Neun Lichter - Floco Tausin - E-Book

Neun Lichter E-Book

Floco Tausin

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Beschreibung

Die vierteilige Buchserie Neun Lichter ist die Fortsetzung von Mouches Volantes – Die Leuchtstruktur des Bewusstseins. In diesem mystischen Roman kehrt Floco auf die linke Seite der Emme zurück, um erneut bei Nestor und den Sehern zu lernen. Deren Lehre kreist um die Entwicklung einer inneren Lichterscheinung, der Leuchtstruktur. Um zum Seher zu werden, muss Floco das Zentrum dieser Struktur finden: die Neun Lichter. Die Erzählung gibt einen Einblick in das Sehen, die Weltanschauung und die Praktiken von Menschen, die ihr Bewusstsein über die Alltagswahrnehmung hinaus intensivieren, um das leuchtende Mysterium unserer Existenz zu ergründen. Die Spitze des Himmels ist der erste Teil der Serie.

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NEUNLICHTER

 

Die Spitze des Himmels

 

 

 

 

 

Copyright © Leuchtstruktur Verlag / Floco Tausin 2023

 

 

 

 

Lizenzbestimmungen

 

Die Lizenz dieses Ebooks ist für Ihr persönliches Lesevergnügen bestimmt. Dieses Ebook darf nicht weiterverkauft oder weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit weiteren Personen teilen möchten, kaufen Sie bitte eine weitere Kopie für jede Person, mit der Sie das Buch teilen möchten. Falls Sie dieses Buch lesen und es nicht gekauft haben, oder falls es nicht ausschliesslich für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann gehen Sie bitte auf mouches-volantes.com und kaufen Ihre eigene Kopie. Herzlichen Dank für Ihren respektvollen Umgang mit dem Werk des Autors.

 

 

 

Weitere Informationen zum Thema Mouches volantes:

mouches-volantes.com

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

 

Vorwort

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Glaskörpertrübung

 

 

 

 

Auf die linke Seite der Emme
Steine
Jahresringe
Verbindungsfaden und Kraftquelle
Öffnung
Energiefelder
Die Bibel einer Seherin
Die Spitze des Himmels
Neun Lichter

 

 

 

 

Die Neun sind nirgendwo
Die Neun sind überall
Im Kreuz beschränkt
Der Banner
Das Leuchten der Geister
Glühend Herz
Der Toggel
Mai
Schwärmen
Das Perlenarmband
Muster aus alten Welten

 

 

Anmerkungen

 

Autor Floco Tausin

 

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort

 

 

Mitte der 1990er Jahre lernte ich im Schweizer Emmental einen zurückgezogen lebenden Mann namens Nestor kennen. Er berichtet davon, dass sich bei ihm, infolge einer jahrelangen bewusstseinsfördernden Lebensweise, eine bleibende subjektive visuelle Erscheinung entwickelt habe: nämlich Konstellationen von grossen leuchtenden Kugeln und Röhren, die er ständig in seinem Blickfeld sieht. Er versteht diese Kugeln und Röhren als eine durch das Bewusstsein gebildete feinstoffliche Struktur, in der reines Bewusstseinslicht bzw. reine Energie fliesst. Er nennt sie die Leuchtstruktur des Bewusstseins. Seither praktiziert Nestor das Sehen und Aufleuchtenlassen dieser Struktur als eine Methode, um seine Bewusstseinsintensität zu steigern, ekstatisches Dasein zu erfahren und Einsichten in den Urgrund des Seins zu gewinnen.

Infolge der damaligen Umstände wurde ich zu Nestors Schüler. Während Jahren habe ich mich nach Kräften bemüht, seine Lebensweise, seine Lehre und sein Sehen nachzuvollziehen – körperlich, gefühlsmässig, verstandesmässig und durch mein eigenes Sehen. Meine Lehrzeit im Emmental habe ich im Buch Mouches Volantes – Die Leuchtstruktur des Bewusstseins geschildert. Die vierteilige Buchserie Neun Lichter schliesst an die Ereignisse von Mouches Volantes an und baut darauf auf.

Für Leserinnen und Leser, die Mouches Volantes nicht kennen oder deren Lektüre schon länger zurückliegt, möchte ich im Folgenden Nestors Lehre und Philosophie skizzieren. Zum besseren Verständnis möchte ich diesen Blick von innen dann durch einen Blick von aussen ergänzen: Ich werde die Leuchtstruktur vor dem Hintergrund der subjektiven visuellen Phänomene besprechen, die aus der Physiologie, der Anthropologie und der Religionsgeschichte bekannt sind.

 

 

Der Weg in der Leuchtstruktur

 

Das Sehen der Leuchtstruktur ist die Inspirationsquelle für die Lehre und Philosophie, die Nestor entwickelt hat. Nestor zufolge ist Bewusstsein der metaphysische Urgrund aller Existenz, aus dem in einer unablässigen Schöpfung alles Seiende entsteht. Dieses reinste Bewusstsein hat die Form einer einzelnen leuchtenden Kugel, die im Schöpfungsprozess weitere Kugeln aus sich hervorbringt, so dass sich ein komplexes Netzwerk aus Kugeln und Röhren bildet. Bewusstsein erschafft also eine Leuchtstruktur, in der Licht fliesst, und auf die es sich selbst projiziert – Nestor spricht daher auch von der Leinwand.

Im weiteren Prozess verdichtet und vervielfältigt sich dieses Bewusstseinslicht zu den feinstofflichen und grobstofflichen Erscheinungen, die unser individuelles Bewusstsein und unsere Körper ausmachen. Nestor unterscheidet drei Körper: der physische Körper, der Gefühlskörper und der Gedankenkörper. Sie sind die verdichteten Projektionsflächen oder Leinwände, durch die das Bewusstsein die entsprechenden Welten erfährt. Während die physische Welt auf die äussere Leinwand projiziert wird, spielen sich die Welten der Gefühle und der Gedanken auf der inneren Leinwand ab. Das, was wir von der Welt und von uns selbst wahrnehmen, ist also vervielfältigtes, verdichtetes und gebundenes Bewusstseinslicht. Es ist, in Nestors Worten, unsere kleine Welt.

Bewusstseinsentwicklung ist nun der umgekehrte Prozess, nämlich die Rückführung dieses erstarrten und gebundenen Lichts in dynamisches, frei fliessendes Bewusstseinslicht. Durch eine bestimmte Lebensweise und psychophysische Praktiken soll die kleine Welt so weit aufgelöst und so viel ungebundene Energie angesammelt werden – oder, wie Nestor sich ausdrückt, so viel innerer Druck aufgebaut werden –, dass diese Energie durch Ekstase in das Bild als ein Ganzes, d.h. unterschiedslos in alles fliesst, das uns umgibt. Ist dieser ekstatische Ausbruch von Energie häufig und stark genug, öffnet dies unseren inneren Sinn, eine Art inneres oder geistiges Auge, wodurch die Leuchtstruktur zunehmend in unserem Bild aufleuchtet. Zunächst erscheint die Leuchtstruktur als chaotische Ansammlung kleiner, vereinzelter und trüber oder transparenter Punkte und Fäden – viele Menschen können diese beim Blick in den Himmel oder in eine andere Lichtquelle bereits sehen, wenn sie sich achten. Seherinnen und Seher wie Nestor hingegen haben ihr Bewusstsein dahingehend intensiviert, dass sie die Leuchtstruktur als ein geordnetes, leuchtendes Netzwerk aus grossen Kugeln und Röhren sehen.

Durch sein Sehen hat Nestor weitere Erkenntnisse über die Leuchtstruktur erhalten. Zentral ist die Einsicht, dass es einen Weg in der Leuchtstruktur gibt, der mit Fortschritten in der Bewusstwerdung korrespondiert. Dieser Weg führt zurück zu unserem innersten Bewusstseinskern. Nestor nennt diesen Kern die Quelle und versteht ihn als die eine Kugel, von der die gesamte Schöpfung ausgeht, und in die wir beim Einschlafen und beim Sterben bewusst oder unbewusst eingehen.

Der Weg in der Leuchtstruktur führt zudem von der unteren rechten auf die obere linke Seite des Bewusstseins. Um das zu verstehen, können wir uns vorstellen, dass unsere Augen, und überhaupt unsere beiden Körperhälften, ein Ausdruck davon sind, dass wir auch im Bewusstsein zwei Hälften oder Seiten haben. Wenn wir also manche Punkte und Fäden der Leuchtstruktur durch das linke Auge und andere durch das rechte Auge sehen, so blicken wir entsprechend in die linke oder die rechte Bewusstseinsseite. Laut Nestor befindet sich unser Zentrum mit der Quelle in der oberen linken Seite des Bewusstseins.

Die beiden Bewusstseinsseiten unterscheiden sich sowohl seherisch wie erfahrungsmässig: Die rechte Seite des Bewusstseins entspricht unserer Alltagsrealität. Üblicherweise wird das Bewusstsein eines Menschen durch seine Sozialisation in der Alltagsrealität verankert und bleibt relativ unbeweglich und begrenzt. Um ein Bild aus der Welt der Musik zu nehmen: Wenn unser Bewusstsein ein Klavier mit sieben Oktaven ist, spielen wir das Lied unseres Lebens aufgrund dieser Verankerung immer nur mit den Tasten einer einzigen Oktave. Die linke Seite des Bewusstseins hingegen gibt Zugang zu weiteren Oktaven, wobei hier jene Bewusstseinszustände gemeint sind, die sich durch eine grössere Intensität auszeichnen. Grössere Bewusstseinsintensität geht einher mit einem grösseren Energieumsatz, der je nach Fähigkeit der Praktizierenden zu grösserer Klarheit, Lichtwahrnehmung und Präsenz, oder auch zu Halluzinationen und Visionen führt. Der Wechsel von der rechten auf die linke Bewusstseinsseite ist üblicherweise eine zeitlich begrenzte Erfahrung. Wenn aber die Bewusstseinsintensität gross genug ist, um die Verankerung in der rechten Seite zu lösen, erweitert sich das Bewusstseinsspektrum der Praktizierenden dauerhaft. Nestor bezeichnet dieses Ereignis als den Sprung in die linke Seite. Menschen, die diesen Sprung vollzogen haben, nennt er Seherinnen und Seher.

Das genannte Bild von den sieben Oktaven als Metapher für das Bewusstsein ist auch deshalb treffend, weil Nestor ausserdem von Schichten des Bewusstseins spricht, durch die der Weg in der Leuchtstruktur hindurchführt. Sowohl die rechte wie die linke Seite des Bewusstseins besteht aus einzelnen Schichten, die durch das Bewusstseinslicht aus der Quelle beleuchtet werden. Jede dieser Schichten enthält jeweils die Gesamtheit unserer kleinen Welt. Jede Bewegung des Lebens passiert also nicht nur einmal, sondern unzählige Male im selben Moment. Es ist, als würde auf jeder Oktave zur gleichen Zeit genau dieselbe Melodie gespielt. Doch aufgrund unserer Verankerung sehen und erfahren wir immer nur die eine Schicht, hören also nur die Klänge der einen Oktave.

Diese Schichten unterscheiden sich durch ihre energetische Konfiguration: In den tieferen Schichten der rechten Seite ist das Bewusstseinslicht in zahlreiche Kugeln und Fäden aufgespaltet, während es in den höheren Schichten der linken Seite auf wenige grosse Kugeln verteilt ist. So kann uns die Welt und unser Leben eher grobstofflich, fragmentiert, chaotisch, trüb und fern erscheinen, oder aber eher feinstofflich, verbunden, geordnet, lichtvoll und nah. Bewusstseinsentwicklung bedeutet für Nestor entsprechend, die Verankerung in der rechten Seite zu lösen, um die Schichten zu durchdringen und aus der Vielfalt und Fragmentiertheit der vielen Kugeln in die Einheit und Verbundenheit der wenigen Kugeln und letztlich der Quelle zu gelangen.

Schliesslich hat Nestor in diesen Bewusstseinsschichten besonders auffällige Konstellationen von Kugeln und Röhren entdeckt, die ihm zur Orientierung in der Leuchtstruktur und zur Unterscheidung der Bewusstseinsschichten dienen. Er nennt diese Konstellationen Wegmarken. Eine dieser Wegmarken ist der Verbindungsfaden, der die rechte mit der linken Bewusstseinsseite verbindet. Ich habe diesen Faden als die Brücke mit dem Doppelbogen kennengelernt und im Buch Mouches Volantes beschrieben. Eine weitere Wegmarke war die Inspirationsquelle für die Serie Neun Lichter. Es handelt sich um eine Konstellation von neun Leuchtkugeln, die oberhalb des Verbindungsfadens und auf der linken Seite des Bewusstseins erscheint. Für Nestor sind diese Neun Lichter äusserst bedeutsam, da sie ihm zufolge die Realitäten in den drei Welten strukturieren. Sie zu finden, zu sehen und mit all meinem Vermögen in ihrer Bedeutung zu begreifen – dies war eine der Aufgaben, die Nestor mir gestellt hatte, um mich auf den Sprung in die linke Seite vorzubereiten.

 

 

Glaskörpertrübung? Nerven? Bewusstseinslicht?

 

Ab einem gewissen Zeitpunkt meines Lernens bei Nestor begann ich die Kugeln und Fäden der Leuchtstruktur selbst zu sehen und als Konzentrationsobjekt zu nutzen. Um dies zu können, habe ich mir Nestors Interpretation der Leuchtstruktur zu eigen gemacht. Doch als Kulturwissenschaftler war ich ebenso sehr daran interessiert, die Leuchtstruktur in wissenschaftlicher Hinsicht zu verstehen und einzuordnen.

Meine ersten Nachforschungen führten mich in die Augenheilkunde. Denn zunächst glaubte ich, dass die Leuchtstruktur eine Sehstörung war. Ich fand heraus, dass Physiologen seit Jahrhunderten eine Erscheinung kennen, die der Leuchtstruktur sehr ähnlich ist. Sie ist bekannt unter der Sammelbezeichnung Mouches volantes (frz. für ›fliegende Mücken‹). Nach dem heutigen Stand des Wissens sind Mouches volantes Trübungen des Glaskörpers im Auge. Diverse Arten von Trübungen – etwa Blut, eingelagerte Zellen oder verklumpte Glaskörperfibrillen – verweisen dabei auf diverse Ursachen. So können Mouches volantes eine Folge von Netzhautschäden oder von Entzündungen sein. In den meisten Fällen jedoch handelt es sich um harmlose und altersbedingte Verklumpungen von Teilen des Glaskörpergerüstes, die, wenn Licht in das Auge fällt, Schatten auf die Netzhaut werfen. Sie werden wahrgenommen als vereinzelte Punkte und Fäden, die im Blickfeld schwimmen und jeweils mit dem Blick mitschwingen.

Optisch entspricht diese Art von Mouches volantes teilweise der Leuchtstruktur. Das Sehen beginnt typischerweise mit der Erscheinung von kleinen, vereinzelten und beweglichen Punkten und Fäden. Diese können, wie gesagt, von vielen Menschen wahrgenommen werden. Ich vermute daher, dass diese ersten Erscheinungen der Leuchtstruktur von Physiologen und Optikern der letzten Jahrhunderte irrtümlich für eine Glaskörpertrübung gehalten und unter dem Begriff Mouches volantes mit tatsächlichen Glaskörpertrübungen vermengt wurden. Womöglich ist dies mit ein Grund für die Irritationen, die sich heute zuweilen zwischen Patienten und Augenärzten ergeben. Etwa wenn die Patientin ihre störenden Mouches volantes loswerden will, während die Ärztin in den Augen keine Entsprechung der beschriebenen Symptome feststellen kann.

Die Seherinnen und Seher haben ihr Sehen über diese anfängliche Stufe hinaus entwickelt. Ihre Beobachtungen – insbesondere die Veränderung der Grösse und Lichtintensität der Kugeln und Röhren durch Konzentration und Ekstase – lassen sich nicht mehr im Rahmen der augenheilkundlichen Mouches volantes begreifen. Gemäss ihrem Sehen und ihrer Erfahrung hat die Leuchtstruktur nichts mit Glaskörpertrübungen zu tun.

Im Weiteren habe ich nach Spuren der Leuchtstruktur in der Kunst, den Religionen und in anderen Kulturerscheinungen gesucht. Wenn die Leuchtstruktur wirklich ein universeller Urgrund unserer Existenz ist, wie Nestor behauptet, ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie im Laufe der Zeit nicht schon zuvor von Menschen gefunden, gesehen und gedeutet worden war. Und wenn sie wirklich als so bedeutsam erkannt wurde, hätte sie in der einen oder anderen Form Eingang in die Kultur einer Gesellschaft finden müssen.

Menschen, so wissen wir aus der Anthropologie und der Religionsgeschichte, haben stets veränderte Bewusstseinszustände gesucht. Aus der Sicht der Praktizierenden dienen sie dazu, in andere Welten zu reisen, um mit Göttern oder Geistern zu kommunizieren, Wissen oder Weisheit zu erlangen oder Heilung zu erwirken. Zu den oft berichteten Wahrnehmungsveränderungen gehört das Auftauchen subjektiver visueller Phänomene wie Visionen, Halluzinationen und die sogenannten entoptischen Erscheinungen. Letztere sind leuchtende bewegte geometrische Formen, die mit veränderten neurophysiologischen Prozessen in der Netzhaut, der Sehbahn und dem visuellen Cortex im Hirn einhergehen. Solche Veränderungen können durch mechanische, elektrische, magnetische oder auch chemische Reize zustande kommen – also vom simplen Druck auf die Augäpfel, über die elektrische oder magnetische Stimulation des Hirns bis zur Veränderung des Nervensystems durch Halluzinogene sowie durch Praktiken der Meditation und der Ekstase.

Wollte man die Leuchtstruktur physiologisch verorten, würde ich sie – beim Stand meines derzeitigen Wissens – als eine dieser entoptischen Erscheinungen verstehen, neben Phänomenen wie Phosphenen, Sternchen (engl. blue field entoptic phenomenon), Visual Snow und Formkonstanten. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass sich während intensiverer Bewusstseinszustände eine Vielzahl von subjektiven visuellen Lichterscheinungen zeigen können. Auch Nestor hat weitere entoptische Phänomene in seinem Sehen identifiziert und im Rahmen seiner Lehre erklärt. Dasselbe konnte ich den Darstellungen und Erfahrungsberichten aus Gesellschaften und Gemeinschaften entnehmen, die bewusstseinsverändernde Rituale als Teil ihrer Tradition und spirituellen Praxis einsetzen. Auch hier lassen sich diverse innere Lichtmuster feststellen, von denen manche der Leuchtstruktur ähneln. Ob es sich dabei tatsächlich um die Leuchtstruktur handelt, ist aufgrund der subjektiven Natur der Wahrnehmung sowie der kulturellen und teils auch zeitlichen Distanz kaum eindeutig zu beantworten. Mein Eindruck aber ist, dass die Leuchtstruktur zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen immer wieder Teil der visionären Erfahrungen von Schamanen, Mystikerinnen, Meditierenden und anderen Seherinnen und Sehern gewesen war – zusammen mit weiteren entoptischen Erscheinungen, Halluzinationen und Visionen. Sie wurde im Rahmen der jeweiligen Tradition gedeutet und in der Kunst, in Mythen und in Philosophien verarbeitet. Diese Deutungen fallen sehr unterschiedlich aus und unterscheiden sich teils erheblich von Nestors Interpretation der Leuchtstruktur als Bewusstseinsstruktur und Bewusstseinslicht. Doch den betreffenden Seherinnen und Sehern wäre es fremd gewesen, in diesen inneren Lichterscheinungen nichts weiter als körperlich-nervliche Prozesse zu sehen, wie es in der westlichen, materialistisch geprägten Physiologie üblich ist.

Für mich selbst haben diese Befunde den Zusammenhang von aussergewöhnlichen und intensiveren Zuständen des Bewusstseins, dem Sehen entoptischer Lichtmuster sowie Nestors Aussagen über die Leuchtstruktur verständlicher gemacht. Aus Nestors Sicht hingegen sind solche intellektuellen Bemühungen bestenfalls nebensächlich. Für ihn ist die Leuchtstruktur kein Studienobjekt, sondern ein Konzentrations- und Meditationsobjekt, durch das wir uns ein leuchtenderes Dasein und ein tieferes Verständnis von uns selbst und unserer Existenz erarbeiten – wenn wir uns auf den Weg machen, um diese Struktur zu sehen, zu konzentrieren und aufleuchten zu lassen.

Von diesem Weg erzählt das vorliegende Buch Die Spitze des Himmels. Es ist der erste Teil der vierteiligen Buchserie Neun Lichter. Die Erzählung basiert auf einer wahren Begebenheit. Ihre Grundlage bilden zahlreiche Gespräche und Erfahrungen mit Nestor, jahrelange Recherchen sowie mein eigenes Sehen. Neun Lichter gibt einen Einblick in das visionäre Sehen sowie in die Weltanschauung und die Praktiken von Menschen, die ihr Bewusstsein über die Oktave der Alltagswahrnehmung hinaus intensivieren, um das leuchtende Mysterium unserer Existenz zu ergründen.

 

 

 

 

 

 

 

 

5

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Glaskörpertrübung

 

 

»Offen«, hallte es durch die unterirdische Einkaufspassage.

Ich hatte bereits geglaubt, zur falschen Zeit gekommen zu sein. Zurückgewiesen durch die dunklen Vitrinen der Geschäfte, war ich die Treppe schon wieder hochgestiegen, als ich den Ruf hörte. Ich drehte um und bog erneut in den menschenleeren Korridor ein, um nachzusehen. Und tatsächlich: Am Ende des Ganges leuchteten nun die Schaufenster des Bastelladens, den ich besuchen wollte.

Während ich an den geschlossenen Läden links und rechts vorbei ging, klang dieser Ruf in mir nach. Nicht nur war es entgegen allen Gepflogenheiten, eine Ladenöffnung auszurufen, geschweige denn vor abwesender Kundschaft. Auch die Aussprache des ›Offen‹ liess mich wundern. Normalerweise wurde das ausklingende ›en‹ im Berner Dialekt zu einem Laut irgendwo zwischen einem ›ä‹ und einem ›ö‹ entspannt. Doch der Ausrufer strapazierte es zu einem fast perfekten ›o‹. Migrationshintergrund, blitzte es in mir auf.

Am Ende der Passage angelangt, betrat ich den Bastelladen. Mich vergebens nach dem ausländischen Mitarbeiter umsehend, fing ich die Aufmerksamkeit der Händlerin hinter der Theke ein, Clara Occhi, wie ihr Namensschildchen verriet. In letzter Zeit war ihr Blick für mich kühl geblieben. Das war vielleicht nicht gerade professionell, aber ich verübelte es ihr nicht. Seit Wochen besuchte ich den Laden regelmässig und hatte immer nur gestöbert, nie gekauft. An diesem Morgen jedoch nickte sie mir freundlich zu, ja sie lächelte sogar, ihre Augen strahlten dabei. Offenbar hatte sie einen guten Tag, worüber ich froh war. Vielleicht, so malte ich mir aus, würde sie mich dieses eine Mal nicht kontrollieren.

Ermutigt durch den Gedanken, nahm ich einmal mehr das Wunderland der Farben und Formen auf mich. Ich eilte dem langen Wandregal der Schmuckabteilung entlang, aus dessen transparenten Schublädchen unzählige Steinchen, Kettchen, Perlchen, Anhänger, Bänder und weiterer Ramsch schimmerten. Ich zog an den Gestellen mit den Dekorationsprodukten vorbei und lächelte über die künstlichen Pflanzen, die Blätter von Lotus, Efeu und Weinreben, die diversen Moosarten, die Blüten, Blumen, Früchte und der Rasen, alles zum Streuen, Hängen, Stellen und Kleben.

Dann staunte ich über all die Bastelsets und Kratzbilder und Schablonen und Stempel und Seifenformen und Malbücher, um Hunde, Katzen, Delfine, Rehe, Elefanten und anderes niedliches Getier nachzubilden. Dem Tierreich entflohen, eilte ich durch die Miniaturabteilung mit dem Zubehör für Puppen und den Sets zu Themen wie Arbeit, Wohnen, Kochen, Heirat, Ferien oder Weihnachten, mit all den Werkzeugchen, Küchengerätchen, Möbelchen, Nahrungsmittelchen und, konsequent weitergedacht, den Spielzeugspielzeugchen für die Spielzeugkinderchen.

Ich durfte links abbiegen, um an den zwei grossen halbrunden Tischen mit dem Puppenhaus vorbei gleich wieder rechts in den nächsten Gang zu gelangen, wo die schillernden Papierwaren prunkten. Hier war alles creative und essential, wie die Beschriftungen versicherten, von den bunten Bögen diverser Papiere, Karten und Kuverts, über die thematischen Washi Tapes und Stickers, die Gläschen mit Glimmer und Glitter, die Fläschchen mit Flimmer und Flitter, bis hin zum Aufhänger für Eier und Kugeln. Etwas weicher, aber nicht weniger opulent ging es auf der anderen Seite des Gangs zu, beim Nähzubehör, wo die Rahmen fürs Sticken, die Nadeln fürs Stricken, die Garne fürs Häkeln, die Wachse fürs Färben, die Kordeln fürs Knüpfen und die Watte fürs Füllen keine Grenzen für die Einsetzbarkeit und Fantasie kennen wollten.

Endlich erreichte ich die Holzabteilung. Ich ging vorbei an Gebrauchsgegenständen wie Schatullen, Schalen, Klammern, Rahmen, Haltern und Leisten. Dann liess ich auch die simplen Würfel und Kreuze, Stäbe und Stiele, Scheiben und Ringe, Perlen und Kugeln hinter mir. Ganz hinten, schliesslich, warteten die echten Dinge: das Schnittholz, das Sperrholz, die Span- und Faserplatten. Und die edlen gemaserten Furniere, für die ich gekommen war.

Ich nahm das erste dieser neu aufgestockten dünnen Holzblätter aus Ahorn. Damit begab ich mich zum quadratischen Tisch nebenan, der die Kleinen zum Spielen mit Legosteinen, Bauklötzen und Knete einlud. Ausnahmsweise standen die vier Stühle nicht wie gewohnt ordentlich an ihrem Platz. Stattdessen waren sie halbmondförmig um die linke Seite des Tischs verstreut, ihre Lehnen in einem spitzen Winkel zur Tischkante abgewandt. Es sah aus, als hätten hier ein paar Kinder den Ausführungen einer betreuenden Person gelauscht, um dann, mit aufgestautem Übermut, von den Stühlen hochzuspringen und loszurennen. Ich dachte kurz daran, Ordnung zu schaffen, liess es aber sein – schliesslich war ich hier nicht angestellt. Ich nahm einen der Stühle, setzte mich an den Tisch und packte mein kaum fingernagelgrosses Plastikfolienstück aus, an dessen Rändern ich Markierungen angebracht hatte.

Nun begann meine Suche. Ich legte die Plastikfolie oben links auf das Furnier, drehte sie langsam im Uhrzeigersinn und prüfte dabei, ob die Markierungen mit dem Maserungsverlauf auf dem Holz übereinstimmten. War eine volle Umdrehung erreicht, verschob ich die Folie etwas weiter nach rechts, wiederholte das Drehen und dann das Schieben, solange, bis ich am rechten Rand des Holzblattes angelangt war. Dann führte ich dieselben Bewegungen auf einer etwas tieferen Linie durch, bis ich mit der Folie, das Holzblatt auf diese Weise ›gelesen‹ habend, die unterste rechte Ecke erreicht hatte. Schliesslich holte ich ein anderes Furnier und wiederholte den ganzen Vorgang.

Es war bereits einige Zeit verstrichen, als ich eine ziemlich genaue Übereinstimmung der Markierungen mit der Maserung entdeckte. Aber ziemlich genau, so wusste ich, das war nicht gut genug. Nicht für Mari Eglis Sekretär, das Möbelstück, das ich restaurieren wollte.

Ich schob die Folie weiter, drehte sie, prüfte die Markierungen, drehte sie weiter, prüfte, schob sie weiter, prüfte, drehte. Die Bewegungen erfolgten flüssig, automatisch. Längst waren sie eingegangen in Körper und Geist, unzählige Male hatte ich sie während zahlreichen Besuchen im Bastelladen wiederholt.

Wieder erfasste ich beim flüchtigen Blick eine Übereinstimmung von Folie und Maserung. Gespannt untersuchte ich die Stelle – und war enttäuscht. Wieder passten die Linien nicht ganz überein.

Ich erinnerte mich noch lebhaft daran, wie ich einmal versucht hatte, eines der Löcher am Sekretär mit Holz auszubessern, dessen Maserungsverlauf nicht demjenigen des Möbels entsprochen hatte – zitternde Hände, Schweissausbrüche, Herzrasen und erschreckend starke Wahrnehmungsveränderungen waren die Folge gewesen.

Ich holte also ein neues Furnier und setzte die Folie wieder auf, prüfte, drehte, prüfte, schob, bis meine Bewegungen wieder in dieser monotonen Arbeit aufgingen.

Clara Occhis energische Schritte drangen in mein Ohr. Entgegen meiner Hoffnung tauchte die Händlerin auch dieses Mal beiläufig in der Holzabteilung auf, um irgendetwas einzuräumen oder zu reinigen. Und, wie ich argwöhnte, um sich zu vergewissern, dass ich mit dem Material, das ich nie kaufte, auch angemessen umging. Ohne den Blick zu heben, vertiefte ich mich weiter in das vor mir liegende Holzblatt, arbeitete mich langsam nach unten rechts – schieben, prüfen, drehen, prüfen, die ausgeprägten Ringe und Holzaugen überspringen, drehen, prüfen, schieben.

Ich hörte, wie die kleine drahtige Frau ihren Staubwedel über die Holzwaren schwang, immer im selben Rhythmus: ein Streich, drei Streiche, mehrere Streiche, bis sie beim nächsten Gegenstand von vorn begann. Ich fühlte ihre verstohlenen und befremdeten Blicke auf mir. Blicke, die mich daran erinnerten, dass nichts an meiner Situation so recht passte: Ich war ein Stammgast in diesem Geschäft, und doch kein Kunde. Ich suchte und prüfte an einem Tisch, an dem gespielt werden sollte. Ich versuchte eine Aufgabe zu lösen, die sich kaum je lösen liess. Ich war hier, weil ich woanders sein wollte.

Beharrlich schob und prüfte und drehte ich weiter.

Frau Occhi rückte näher. Sie begann, die schweren Holzplatten zu sortieren. Jeder ihrer Atemzüge, jedes Keuchen und Zischen schoss wie ein Pfeil durch den Raum, mahnend, dass ich nicht hierher gehörte, hierher zu den echten Dingen. Dass es an der Zeit war, wieder zurückzugehen. Zurück in das Wunderland, aus dem ich gekommen war, und von dem ich mich hatte aushalten lassen. Ich schob, prüfte und drehte gegen diese Aufforderung an. Denn dort im Wunderland sah ich mich nicht mehr, dort wollte ich nicht mehr hingehören. All dieser Glimmer und Plunder, all diese Künstlichkeit – ich wollte sie nicht mehr leben.

Die aufsteigende Frustration hielt ich in Schach, indem ich mich an den Traum von letzter Nacht erinnerte: Die unterste rechte Schublade des Sekretärs, die ich bisher nie öffnen konnte, war offen. Ein Buch lag darin. Es war diese Schublade, für die ich ein passendes Holzblättchen suchte. Eine offene Schublade, so sprach ich mir Mut zu, bedeutete eine erfolgreiche Restauration. Und eine erfolgreiche Restauration bedeutete, dass ich das richtige Holzblättchen finden würde. Heute war der Tag, heute musste ich einfach die richtige Stelle finden. Hier auf diesem Furnier. Ich schob, prüfte, drehte, untersuchte, schob, prüfte, drehte, Zeile für Zeile, als ob es um mein Leben ginge.

Und tatsächlich fand ich bald darauf eine weitere Stelle in der Maserung, die mit den Markierungen übereinzustimmen schien. Voller Hoffnung wollte ich die Folie ausrichten und die Kontaktstellen untersuchen, als Clara Occhi einen der herumstehenden Stühle nahm, ihn an den Spieltisch stellte und ihn ordentlich zurechtrückte. Dabei liess sie sich Zeit, als müsste hier bei den echten Dingen alles unglaublich exakt und ohne jeden Spielraum sein.

Irritiert wandte ich mich wieder der Folie zu, aber die Händlerin hatte sich bereits den zweiten Stuhl gegriffen und versetzte ihn bedächtig an seinen vorgesehenen Platz. Ich bereute, hier nicht selbst für Ordnung gesorgt zu haben. Mit gesenktem Blick nahm ich wahr, wie sie auch den dritten Stuhl an den Tisch stellte und den Winkel zwischen Kante und Lehne genüsslich aus der Welt schaffte. Trotzig nahm ich den Bleistift und markierte die gefundene und ungeprüfte Stelle auf dem Furnier. Und als Frau Occhi nun direkt vor mir stand, mir, dem Hindernis in ihrem Unterfangen, den Spieltisch zur Perfektion zu ordnen, blickte ich endlich zu ihr auf. Sie lächelte siegreich.

»Möchten Sie noch ein bisschen schauen, oder kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte sie, als wäre es nicht offensichtlich.

»Danke, ich komme zurecht«, erwiderte ich höflich.

»Sie beehren uns häufig«, insistierte sie, neugierig auf meine Folie schielend.

»Ich suche nach Übereinstimmungen«, erklärte ich.

»Übereinstimmungen?«

Ich zeigte ihr, wie ich die Folie verwendete.

»Oh«, machte sie unschlüssig und verdeckte mit der Hand die Hälfte ihres Gesichts. Ich erklärte, dass ich ein Möbel restaurierte, und dass der Verlauf der Maserung da ganz genau hineinpassen müsse.

»Das ist wohl sehr schwierig«, fand sie. »Es ist wohl ein ganz besonderes Möbel.«

Ich lachte und bemühte mich, es nicht bitter klingen zu lassen. Dann aber entdeckte die Händlerin meine eben angebrachte Markierung auf dem Holzblatt und deutete mit strenger Miene darauf:

»Ist das jetzt die richtige Stelle?« Es klang wie eine Aufforderung.

»Ja«, hörte ich mich sagen.

»Dann haben Sie bei uns ja doch noch gefunden, was Sie gesucht haben«, gab sie sich sogleich wieder freundlich. »Jaja, wer sucht, der findet, nicht wahr, und bei uns ist noch jeder fündig geworden. Darf ich es Ihnen einpacken?«

Ich reichte ihr das Holzblatt, erhob mich, rückte den Stuhl sorgfältig zurecht und legte die anderen Furniere zurück. Dann folgte ich ihr zur Kasse und bezahlte.

Ich würde bereit sein, versprach ich mir selbst, als ich vom Bastelladen in den kühlen dunklen Korridor trat. Ich würde bereit sein für die linke Seite der Emme. Ja, ich würde bereit sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auf die linke Seite der Emme

 

 

Am nächsten Tag fuhr ich ins Emmental, auf dem Rücksitz des Autos lag das Furnier mit der markierten Stelle.

Mein letzter Besuch bei Nestor lag mehrere Jahre zurück, und es war ungewiss, wie er auf mich reagieren würde. Ob er mich erneut annehmen und lehren würde. Deshalb wollte ich nicht mit leeren Händen hinfahren. Das Holzblättchen, so hoffte ich, würde mir erneut den Zugang zur linken Seite der Emme eröffnen – so nannte Nestor den Ort, wo die Seher lebten. Um diese Hoffnung aufrechtzuerhalten, hatte ich die Stelle auf dem Furnier bewusst nicht mehr geprüft. Und sollte das Blättchen nicht als Flickwerk taugen, wäre es zumindest ein Zeichen meines guten Willens.

Die Fahrt von Bern ins Quellgebiet der Emme war immer auch eine Fahrt durch die Geschichte und das soziale Gefüge des Emmentals. Nach allem, was ich über die Region und die Menschen wusste, verdiente man sich hier umso mehr Respekt, je freier, abgeschiedener und höher man wohnte – ich fuhr also dem Ansehen entgegen.

Die Hauptstrasse führte zunächst durch die Schachen, die breiten Talböden. Früher waren sie der Lebensraum der ärmsten Schichten der Emmentaler Bevölkerung. Viele derer, die keinen Hof geerbt hatten, wurden hierher abgedrängt und mussten sich als Tagelöhner verdingen. Ob Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen oder die berüchtigten Überschwemmungen – hier traf die Not stets zuerst ein. Wer es sich leisten konnte, wohnte auf den höher gelegenen Talterrassen, die im Mittelalter als erste besiedelt wurden. Hier entging man immerhin dem Hochwasser.

Die Schachen hinter mir lassend, führte meine Reise tiefer in das grüne Land der Höger, Eggen und Chrachen hinein, wie die Emmentaler die Hügel, die breiteren Hochebenen und die Gräben nannten, die so charakteristisch waren für diese Landschaft. Eine Nebenstrasse in Richtung Süden brachte mich ins obere Emmental. Die Grate, die die Wasserläufe trennten, wurden schärfer. Die Hänge, die in enge Talfurchen abfielen, steiler. Und die mit Tannenwald gesäumten Gräben, die die Hänge teilten, schmaler. Die höchsten Eggen wachten über das Berner Mittelland zwischen dem Jura und den Alpen. Die einzelnen imposanten Linden auf den kahlen Hügeln markierten Grenzen und galten den frühen Bewohnern des Gebiets, den Kelten und Alemannen, als heilige Bäume.

Die hinteren Täler liessen keinen Raum mehr für grössere Siedlungen. Hierher, weit entfernt von Bahnlinien und Schnellstrassen, drang die Industrie nicht vor, die Bäuerinnen und Bauern waren unter ihresgleichen. Verstreute braungebrannte Ständerbauten, die stolzen Einzelhöfe, besetzten die wenigen ebenen Flächen inmitten von bunten Wiesen und Äckern. Die Gerschilde der mächtigen Walmdächer mahnten augenfällig, dass das eindringende Fremde auch mal die Stirn geboten bekam. Streitereien wurden gerne gemäss den alten Bräuchen unter Einbezug der Sippe geklärt. Die traditionellen Familien- und Erntedankfeste hielt man in Ehren. Und manchmal wurden sogar die Naturkräfte noch nach althergebrachten Ritualen besänftigt. Was die kräftig gebauten, bedächtigen und wortkargen Frauen und Männer der hiesigen Natur abgerungen hatten, das gaben sie so leicht nicht aus der Hand. Fleiss und strenges Haushalten führten zu einem gewissem Wohlstand, und das Ansehen einer Familie wuchs mit zunehmendem Land, Vieh und Geld.

Allmählich gelangte ich in den hintersten Teil des Emmentals, wo die Hügel sich zu den Voralpen erhoben, dem Hohgant und der Schrattenfluh, die beiden Zweitausender, die den langgestreckten Brienzergrat bewachten. An ihren Nordseiten erwuchsen aus sanfteren Bergweiden die teils mit Gras bewachsenen, teils mit Flühen durchsetzten Steilhänge, die sich zu markanten Gipfeln türmten. Hier entsprangen die Hauptflüsse des Emmentals, die Emme und die Ilfis.

In diesem Gebiet waren einst die Küher tätig gewesen. Diese nomadischen Hirten hatten die Alpen unterhalten, ihr Vieh gesömmert und Käse hergestellt. Als zähe, genügsame und selbständige Unternehmer wurden sie von den Emmentalern hoch geachtet. Ihre Zeit ging zu Ende, als die Höfe und die Talkäsereien im 19. Jahrhundert die profitable Milchwirtschaft übernommen hatten.

Schliesslich erreichte ich das Dorf am Fusse des Hohgant, von dem aus ich auf die linke Seite der Emme wechseln würde, wo die Seher wohnten.

Wenn sich die Emmentaler adelten, je höher, beweglicher und unabhängiger sie lebten, dann gehörte auch die kleine Gruppe der Seherinnen und Seher dem Adel an – sofern man sie der Emmentaler Gesellschaft zurechnen wollte. Im Dorf wusste man nicht viel über sie, ausser dass sie sehr zurückgezogen lebten und ihren Lebensunterhalt nicht mit herkömmlicher Arbeit bestritten. Von den Einheimischen wurden sie als Fremde betrachtet, obwohl, wie ich vermutete, mindestens einer, wenn nicht zwei von ihnen aus dem Gebiet hier stammten. Und obwohl diese Gruppe womöglich auf eine einheimische Seherin mit dem Namen Mari Egli zurückging, die im 19. Jahrhundert gelebt hatte. Vielleicht waren die Seherinnen und Seher ursprünglich eine von vielen neueren religiösen Gruppen, die sich seit der Reformation in die Abgeschiedenheit des Emmentals zurückgezogen hatten, um hier ihrer alternativen Lebensweise nachzugehen. Doch Genaueres hatte ich nie in Erfahrung bringen können. Abgesehen davon, dass es bereits in früheren Zeiten Seher auf der linken Seite gegeben hatte, wusste ich nichts über die Vergangenheit und Herkunft von Nestor und seinen Freunden. Mari Egli blieb eine mythische Gestalt, von der ich nur jene Geschichten kannte, die die Seher über sie erzählten – insbesondere, dass sie in die Leuchtstruktur eingegangen sei und damit einen Zustand der Vollkommenheit erreicht habe. Nestor und die zwei Frauen und zwei Männer, die mir nur als die Tänzerin, die Herzliche, der Bauer und der Denker bekannt waren, versuchten genau dies durch strenge körperliche und geistige Praktiken zu erreichen.

Als ich die Strasse auf der rechten Seite der jungen Emme aufwärts fuhr, fielen mir einige Veränderungen in der Umgebung auf. Die helleren Anteile der Holzgebäude zeugten davon, dass die Emmentaler laufend ihre Höfe erweiterten – grössere Ställe für mehr Vieh, grössere Garagen für mehr landwirtschaftliches Gerät. Teile der Strasse waren nach Unwetterschäden renoviert worden. Eine Schreinerei hatte neu eröffnet. Auch der Tourismus hatte Einzug gehalten. Das Dorf war an einen Themenweg angeschlossen worden, und eine wiederhergestellte Pferdepostkutsche kursierte als Attraktion. Der Parkplatz des einzigen Gasthofs war grösser geworden, so dass nun auch Reisebusse Platz fanden. Daneben spielten Kinder auf einem neuen Spielplatz.

Über eine rudimentäre Brücke wechselte ich auf die linke Seite der Emme. Die schmale Strasse, die in die Höhe führte, hatte eine neue Schicht Schotter erhalten. Abgesehen davon erschien die linke Seite wie in der Zeit erstarrt.

---ENDE DER LESEPROBE---