuerst nach der Rolle und Darstellung der Frau in ihrer Literatur zu fragen. Die Bedeutung, die ihre Texte für die Tradition weiblicher Ästhetik haben, liegt auf einer anderen Ebene. Sie ergibt sich aus ihrer Sensibilität für die Funktionsweise von Sprache und ästhetischen Formen und aus ihrer Opposition gegen die herrschende Ordnung, die von ihr allerdings nicht als männliche bezeichnet wird. Obwohl sie sehr selten nur geschlechtsspezifische Aussagen macht, gibt es auffällige Berührungen zwischen ihrer literarischen Position und einigen Überlegungen von Frauen aus dem letzten Jahrzehnt: z.B. mit Hélène Cixous’ Überlegungen über »Weiblichkeit in der Schrift«, außerdem mit neueren Bewertungen von Phantasie, Mythos und Mystik für die Imagination von Frauen, mit Christa Wolfs Kritik am abendländischen Logik- und Wirklichkeitsverständnis und mit der zunehmenden Konzentration von Frauen auf die Bedeutung der Sprache als eigenständige ordnungsstiftende Instanz. Der zeitgeschichtliche Kontext, in dem Aichingers schriftstellerische Entwicklung begann, war von Männern bestimmt. Sie gehört zu der zahlenmäßig kleinen Generation von Autorinnen, deren Karriere nach 45 anfing und die sich in den 50er Jahren durchgesetzt haben. Das kulturpolitische Klima in der Nachkriegszeit muß für Frauen besonders ungünstig gewesen sein, denn es sind unter den bekannteren Autorinnen neben Aichinger nur Bachmann und Mayröcker, deren schriftstellerische Anfänge in diese Zeit fallen[26] – drei Schriftstellerinnen mit auffällig anspruchsvollem ästhetischen Programm und alle drei Österreicherinnen.

Ilse Aichinger ist 1921 in Wien geboren. Sie lebte nach der Scheidung der Eltern bei der Mutter, einer Jüdin. Die Mutter überlebte den Faschismus aufgrund der Bestimmung, daß Mütter halbarischer Kinder geduldet wurden. Seit dem 21. Geburtstag Ilse Aichingers 1942 lebte diese aber ständig in der Angst, daß die Mutter abgeholt würde, ebenso wie die Großmutter, die 1942 tatsächlich deportiert und im Konzentrationslager umgebracht wurde. Ilse Aichinger selbst durfte noch das Abitur machen, aber nicht mehr studieren. Nach 45 begann sie mit einem Medizinstudium, das sie aber nach fünf Semestern abbrach, um ihren Roman zu beenden. 1950 dann begann sie als Lektorin beim S. Fischer Verlag.

Der Roman erhielt zu seiner Zeit nicht »die ihm gebührende Aufnahme« (Härtling). Mir scheint, daß man, um die Direktheit des Textes abzuwehren, die Autorin nicht ernst nahm. Eine solche Haltung spricht selbst noch aus dem wohlwollenden erinnernden Bericht des Verlegers Gottfried Bermann Fischer:

 

»Eines Tages meldete sich bei uns, auf Empfehlung des Kritikers und Journalisten Hans Weigel, ein bildschönes, dunkelhaariges Mädchen, krampfhaft ein Papierbündel unter dem Arm haltend … Es war Ilse Aichinger mit ihrem Roman ›Die größere Hoffnung‹, den sie, fast noch ein Kind, in den vergangenen Leidensjahren geschrieben hatte.«[27]

 

Ilse Aichinger war, als das Buch erschien, immerhin 26 Jahre alt. Es mag sein, daß diese Reaktionen auf ihre schriftstellerischen Anfänge sie darin beeinflußt haben, sich in Zukunft mehr auf die formal-ästhetische Seite ihrer Schreibarbeit zu konzentrieren. Die weitere Entwicklung ihrer Literatur ist durch einen deutlichen Zug zum Abstrakten und Begrifflichen gekennzeichnet, die konkreten Stoffe der Erfahrung verflüchtigen sich dabei immer mehr.

Ihren eigentlichen Durchbruch als Autorin hatte sie 1952, als sie für ihre »Spiegelgeschichte« den Preis der »Gruppe 47« erhielt. Es handelt sich dabei um eine sehr artifizielle Erzählung, deren poetische Bedeutung darin besteht, daß sie das Ende, den Tod einer jungen Frau, zum Ausgangspunkt macht und die Heldin ihren eigenen Weg zurückgehen läßt – wobei das Zurück wie ein Vorwärts erscheint. Die Stationen der Heldin sind: Grab, Leichenhalle, Krankenhaus, der Besuch bei der Alten (einer sog. Engelmacherin) – von der sie jetzt fordert: »Mach mir mein Kind wieder lebendig!«[28] – das Gespräch mit dem jungen Mann – »Er hat schon wieder keine Tränen, gib ihm von deinen«[29] – dann das Zusammensein mit ihm, auch das erste, schließlich die Kindheit, in der die Bedeutung der Sprache hervorgehoben ist – »Das Schwerste bleibt es doch, das Sprechen zu vergessen.«[30] Diese Umkehr der Chronologie in der literarischen Darstellung stellt die Ordnungsprinzipien der Erzählung in Frage; statt der Abtötung des Lebendigen in der Beschreibung wird eine Bewegung der Verlebendigung in der Schrift inszeniert. Der Fluchtpunkt dieser Bewegung ist ein Zustand vor der Sprache.

Besonders interessant für heutige Diskussionen ist die Metapher des Spiegels in dieser Erzählung, weil sie die Differenz zwischen Aichingers geschlechtsneutralen ästhetischen Überlegungen und den aktuellen Thesen zur weiblichen Ästhetik markiert. »Der Spiegel gibt mir die Kraft. Der blinde Spiegel mit den Fliegenflecken läßt dich verlangen, was noch keine verlangt hat.«[31] Der Spiegel wird bei Aichinger damit zur Metapher für die Verkehrung der normalen, herrschenden Ordnung und Abfolge und zum Konzept einer neuen Sehweise, dem Erzählen vom Ende her, quasi spiegelverkehrt. In der aktuellen Theorie dagegen ist der Spiegel die Metapher für die vorgefundene weibliche Identität, für die Tatsache nämlich, daß das Selbstbild von Frauen zu einem großen Teil aus den Projektionen des Mannes gebildet ist: Bei dem Blick in den Spiegel trifft sie auf das Bild, das er sich von ihr gemacht hat. Weibliche Schreibanstrengung gilt nun der Zerstörung bzw. Ver-Rückung dieses Verhältnisses und will das starre (Spiegel-)Bild in Bewegung bringen.

Der erste Band mit Erzählungen Ilse Aichingers, der 1952 unter dem Titel »Rede unter dem Galgen« erschien, aber bekannter geworden ist unter dem Titel der Neuausgabe von 1953, »Der Gefesselte«, enthält einige Geschichten, die weibliche Erfahrungen thematisieren. Da ist neben der »Spiegelgeschichte« die »Mondgeschichte«, eine Erzählung, die den Zusammenhang von Schönheitsfetisch und weiblicher Verbannung in die Verlassenheit in ironischer Form beschreibt. Sie handelt von einer Schönheitskönigin, die statt des mißklingenden Titels »Miß Erde« die noblere Auszeichnung »Miß Universum« erhalten soll, die aber – um diese anmaßende Bezeichnung wenigstens in einem Fall zu überprüfen – zum Mond geschossen wird. Dort trifft sie auf die – natürlich viel schönere – undinenhafte Ophelia. An deren Aura partizipierend und deren Schönheit nachahmend, geht »Miß Universum«, als sie wieder auf der Erde ist, ins Wasser, um sich der undinenhaften Gestalt Ophelias anzunähern. Damit reagiert sie ganz konsequent auf einen gänzlich unirdischen Schönheitsbegriff, in dem Schönheit und Tod in der Unmöglichkeit eines menschlichen, unvollkommenen Lebens identisch geworden sind. Die Erzählung zeigt, daß die Frau sich in dieser Schönheitsvorstellung zum Märchenwesen verflüchtigt.

Auf einen vergleichbaren Zusammenhang von Bild und Tötung, allerdings unabhängig vom Frauenbild, geht eine andere Erzählung ein, »Das Plakat«. Sie handelt von der Gestalt eines Jungen auf einem großen Werbeplakat, das auf einem Bahnhof plaziert ist.

 

»Er war jung und schön und strahlend. Er hatte das Spiel gewonnen, doch den Preis hatte er zu bezahlen. Er war festgehalten in der Mitte des Tages (…) Vielleicht hing alles damit zusammen, daß er nicht sterben konnte.«[32]

»Aber wie sollte er tanzen, wenn er nicht sterben konnte, wenn er immer so bleiben mußte, jung und schön, die Arme erhoben, halbnackt im weißen Gischt?«[33]

 

Die Unlebendigkeit dieses Jungen wird konstrastiert mit einem kleinen Mädchen, das wiederum auf die Täuschung des schönen Scheins hereinfällt, indem es den Jungen anlacht, mit ihm tanzen will und – auf ihn zurennend – vor einen einfahrenden Zug läuft. Der Junge, aus »Angst, sie könnten ihn noch einmal erstarren lassen«[34], gerät nun ebenfalls in Bewegung. Sein Plakat löst sich durch den Wind, fällt auf die Schienen und wird vom Gegenzug zerfetzt. Die Erzählung läßt sich lesen als eine Parabel über den Zusammenhang von Erstarrung und Dauer in der Ästhetik und über die Dialektik von Lebendigkeit und Sterben, Motive, die in der neueren Literatur von Frauen – nach den autobiographischen Berichten über weibliche Alltagserfahrungen und Entwicklungen – immer stärker in den Mittelpunkt getreten sind.

Ilse Aichinger selbst hat sich gegen eine Lesart ihrer Geschichten als Parabeln gewehrt. Es scheint, daß sie sich damit einer Verallgemeinerung von Aussagen einzelner Texte bzw. deren Lektüre im Sinne einer Botschaft widersetzen wollte, vor allem aber wohl einer verbreiteten Interpretationsweise, bei der Texte zum Anlaß genommen werden, um über dahinter verborgene, unausgesprochene Bedeutungen zu spekulieren. Ihr ginge es nur um das, was sie beschrieben habe, so Aichinger mehrfach.[35] Trotzdem ist nicht zu übersehen, daß die Erzählungen des ersten Bandes in Aufbau und Erzählmodus einen lehrhaften Zug tragen. Das trifft besonders für die Titelgeschichte, »Der Gefesselte«, zu. Darin geht es um einen gefesselten Mann, der mit seinen Fesseln eine erstaunliche Bewegungsfreiheit entwickelt. Man kann die Erzählung als Kritik an einer Idee totaler äußerer Freiheit lesen, an die Aichinger nicht glaubt, und als Postulat für die Freiheitsfähigkeit und den Freiheitsmut des einzelnen Individuums. An einer Stelle des Textes heißt es:

 

»Sie glaubte, daß er sich zwar nicht an die Fessel gewöhnt hätte, aber daran, sie keinen Augenblick zu vergessen – die einzige Gewöhnung, die die Fessel zuließ.«[36]

 

Es geht Aichinger also nicht um eine Gewöhnung an den Zustand der Unfreiheit im Sinne des Sich-Abfindens, sondern darum, als Subjekt in der Situation und im Bewußtsein äußerer Unfreiheit dennoch handlungsfähig zu sein. Insofern nimmt »Der Gefesselte« ein Motiv auf, das auch schon im Roman »Die größere Hoffnung« enthalten war.

Ich möchte Wolfgang Hildesheimer widersprechen, der Ilse Aichingers Literatur unter die Kategorie des »absurden Ich« subsumiert hat, indem er in der Darstellung ihrer Figuren ein Subjekt erkennt, das sich in die »Ordnung einer absurden feindlichen Welt« fügt, diese akzeptiert und ihr lediglich seine Zustimmung verweigert.[37] M.E. verkennt er damit die spezifische Art ihres literarischen Engagements, das sich in der Arbeit an der Sprache selbst artikuliert. Ein zentrales Motiv der Schreibarbeit Ilse Aichingers sehe ich in ihrer Opposition zur sprachlich konstituierten Ordnung. Für das politischeEngagement der Person Aichingers gibt es andere Zeugnisse: Sprachhandlungen im Diskurs der politischen Rede, z.B. ihren Text »Aufruf zum Mißtrauen« von 1946, in dem sie die so rasch vollzogene Restauration beklagt sowie die Saturiertheit derjenigen mit »vollem Magen und weißem Hemd«, deren Abgrenzung gegen die Deklassierten kritisiert und auf die Kontinuität dieser Haltung nach 45 verweist.[38] In der Gruppe 47 dann schloß Aichinger sich denjenigen an, die gegen den Vietnamkrieg protestierten. Doch ein solches Engagement liegt für Aichinger außerhalb der Literatur. Sprache sei »das Engagement selbst, sie muß es nicht beschreiben«,[39] erläuterte sie 1976 ihre Schreibweise, eine literaturtheoretische Position, die auf die Dimension des Politischen in der Sprache selbst zielt und alle außerliterarischen Anforderungen verweigert. Ihre Ästhetik steht damit in einer Tradition der Moderne, an der besonders wenige Schriftstellerinnen beteiligt sind, die aber für alle drei Frauen der genannten Generation (Mayröcker, Bachmann, Aichinger) einen Ausgangspunkt ihrer Schreibentwicklung bildet.

Dennoch scheint mir offensichtlich, daß sich Ilse Aichinger nach ihrem Roman zunehmend der Stoff fürs Erzählen verflüchtigt, daß die Erfahrung hinter sprachliche und formale Experimente zurücktritt. »Ich schreibe, weil ich keine bessere Form zu schweigen finde« – diese paradoxe Formulierung könnte demnach eine Formel sein für eine Schreibweise, die sich vom Konkreten und vom Erzählerischen entfernt. Der 1965 publizierte Band mit Erzählungen, »Eliza, Eliza«, weist schon deutlich solche Tendenzen zur Abstraktion auf. In der Erzählung »Querbalken« beispielsweise geht es um das Problem und die Fragwürdigkeit von Benennungen überhaupt. Der Text kreist um die Frage, was ein Querbalken sei, und um die vergeblichen Bemühungen der Ich-Erzählerin, eine Antwort auf diese Frage zu erhalten. Die Assoziationen, die bei dieser Suche beschrieben werden, sind vollkommen zufällig und individuell, so daß sie schwer nachvollziehbar sind. Die Bewegungen des Textes folgen keiner inneren oder äußeren Logik; das Geschehen steht auch nicht für etwas anderes, es be-deutet nichts, sondern handelt von der Bedeutung selbst. Ilse Aichinger schreibt hier weder metaphorisch noch symbolisch und unterläuft damit gewohnte Rezeptionsweisen.

Obwohl ihre Texte von einem hohen Formbewußtsein und intensiver Sprachreflexion zeugen, berichtet die Autorin, daß der Schreibprozeß für sie ein ganz spontaner Vorgang sei.[40] Ihr Verfahren des assoziativen Schreibens ebenso wie die traumähnlichen Momente ihrer Texte entsprechen Aspekten, die von Hélène Cixous als »Weiblichkeit in der Schrift« gekennzeichnet worden sind. Es gibt eine späte Erzählung von Aichinger, die deutliche Parallelen zu dieser Schrift Cixous’ aufweist, die insbesondere an deren Überlegungen über die Fähigkeit der Frauen zur Nähe erinnert. Die betreffende Passage in Cixous’ Aufsatz über »Poesie und Politik – Poesie ist Politik?« ist überschrieben »Die Fähigkeit, das Allernächste, das Unwichtigste ankommen zu lassen« und thematisiert die Bedeutsamkeit des Unwichtigen, um die gewohnten Hierarchien von Bedeutung in Frage zu stellen.[41] Frauen wird darin die Fähigkeit zugeschrieben, gegen die Unterscheidung von »Wichtigem« und »Nebensächlichem« zu verstoßen, indem sie die Fähigkeit zur Nähe kultivieren und das Nächstliegende wahrnehmen. In Aichingers Erzählung »Flecken« löst der Anblick von Flecken auf einem Sessel bei der Erzählerin Überlegungen über die Hierarchie und über die Veränderung von Blickpunkten aus, die durch die aufgetretenen Flecken entstehen. Es geht also auch ihr um die Infragestellung geltender Hierarchien durch die Wahrnehmung des Nebensächlichen: »Aber die Flecken verändern die Vertikale. Die Hierarchie beginnt zu schwanken.«[42] Veränderungen im Bereich dessen, was als wichtig gilt, haben dagegen andere Konsequenzen: »Reisen oder Tod verändern die Horizontale. Wieder einer, sagt man leichtfertig und schiebt die Reihen zusammen.«[43] D.h. also, daß durch die sogenannten wesentlichen Ereignisse sich eigentlich gar nichts verändert, weil die Strukturen bestehen bleiben.

Trotz dieser Analogie gibt es einen erkennbaren Unterschied zwischen Cixous’ und Aichingers Schreibkonzeption, dies vor allem in der Funktion des Traums für die Literatur. Während Cixous fordert, Frauen mögen ihre Träume aufzeichnen, um damit ihr Unbewußtes zur Sprache zu bringen, ahmen die Texte Aichingers die Traumform