Neunzehn Stufen - Millie Bobby Brown - E-Book

Neunzehn Stufen E-Book

Millie Bobby Brown

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Beschreibung

Neunzehn Treppenstufen, die alles verändern können. Die den Unterschied bedeuten zwischen Freiheit und Verlust, Leben und Tod, Liebe und Leid.

London, 1942: Trotz des um sie herum tobenden Kriegs gibt die 18-jährige Nellie Morris alles dafür, um Ruhe und Ordnung in den Alltag ihrer Familie zu bringen. Ihrer Sehnsucht nach einer unbeschwerten Jugend und einem Leben in Freiheit hat sie längst abgeschworen – bis sie den amerikanischen Piloten Ray kennenlernt. Er zeigt ihr, dass es gerade in diesen Zeiten wichtig ist zu träumen und für diese Träume einzustehen. Doch als sich eine schreckliche Tragödie ereignet, droht das Glück des jungen Paares zu zerbrechen. Und auch Nellies Familie gerät in höchste Gefahr …

»Inspiriert von den Erfahrungen meiner Großmutter Ruth, ist dieser Roman unglaublich persönlich für mich und liegt mir deshalb sehr am Herzen. Ich bin mit Ruths Erzählungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen, und es ist mir eine Ehre, ihre Geschichte durch dieses Buch am Leben erhalten zu können.« Millie Bobby Brown

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Seitenzahl: 500

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BUCH

London, 1942: Trotz des um sie herum tobenden Krieges gibt die 18-jährige Nellie Morris alles dafür, um Ruhe und Ordnung in den Alltag ihrer Familie zu bringen. Ihrer Sehnsucht nach einer unbeschwerten Jugend und einem Leben in Freiheit hat sie längst abgeschworen – bis sie den amerikanischen Piloten Ray kennenlernt. Er zeigt ihr, dass es gerade in diesen Zeiten wichtig ist zu träumen und für diese Träume einzustehen. Doch als sich eine schreckliche Tragödie ereignet, droht das Glück des jungen Paares zu zerbrechen. Und auch Nellies Familie gerät in höchste Gefahr …

AUTORIN

Millie Bobby Brown, geboren 2004, ist Schauspielerin und Produzentin. Ihren großen Durchbruch hatte sie mit ihrer Rolle als Elfi im Netflix-Serienhit »Stranger Things« sowie mit ihrer Rolle als Enola Holmes im gleichnamigen Film-Franchise. 2018 wurde Millie Bobby Brown zur jüngsten Sonderbotschafterin der UNICEF ernannt und vom »TIME Magazine« zu einer der 100 einflussreichsten Personen gekürt.

»Neunzehn Stufen« ist Millie Bobby Browns erster Roman und eine Liebeserklärung an die unglaubliche Stärke ihrer Großmutter Ruth, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen ist.

MILLIE BOBBY BROWN

Neunzehn Stufen

ROMAN

Deutsch von Alexandra Kranefeld

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel

»Nineteen Steps« bei HQ,

an imprint of HarperCollinsPublishers Ltd., London.

Mit großem Dank an Kathleen McGurl

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2023

by Millie Bobby Brown

Millie Bobby Brown asserts the moral right to be identified as the author of this work.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

nach einer Originalvorlage von Harper Collins US

Umschlagdesign: Ploy Siripant

Umschlagmotive: © Getty Images (Romulo Rejon/Moment;

ilbusca/DigitalVision Vectors);

Universal Art Archive/Alamy Stock Photo,

Shutterstock.com (BK666; Runrun2)

DK · Herstellung: sam

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31697-6V002

www.blanvalet.de

Für all jene, die ihr Leben in dieser Tragödie verloren haben, und für deren Hinterbliebene. Und für Nanny Ruth, die mir diese Geschichte erzählt hat.

PROLOG

März 1993

Es war das erste Mal in fast fünfzig Jahren, das erste Mal seit dem Ende des Krieges, dass Nellie nach Bethnal Green zurückkehrte, an den Ort ihrer Kindheit. Als sie aus dem Zug ausstieg und sich nach der Beschilderung Richtung Ausgang umsah, war sie erstaunt, wie sehr sich alles hier verändert hatte. Nichts war mehr, wie sie es in Erinnerung hatte. Damals, als man die U-Bahn-Station Bethnal Green für die Dauer des Krieges als Luftschutzbunker requiriert hatte, war das Gebäude kaum fertiggestellt, die Gleise noch nicht verlegt gewesen. Jetzt eilten die Menschen geschäftig an ihr vorbei, Junge und Alte, alle schienen sie in Eile, während Nellie sich auf dem Bahnsteig an ihren Koffer klammerte und sich die langen Reihen dreistöckiger Etagenbetten vorzustellen versuchte, die in jenen Jahren die Tunnel gesäumt hatten. Wie viele endlos scheinende, bange Nächte hatte sie wohl mit ihrer Familie während des Blitz hier unten verbracht, jener verheerenden Luftschlacht, die vor allem London getroffen hatte? Und wie oft hatten sie sich im weiteren Verlauf der Kämpfe hierherflüchten müssen, hatten Schutz gesucht vor den häufigen, meist nächtlichen Luftangriffen der Deutschen.

Hinter ihr fuhr der Zug, mit dem sie gekommen war, wieder an, nahm mit auf den Schienen klackernden Rädern an Fahrt auf und ließ Nellie allein mit ihren Erinnerungen auf dem Bahnsteig zurück.

Die Fahrtreppen waren auch ersetzt worden, stellte sie fest, als sie die Füße statt auf die gerillten Holztritte auf schimmernden Stahl setzte und ihren Rollkoffer auf die Stufe hinter sich zog. Ein Straßenmusiker hatte sich unten an der Treppe niedergelassen und sang »Bridge Over Troubled Water«. Die Musik folgte ihr wie ein fernes Echo, und während sie nach oben fuhr, summte sie leise mit und erinnerte sich daran, wie sie während des Krieges, wenn sie stundenlang dort unten hatten ausharren müssen, für ihre Freunde, Nachbarn und die Familie gesungen hatte. Als sie die Schalterhalle erreichte, musste sie an Billy denken, den guten alten Billy, und die Grübchen in seinen Wangen, wenn er sie angelächelt hatte. Oft war sie trotz des Drängens ihrer Eltern noch einen Moment hier stehen geblieben, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln, ehe sie den anderen nach unten gefolgt war.

Nachdem sie die Ticketschranke passiert hatte, wandte sie sich automatisch nach links. Damals hatte es nur einen Zugang zur Station gegeben. Jetzt befand sich rechts von ihr noch ein weiterer Aufgang zur Straße, aber wenn sie den nähme, so fürchtete sie, würde sie sich am Ende überhaupt nicht mehr zurechtfinden. Alles war ihr fremd und vertraut zugleich. Die Wände waren mit Werbung gepflastert, statt der provisorischen Suppenküche gab es einen Verkaufsautomaten. Ihr Herz begann heftig zu klopfen, als sie die ersten sieben Stufen bis zum Treppenabsatz genommen hatte, sich erneut nach links wandte und auch die letzten neunzehn Stufen in Angriff nahm. Sie zählte im Stillen mit. Es waren noch immer neunzehn, auch wenn es längst nicht mehr die engen Stufen von damals waren und die Treppe heutzutage natürlich viel besser beleuchtet war. Es gab Geländer an den Seiten und eines in der Mitte, aber der Weg war derselbe, jeder Schritt ihr in Fleisch und Blut übergegangen, und die Erinnerungen an die Hunderte von Malen, die sie diese Treppe benutzt hatte, brachen über sie herein und ließen ihr schummrig vor Augen werden, ihren Magen sich verkrampfen.

Wenn sie den Bahnhof erst mal hinter sich hatte, würde sie den Weg zu Barbaras Haus einschlagen, die alte Freundin wiedersehen, einen Tee mit ihr trinken. Babs hatte ihr vor ein paar Monaten geschrieben, ob sie nicht zur Gedenkfeier anlässlich des fünfzigsten Jahrestages zurückkommen wolle. Es schien zunächst eine gute Idee, aber jetzt war sie hier, nach so vielen Jahren, und mit einem Schlag war alles wieder da.

Eine Horde junger Leute kam die Treppe heruntergestürmt. Studenten, nahm sie an und versuchte ihnen auszuweichen, bis sie mit dem Rücken an die Wand stieß. Das Atmen fiel ihr auf einmal schwer, sie rang nach Luft. Ihr Herz raste, und sie wusste, dass es nicht von der kurzen Anstrengung des Treppensteigens kam. Es hatte mit den Ereignissen von damals zu tun, dem, was vor fünfzig Jahren an dieser Stelle geschehen war. In der Nacht, die ihr Leben für immer verändern sollte. Die eine Hand um den Griff ihres Koffers geschlossen, die andere auf der schwer sich hebenden Brust, ließ sie sich gegen die Wand sinken und versuchte, zu Atem zu kommen, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Nicht fallen«, flüsterte sie. »Nicht fallen.«

ERSTER TEIL

Herbst / Winter 1942

1

Es war ein heller, klarer Samstagnachmittag Ende September, einer dieser strahlend schönen Spätsommertage. Hinter Nellie lag eine arbeitsreiche Woche im Rathaus, wo sie eine Stelle im Büro der Bürgermeisterin hatte. Heute sehnte sie sich nach ein wenig Normalität, einem winzigen Vorgeschmack darauf, wie das Leben vor dem Krieg gewesen war – vor den Luftangriffen, den Rationierungen und dem nie abreißenden Strom schlechter Nachrichten aus dem Radio. Sie wollte mit ihrer kleinen Schwester Flo im Park picknicken. Der Tag war wie gemacht dafür, auch wenn es fast schon wieder zu heiß war, sodass man sich insgeheim den Herbst herbeisehnte, nur um sich gleich im nächsten Moment zu tadeln, das schöne Wetter mit solch undankbaren Gedanken womöglich in die Flucht zu schlagen. Regen und Kälte kämen noch früh genug, gefolgt von den kurzen Wintertagen, wo sie vor Sonnenaufgang zur Arbeit aufbrechen und abends durch verdunkelte Straßen zurücklaufen würde und jeder Schritt trügerisch war.

»Komm jetzt, Flo. Je eher wir im Park sind, desto mehr Zeit bleibt uns für unser Picknick«, sagte sie und zog ihre Schwester an der Hand.

Sie nahmen die vertrauten Wege durch Bethnal Green, wo sie geboren und aufgewachsen war, vorbei an den Ladenzeilen mit ihren kriegsbedingt mageren Auslagen. Gebrauchte Kleider, Hammel und Kaninchen beim Metzger (sie wusste nicht mehr, wann sie zuletzt Rindfleisch auf dem Teller gehabt hatte), eine Schlange beim Gemüsehändler, der frische Äpfel aus den Obstgärten von Kent im Angebot hatte. An der Ecke ragte die Seitenwand eines zerbombten Hauses auf, ein Vorhang flatterte einsam am Fenster. Sie wandte den Blick ab von den Trümmern, den ausgehöhlten Fassaden, wo einst Häuser gestanden hatten – Häuser wie ihr eigenes –, in denen Menschen gewohnt hatten, die, wenn nicht gar ihr Leben, so doch ihr Zuhause verloren hatten. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken und sich die gute Laune wieder verderben lassen.

»Wann bauen sie das wieder auf? Wann können die Leute in ihr Haus zurück?«, wollte Flo wissen und blickte an der Ruine hinauf.

»Wenn der Krieg vorbei ist, nehme ich an.« Nellie seufzte und rückte den Korb an ihrem Arm zurecht. Die Leute, die dort gelebt hatten, würden wahrscheinlich nie mehr zurückkehren. Das Haus hatte einen Volltreffer abbekommen, und wenn seine Bewohner sich nicht rechtzeitig in Sicherheit hatten bringen können, waren sie bei dem Angriff vermutlich umgekommen.

»Und wenn der Krieg einfach immer weitergeht?«

In letzter Zeit war oft von einer Bombardierung Münchens die Rede gewesen, und allein bei der Vorstellung bekam Nellie Bauchschmerzen. Jedes Mal, wenn die Briten erfolgreich eine deutsche Stadt bombardiert hatten, ließ der Vergeltungsschlag nicht lange auf sich warten. Und das bedeutete in der Regel, dass es London treffen würde und auch das Londoner East End einmal mehr unter Beschuss käme.

Ihre kleine Schwester konnte sich mit ihren sieben Jahren kaum an eine Zeit vor dem Krieg erinnern, und es gab keine Anzeichen für ein baldiges Ende. Und so, wie der Krieg Flo um eine unbeschwerte Kindheit brachte, hatte er Nellie ihrer Jugend beraubt mit all ihren Freuden und Vergnügungen. Wobei es mittlerweile nicht mehr so schlimm war wie noch am Anfang, als die Docks und die Lagerhäuser angegriffen worden waren, oder während des Blitz, als Hitler seine Bomber über bebaute Gebiete geschickt hatte, um die Moral der britischen Bevölkerung zu untergraben. Das war ihm aber nicht gelungen. Sie waren immer noch hier, ihr Kampfgeist war ungebrochen und an Kapitulation nicht zu denken. Wir werden uns niemals ergeben, hatte Churchill in seiner Rede zu Beginn des Krieges gesagt. Bei dem Gedanken an die Worte des Premiers schob Nellie entschlossen das Kinn vor.

»Es wird nicht immer so weitergehen, versprochen. Schau, wir sind fast da!«, versuchte Nellie ihre Schwester ein wenig aufzumuntern, als sie die Brücke über den Regent’s Canal überquert hatten und die beiden Hundestatuen passierten, die den Eingang zum Park bewachten. Wie immer musste Flo den beiden erst mal den Kopf kraulen, ehe es weitergehen konnte.

Der sonst so friedliche Victoria Park wurde dieser Tage größtenteils zu militärischen Zwecken genutzt. Im vorderen Teil war die Flugabwehr stationiert, im hinteren hatte man ein Kriegsgefangenenlager errichtet. Es gab nur noch wenige Orte, an denen man sich frei und unbeschwert bewegen konnte. Ein Abschnitt des Parks war weiterhin für die Öffentlichkeit zugänglich, und auch in den Seitenstraßen fanden sich zwischen den viktorianischen Häuserzeilen immer wieder kleinere Grünflächen, die etwas Erholung boten. Einige hatte man umgegraben, um Gemüse und Kartoffeln anzubauen, andere waren vorerst verschont geblieben, und es verging kaum ein Tag, an dem nicht ein Ball übers Grün gekickt wurde und die Jungs aus dem Viertel provisorische Fußballtore absteckten.

Ein Stück den Weg hinab gelangten sie an den See. Eine schmale Fußbrücke führte zu der kleinen Insel. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir als Kinder nicht auf diese Insel durften«, sagte Nellie. »Der Zutritt war nämlich bloß Erwachsenen gestattet.«

»Das heißt, du warst als Kind nie hier?«, fragte Flo und sah sie mit großen Augen an.

Nellie grinste. »Doch, war ich. Babs, Billy und ich waren sogar ziemlich oft hier. Während einer von uns den Parkwächter ablenkte, sind die beiden anderen flink über die Brücke gehuscht. Bis der Parkwächter uns entdeckte, waren wir schon einmal um die ganze Insel herum, und er konnte nicht viel mehr dagegen tun, als uns unter lauten Verwünschungen hinterherzujagen. Gekriegt hat er uns nie, wir waren nämlich immer schneller als er.«

Flo kicherte, und auch Nellie musste bei der Erinnerung lachen. Die guten alten Zeiten vor dem Krieg. Sie war noch zur Schule gegangen, Flo ein Baby. Und sie drei – sie, ihre beste Freundin Babs und Billy, Barbaras Bruder – waren unzertrennlich gewesen. Billy war ein Jahr älter als Nellie, Babs ein Jahr jünger. Beide wohnten gleich nebenan, und sie waren zusammen aufgewachsen. Jetzt war Nellie eine berufstätige junge Frau von achtzehn Jahren, die eine gute Stelle bei der Stadt hatte, sich also mit Fug und Recht erwachsen fühlen durfte, doch manchmal wäre sie am liebsten wieder Kind gewesen, um mit Billy und Babs im Park Verstecken zu spielen.

Und als hätte sie ihn mit ihren sentimentalen Gedanken heraufbeschworen, entdeckte sie eine vertraute Gestalt, die mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf sie zukam.

»Dachte ich mir’s doch, dass du das bist, Nellie Morris! Wollt ihr ein Picknick machen?« Billy deutete auf den Korb, der über ihrem Arm hing.

»Wir fanden, das schöne Wetter sollte man noch mal ausnutzen. Und Flo mag Picknicks so gern.«

»Sie mag es bestimmt auch, wenn man sie kitzelt«, sagte Billy und tat, als wolle er sich auf Flo stürzen, die laut kreischend davonrannte, Billy ihr dicht auf den Fersen. Nellie sah den beiden lachend hinterher. Billy war wie ein großer Bruder für sie, und sie mochte ihn sehr. In solchen Momenten war der Krieg plötzlich ganz weit weg, und vielleicht waren es diese kleinen, sorglosen Augenblicke, die sie alles überhaupt aushalten ließen.

Nach einer Verfolgungsjagd um die Insel tauchten die beiden wieder auf, Flo noch immer richtig aufgekratzt, Billy ziemlich außer Puste. »Mittlerweile hängt sie mich locker ab«, meinte er und rang mühsam nach Luft.

»Sei vorsichtig, Billy. Dein Asthma.«

Er nickte und griff nach den medizinischen Zigaretten, die er immer bei sich trug. Ein paar Züge davon versorgten seine Lunge mit dem darin enthaltenen Medikament, und das Pfeifen in der Brust ließ nach.

»Schon gut, ich weiß.« Er zündete eine Zigarette an und inhalierte tief. »Siehst du? Alles wieder gut. Was habt ihr denn Schönes zu essen dabei?« Er deutete auf den Picknickkorb, den Nellies Mutter für sie gepackt hatte.

»Sandwiches, Butterkekse ohne Butter, Zitronenlimonade. Em hat uns so viel einpackt, dass es locker für drei reicht.« Das stimmte zwar nicht ganz, es reichte kaum für sie und Flo, aber sie glaubte, es Billy zumindest anbieten zu müssen.

Doch er schüttelte den Kopf. »Klingt gut, aber ich habe nachher noch Dienst. Luftangriffe nehmen keine Rücksicht auf schönes Picknickwetter.« Er deutete einen spöttischen Salut an, zauste Flo die Haare und machte sich wieder auf den Weg.

Nellie sah ihn an zwei älteren Frauen vorbeigehen, eine der beiden führte einen Pudel an der Leine. Sie blickten ihm mit einem missbilligenden Kopfschütteln hinterher, und als der Hund Billy ankläffte, machten sie keine Anstalten, ihn zur Ruhe zu rufen. Wahrscheinlich hielten die beiden ihn für einen Kriegsdienstverweigerer, weil er heute nicht in Uniform war und sich einen schönen Tag zu machen schien. Sie konnten ja nicht wissen, dass er als Luftschutzwart arbeitete und so seinen Beitrag leistete. Wie ernst er seine Aufgabe nahm, wie viele Extraschichten er schob, wie viele Nächte er die in der Untergrundbahn Schutzsuchenden einwies und in den langen Stunden für Ordnung sorgte, obwohl die feuchte, stickige Luft dort unten seinen Atemwegen nicht zuträglich sein konnte.

Jeder trug seinen Teil zu den Kriegsanstrengungen bei. Ihr Vater Charlie war Lagerarbeiter in den Docks und leistete nebenher noch ein paar Schichten die Woche bei der Feuerwache, Babs arbeitete in der Textilfabrik, die Uniformen für die Armee herstellte.

»Nellie! Können wir endlich unsere Sandwiches essen? Die Krusten von den Broten will ich für die Enten aufheben. Schau mal, da drüben sind sie, und sie haben sogar Junge!«

»Wirklich? Dann lass uns gleich mal hingehen.« Nellie ließ sich von Flo zum Ufer ziehen. Und tatsächlich, im Schutz des Schilfs saß eine Entenfamilie mit ihrem Nachwuchs, und Nellie konnte Flo gerade noch davon abhalten, ins Wasser zu planschen, um die flauschigen kleinen Küken zu streicheln.

Im abgesperrten Bereich auf der anderen Seite des Parks standen die riesigen Flugabwehrgeschütze, die Flaks, deren Rohre schweigend gen Himmel gerichtet waren, bereit für ihren Einsatz beim nächsten Luftangriff. Doch hier, zu ihren Füßen, erinnerte die Natur sie daran, dass das Leben davon unberührt weiter seinen Lauf nahm.

Sie packten gerade ihre Sachen zusammen, als die Sirenen auch schon losheulten.

»Mitten am Tag?«, sagte Nellie verwundert, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Hastig verstaute sie alles im Korb und griff nach Flos Hand. »Komm, wir müssen los!«

»Aber wo sollen wir denn hin? Ich will nicht von einer Bombe getroffen werden!«, heulte Flo in heller Panik. Die U-Bahn-Station, in der sie normalerweise Schutz suchten, schien jetzt meilenweit entfernt, umso näher dafür die Flaks, die womöglich ein Ziel der deutschen Bomber waren. Nellie drängte sich die Vorstellung auf, wie die Abwehrgeschütze von einer Bombe getroffen wurden, die Schrapnellsplitter quer durch den Park flogen und sie beide treffen würden. Wie Flo blutüberströmt und leblos zu Boden sank … Nein, das durfte nicht geschehen! Sie musste ihre Schwester in Sicherheit bringen.

Am Eingang des Parks gab es einen Schutzraum, sie waren vorhin daran vorbeigekommen. Allerdings war es lediglich eine dieser in den Boden eingelassenen Wellblechkonstruktionen, aber das musste reichen. Denn alles war besser, als sich bei einem Luftangriff im Freien aufzuhalten. Und während Nellie mit Flo an der Hand losrannte, fegte schon ein ganzes Geschwader so tief über sie hinweg, dass sie mit bloßem Auge das Emblem der deutschen Luftwaffe an den Tragflächen erkennen konnte. Das dröhnende Kreischen der Motoren unterschied sich deutlich von denen der Royal Air Force, die meist in der entgegengesetzten Richtung unterwegs war, um deutsche Städte anzusteuern. Flo blieb stehen und starrte zu ihnen hinauf. Es musste das erste Mal sein, dachte Nellie, dass sie den Feind aus nächster Nähe zu Gesicht bekam, fanden die Luftangriffe doch in der Regel nachts statt. Nellies größte Sorge war, dass man aus den tief fliegenden Maschinen auf sie schießen könnte. Davor hatte sie im Augenblick noch viel mehr Angst als vor fallenden Bomben.

»Flo, wir müssen weiter!«, schrie sie und zerrte ihre Schwester hinter sich her, inständig hoffend, dass sie die Kleine beschützen konnte. Sie rannten, so schnell sie konnten, und als sie den Unterstand erreichten, stieß sie Flo schwer atmend vor sich her, bis sie beide in Deckung waren. Einmal in Sicherheit, zog sie ihre Schwester an sich und ließ ihre Wange auf Flos weichem, welligem Haar ruhen. Gott sei Dank, dachte sie, sie hatten es wieder mal geschafft.

»Mannomann, das war knapp«, sagte ein Junge, der einen kleinen Hund an sich drückte und selbst noch ganz außer Atem war. Er musste unmittelbar vor ihnen hergekommen sein.

»Aber wirklich. Ich weiß nicht, weshalb die Warnung so spät kam. Im nächsten Moment waren die Flieger schon über uns. Wir hatten kaum Zeit, in Deckung zu gehen.«

»Hat wohl keiner mit gerechnet, so am helllichten Tag. Wahrscheinlich halten unsere Jungs nur nachts nach dem Feind Ausschau.«

Nellie glaubte nicht, dass das stimmte, und zog Flo auf ihren Schoß. Hoffentlich hatten ihre Eltern und ihr Bruder sich in Sicherheit bringen können. Wie alle im East End hatten sie mittlerweile reichlich Erfahrung darin. Aber gewöhnen würde sie sich wohl nie daran. Bei jedem neuen Luftangriff war die Angst fast noch größer als zuvor, dass ihr Glück sie verlassen würde und diese eine Bombe für sie bestimmt war, ihr Leben mit einem Schlag ausgelöscht würde. Sie versuchte, tief durchzuatmen und sich zu beruhigen. Auf keinen Fall wollte sie vor Flo weinen oder ihr zeigen, wie sehr sie sich fürchtete.

Die Flaks begannen zu feuern, und das Knattern der Flugabwehrkanonen hörte sich aus der Nähe noch viel lauter und bedrohlicher an als sonst. Gleichwohl war es natürlich beruhigend zu wissen, dass die Stadt die Stellung hielt und sich zu verteidigen wusste. In dem Unterstand, der ihnen notdürftig Schutz gewährte, war gerade mal für eine Handvoll Menschen Platz. Sitzgelegenheiten bot eine einfache Holzplanke, der Boden war aus festgetretener Erde. Es war kein Vergleich zu dem unterirdischen Labyrinth der Bahnstation, mit dem sie mittlerweile vertraut waren. Dort hatten sie Stockbetten und Toiletten, es wurde Tee und warmes Essen ausgegeben, sogar Filmvorführungen gab es, eine Bibliothek und eine Bühne, um sich die langen Stunden bangen Wartens zu vertreiben.

»Nur gut, dass wir nicht bei jedem Luftangriff hierher-müssen, was, Flo?«, sagte sie und schloss die Arme fester um ihre Schwester. Flo nickte und schmiegte sich enger an sie. Es war beängstigend, in diesem Verschlag zu hocken, während man den ohrenbetäubenden Lärm der Flieger hörte, das Feuern der Flaks und die Einschläge der Bomben. Die Erschütterungen waren bis hierher zu spüren und gingen ihr durch Mark und Bein. In den Tunneln der Untergrundbahn drangen die Geräusche des Krieges nur gedämpft zu ihnen und waren leichter auszuhalten. Außerdem waren dann auch Em und Charlie und George bei ihnen, und Nellie trug nicht allein die Verantwortung für Flo. Und sie brauchte sich nicht um ihre Eltern und ihren Bruder zu sorgen, denn sie waren ja bei ihr. Sie blinzelte eine Träne fort und bemühte sich, allen Widrigkeiten zum Trotz ruhig und gefasst zu bleiben.

Als der Lärm der Flugzeuge und Geschütze schließlich verstummte, heulte die Entwarnungssirene auf. Nellie nahm Flo bei der Hand, und sie machten sich durch die staubige Luft und neu entstandene Trümmerfelder auf den Heimweg. Kaum waren sie in die Morpeth Street eingebogen, deren lange Reihen ziegelroter Häuser zum Glück unversehrt standen, sahen sie George auch schon die Tür aufreißen und, gefolgt von ihrem Vater, hinaustreten.

»Ich war draußen auf der Straße, als die Bomber kamen!«, rief George ihnen aufgeregt entgegen. »Die waren so nah, man hätte ihnen die Bäuche aufschlitzen können!«

»Wir haben sie vom Unterstand im Park aus beobachtet«, sagte Nellie mit einem Schaudern, als sie daran dachte, wie jäh sie herabgeschossen, wie dicht über dem Boden sie geflogen waren.

»Ich konnte das Weiße ihrer Augen sehen!«, fuhr George atemlos fort. »Einer von ihnen hatte so helle blonde Locken wie Flo. Ich hab mich schnell ins Gebüsch geschlagen, bevor sie mich abschießen konnten!«

Charlie sah ihn streng an. »Was hattest du draußen auf der Straße zu suchen, Junge? Wenn die Sirene losgeht, sollt ihr in einen Schutzraum gehen, wie oft muss ich es denn noch sagen?«

»Wollte ich ja auch, Dad, aber …«

»Du sollst dich nicht so weit vom Luftschutzbunker entfernen, hörst du? Dann kannst du dich direkt dorthin begeben«, sagte Charlie mit erhobenem Zeigefinger.

»Und Nellie und Flo? Die waren im Park doch meilenweit von der Bahnstation entfernt!«

Nicht mal eine halbe Meile, du Schaf«, sagte Nellie und warf ihrem Bruder einen bösen Blick zu.

»Wenigstens waren sie im Unterstand.« Charlie fuhr sich aufgebracht mit der Hand durchs Haar, als begreife er erst jetzt, wie knapp seine Kinder an diesem trügerisch schönen Septembertag mit dem Leben davongekommen waren. Nellie fröstelte bei dem Gedanken, Flo wäre etwas zugestoßen. Das hätte sie sich niemals verzeihen können.

Sie umarmte ihren Vater und küsste ihre Mutter, die nun auch an der Tür aufgetaucht war und sie alle zurück ins Haus scheuchte. »Uns ist nichts passiert. Und jetzt sind wir alle wieder hier in Sicherheit. Aber dass sie tagsüber angreifen, ist neu, oder? Hoffentlich wird es nicht mehr so schlimm wie beim Blitz.« In den ersten Kriegswochen hatte es fast jede Nacht schwere Luftangriffe gegeben, und sie hatten mehr Zeit im Bunker als zu Hause verbracht. Nellie konnte den Gedanken nicht ertragen, diese Schrecken noch einmal erleben zu müssen.

»Das wollen wir mal nicht hoffen«, sagte Charlie düster. »Dieser verdammte Krieg. Kaum hat man sich dran gewöhnt und denkt, man wird schon irgendwie damit fertig, kommen sie mit was Neuem um die Ecke. Uns an diesem sonnigen Samstagnachmittag anzugreifen … Das gehört sich einfach nicht.«

Nellie wollte gerade etwas erwidern, als es klopfte. »Das werden Ruth und John sein«, sagte Em und eilte an die Tür, um ihnen aufzumachen.

Aber es war nur John mit einem schwarzen Windhund an der Leine. »Charlie, Em«, sagte er. »Ruthie lässt sich entschuldigen. Dieser Luftangriff eben hat sie völlig aus der Bahn geworfen.«

Seit Nellie denken konnte, kamen ihre Tante und ihr Onkel samstagnachmittags zum Tee. Es gab Kuchen, sie spielten Karten, es wurde geplaudert und gelacht. Es war eine heilige Familientradition, an der auch der Krieg nicht hatte rütteln können.

Ruth war Charlies Schwester, und Nellie stand den beiden von klein auf sehr nah. Immer wenn es mit ihren Eltern Ärger gab, flüchteten Nellie und Babs sich einfach zu Ruthie und John, wo sie mit offenen Armen empfangen wurden. Ruth fütterte sie mit Keksen durch und bot ihnen an, doch ganz bei ihnen zu bleiben. Spätestens am Abend bekamen sie dann aber Heimweh und wollten wieder nach Hause. Em und Mrs. Waters wussten unterdessen jedes Mal, wo sie steckten, denn Ruth pflegte einen Nachbarsjungen loszuschicken, um den Müttern Bescheid zu geben. Aber das hatten sie erst später erfahren.

»Grüß sie von mir«, sagte Charlie. Nellie wusste, dass er sich Sorgen um die Gesundheit seiner Schwester machte. Und für einen Mann, der daran gewöhnt war, beherzt anzupacken und die Dinge in Ordnung zu bringen, war es schwer zu ertragen, dass er nichts gegen die Tuberkulose ausrichten konnte, an der sie seit Jahren litt und die sich durch die vielen, in der klammen Kälte des Luftschutzkellers verbrachten Nächte deutlich verschlimmert hatte.

Der Krieg hatte sie noch enger zusammengebracht. Man war aufeinander angewiesen, half einander aus, wo es nur ging. Es tat Nellie in der Seele weh, dass ihre Tante heute nicht hier sein konnte.

Sie blickte auf den Hund, der an ihrer Hand schnüffelte. »Ist der neu? Wo ist Oscar?«

John lachte. »Das ist doch Oscar! Sag bloß, du erkennst ihn nicht.«

Nellie runzelte die Stirn. Oscar hatte braun geschecktes Fell. Dieser Hund war schwarz, doch leckte er ihr so vertraut die Hand, als würde er sie schon seit Jahren kennen.

»Versuchst du es wieder mit dem alten Trick?«, fragte Charlie lachend.

»Klar. Hat schließlich schon mal geklappt.«

»Was denn für ein Trick?«, wollte Nellie jetzt wissen.

Ihr Onkel beugte sich zu ihr vor und senkte die Stimme. »Oscar ist ein Gewinner, das hat sich herumgesprochen. Mal ihn schwarz an und trag ihn unter neuem Namen ein. Keiner kennt ihn, er tritt als Außenseiter an. Du setzt alles auf ihn, er streicht den Sieg ein und du das Geld.« Er zwinkerte ihr zu. »Bloß, weil Krieg ist, kann man sich doch ein gutes Geschäft nicht entgehen lassen.«

Charlie war auf einmal ganz Ohr. »Wo läuft er denn und unter welchem Namen? Vielleicht versuche ich auch mein Glück, kann ja nicht schaden.«

»Walthamstow, heute Abend um acht. Geh am besten gleich ins Wettbüro, Charlie. Er tritt als Lord of the Darkness an.«

Nellie lachte. »Meine Güte, wie dramatisch! Dann drücke ich Oscar die Daumen. Sag Tante Ruthie Grüße und gute Besserung von mir. Es tut mir leid, dass sie heute nicht kommen konnte.«

Em trat mit dem in Papier eingewickelten Shortbread aus der Küche. »Hier, nimm das ruhig für Ruth mit, dann hat sie was Schönes zum Tee. Aber pass auf, dass der Hund es nicht frisst.«

»Danke, Em. Darüber wird sie sich freuen. Oh, und das soll ich euch geben. Wir haben noch genug und brauchen die hier nicht.« Er drückte Nellie ein paar Lebensmittelmarken in die Hand.

»Danke, Onkel John«, sagte sie mit einem Lächeln.

»Man gibt, was man kann. So, alter Junge, auf geht’s.« John nickte ihnen zum Abschied zu und machte sich mit dem Hund wieder auf den Weg. Charlie und Nellie winkten ihnen noch kurz hinterher, ehe sie die Tür schlossen.

So war es schon immer gewesen, eine Hand wusch die andere. Man teilte mit den Nachbarn, mit Freunden und Verwandten. Jeder versuchte das Beste aus den Gegebenheiten zu machen, und man freute sich an kleinen Aufmerksamkeiten. Und wenn irgendwann wieder bessere Zeiten kämen, hätte man vielleicht auch nicht mehr, aber solange jeder ein bisschen nach dem anderen schaute, war immer für alle gesorgt.

2

»Mum, kann ich mir deinen Schirm borgen?«, fragte Nellie, als sie am Montagmorgen, der sich kühl und regnerisch anließ, zur Arbeit aufbrechen wollte.

»Tut mir leid, Liebes, aber ich muss nachher noch raus, sonst haben wir heute Abend nichts zu essen. Ist ja schön und gut, wenn dein Vater beim Hunderennen unsere Haushaltskasse aufbessert, aber wer muss am Ende trotzdem im Regen Schlange stehen? Hier, setz die auf.« Em warf Nellie eine Regenhaube zu, die ihre besten Tage lange hinter sich hatte.

»Dieses hässliche Ding? Da sind meine Locken ja gleich hinüber«, maulte Nellie, setzte sie aber auf, blieb ihr doch kaum eine andere Wahl, wollte sie auf dem zehnminütigen Fußweg zur Arbeit nicht klatschnass werden.

»Sieh lieber zu, dass du nicht zu spät kommst. Oh, und könntest du nach der Arbeit die Wäsche deiner Tante bei Mrs. Denning abholen und sie ihr vorbeibringen? Es liegt auf deinem Weg, und Ruth freut sich bestimmt, dich zu sehen.«

»Kann ich machen«, versprach Nellie, gab ihrer Mutter einen Kuss zum Abschied und machte sich auf den Weg.

Als sie die Morpeth Street hinabeilte, hörte sie hinter sich eine vertraute Stimme. »Nellie Morris! Was ist denn das für ein schicker Hut?« Sie drehte sich um und sah Billy sie angrinsen.

»Ich weiß, er ist furchtbar!« Es regnete zu stark, als dass sie sich mit einem Plausch hätte aufhalten wollen, also winkte sie bloß kurz und eilte weiter.

»Wenn ich dich eines Tages heirate, sollst du zu unserer Hochzeit bitte auch so einen reizenden Hut tragen«, rief er ihr hinterher.

»Da kannst du lange warten!«, rief sie zurück, denn er sagte es seit Jahren. Seit sie fünfzehn war und er sechzehn und sie ein bisschen zu flirten begonnen hatten, sodass ihre Eltern sofort davon überzeugt gewesen waren, sie würden eines Tages heiraten. Nellie mochte ihn, sie mochte ihn sogar sehr, aber sie glaubte nicht, dass sie heiraten würden. Es war einfach bloß ein kleines Geplänkel unter Freunden. Hin und wieder gefiel ihr die Vorstellung zwar, mit ihm zusammen zu sein, gemeinsam alt zu werden. Er würde bestimmt einen guten Ehemann abgeben, gar keine Frage. Aber sie wollte mehr vom Leben, als einfach den netten Jungen von nebenan zu heiraten, den sie seit Kindertagen kannte und der am liebsten sein ganzes Leben im East End verbringen wollte. Sie hingegen wollte reisen, etwas von der Welt sehen. Und wenn der Krieg erst mal vorbei wäre, beabsichtigte sie, genau das zu tun.

Billy blickte ihr hinterher. Nellie wusste nichts von seinen wahren Gefühlen für sie. Wie hätte sie es auch wissen sollen, er hatte es ihr schließlich nie gesagt. Seine Sorge war, auch ihre Freundschaft zu verlieren, wenn er sich dumm anstellte und sie ihn abwies. Und deshalb behielt er seine Gefühle für sich, wenngleich es ihm mit jedem Tag schwerer fiel, sich nichts anmerken zu lassen. Er wusste, dass sie in ihm nur den »Jungen von nebenan« sah, einen großen Bruder, den Freund aus Kindertagen. Jemand, mit dem man lachen und sich streiten konnte, in den man sich aber nicht verliebte. Aber das wollte er ändern. Er wusste bloß noch nicht, wie. Irgendwie musste er ihr beweisen, dass er gut für sie war und sie ein schönes Leben zusammen haben könnten. Vor dem Krieg hatte es eine Zeit gegeben, da sie oft zu zweit im Park gewesen waren. Nicht wie als Kinder, wo sie stundenlang Verstecken gespielt hatten, sondern ganz erwachsen, auf einer Bank sitzend, während sie sich unterhalten hatten. Er hatte den Arm um sie gelegt und sie den Kopf an seine Schulter geschmiegt, und wenn sie ihm dann von ihren Träumen erzählt hatte, hatte er sich immer eine Zukunft mit ihr vorgestellt.

Er war in der Morpeth Street geboren und aufgewachsen, genau wie sie. Er fand hier alles, was er sich wünschte, einschließlich Nellie. Aber er wusste auch, dass sie mehr vom Leben wollte. Wäre der Krieg nicht gewesen, hätte es sie längst aus Bethnal Green fortgezogen. Sie wollte reisen, die Welt sehen, etwas erleben – wie oft hatte sie ihm davon mit einer Sehnsucht erzählt, die ihm völlig fremd war und die er nur schwer nachvollziehen konnte. Und er würde ihr dergleichen auch nicht bieten können. Er konnte ihr nur seine Liebe bieten, lebenslange Treue und Geborgenheit und hoffen, dass das eines Tages auch einem so klasse Mädchen wie Nellie Morris genügen würde. Dem Mädchen, das einst über Wochen sein gesamtes Taschengeld gespart hatte, um ihm ein Etui für seine Asthmazigaretten zu kaufen. Er besaß es noch immer und dachte jedes Mal an sie, wenn er es herausnahm. Dem Mädchen, das ihm einmal bis zur Roman Road hinterhergerannt war, weil er sein Pausenbrot zu Hause vergessen hatte. »Was würdest du bloß ohne mich machen, Billy Waters?«, hatte sie gesagt und ihn in die Wange gekniffen. Ja, was würde er ohne sie machen? Er sollte sie einfach um eine Verabredung bitten. Vielleicht nicht gleich morgen, aber bald. Sowie er den Mut dazu aufbrachte.

Nellie gefiel ihre Arbeit für die Bürgermeisterin von Bethnal Green. Angefangen hatte sie als Schreibkraft, aber bald schon war sie zur Sekretärin von Mrs. Margaret Bolton aufgestiegen. Sie verstand sich gut mit ihrer Chefin, und die Tätigkeit war interessant und abwechslungsreich. Mr. Bolton, ihr ehemaliger Lehrer und Gatte der Bürgermeisterin, hatte sie seiner Frau empfohlen. Percy Bolton war mittlerweile pensioniert, diente jetzt aber als Oberster Luftschutzwart und war somit Billys Vorgesetzter. Die Mädchen, die sie sonst kannte, arbeiteten alle entweder wie Babs in der Textilherstellung oder in einer der Munitionsfabriken. Am Anfang hatte Babs noch edle Dessous genäht, die in den Kaufhäusern und Boutiquen des West End verkauft wurden, aber mittlerweile war die Produktion auf Uniformen und Arbeitskleidung umgestellt worden, sehr zum Bedauern ihrer Freundin.

Die Arbeit im Rathaus gab Nellie das Gefühl, mitten im Herzen von Bethnal Green zu sein. Oft erfuhr sie als Erste, was im Bezirk vor sich ging, und sie genoss diesen Anflug von Bedeutsamkeit.

»Du bist zu ehrgeizig, das ist dein Problem«, sagte Em gerne, doch stets schwang dabei Stolz in ihrer Stimme mit.

»Zu clever für Bethnal Green. Mein Mädchen wird es noch weit bringen, wartet’s nur ab«, erwiderte Charlie darauf mit strahlender Miene.

Nellie hoffte, dass sie recht behielten. So sehr sie Bethnal Green auch mochte, zog es sie doch hinaus in die Welt. Sie wollte mehr sehen als diese kleine, bescheidene Ecke von London. Sie wollte etwas erleben. Die Welt nicht bloß bereisen, sondern etwas bewirken. Und das würde sie auch – wenn denn der Krieg nur erst vorbei wäre.

»Guten Morgen, Gladys«, rief Nellie auf dem Weg nach oben einem der Mädchen im Schreibbüro zu, mit dem sie oft die Mittagspause verbrachte.

»Morgen, Nellie. Bei dem Wetter wachsen einem Kiemen, was?«

»Das kannst du laut sagen«, sagte Nellie lachend und eilte weiter, um aus ihrem nassen Mantel zu kommen und sich die Füße am Heizkörper zu trocknen. Das war übrigens auch ein Vorteil, für die Stadt zu arbeiten – das Gebäude verfügte über eine Zentralheizung, von der Nellie inständig hoffte, dass sie heute zuverlässig ihren Dienst versah.

»Guten Morgen«, sagte Mrs. Bolton, als Nellie ins Büro kam und ihren Mantel an den Garderobenständer hängte. »Um zehn Uhr habe ich eine Besprechung, bei der Sie Protokoll führen müssten, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie vorher noch diese Briefe abtippen könnten.«

»Ich fange sofort damit an.« Nellie hatte Stenografie und Maschineschreiben auf der Schule gelernt und verdankte ihre Beförderung der Schnelligkeit und Effizienz, mit der sie beides beherrschte. Sie spannte ein neues Blatt Papier in die Schreibmaschine, legte ihre Notizen bereit und machte sich an die Arbeit.

Bis um zehn waren sämtliche Briefe erledigt und ihre Füße wieder warm. Sie schob die Zehen in die leider noch immer feuchten Schuhe und folgte Mrs. Bolton in den Besprechungsraum, wo sie bereits von einem Mann im Tweedjackett erwartet wurde. Er stand auf, als sie eintraten, und gab Mrs. Bolton die Hand.

»Frau Bürgermeisterin. Sehr erfreut, Sie wiederzusehen.«

»Mr. Smith, guten Morgen. Das ist Miss Morris, die unser Gespräch protokollieren wird. Nellie, Mr. Smith ist Ingenieur und wurde von mir mit der Inspektion des Luftschutzbunkers Bethnal Green beauftragt, um für den Betrieb erforderliche Sicherheitsempfehlungen abzugeben. Ich hatte beim Zivilschutz die nötigen Mittel angefragt, um den Eingangsbereich sicherer zu gestalten, aber meiner Bitte wurde nicht stattgegeben. Mr. Smith, ich hoffe, heute von Ihnen die nötigen Argumente zu hören, um meinen Antrag durchzubringen.« Sie wandte sich dem Ingenieur zu. »Sie haben Ihre Inspektion vor Ort abgeschlossen und können uns heute Ihren Bericht liefern?«

Er nickte. »Zunächst einmal sollten wir festhalten, dass es wirklich ein Glücksfall für den Bezirk war, bei Ausbruch des Krieges auf die Tunnelanlage zurückgreifen zu können. Wie Sie wissen, ist die Station Bethnal Green Teil der geplanten Verlängerung der Central Line, die das East End ans Zentrum Londons anbinden soll. Die Schienen waren noch nicht verlegt, und die Station wurde somit noch nicht für den Zugverkehr genutzt.«

Nellie nickte. Sie freuten sich alle auf die Eröffnung der Untergrundbahn, wenn der Krieg endlich vorbei wäre. Mit der U-Bahn käme man von Bethnal Green schneller und bequemer ins West End als mit dem Bus, was immer sehr langwierig und umständlich war. Nellie wollte endlich auch das Gefühl haben, am Londoner Großstadtleben teilhaben zu können, sie wollte mit Babs durch die schicken Geschäfte bummeln und nach neuen Kleidern Ausschau halten oder sich in den Kosmetikabteilungen der Kaufhäuser beraten lassen. Ja, sie könnten sogar ins Theater gehen!

»Aufgrund der großen Tiefe«, fuhr Mr. Smith fort, »sind die Voraussetzungen für einen Luftschutzbunker dieses Aufnahmevermögens geradezu ideal erfüllt. Wer es einmal auf die Gleisebene geschafft hat, ist zu hundert Prozent sicher vor Einschlägen. Allerdings …«

»Allerdings?«, hakte Mrs. Bolton nach.

Der Ingenieur räusperte sich. »Der Zugang macht mir Sorgen, vor allem die Treppe von der Straßenebene in die Schalterhalle. Dieser Bereich ist noch nicht fertiggestellt, es handelt sich um ein Provisorium. Ich habe ihn mir sowohl bei Tag als auch bei Nacht gründlich angesehen und etliche Schwachstellen entdeckt.«

Nellie blätterte auf eine neue Seite um und wartete, dass Mr. Smith seinen Bericht fortsetzte.

»Zwar ist der Eingang für die übliche Nutzung durchaus angemessen, aber ich halte ihn für unsicher, wenn nicht gar bedenklich, sollte eine große Menschenmenge in kürzester Zeit hineinzugelangen versuchen. Zum einen haben wir natürlich die unzureichenden Lichtverhältnisse. Es gibt nur eine Glühbirne von geringer Wattzahl, die wegen der Verdunkelungsverordnung auch noch abgeblendet werden muss, sodass kein Licht bis zur Straße gelangt. Das entspricht zwar den Vorgaben, stellt aber ein Problem dar. Zudem fehlen Geländer, sowohl an den Seiten als auch in der Mitte, wo ein Handlauf den Strom der Menschen in geordnete Bahnen lenken könnte. Die oberen Türen öffnen sich zudem nur nach innen, lassen sich also nicht oder nur schlecht wieder schließen, sollte der Andrang zu groß werden oder die Station an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit gelangen.« Er räusperte sich. »Und die Stufen der Treppe sind bei Nässe ausgesprochen rutschig, muss man leider sagen, viele sind ausgetreten und wurden nie richtig begradigt.«

»Verstehe«, sagte die Bürgermeisterin nachdenklich. »Der Zugang ist allerdings seit Beginn des Krieges ohne größere Vorkommnisse in Gebrauch. Was genau, befürchten Sie, könnte passieren, wenn hier nichts unternommen wird?«

»Es könnte zu Unfällen kommen, im schlimmsten Fall zu einer Katastrophe. Ich denke, wir hatten bislang einfach großes Glück, dass nichts passiert ist. Aber sollte eine große Menschenmenge auf einmal hineinwollen, sollte es zu Unruhe oder gar einer Panik kommen, braucht nur jemand zu stolpern, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Auch diese Holzkonstruktion am Eingang würde einem Ansturm nicht standhalten. Im Grunde grenzt es an ein Wunder, dass bei den gegebenen baulichen Verhältnissen und Umständen der Nutzung noch niemand zu Schaden gekommen ist.« Der Ingenieur lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, offenbar zufrieden mit seinem vernichtenden Urteil.

»Und was kann man tun, um solche Unfälle zu verhindern?« Mrs. Bolton gab Nellie mit einem Blick zu verstehen, dass sie auch weiterhin alles mitschreiben sollte, und Nellie nickte verständig. Doch ihre Gedanken kreisten um das, was sie eben gehört hatte. Darum, wie oft sie selbst diese Treppe genommen hatte und dass sie ihr immer als sichere Zuflucht erschienen war, die hinabführte an den Ort, wo sie vor den Luftangriffen von oben geschützt war. Sollte die eigentliche Gefahr zu ihren Füßen gelauert haben? Sie biss sich auf die Lippe, als sie daran dachte, wie oft sie alle die Stufen hinabgeeilt waren, während draußen die Sirenen heulten. Sollte das wirklich so gefährlich sein, wie Mr. Smith es darstellte?

»Würde man die provisorische Holzverkleidung durch von Betonpfeilern gestütztes Mauerwerk ersetzen«, begann er seine Vorschläge auszuführen, »und den Eingang mit einer soliden Tür versehen, die sich nach außen öffnen oder besser noch schieben ließe, würde sich die Gefahr, dass die bestehende Abschrankung unter einem großen Menschenandrang einstürzt, schon mal aus der Welt schaffen lassen. Der Eingang könnte auch vorübergehend geschlossen werden, um den Zustrom von Menschen zu regulieren. Eine vollständige Überdachung bis hinauf zur Straße böte zudem die Möglichkeit einer besseren Beleuchtung des Abgangs. An den Stufen sollten am besten Metallkanten angebracht werden, in der Mitte der Treppe ein Handlauf. Diese Arbeiten sollten nicht länger als drei oder vier Tage in Anspruch nehmen, und die Station könnte im Fall eines Luftangriffs auch weiterhin als Schutzraum genutzt werden.«

Nellie stenografierte, so schnell sie konnte, um jeden einzelnen der angeführten Punkte festzuhalten.

»Danke, Mr. Smith. Das war wirklich sehr hilfreich, und Ihre Vorschläge, wie sich der Eingang zur Station sicherer gestalten ließe, dürften von unschätzbarem Wert sein.« Mrs. Bolton stand auf und schüttelte dem Ingenieur zum Abschied die Hand.

Nellie folgte ihr zurück ins Büro. »Tippen Sie mir das mal schnell ab, Nellie. Ich brauche das Protokoll, um einen Brief zu diktieren. Wir werden beim Londoner Zivilschutz erneut um eine Genehmigung ersuchen und die nötigen Mittel für die baulichen Maßnahmen beantragen. Wenn man dort erst mal Mr. Smith’ Gutachten auf dem Tisch hat, sollte das eine reine Formsache sein. Es klang jetzt nicht so, als würde es besonders kostenintensiv oder zeitaufwendig werden. Wenn wir Glück haben, ist das Ganze Ende nächsten Monats schon erledigt, wenn nicht sogar früher.«

Nellie machte sich sofort daran, die Notizen abzutippen. So kannte sie ihre Chefin – eine Frau der Tat, für die das Wohl der Allgemeinheit stets Vorrang hatte. Nellie war stolz, für sie zu arbeiten.

Bis zum Feierabend war der Bericht fertig, der Brief diktiert und getippt. »Werfen Sie ihn gleich in den Postausgang, Nellie. Je eher dieser Brief rausgeht, desto schneller bekommen wir grünes Licht. Morgen fangen wir am besten schon mal an, uns über die Auftragsvergabe Gedanken zu machen. Wir brauchen Leute, die das alles genau nach Mr. Smith’ Vorgaben ausführen können.«

»Bevor die Finanzierung geklärt ist?«

»Ich gehe davon aus, dass sie bewilligt wird, schließlich handelt es sich um eine Frage der öffentlichen Sicherheit. Mit Mr. Smith’ Expertise im Rücken wird man uns nicht erneut eine Absage erteilen.«

Nellie hoffte, dass ihre Chefin recht behielt. Sie waren es den Menschen schuldig, den Ort, an dem sie Schutz suchten, so sicher wie möglich zu gestalten.

3

»Schön, dich zu sehen, Nellie. Und danke, dass du das für uns erledigst«, sagte John, als er ihr die Tasche mit der Wäsche abnahm. »Deine Schwester ist auch hier, ein richtiger kleiner Sonnenschein. Ist schon das dritte Mal diesen Monat, dass sie vorbeischaut, um Ruth ein bisschen aufzuheitern.«

Nellie ging durch in das behagliche Wohnzimmer, wo Ruth sich samt ihrem Bettzeug auf dem Sofa eingerichtet hatte. Flo hockte neben ihr auf dem Boden und erzählte ihr, was sie mit ihren Schulfreundinnen heute alles erlebt hatte.

»Nellie! Grüß dich, Liebes. Oh, du hast mir meine Wäsche mitgebracht? Danke, das wäre wirklich nicht …« Ruth brach mit einem Hustenanfall ab und hielt sich das Taschentuch, das sie immer griffbereit hatte, vor den Mund.

»Geht es dir besser, Tante Ruth? Hallo, Flo.« Nellie beugte sich herab und drückte ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange.

»Ach je, Liebes, besser wäre übertrieben, aber ich will nicht klagen. Tut mir leid, dass ich es am Samstag nicht zum Tee geschafft habe, aber der Schreck saß mir noch zu sehr in den Knochen.«

John schüttelte traurig den Kopf. »Sie sollte in einem Sanatorium auf dem Land sein, irgendwo im Grünen, nicht hier in London, wo so viel Dreck und Abgase die Luft verpesten. Und dann die ständige Angst vor den Deutschen. Dauernd runter in den Bunker, das war nicht gut für sie, die vielen Nächte, die wir während des Blitz unten in diesen feuchtkalten Tunneln verbracht haben. Hätte ich gewusst, was das mit ihr machen würde, hätte ich gesagt, lass uns einfach hierbleiben und in unserem alten Morrison das Beste hoffen. Wozu haben wir das Ding denn.«

»Du könntest doch zu Mrs. Thompson! Da war ich, als sie mich verschickt haben«, schlug Flo vor. »Sie hätte bestimmt nichts dagegen.«

Während des Blitz hatte es fast jede Nacht Luftangriffe gegeben. Bethnal Green war, wie der gesamte Londoner Osten, schwer getroffen worden, ganze Häuserzeilen waren ausradiert. In der Morpeth Street, wo Nellie lebte, waren drei Häuser über Nacht verschwunden, und als sie am nächsten Morgen aus dem Bunker gekommen und in ihre Straße zurückgekehrt waren, tat sich an der Stelle ein rauchendes Trümmerfeld auf. Ihr eigenes Haus war verschont geblieben, lediglich die Fenster waren durch die Druckwelle zu Bruch gegangen. Danach hatte Charlie sie mit einem wirren Kreuzgitter aus Klebeband versehen, um zu verhindern, dass die Glassplitter ins Zimmer flogen und die Möbel beschädigten, sollte es noch mal geschehen.

Damals waren sie glücklicherweise bloß zu dritt gewesen, wenn es hieß, sich beim ersten Heulton der Sirenen ihre Sachen zu schnappen und hinüber zum Bunker zu eilen. George und Flo waren wie so viele Londoner Kinder zu Beginn der Luftangriffe evakuiert worden, hatten ein Jahr im ländlichen Dorset verbracht und waren erst zurückgekehrt, als das Schlimmste überstanden war. Seither war die Familie zusammengeblieben und hatte die glücklicherweise selten gewordenen Bombennächte gemeinsam in der Bahnstation durchgestanden.

»Das ist lieb von dir, aber sie verschicken leider bloß Kinder, keine Kranken«, erwiderte John mit einem Lächeln.

Nellie überlegte, ob sie dem Onkel und der Tante davon erzählen sollte, was sie vorhin bei der Arbeit gehört hatte. Ihr Blick fiel durch die offene Küchentür auf den an einen Käfig erinnernden Morrison-Bunker. John und Ruth nutzten ihn tagsüber als Tisch und hatten wohl auch schon manche Nacht darin zugebracht, in der sie es nicht mehr zum offiziellen Luftschutzraum geschafft hatten. Der Morrison war allerdings kaum besser als der Wellblechunterstand im Park. Er sollte vor herabfallenden Trümmerteilen schützen – einem direkten Einschlag würde er nicht standhalten. Aber wie groß war denn die Wahrscheinlichkeit, dass man jetzt noch getroffen wurde? Es war nicht mehr wie während des Blitz, als das East End jede Nacht angegriffen worden war. Noch immer sah man deutsche Bomber am Himmel, aber meist steuerten sie andere, weiter entfernt gelegene Ziele an.

»Wahrscheinlich hast du recht, Onkel John«, sagte sie. »Wozu sollte Tante Ruth den weiten Weg zur Bahnstation auf sich nehmen, wenn es ihr nicht gut geht? Der Morrison bietet ja auch Schutz und macht euch viel weniger Umstände.«

Sie streckte die Hand aus und strich ihrer Tante über den Arm. Den beiden würde hier schon nichts passieren, sagte sie sich. Und wenigstens musste Ruth dann nicht diese steile Treppe hinunter.

Während sie sich umschaute, fielen ihr dunkle Spuren auf dem Linoleum auf und ein schwarzer Fleck auf einem der Sessel im Wohnzimmer. Die waren bei ihrem letzten Besuch definitiv noch nicht da gewesen. Aber sie wollte nichts sagen, denn Ruth ging es sichtlich nicht gut genug, um an Hausputz auch nur zu denken, und John war in seinen Einstellungen zu altmodisch, als dass er selbst zum Scheuerlappen gegriffen hätte.

Sie beschloss, das Thema zu wechseln. »Und Oscar hat am Samstag gewonnen?«

Ihr Onkel grinste. »Klarer Sieger. Wir sind sehr stolz auf ihn, nicht wahr, Ruthie?«

Ruth sah nicht gerade begeistert aus. »Natürlich sind wir das, aber … Erzähl ihr doch, was heute Morgen passiert ist, John.«

»Also, was soll ich sagen … Es hat geregnet, und ich war noch nicht dazu gekommen, die Farbe aus seinem Fell zu waschen. Ich habe mit ihm eine Runde gedreht, und als wir zurückkamen, ist er geradewegs hier reinmarschiert, und na ja, so sieht’s jetzt aus.« John deutete auf die schwarzen Flecken am Boden und im Sessel. »Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie er da raufgesprungen ist. Und die Farbe lief in Strömen von ihm runter. Jetzt liegt Ruthie mir die ganze Zeit in den Ohren, dass ich die Sauerei endlich wegmachen soll, aber du weißt ja, wie es ist …«

Nellie musste sich das Lachen verkneifen und verzog mitfühlend das Gesicht. »Oh, du Armer. Und Oscar hat wieder seine ursprüngliche Farbe?«

John nickte. »Ich konnte meinen Champion doch nicht so rumlaufen lassen und habe vollendet, was der Regen begonnen hat. Und wegen dem hier muss ich mir auch noch was einfallen lassen.« Er kratzte sich am Kopf.

»Ich könnte morgen vor der Arbeit vorbeikommen und dir helfen«, bot Nellie an. »Ich würde es ja sofort machen, aber bei uns steht bestimmt schon das Abendbrot auf dem Tisch, und Mum kann es nicht leiden, wenn man zu spät zum Essen kommt.«

Flo schaute Nellie mit leuchtenden Augen an. »Ich kann doch hierbleiben und Oscars Farbe wegmachen! Und dann helfe ich Onkel John in der Küche und räume auch noch die Wäsche weg, und Tante Ruthie braucht sich um gar nichts zu kümmern. Bitte, Nellie – sag, dass ich bleiben kann! Mum hat bestimmt nichts dagegen.« Früher, vor dem Krieg und bevor Ruth krank wurde, hatte Flo oft bei den beiden übernachtet, damit Em und Charlie auch mal ausgehen konnten. Aber heute …

»Flo, das geht nicht. Schau mal, wenn es einen Alarm gibt, passt ihr gar nicht alle in den Morrison.« Sie überlegte erneut, ob sie etwas sagen sollte, aber vielleicht war es ja auch nur leeres Geschwätz, und sie wollte die Pferde nicht unnötig scheu machen. Sie legte den Arm um Flo. »Du kannst hier übernachten, wenn es Tante Ruthie wieder besser geht, einverstanden?«

John schien erleichtert. »Das ist lieb von dir, Flo, uns die ganze Arbeit abnehmen zu wollen, aber wir kommen schon zurecht. Wie wär’s morgen nach der Schule? Ich besorge uns was zu essen, und du kannst mir in der Küche helfen.«

Flo zog einen Flunsch, dann aber strahlte sie gleich wieder. Es war nicht ihre Art, die beleidigte Leberwurst zu spielen, wenn es mal nicht nach ihrem Kopf ging. »Mach ich! Wenn noch welches da ist, bringe ich auch was von Mums Shortbread mit, dann haben wir schon mal Nachtisch.«

»Danke, ihr zwei, dass ihr gekommen seid«, sagte Ruthie von ihrem Krankenlager aus. »Aber seht jetzt besser zu, dass ihr nach Hause kommt.«

»Dann mal los, Flo. Lass uns schauen, was es zu Hause Leckeres gibt.« Flo krabbelte vom Boden hoch, Nellie warf ihrer Tante einen Kuss zu und umarmte ihren Onkel. »Pass gut auf sie auf, Onkel John. Wir sehen uns morgen und bringen alles wieder auf Hochglanz.«

»Bei mir ist sie in den besten Händen. Und danke noch mal, Liebes.« Er drückte sie an sich, bevor sie sich mit Flo an der Hand auf den Heimweg machte.

Em stand in der Küche und briet Aale. »Bei Ruth und John so weit alles in Ordnung? Dein Bruder steckt schon wieder draußen bei seinen Hühnern. Wenn du mich fragst, ein Huhn, das keine Eier legt, wäre bei mir längst in den Suppentopf gewandert. Aber mich fragt ja keiner.«

»Auf seine Hühner lässt er nichts kommen«, sagte Nellie und ging durch die Küche hinaus in den kleinen Hinterhof. George saß auf einem umgedrehten Eimer und hatte die alte Rosie auf dem Schoß, eine weiße Henne, die sein erklärter Liebling war, nur eben leider keine Eier mehr legte. Er hielt sie wie ein Haustier und versorgte sie mit reichlich Streicheleinheiten. Rosie war mit mehreren ihrer Artgenossinnen bei ihnen eingezogen, als George von seiner Landverschickung aus Dorset einen halben Hühnerstall mit heimgebracht hatte. Er kümmerte sich seither hingebungsvoll um sie, und bis auf Rosie legten alle fleißig jeden Tag.

Die meisten Eier kamen gleich bei ihnen auf den Tisch, aber wenn doch mal welche übrig blieben, verkaufte George sie in der Nachbarschaft, um sich auf diese Weise ein bisschen Taschengeld zu verdienen, wovon er das meiste wiederum für Hühnerfutter ausgab. In ihrem Viertel hielt kaum jemand Hühner, weil sich mit den kleinen Parzellen hinter den Häusern wenig anfangen ließ, auch wenn manche ihrer Nachbarn sich von der Siegeskampagne dazu hatten verleiten lassen, ihre bescheidenen Flecken umzugraben und es mit dem Anbau von Gemüse zu versuchen. Alles, was man selbst produzieren konnte, war in Zeiten der Rationierung natürlich ein Segen. Und auch wenn kaum ein Tag verging, an dem Charlie nicht über die Hühner schimpfte, war Nellie sich doch sicher, dass er die frischen Eier ebenso zu schätzen wusste wie sie.

Als Em die Pfanne vom Herd nahm, gingen plötzlich die Sirenen los.

»Ausgerechnet jetzt, wo wir essen wollen«, murrte sie. »Soll ich es einpacken und mitnehmen?«

»Dazu bleibt keine Zeit«, sagte Charlie. »Schnappt euch euer Bettzeug. Flo, die Puppe lässt du hier, die geht unten im Tunnel bloß verloren.« Er trat zur Hintertür. »He, George, auf geht’s!«

Bei der Aussicht, die Nacht erneut im Luftschutzbunker verbringen zu müssen, spürte Nellie die alte Angst in sich aufsteigen, aber es half nichts, sie mussten gehen. Zu Hause war es nicht sicher. Sie holte ihre Kissen und Decken, die sie zusammengerollt hinter dem Wohnzimmersofa aufbewahrten. Die Etagenbetten im Bunker waren zwar mit dünnen Matratzen ausgestattet, aber mehr Komfort gab es dort nicht.

»George!«, rief Em. »Wir müssen los!«

»Ich kann Rosie nicht allein lassen«, rief er zurück. »Sie hat Angst.«

»Jetzt lass doch das blöde Huhn, Junge. Wenn ihr vor Schreck das Herz stehen bleibt, gibt’s Sonntag wenigstens was Vernünftiges auf den Tisch.« Charlie ging nach draußen und packte George so grob beim Arm, dass er das Huhn fallen ließ, das darauf panisch gackernd im Kreis rannte.

George wehrte sich und trat mit dem Fuß nach seinem Vater. Das würde nicht gut enden, dachte Nellie, und sie hatten wirklich keine Zeit mehr zu verlieren. »Hört auf!«, rief sie, ließ ihr Bündel fallen und zerrte mit einer Hand George am Ärmel, mit der anderen Charlie. »Wir müssen los, George. Deinen Hühnern passiert schon nichts, versprochen.«

»Na klar, wenn du das sagst!«

Als sie endlich aus dem Haus kamen, waren die Menschen längst im Dutzend auf dem Weg zur Bahnstation, Taschen und verschnürte Bündel in den Händen und was immer sie glaubten, nicht entbehren zu können. Manchmal gab es schon nach ein oder zwei Stunden Entwarnung, und Nellie hoffte, dass es auch heute so wäre und sie dann wieder nach Hause und in Ruhe essen konnten.

Unterwegs griff Flo nach Nellies Hand. »Guck, ich habe Spotty dabei«, sagte sie. In der Dämmerung konnte Nellie den kleinen Porzellanhund kaum erkennen, den sie ihrer Schwester letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Gleich als er ihr im Schaufenster des Geschäfts ins Auge gesprungen war, hatte sie gewusst, dass Flo ihn lieben würde.

»Lass ihn besser in der Tasche, Flo«, sagte Nellie. »Wenn du ihn hier draußen verlierst, finden wir ihn nie wieder.«

Flo nickte ernst. »Verlieren will ich ihn nicht. Ich passe immer gut auf ihn auf, Nell. Glaubst du, dass heute wieder Bomben fallen?«

»Vielleicht«, sagte Nellie, denn sie mochte nicht lügen. Sofort flossen bei Flo die Tränen, und Nellie bekam ein schlechtes Gewissen, ihrer Schwester Angst gemacht zu haben.

Am Ende der Morpeth Street bogen sie nach links in die Roman Road ein und legten das letzte Wegstück im Eilschritt zurück. Die Sirene befand sich im Glockenturm von St. John’s, gleich gegenüber dem Eingang zur Untergrundbahn, und wurde mit jedem Schritt lauter. Bislang waren noch keine Flugzeuge zu sehen, aber es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis sie am Himmel auftauchen und ihre tödliche Fracht abwerfen würden.

Nellie musste wieder daran denken, was Mr. Smith heute Vormittag über den Zugang zum Bunker gesagt hatte, wie verheerend sein Urteil ausgefallen war. Als sie durch den Bretterverschlag am Eingang ging, dessen Türen jetzt weit offen standen, hob sie den Blick zu der abgeschirmten Glühbirne, die etwas verloren ihr trübes Licht warf, das kaum bis zu den tückischen Kanten der ausgetretenen Stufen reichte. Sie zählte sie auf dem Weg nach unten. Neunzehn bis zum Treppenabsatz, dann drei Schritte nach rechts und noch mal sieben, bis man die Schalterhalle erreichte. Es könnte zu Unfällen kommen, im schlimmsten Fall zu einer Katastrophe, hatte Mr. Smith gesagt. Und er hatte recht. Es grenzte an ein Wunder, dass hier noch niemand gestürzt und sich gar etwas gebrochen hatte. Vorher hatte sie sich nie groß Gedanken darüber gemacht, aber jetzt konnte sie einfach nicht mehr aufhören, sich wegen der möglichen Unfallgefahr zu sorgen.

Billy tat wie immer in der Schalterhalle Dienst. »Nellie Morris! Und unsere reizende Flo. Gut, dass ihr hier seid. Geht am besten gleich weiter nach unten, heute könnte es ernst werden.«

»Flo, geh du schon mal mit Mum und Dad und mit George voraus, ich komme gleich nach. Ich will nur eben noch etwas mit Billy besprechen.« Nellie schob Flo hinüber zu Em, die mit ausgestreckter Hand auf ihre Jüngste wartete. Flo hatte jedes Mal Angst, die stillgelegte Fahrtreppe zu den Gleisen hinunterzusteigen, denn sie war klein für ihr Alter, und die Stufen kamen ihr riesig vor.

»Was gibt es denn, Nellie?«, fragte Billy.

»Mich beschäftigt da etwas, was heute bei der Arbeit zur Sprache kam. Die Bürgermeisterin hat Mittel beantragt, um den Eingang oben an der Straße sicherer zu gestalten. Mir fiel auch eben auf, wie dunkel es auf der Treppe ist, vor allem heute, wo so viele Leute gleichzeitig versuchen, nach unten zu gelangen. Man sieht wirklich kaum, wohin man tritt, und bei diesem Gedränge …«

Billy legte ihr die Hand auf den Arm. »Nicht so laut, wir wollen die Leute nicht noch zusätzlich verunsichern. Und keine Sorge, ich habe hier alles im Blick. Wenn jemand auf der Treppe stolpert, bin ich wie der Blitz da, um zu helfen.«

»Ich weiß, Billy. Du nimmst deine Aufgabe sehr ernst und machst einen guten Job.« Sie lächelte und sah, wie sehr das Lob ihn freute.

»Und jetzt lauf, bevor deine Eltern sich Sorgen machen. Ziemlich viel los heute. Babs ist auch schon da.« Er winkte den nicht abreißenden Menschenstrom durch die Schalterhalle. Billys Chef Mr. Bolton hatte alle Mühe, an den Fahrtreppen für Ordnung zu sorgen. Der dunkle Abgang von der Straße mit seinen trügerischen Stufen war bei Weitem nicht die einzige Stolperfalle. Die steile Fahrtreppe barg ihre ganz eigenen Tücken, wenn zu viele Leute gleichzeitig darauf nach unten drängten.

»Gut, dann sehen wir uns vielleicht später, sobald etwas Ruhe eingekehrt ist?«

Er nickte, und Nellie ging weiter zur Rolltreppe. Auf dem Weg nach unten musste sie mehrere Male tief durchatmen, um sich für eine weitere Nacht unter Tage zu wappnen, während deutsche Bomber Gott weiß welche Verwüstungen auf den Straßen über ihr anrichteten.

4

Nellie fand ihre Eltern und Geschwister an ihrem üblichen Platz am hinteren Bahnsteigende, wo sie sich neben den Waters eingerichtet hatten. George lag in der oberen Koje und war in eins der Abenteuer um Commander Bigglesworth vertieft, die er regelrecht verschlang. Em und Charlie saßen unten und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen über den Gang hinweg mit Billys und Barbaras Eltern. Das nächste Bett hatten sich die Mädchen gesichert – Babs oben und Flo unten, in der Mitte Flos Bettzeug, um den Platz für Nellie freizuhalten. Wie immer, wenn eine lange Nacht im Bunker bevorstand, herrschte angespannte Ruhe. Wenigstens war das Geräusch der Bomben und Geschützfeuer hier nur dumpf und wie aus der Ferne zu hören, und sie waren vor Einschlägen sicher. Dennoch fröstelte Nellie. Eigentlich müsste sie doch längst daran gewöhnt sein, aber die Angriffe verloren nie ihren Schrecken für sie, auch wenn sie hier unten wie eine eingeschworene Gemeinschaft waren. Leises Stimmengewirr erfüllte die Gänge, und es herrschte ein Gefühl von Kameradschaft, dem niemand sich entziehen konnte. Was auch geschah, sie würden einander helfen und es gemeinsam durchstehen. Diese Haltung pragmatischer Entschlossenheit war es, die von den Zeitungen als der »Blitz-Spirit« betitelt worden war. Manchmal war er nur schwer aufrechtzuerhalten, aber Nellie bemühte sich, immer frohen Mutes zu bleiben, allein schon für Flo, die jetzt, die Arme um sich geschlungen, in ihrer Koje kauerte, so klein und verletzlich und sichtlich verstört von dem dumpfen Getöse über ihnen.