Neuromythologie - Felix Hasler - E-Book

Neuromythologie E-Book

Felix Hasler

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Beschreibung

Alle machen Hirnforschung. Kaum eine Wissenschaftsdisziplin kann sich wehren, mit dem Vorsatz »Neuro-« zwangsmodernisiert und mit der Aura vermeintlicher experimenteller Beweisbarkeit veredelt zu werden. Die Kinder der Neuroinflation heißen Neurotheologie, Neuroökonomie, Neurorecht oder Neuroästhetik. Der gegenwärtige Neurohype führt zu einer Durchdringung unserer Lebenswelt mit Erklärungsmodellen aus der Hirnforschung. Bin ich mein Gehirn? Nur ein Bioautomat? Felix Haslers scharfsinniger Essay ist eine Streitschrift gegen den grassierenden biologischen Reduktionismus und die überzogene Interpretation neurowissenschaftlicher Daten: ein Plädoyer für Neuroskepsis statt Neurospekulation.

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Alle machen Hirnforschung. Kaum eine Wissenschaftsdisziplin kann sich wehren, mit dem Vorsatz »Neuro-« zwangsmodernisiert und mit der Aura vermeintlicher experimenteller Beweisbarkeit veredelt zu werden. Die Kinder der Neuroinflation heißen Neurotheologie, Neuroökonomie, Neurorecht oder Neuroästhetik. Der gegenwärtige Neurohype führt zu einer Durchdringung unserer Lebenswelt mit Erklärungsmodellen aus der Hirnforschung. Bin ich mein Gehirn? Nur ein Bioautomat?

Felix Haslers scharfsinniger Essay ist eine Streitschrift gegen den grassierenden biologischen Reduktionismus und die überzogene Interpretation neurowissenschaftlicher Daten: ein Plädoyer für Neuroskepsis statt Neurospekulation.

Felix Hasler (Dr. pharm.) ist Forschungsassistent an der Berlin School of Mind and Brain der Humboldt-Universität zu Berlin und Wissenschaftsjournalist.

www.neuroculturelab.com

Das vorliegende Buch wurde durch die Dr. Margrit Egnér Stiftung und ein Stipendium der Berlin School of Mind and Brain gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book transcript Verlag, Bielefeld 2013

© transcript Verlag, Bielefeld 2013

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Cover: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Korrektorat: Ingrid Ospald, Bielefeld

Konvertierung: Michael Rauscher, Bielefeld

ePUB-ISBN: 978-3-7328-1580-7

http://www.transcript-verlag.de

Felix Hasler

Neuromythologie

Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung

Inhalt

Vorbemerkung

1.

Neuro-Enthusiasmus. Alle machen Hirnforschung

2.

Neuro-Evidenzmaschinen. Bildgebende Verfahren in der Kritik

3.

Neuro-Essenzialismus. Bin ich mein Gehirn?

4.

Neuro-Philosophie. Jeder darf mitraten

5.

Neuro-Reduktionismus, Neuro-Manipulation und das Verkaufen von Krankheit

6.

Neuro-Doping. Ich, nur besser?

7.

Neuro-Determinismus. Was will, wenn wir wollen?

8.

Neuro-Forensik. Vom Umgang mit riskanten Gehirnen

9.

Neuro-Recht. Hirn-Scanner im Gerichtssaal

10.

Neuro-Skepsis statt Neuro-Spekulation

Nachbemerkung

Literatur- und Quellenverzeichnis

Vorbemerkung

Muss das sein? Ja, leider. Wenn Wissenschaftler umfassende Erklärungsansprüche weit jenseits der Erkenntnismöglichkeiten des eigenen Fachs reklamieren, ist eine Realitätsprüfung dringend notwendig. Umso mehr, wenn diese Erklärungsansprüche nicht auf belastbaren naturwissenschaftlichen Fakten beruhen, sondern auf unbewiesenen Annahmen, nicht hinterfragten Dogmen und der endlosen Wiederholung kaum einlösbarer Zukunftsversprechungen. Die schier unglaubliche Diskrepanz zwischen dem gegenwärtigen Welterklärungsanspruch der Neurowissenschaften und den empirischen Daten aufzuzeigen, ist Ziel dieses Buches.

Was ist geschehen? Seit der »Dekade des Gehirns« in den 1990er Jahren haben die »neuen Wissenschaften des Gehirns« einen Siegeszug ohnegleichen durchlaufen. Weit über die Grenzen der Naturwissenschaften hinaus durchdringen Erklärungsmodelle aus der Hirnforschung ehemalige Hoheitsgebiete der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Die Nichtexistenz des freien Willens zu beweisen, biologische Marker für kriminelles Verhalten zu entdecken oder neuromolekulare Ursachen von Angst, Zwang und Depression zu finden: All dies traut sich die Hirnforschung unserer Tage mit großer Selbstsicherheit zu. Zwar noch nicht gerade heute, aber schon in absehbarer Zukunft sollen auch derart großkalibrige Probleme lösbar werden.

Wie tief die Neuro-Unternehmung bereits vorgestoßen ist, illustriert ein Zitat des britischen Biologen Semir Zeki: »Mein Ansatz ist von einer Wahrheit bestimmt, von der ich denke, dass sie unumstößlich ist: dass jede menschliche Handlung von der Organisation und den Gesetzen des Gehirns bestimmt ist und dass es deshalb keine wahre Kunst- und Ästhetik-Theorie geben kann, außer wenn sie auf Neurobiologie beruht.«[1] Selbst die Kunst, das Kulturprodukt par excellence, muss offenbar modernerweise mit neurowissenschaftlichen Konzepten erklärt werden. Auf der Suche nach den »neuronalen Korrelaten« für dieses und jenes schieben heute auch Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler ihre Probanden in den Kernspintomographen und suggerieren durch derartiges Tun: Hier wird ein streng wissenschaftlicher Weg eingeschlagen, um das Wesen des Menschen zu erklären.

Im Gegensatz zur begeisterten Neuro-Berichterstattung in den Medien ist der real existierende Wissenschaftsalltag in den Hirnforschungsinstituten deutlich prosaischer. Die meisten Hirnforscher sind sich der engen Grenzen ihrer Wissenschaft sehr wohl bewusst und wollen auch gar nicht Geist und Bewusstsein erklären, Gedanken lesen oder zukünftiges Verhalten voraussagen. Diese höchst seriösen Vertreter der Neuro-Zunft sind schon zufrieden, wenn sie nach jahrelanger Arbeit ein wenig mehr über visuelle Verarbeitung in der Sehrinde oder neuro-adaptive Veränderungen beim Klavier spielen gelernt haben. Dagegen wird auch niemand etwas einzuwenden haben. Da diese Art von Erkenntnissen selten Neuigkeitswert hat, tauchen sie allerdings kaum in den Medien auf. Ganz im Gegensatz zu den »weltbildgebenden Auftritten«,[2] die einige Hirnforschungsautoritäten in den letzten Jahren gerne gepflegt und damit zur glorifizierenden Überhöhung neurowissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeit beigetragen haben. Diesen ungerechtfertigten Erklärungsansprüchen, für die besonders die »sozialen, kognitiven und affektiven Neurowissenschaften« anfällig sind, gilt die Hauptkritik meines Buches.

Der aktuelle Neuro-Hype geht nicht einfach nur auf die Nerven, sondern hat ganz praktische Konsequenzen für das Leben einer Vielzahl von Menschen. Schließlich wird der fundamental falsche Eindruck erweckt, die Hirnforschung wisse genau Bescheid über die biologischen Vorgänge, die unserem Erleben, Denken und Handeln zugrunde liegen. Und deshalb könne die Medizin »evidenzbasiert« und zielgerichtet im Gehirn eingreifen, wenn etwas schief läuft. Beispielsweise bei einer psychischen Störung. Im klassischen »bio-psycho-sozialen Modell psychischer Erkrankungen« hat längst eine dramatische Verschiebung hin zum Pol der Biologie stattgefunden. Auffälligstes Anzeichen dieser wissenschaftsideologischen Ausrichtung ist die zunehmend außer Kontrolle geratende Praxis der (Über-)Verschreibung von Psychopharmaka. Immer mehr Fachleute halten dies für eine fatale Fehlentwicklung mit beträchtlichen Konsequenzen für die Betroffenen. Das umfangreiche Buchkapitel »Neuro-Reduktionismus, Neuro-Manipulation und das Verkaufen von Krankheit« ist der Dekonstruktion des Mythos gewidmet, die biologische Psychiatrie sei eine Erfolgsgeschichte wissenschaftlicher Ratio und ein Segen für die Patienten.

Für eine realistische Einschätzung der Lage ist es von Vorteil, auf einem neurowissenschaftlichen Forschungsgebiet gearbeitet zu haben. Ich selbst tat dies zehn Jahre lang in der Arbeitsgruppe Neuropsychopharmacology und Brain Imaging an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, besser bekannt als Burghölzli. Franz Vollenweider und seine Kollegen untersuchen dort schon seit den 1990er Jahren mit neurowissenschaftlichen Methoden, wie halluzinogene Drogen auf Gehirn und Erleben des Menschen wirken.

Einer nahe liegenden Vermutung möchte ich hier gleich klar entgegentreten: Es waren nicht die Erfahrungen während meiner Forschungstätigkeit in jener Arbeitsgruppe, die mich zu einem Skeptiker der Neuro-Unternehmung werden ließen. Denn obwohl auch die Halluzinogenforschung am Burghölzli als Kind der Dekade des Gehirns geboren wurde, war und ist man sich dort im Klaren, dass Bewusstsein weit mehr ist als nur eine Kaskade biochemischer Prozesse im Gehirn. Im Entgrenzungszustand einer quasi-mystischen Halluzinogenerfahrung muss schließlich auch dem hartgesottensten Hirnforscher klar werden, dass ein solcher Zustand niemals mit neurowissenschaftlichen Methoden adäquat beschrieben werden kann. Geschweige denn, abschließend erklärt.

Es lief eher umgekehrt. Häufig war ich selbst derjenige, der einer allzu simplen mechanistischen Sichtweise aufgesessen ist und der den alles dominierenden »neuro-talk« unreflektiert übernommen hat. Für ein gelegentliches Zurechtrücken solcher Sichtweisen durch meine Kollegen bin ich heute dankbar. Auch muss ich eingestehen, mehr als einmal der Verführung erlegen zu sein, selbst die Ruhm und Ehre verheißende Neuro-Karte auszuspielen. Auf Vorträgen habe ich zu eben dem Weltbild beigetragen, das ich heute kritisiere. Kurzum – auch ich selbst war bis vor nicht allzu langer Zeit ein »zerebrales Subjekt«,[3] überzeugt davon, dass wir nur das Gehirn erforschen müssten, um uns selbst zu verstehen. Von meinem damaligen Neuro-Enthusiasmus zeugen noch ein paar wissenschaftliche Publikationen und journalistische Artikel. Vieles davon würde ich heute anders schreiben, einige Aussagen gerne ganz zurücknehmen.

Meine Zeit in der Hirnforschung war in anderer Hinsicht prägend für meine jetzige wissenschaftskritische Sichtweise und damit auch für dieses Buchprojekt. Auf den großen Neuropsychopharmakologie-Kongressen bin ich nicht nur akademischer Arroganz von ungekanntem Ausmaß begegnet, sondern auch den aggressiven Geschäftspraktiken der pharmazeutischen Industrie.

Lange ist es her, dass an den Pharma-Informationsständen ein paar Kugelschreiber mit Firmenlogo zusammen mit einem Sonderdruck einer neuen Medikamentenstudie verteilt wurden. In den Jahren um 2005 füllten die Pharmastände auf Kongressen ganze Stockwerke. Bei Pharma-Quizshows – realistisch den entsprechenden TV-Formaten nachempfunden – waren für die Kongressteilnehmer BMW-Cabrios zu gewinnen. Nun wurde es ganz offensichtlich, dass weite Teile der akademischen Psychiatrie von der pharmazeutischen Industrie aufgekauft wurden. Die Sichtung einer Vielzahl von Büchern und Fachpublikationen hat später bestätigt, was ich schon im Angesicht der Pharma-Quizshows vermutete: dass so manche vermeintliche neurobiologische »Tatsache« sehr viel mehr mit pharmazeutischem Marketing als mit Wissenschaft zu tun hat.

Vor allem aber lehrt die praktische Neuroforschung Bescheidenheit, was die prinzipiellen Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten zu Geist und Bewusstsein angeht. Das Gehirn als Untersuchungsgegenstand ist enorm komplex und die zur Verfügung stehenden Messverfahren zwar hoch technisiert, vielleicht gerade deshalb aber auch besonders stör- und irrtumsanfällig. Gerade die mit bildgebenden Verfahren gewonnenen – oder vielleicht eher hergestellten – Untersuchungsergebnisse sind in hohem Maße interpretationsbedürftig. Von der wissenschaftspraktischen Problemvielfalt der bildgebenden Verfahren, die fälschlicherweise den Eindruck erwecken, fotoähnliche Abbildungen des Geistes bei der Arbeit zu liefern, handelt das Buchkapitel »Neuro-Evidenzmaschinen. Bildgebende Verfahren in der Kritik«.

Vielleicht ist aber auch nur die gefühlte Diskrepanz zwischen der medialen Darstellung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse und der tatsächlichen empirischen Datenlage besonders schmerzhaft, wenn man selbst weiß, wie neurowissenschaftliche Forschung in der Praxis funktioniert.

Dass eine radikal pessimistische Haltung zur Zukunft der Neurowissenschaften genau so verfehlt wäre, wie es der ungezügelte Optimismus der letzten Jahre war, versuche ich im Schlusskapitel aufzuzeigen. Die Problemwahrnehmung nimmt nämlich schon deutlich zu – innerhalb wie außerhalb der Hirnforschung. So werden neuro-skeptische Symposien abgehalten, entsprechende Internet-Blogs betrieben und auch in renommierten Fachzeitschriften explizit hirnforschungskritische Texte veröffentlicht. Zudem hat sich das Netzwerk der »Kritischen Neurowissenschaften« gebildet, in dem Vertreter verschiedener Fachdisziplinen bemüht sind, in einem konstruktiven Dialog dringend notwendige Reformen anzustoßen. Anlass zur Hoffnung gibt auch die Tatsache, dass gerade in der jüngsten Forschergeneration eine ganze Reihe gleichermaßen begeisterte wie (selbst-)kritische Neurowissenschaftler auszumachen sind. Sollte sich die Fachrichtung tatsächlich von innen her reformieren, werden es wohl genau diese Akteure sein, welche die entscheidenden Impulse geben.

Noch aber hat die Neuro-Spekulation die Neuro-Skepsis fest im Griff. Wie weit die modernen Neuro-Mythen bereits in der gesellschaftlichen Wahrnehmung angekommen sind, wurde mir wieder einmal bewusst, als ich neulich in Berlin an einem Kiosk vorbeiging. Im Aushang bewarb dort die deutsche TV-Zeitschrift Hörzu ihre Wissen-Ausgabe: »Führende Forscher sind sich einig: Der freie Wille ist eine Illusion«. Ganz abgesehen von der inhaltlichen Absurdität sind Neuro-Thesen offenbar voll und ganz massentauglich geworden. Höchste Zeit also für eine grundlegende Gegendarstellung. Muss das sein? Ja, ganz offensichtlich.

Anmerkungen

1 | Vidal F (2009) History of the Human Sciences.

2 | Der Begriff stammt von der Philosophin Petra Gehring, vgl. Gehring P (2004) Philosophische Rundschau.

3 | Vidal F (2009) History of the Human Sciences.

1. Neuro-Enthusiasmus. Alle machen Hirnforschung

Das Leben in der entstehenden Neuro-Gesellschaft wird von unserem gegenwärtigen Dasein so weit entfernt sein, wie es die Renaissance von der Steinzeit war.[1]

Der Neuro-Prophet sieht aus wie Al Gore, heißt Zack Lynch und kommt aus Kalifornien. Der Gründer der Neurotechnology Industry Organization, eines globalen Wirtschaftsverbands der Hirnforschungsindustrie, ist sich ganz sicher: Wir werden gerade Zeugen einer »gigantischen, historischen Unvermeidbarkeit«.[2] Großes stellt Lynch in der Einleitung zu seinem unlängst erschienenen Buch »Die Neuro-Revolution« in Aussicht. Unsere unmittelbar bevorstehende Metamorphose zur Neuro-Gesellschaft sei nicht nur »unabwendbar und bereits im Gange«, sondern »so radikal wie die Veränderung von der Raupe zum Schmetterling«.[3] Auf nicht weniger als die »Geburt einer neuen Zivilisation« hätten wir uns einzustellen. Der Überbringer der Neuro-Heilsbotschaft hat auch schon einen Zeitplan vor Augen. 30 Jahre soll es noch dauern, allerhöchstens, bis uns die Neurotechnologie in die post-industrielle und post-informationelle Gesellschaftsform der »Neurosociety« geführt hat.

Neuro-Ehrfurcht auf dem Vormarsch

Neuro-Enthusiast Lynch ist mit seinen Zukunftsvisionen in guter Gesellschaft. Dieser Tage ist sogar das kultivierte britische Understatement in Gefahr, wenn es um die Würdigung kommender Segnungen aus den Labors der Neurowissenschaftler geht. Ungewohnt revolutionäre Töne kommen nämlich auch von Fachleuten, die sich vor ein paar Jahren im Auftrag Ihrer Majestät mit der Zukunft der Hirnforschung beschäftigt haben. Das ehrwürdige Londoner Office of Science and Technology gilt als seriöse Denkfabrik, wenn es um die wissenschaftsbasierte Vorwegnahme gesellschaftsrelevanter Entwicklungen geht. Sir David King, Chefbeamter und Projektleiter der »Foresight«-Studie »Hirnforschung, Sucht und Drogen«,[4] wagt im Schlussbericht der Untersuchung eine geradezu unbritisch große Prophezeiung: »Die größten Veränderungen, die wir im einundzwanzigsten Jahrhundert sehen werden, könnten uns durch Fortschritte in unserem Verständnis des Gehirns gebracht werden. […] Wir stehen unmittelbar vor Entwicklungen, die uns womöglich in eine Welt führen, in der wir Drogen nehmen, die uns helfen zu lernen, schneller zu denken, zu entspannen, wirksamer zu schlafen, oder sogar unsere Stimmung subtil der unserer Freunde anzupassen. Dies hätte Auswirkungen für jeden Einzelnen und könnte zu fundamentalen Veränderungen in unserem Verhalten als Gesellschaft führen.«[5] Im Zeitalter der Neurowissenschaften traut man den Psychopharmakologie-Abteilungen der Pharmalabors offenbar sogar den präzise kalkulierbaren Eingriff in den Gefühlshaushalt des Menschen zu.[6]

Aber auch in Deutschland ist die Neuro-Ehrfurcht schon längst angekommen. Hierzulande fordert der renommierte Hirnforscher Wolf Singer eine »Utopie der Demut« angesichts der menschenbildverändernden Erkenntnisse aus der Hirnforschung: »Der Mensch [sollte sich] erneut als geworfenes Wesen begreifen, das vielfältig bedingt ist und nur einen eng begrenzten Erkenntnisraum hat. Die Folge wäre dann, dass wir unser Leben mit sehr viel mehr Demut gestalten und uns gegenseitig nachsichtiger behandeln. Diese Utopie der Demut, diese Kultur der Solidarität untereinander könnte das Maß der bisherigen, mythologisch verbrämten Utopien an Humanität weit übertreffen.«[7]

Machen Sie das Beste aus Ihrem Cortex!

Wie diese Aussagen illustrieren, hat sich die ehemals bodenständige Hirnforschung zu einer veritablen Neuro-Euphorie entwickelt. Was ist bloß geschehen? Noch bis vor wenigen Jahren haben Neurobiologen beispielsweise untersucht, wie das Gehirn Sinnesreize verarbeitet, Sprache versteht oder wie die Motorik funktioniert. Ohne Zweifel wichtige und sinnvolle Grundlagenforschung, jedoch ohne viel Glamour, so wie sie auch heute noch an vielen – wenn nicht den meisten – Hirnforschungsinstituten der Welt betrieben wird.

Man hat die Gehirne verstorbener Schlaganfall-Patienten seziert und verglich Schädigungsort und Funktionsausfälle. Man traktierte Nervenzellkulturen mit allerlei pharmakologisch Aktivem und schaute, wie Ionenkanäle in der Zellmembran reagieren. Oder man machte Hirnstromableitungen von Versuchspersonen, die am Bildschirm gerade Rechenaufgaben lösen. Von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde diese Grundlagenforschung wenig. Die Befunde waren meist von akademischer Sperrigkeit und auch die motiviertesten Wissenschaftsjournalisten taten sich schwer, aus der Entdeckung einer neuen »cortico-striatalen Regelschleife« eine leserfreundliche Geschichte zu machen.

Heute freilich sieht die Sache ganz anders aus. Schaut man sich in der Wissenschaftsabteilung einer halbwegs gut sortierten Buchhandlung um, so springen einen in der Auslage Buchtitel von ganz anderem Kaliber an: »Gehirn, Ich, Freiheit«,[8] »Neuro-Ernährung«,[9] »Tatort Gehirn«,[10] »Neuroleadership: Erkenntnisse der Hirnforschung für die Führung von Mitarbeitern«,[11] »Das glückliche Gehirn«[12] oder gar »Das Gehirn eines Buddha – Die angewandte Neurowissenschaft von Glück, Liebe und Weisheit«.[13] Und sogar für die Kleinsten ist gesorgt: »Gehirnforschung für Kinder – Felix und Feline entdecken das Gehirn«.[14]

Ähnlich sieht es im Journalismus aus. Kaum eine Woche vergeht ohne mediale Sensationsmeldung über die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. Nicht nur für die Medizin, sondern für unser Leben ganz allgemein. Hirnforscher erklären Journalisten, dass Kinder anders lernen sollten,[15] begründen, warum wir Optimisten oder Pessimisten sind,[16] gehen dem Phänomen der romantischen Liebe auf den neuronalen Grund[17] und erläutern, dass unsere intuitiv gefühlte Willensfreiheit nur eine Illusion ist.[18]

Dass die Medien längst zum Sprachrohr fortschrittsenthusiastischer Neurowissenschaftler geworden sind, liegt in der Natur der Sache. Schließlich wecken Verheißungen Leserinteresse und steigern die Auflage. Die Wissenschaftsredaktionen freuen sich über immer neue Utopien und Dystopien, die sich aus den vermeintlichen Erkenntnissen der Hirnforscher konstruieren lassen.

Auch die Unterhaltungselektronik ist bereits auf den Neuro-Zug aufgesprungen. »Alles aus Ihrem Präfrontal-Cortex herausholen«: Mit diesem Slogan bewirbt zum Beispiel Nintendo sein Gehirntrainings-Spiel Brain Age.[19] Auf der Webseite sind Hirn-Scans mit Aktivierungen bei kognitiven Aufgaben zu sehen. Nicht zuletzt haben sich ganze Bewegungen formiert, die sich explizit auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse berufen. Beispielsweise die Praxis der »Neuro-Askese«. Darunter ist eine Art »zerebrale Selbstdisziplin« zu verstehen, »die darauf abzielt, die Hirnleistung zu maximieren«.[20] In dieser boomenden Neuro-Esoterik-Bewegung werden Selbsthilfemanuale und Hirnfitness-Programme ausgetauscht. Man macht Neurobics in virtuellen Brain Gyms und schluckt Vitamine und »Neuroceuticals« für das perfekte Gehirn.

Immer mehr Neuro-X-Disziplinen

Wer als Forscher des 21. Jahrhunderts wirklich Wesentliches über die Natur des Menschen und seine Lebenswelt aussagen will, so scheint es, muss den Blick ins Gehirn wagen. So haben längst auch Wissenschaftler, deren Fachdisziplinen eigentlich nichts mit Hirnforschung zu tun haben, die Neurowissenschaften für sich entdeckt. Auf der Suche nach Hirnlokalisationen für wirtschaftliche Entscheidungen, moralisches Verhalten oder verbrecherische Impulse schieben längst auch Ökonomen, Soziologen und Rechtswissenschaftler ihre Probanden in den Kernspintomographen. Schon seit ein paar Jahren macht deshalb der Begriff der »neuen Wissenschaften des Gehirns« die Runde.[21] Es ist nicht zu übersehen: Der Neuro-Zug rollt. Scheinbar gibt es kaum mehr eine Forschungsdisziplin, die sich nicht mit der Vorsilbe »Neuro-« modernisieren und mit der Aura vermeintlicher experimenteller Beweisbarkeit veredeln ließe. Alle machen Hirnforschung.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind im Jahr 2012 an Neuro-Bindestrich-Wissenschaften zu vermelden: Neuro-Philosophie und Neuro-Epistemologie, Neuro-Soziologie, Neuro-Theologie, Neuro-Ethik, Neuro-Ökonomie, Neuro-Didaktik, Neuro-Marketing, Neuro-Recht, Neuro-Kriminologie und Neuro-Forensik, Neuro-Finanzwissenschaften, Neuro-Verhaltensforschung und Neuro-Anthropologie. Wem das als Forscher noch zu mainstream ist, für den gäbe es noch Neuro-Ästhetik, Neuro-Kinematographie, Neuro-Kunstgeschichte, Neuro-Musikwissenschaften, Neuro-Germanistik, Neuro-Semiotik[22], Neuro-Politikwissenschaften, Neuro-Architektur, Neuro-Psychoanalyse und Neuro-Ergonomie. Nicht zu vergessen die sozialen Neurowissenschaften.[23]

Und auf der dunklen Seite der Macht wuchert die weltweit mit milliardenschweren Forschungsetats ausgestattete Neuro-Kriegsführung. Jedes einzelne der neuen Fächer reklamiert seine Existenzberechtigung mit dem Verweis darauf, die ursprüngliche Disziplin mit den »neuesten Erkenntnissen aus der Hirnforschung« zu reformieren. Oder wie es der Wissenschaftsjournalist Martin Schramm kurz zusammengefasst hat: »Immer mehr Neuro-X-Disziplinen suggerieren: hier wird ein streng naturwissenschaftlicher Weg beschritten, um das Wunder Mensch zu entschlüsseln.«[24]

Einige dieser Neuro-X-Disziplinen sind bislang noch eher eine Privatveranstaltung einiger weniger Proponenten. Andere, wie zum Beispiel die Neuro-Kunstgeschichte oder die Neuro-Germanistik, sind nur kurz in Erscheinung getreten und heute bereits wieder auf dem Rückzug. Die Mehrzahl der neu entstandenen Neuro-Fächer ist aber in hohem Maße institutionalisiert und professionalisiert. Mit eigenen Konferenzen, Interessenverbänden, Internetportalen, wissenschaftlichen Zeitschriften und universitären Lehrstühlen. So gibt es in San Diego die Academy of Neuroscience in Architecture, in Berlin finden Tagungen zur Neuro-Psychoanalyse statt und die Neuro-Ökonomen sind in der Society for Neuroeconomics organisiert. Deren Webseite, übrigens, besticht durch ein überaus treffendes Logo: Ein paar stilisierte Neuronen, deren Nervenfortsätze ein Dollarzeichen formen.[25]

Aufbruch ins neurozentrische Zeitalter

Nicht ganz unschuldig an der Neuro-Inflation ist George Bush. Nicht der Sohn, sondern der Vater: »Ich, George Bush, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, erkläre hiermit die am 1. Januar 1990 beginnende Dekade zur Dekade des Gehirns.«[26] Mit dieser präsidialen Proklamation und den entsprechenden Budgets und Forschungsprogrammen hat Bush Senior vor 20 Jahren den Startschuss zum beispiellosen Siegeszug der Neurowissenschaften gegeben. Dass der amerikanische Präsident auch selbst von der Neuro-Euphorie erfasst war, zeigt ein Auszug aus seiner Proklamationsrede: »Das menschliche Gehirn, eine Dreipfundmasse ineinander verwobener Nervenzellen, die unsere Aktivitäten kontrollieren. Es ist eines der wundervollsten und mysteriösesten Wunder der Schöpfung. Als Sitz der menschlichen Intelligenz, Interpret unserer Sinne und Kontrolleur unserer Bewegungen begeistert dieses unglaubliche Organ Wissenschaftler und Laien gleichermaßen.«[27]

Die »Decade of the brain«-Initiative des amerikanischen Kongresses hatte unter anderem zum Ziel, die Wahrnehmung der Öffentlichkeit für den Nutzen der Hirnforschung zu stärken. Dass dieses Ziel erreicht wurde, steht außer Zweifel. Präsident Bushs Kampagne hat zu einem wahren Boom an Medienberichterstattungen über neurowissenschaftliche Projekte und damit zu einer immensen Sichtbarkeit der Hirnforschung geführt. Sonderprogramme wie die auch heute noch veranstalteten »Brain Awareness Weeks« haben das ihre dazu getan.

Auch wurden in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wichtige Zentren für Hirnforschung gegründet, wie etwa das Londoner Wellcome Functional Imaging Laboratory[28] oder das Institute of Cognitive Neuroscience. In jener Zeit haben die Erwartungen an Erkenntnismöglichkeiten und Erklärungsmacht der Neurowissenschaften dramatisch zugenommen. Plötzlich schien alles in den Bereich des Verstehbaren und naturwissenschaftlich Beweisbaren gerückt zu sein. Von der Struktur des Bewusstseins über die neuronale Verortung moralischen Handelns bis hin zur molekularen Grundlage psychischer Störungen. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis die Neurowissenschaften Kants vierte Frage werden beantworten können: »Was ist der Mensch?«[29]

Während der 1990er Jahre kam es zu einem explosionsartigen Zuwachs an Wissenschaftlern, die sich als Neuro-Wissenschaftler verstanden. So konnte deren übergreifender Berufsverband, die Society for Neuroscience, jährlich mehr als tausend neue Mitglieder in ihren Reihen begrüßen. Seit 1970 hat sich die Mitgliederzahl der Society for Neuroscience mehr als vervierzigfacht. Viele der Neumitglieder kamen aus der Molekularbiologie und den Computerwissenschaften – zwei Forschungsdisziplinen, die vor der »Dekade des Gehirns« abseits der Hirnforschung angesiedelt waren.

Dies wiederum führte dazu, dass neue Untersuchungsmethoden wie die funktionelle Bildgebung oder die molekulare Genetik auch weit außerhalb der ursprünglichen Neurowissenschaften Verbreitung fanden. Die Society for Neuroscience darf auch für sich in Anspruch nehmen, das meiste wissenschaftliche Personal aller Zeiten an einem Ort versammelt zu haben. Zur jährlich stattfindenden Fachtagung haben sich 2005 in Washington 35.000 Neurowissenschaftler versammelt. Das ist Weltrekord. Gemessen an der Teilnehmerzahl war Neuroscience 2005 der größte Wissenschaftskongress, der jemals veranstaltet wurde.[30] Auch dies zeigt, wie beliebt es im 21. Jahrhundert geworden ist, Hirnforschung zu betreiben. Der dramatische Personalzuwachs hat wohl mit dazu beigetragen, dass die Anzahl neurowissenschaftlicher Publikationen in den letzten Jahren durch die Decke ging. Joelle Abi-Rached von der London School of Economics hat sich die Mühe gemacht, nachzuzählen.[31] Im Jahr 1968 wurden gerade einmal 2020 Fachaufsätze zur Struktur und Funktion des Gehirns publiziert. Für 1988 zählte die fleißige Medizinerin und Philosophin schon 11.770 Publikationen. Und im Jahr 2008, nochmals 20 Jahre später, sah die Welt 26.500 neurowissenschaftliche Veröffentlichungen.

Der neuromolekulare Blick

Wie ist es zu diesem immensen Zuwachs an Produktivität und Output in der Hirnforschung gekommen? Zusammen mit dem Soziologen Nikolas Rose hat Joelle Abi-Rached den historischen Ursprung der »neuen Wissenschaften des Gehirns« zurückverfolgt.[32] Die beiden kommen zum Schluss, dass der entscheidende Wandel in den USA der 1960er Jahre eingetreten ist. Dass es dann gar zu einem erkenntnistheoretischen Bruch kam. Innerhalb weniger Jahre etablierte sich ein neuer Denkstil, den Rose und Abi-Rached als den »neuromolekularen Blick« bezeichnen: »Ein Blick, der eintauchte in die gerade im Entstehen begriffenen molekularen Ansätze in der Biologie, Chemie und Biophysik. Dieser Blick wurde auf den Bereich der Neurobiologie übertragen.«[33]

Der bis heute beliebte Ansatz, mit reduktionistischen neuromolekularen Methoden der Komplexität des Gehirns beikommen zu wollen, wurde nämlich bereits in den späten 1950er und beginnenden 1960er Jahren kultiviert.[34] Der heute omnipräsente »Neuroscience«-Begriff hingegen wurde erst erstaunlich spät geprägt, nämlich 1962 vom amerikanischen Biologen Francis O. Schmitt.[35] Der Pionier der Elektronenmikroskopie und Professor für Physiologie am Massachusetts Institute of Technology hat den Begriff im Rahmen des von ihm angestoßenen »Neuroscience Research Program« verwendet.

Erstaunlicherweise war »Neuroscience« aber nicht einmal Schmitts erste Wahl. Zuerst erwog er zur Charakterisierung seines neuen fachübergreifenden Forschungsprogramms nämlich die Sammelbegriffe »mentale Biophysik« und »Biophysik des Geistes«. Schmitt hat nicht nur den »Neuroscience«-Begriff eingeführt, sondern auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Hirnforschung begründet. In der Jubiläumsansprache zum einjährigen Bestehen seines »Neuroscience Research Program« im Jahr 1963 zeigte sich der visionäre Geist Schmitts. Der Neuro-Pionier war ein Mann auf einer Mission: »Es ist notwendig, einen Quantensprung im Verständnis des Geistes zu vollziehen. Nicht nur als akademische Übung wissenschaftlicher Forschung. Nicht nur, um psychische Krankheiten […] zu verstehen und zu lindern. Nicht nur, um durch den verbesserten Dialog eine gänzlich neue Art von Wissenschaft zu erschaffen und so die aktuelle Krise zu überwinden und zu einem neuen Quantensprung in der menschlichen Evolution anzusetzen. Sondern, um durch das Verstehen des Geistes mehr über die Natur unserer eigenen Existenz zu erfahren.«[36]

Auffällig an Schmitts Rede ist, dass der Begriff »Gehirn« darin gar nicht vorkommt. Sein Ziel war das Verständnis des menschlichen Geistes, dazu schien ihm das Verstehen des Gehirns selbstverständliche Voraussetzung zu sein. Schmitt brachte führende Naturwissenschaftler seiner Zeit dazu, gemeinsam am Gehirn zu forschen. Unter ihnen waren bedeutende Neurophysiologen, Neuroanatomen, Neurochemiker, Psychologen, Psychiater, Neurologen sowie klassische Physiker und Chemiker. Auf den von 1962 bis 1982 abgehaltenen Konferenzen des »Neuroscience Research Program« wurden die fundamentalen Probleme der damaligen Hirnforschung behandelt. Man debattierte über Struktur und Funktion der Synapsen,[37] das Wesen der Neurotransmitter, über frühe Befunde der molekularen Genetik, Hirnreifung und adaptive Plastizität des Gehirns.

Das »Neuroscience Research Program« mit seinem institutionalisierten Austausch zwischen hochrangigen Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen war ein wichtiger Vorläufer der heutigen Neuro-Unternehmung. Dementsprechend war das erste wissenschaftliche Journal, das »Neuroscience« in seinem Titel trug, das 1963 gegründete Neurosciences Research Program Bulletin. Heute, 50 Jahre später, gibt es weit über 100 Zeitschriftentitel, die den Begriff »Neuroscience« enthalten. Darunter befindet sich so Exotisches wie das Bangladesh Journal of Neuroscience, das Journal of Nanoneuroscience oder NeuroQuantology: An Interdisciplinary Journal of Neuroscience and Quantum Physics.

Erfolgsbilanz eines Jahrzehnts

Die »Dekade des Gehirns« hat ohne Zweifel wichtige Fortschritte im Verständnis des Gehirns gebracht.[38] Die Genforschung entschlüsselte die genetische Grundlage von Erkrankungen wie Chorea Huntington[39] und anderen neurologischen Störungen. Das alte Dogma der Hirnforschung, dass das erwachsene Gehirn keine neuen Nervenzellen mehr hervorbringen könne, wurde widerlegt. Grundprinzipien der Hirnentwicklung, der dynamischen Formbarkeit des Gehirns (»Neuroplastizität«) und von Gedächtnisprozessen wurden entdeckt. Als größter Erfolg der Neuro-Unternehmung der 1990er Jahre werden aber die neuen Bildgebungstechnologien gefeiert. Das Zeitalter des Neuroimagings war soeben angebrochen. Nuklearmedizinische Verfahren wie die »Positronen-Emissions-Tomographie« (PET) und die »Single-Photon-Emission-Computed-Tomographie« (SPECT) hatten ihre Kinderkrankheiten abgelegt und erlaubten nun erstmals den molekularen Zugriff auf das lebende menschliche Gehirn.[40] Und die »funktionelle Magnetresonanztomographie« (fMRT), über die in diesem Buch noch viel zu lesen sein wird, löste in der Folge einen wahren Hirnforschungsboom aus.

Dem Gehirn beim Lieben und Glauben zusehen

Die faszinierenden neuen Methoden versprachen tiefe Einsichten nicht nur in die Anatomie und Biochemie des Gehirns, sondern auch in dessen Funktionsweise. Man hoffte, schon sehr bald revolutionäre Erkenntnisse zur Biologie von Kognition, Emotionen und Verhalten zu gewinnen. Früher konnte man allenfalls bei neurochirurgischen Eingriffen mittels Elektrodenstimulation im eröffneten Gehirn nach der Lokalisation bestimmter Hirnfunktionen fahnden. Nun aber gestatteten die bildgebenden Verfahren den Forschern, auf nicht-invasive Weise den Blick ins akut denkende und fühlende Hirn zu versuchen. Plötzlich wurde es möglich, nach den neuronalen Korrelaten von Liebeskummer zu suchen.[41] Oder im lebenden Gehirn nach den Spuren jahrelanger Meditation[42] oder einer psychopathischen Persönlichkeitsstruktur[43] zu fahnden. »Funktionelle Hirnbilder scheinen visuelle Diagnosen zu liefern und uns zu sagen, warum wir sind, wie wir sind.«[44]

Gerhard Roth, Neurobiologe und Direktor des Instituts für Hirnforschung an der Universität Bremen, sieht das Revolutionäre in den Neuroimaging-Methoden darin, dass »diese neuen Möglichkeiten das Feld der wissenschaftlichen Analyse der Neurowissenschaften ungeheuer erweitert haben und zwar genau in Gebiete, die früher der Psychologie, der Psychiatrie, auch bis hin zur Philosophie reserviert waren.«[45] Ein Quantensprung nicht nur für die Hirnforschung, sondern auch für Medien und Öffentlichkeit: »Befunde, für die sich früher kaum jemand interessiert hätte, weil sie auch kaum einer verstanden hätte, werden plötzlich registriert, weil sie anschaulich vermittelt werden. Weil man sie quasi sehen kann.«[46] Martha Farah von der University of Pennsylvania geht sogar noch weiter: »Hirnbilder sind die Wissenschaftsikonen unserer Zeit, die Bohrs Atommodell als Symbol für Wissenschaft ersetzt haben.«[47]

Auch die Psychologie transformierte sich in den letzten Jahrzehnten zur Neurowissenschaft und versteht sich nunmehr als kognitive Neurobiologie, die darüber forscht, wie unser Gehirn Denken, Empfinden und Verhalten bestimmt. Im Gegenzug erlitten andere Subdisziplinen der Psychologie wie die Persönlichkeitspsychologie, Entwicklungspsychologie oder Sozialpsychologie einen zunehmenden Popularitätsschwund. Der nicht mehr ganz taufrischen »Organisations- und Betriebspsychologie« droht gar Neuro-Modernisierung per Umbenennung zur »organizational cognitive neuroscience«.[48]

Gerade aus den Reihen der Psychologen kommt aber auch scharfe Kritik an der Übernahme des ureigensten Untersuchungsgegenstandes – der menschlichen Psyche – durch die Neurowissenschaften. In ihrem Buch »Neuromania« beklagen die Kognitionspsychologen Paolo Legrenzi und Carlo Umiltà, dass nun »Wissen, das über Dekaden psychologischer und neuropsychologischer Forschung angehäuft wurde, unter neuen Namen als Neuheit angeboten wird.«[49] Später im Buch wird der Ton noch gereizter: »Mentale Funktionen werden von Psychologen untersucht, nicht von Ökonomen oder Neurowissenschaftlern. Der Ausdruck ›Neuro-Ökonomie‹ impliziert, mehr oder weniger explizit, den Ausschluss der Psychologen. […] Wenn Neurowissenschaftler und Ökonomen beabsichtigen, das Studium mentaler Funktionen von den Psychologen zu übernehmen, ohne das notwendige spezifische Fachwissen zu besitzen, wird die Neuro-Ökonomie nicht weit kommen.«[50]

Fasziniert von den neuen Möglichkeiten des Neuroimagings sind tatsächlich auch viele Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler auf den Ruhm verheißenden Neuro-Zug aufgesprungen. Ein Trend, der bis heute ungebrochen ist. Dies konstatiert auch Matthew Crawford, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute for Advanced Studies in Culture in Virginia: »Eine Schar von Kulturwissenschaftlern greift gegenwärtig nach Autorität – durch Aneignung der Neurowissenschaften, die uns mit der zugehörigen Dialektik des Neuro-Talks dargeboten werden. Diese Redeart ist oft vom Bild eines Hirn-Scans begleitet, diesem schnell wirksamen Lösungsmittel kritischer Einstellung.«[51]

Die Tatsache, dass Hirnforschung immer häufiger auch von Nicht-Neurowissenschaftlern betrieben wird, thematisiert auch der Neuropsychologe Lutz Jäncke von der Universität Zürich: »Das Bemerkenswerte […] ist, dass hier Vertreter von Disziplinen, die nicht aus der Hirnforschung kommen, die Neurowissenschaft für sich entdecken. Man könnte vielleicht schon fast wehmütig festhalten, dass es Zeiten gab, in denen Hirnforscher dieses Fach noch studierten und eine Ausbildung in Neuroanatomie, Neurophysiologie oder Pharmakologie absolvieren mussten, um dann als Hirnforscher wissenschaftlich zu arbeiten. Heute hat man den Eindruck, dass jeder, der eine Bildgebungsstudie durchführt oder durchführen lässt, bereits ein Hirnforscher sei oder zumindest in die Nähe der Hirnforschung einsortiert wird.«[52]

Einige Kritiker behaupten gar, der gegenwärtige Neuro-Hype repräsentiere eine Extremform von Szientismus, wie man ihn bislang noch kaum gesehen habe. Und meinen mit Jürgen Habermas, dass Szientismus ein Verständnis von Wissenschaft impliziere, das andere, ebenso legitime Möglichkeiten der Wissensgenerierung ausschließt.[53] Eine herausragende Eigenschaft dieses Neuro-Szientismus sei die überdehnte Anwendung bestimmter wissenschaftlicher Erklärungen oder Modelle auf Gebiete, in denen diese Erklärungen wenig Aussage- oder Vorhersagekraft habe. So die Kritik des Neuroskeptikers Matthew Crawford von der University of Virginia.[54] Genau diese Form von territorialen Übergriffen hat sich in den letzten Jahren immer und immer wieder zugetragen. Man erinnere sich nur an die notorische Problemzone »freier Wille« (siehe Kapitel 7) und die Tatsache, dass diesbezügliche vermeintliche Erkenntnisse der Hirnforschung bisweilen nicht einmal mehr zur Diskussion gestellt werden. So geben beispielsweise die »Tatort Gehirn«-Autoren Hans Markowitsch und Werner Siefer ihrer Leserschaft zu verstehen, sie seinen womöglich einfach noch unaufgeklärt: »So, wie das Wissen in den weltlich-technisierten Gesellschaften der Industrieländer ansteigt, ist zu erwarten, dass auch die Aufklärung über die Determiniertheit des menschlichen Seins Eingang in breite Schichten der Gesellschaft finden wird.«[55]

Hillary Clinton aktiviert den Wähler-Cortex

Wie weit die Neuroimaging-Begeisterung gehen kann, zeigte sich am 11. November 2007 in einem denkwürdigen Artikel in der New York Times. Neurowissenschaftler von der University of California in Los Angeles und Mitarbeiter des Neuro-Marketing-Unternehmens FKF Applied Research erklärten der Leserschaft des Traditionsblattes, was die Neurowissenschaft zu den kommenden Wahlen um die amerikanische Präsidentschaft zu sagen hat.[56] Eine Gruppe von 20 unentschlossenen Wählern wurde gebeten, ihre Sympathie oder Abneigung für verschiedene Präsidentschaftskandidaten in einem Fragebogen anzugeben. Danach wurde mit funktioneller Magnetresonanztomographie die Hirnaktivität aufgezeichnet, während ihnen Fotos und Videoansprachen von Hillary Clinton, Rudy Giuliani, John McCain und anderen Aspiranten auf die damalige Präsidentschaft gezeigt wurden.

Und was haben die Forscher gefunden? Hillary Clinton aktivierte den Anterioren Cingulären Cortex bei Wählern, die angaben, sie seien eigentlich gar nicht für die Senatorin aus New York. Die Interpretation der Wissenschaftler: Ein innerer Kampf gegen nicht eingestandene Impulse, die Kandidatin der Demokraten doch zu mögen. Auch der Republikaner Mitt Romney »zeigt Potenzial«. Immerhin hätte er bei den eingespielten Reden die »höchste Hirnaktivität« verursacht. Zwar würde sich beim Einspielen von Fotos markante Wählerangst in Form einer aktivierten Amygdala zeigen, jedoch würde sich diese Aktivierung wieder legen, wenn die Versuchspersonen Romney im Video reden hörten. John Edwards hingegen belebte die Insula von Wählern, die Edwards nicht mögen. Gemäß den Forschern ein klares Anzeichen für »Abscheu und andere negative Gefühle«.[57] Auch Barack Obama und John McCain hätten noch »Arbeit zu erledigen«. Die Fotos und Videos hätten bei den Versuchspersonen nämlich keine starken Reaktionen ausgelöst – weder positive noch negative. Obama müsse es bei den unentschlossenen Wählern erst noch gelingen, Eindruck zu machen. Und das scheint ja dann, wie wir heute wissen, noch ganz gut geklappt zu haben.

Mehr Astrologie als Wissenschaft

Zwei Dinge sind für Untersuchungen dieser Art bezeichnend. Erstens scheint es heutzutage nicht mehr auszureichen, Leute einfach in einem Interview zu befragen. Und zweitens schaffen es Studien dieser Machart – beruhigenderweise – kaum je in eine wissenschaftliche Fachzeitschrift. Und auch bei dieser Studie ist davon auszugehen, dass sie den Reviewing-Prozess durch die Fachkollegen nicht überlebt hat. Vermutetes Verdikt: viel zu schlechte Hirnforschung. Auf jeden Fall sind die gescannten amerikanischen Wechselwähler nie in der Fachliteratur aufgetaucht. Aber schon durch den Artikel in der New York Times fühlten sich viele Fachgenossen provoziert. Bereits am 14. November druckte die New York Times einen Brief, in dem gleich 17 amerikanische und europäische Neurowissenschaftler und Kognitionsforscher kollektiv ihren Unmut äußerten.[58] Deren Hauptanklagepunkt: Grobe Unwissenschaftlichkeit. »Mehr Astrologie als echte Wissenschaft« in den Worten des Brief-Initiators Russell Poldrack.[59] Beispielsweise seien die gleichen Hirnregionen typischerweise an vielen mentalen Zuständen beteiligt, weshalb eine Eins-zu-eins-Abbildung zwischen einer Hirnregion und einem bestimmten geistigen Zustand gar nicht möglich sei. Marco Iacoboni, einer der kritisierten Wissenschaftler, zeigte sich überrascht von der harschen Kritik seiner Kollegen. Er warf den Autoren des Leserbriefs Scheinheiligkeit vor – schließlich würden die meisten der Kritiker selbst auch Rückschlüsse von den Gehirnaktivierungen auf mentale Zustände ziehen.

Offensichtlich machte man sich Sorgen um den guten Ruf der Bildgebungsstudien. Ein wenig später erschienenes Editorial in Nature wies darauf hin, dass es sich beim Artikel in der New York Times »offensichtlich um die Behauptungen eines kommerziellen Produkts handelt, das als wissenschaftliche Studie daherkommt.«[60] Die Vermutung ist durchaus begründet, schließlich firmieren gleich drei Mitarbeiter des Neuro-Marketing-Unternehmens FKF Applied Research als Autoren. Am Ende ihrer Entgegnung stellen die Nature Redakteure dann auch noch die nahe liegende Grundsatzfrage: »Braucht irgendjemand einen drei Millionen Dollar teuren Scanner um zum Schluss zu kommen, dass Hillary an ihrer Unterstützung durch Wechselwähler arbeiten muss?«[61]

Hat sich das Thema »Politik und Gehirn« mit jenem legendären New York Times Artikel und den pointierten Entgegnungen medial wie wissenschaftlich erschöpft? Nein, keineswegs. In immer neuen Studien wird seitdem die Überzeugung vertreten, Wahlverhalten und politische Gesinnung seien nicht (nur) soziokulturell bedingt, sondern bereits hirnbiologisch festgelegt. Im April 2011 hat sich der Berliner Tagesspiegel mit neurowissenschaftlichem Brachialreduktionismus weit aus dem Fenster gelehnt. »Linksliberale haben mehr Gefühl« titelte das Blatt zu einer englischen Studie mit struktureller Magnetresonanztomographie bei Probanden mit unterschiedlicher politischer Gesinnung.[62] »Bei Konservativen ist das Angstzentrum größer – das zeigen Messungen der University of London«, berichtete das Blatt. Die rechte Amygdala von Konservativen hätte nämlich ein »auffällig großes Volumen«, wurden britische Forscher zitiert, die die Studie durchgeführt hatten.[63] Hingegen hätten Linksliberale einen »auffallend voluminösen vorderen Gyrus cinguli. Diese Region des Gehirns spielt für Gefühle eine Rolle, wie Mitleid und die Fähigkeit zur Einfühlung in andere Personen«, so der Tagesspiegel weiter. Während der Anteriore Cinguläre Cortex im Falle der Aktivierung durch Hillary Clinton noch als »innerer Konflikt gegen nicht eingestandene Impulse« gedeutet wurde, geht es im linksliberalen Anterioren Cingulum um Mitleid und Einfühlungsvermögen. Alles scheint möglich in der Neuro-Politologie. Der Tagesspiegel auf jeden Fall hatte keine Zweifel und folgerte mutig: »Linksliberale haben ein anderes Gehirn als Konservative«.[64]

Cyber-Phrenologie

Immerhin, im Gegensatz zur viel gescholtenen Neuro-Politik-Studie der Amerikaner konnte die britische MRT-Untersuchung in einer renommierten Fachzeitschrift publiziert werden.[65] Die Forscher vom Londoner Institute of Cognitive Neuroscience haben Struktur-Eigenschaften des Gehirns vermessen und nicht wie sonst üblich, funktionelle Aktivierungen erfasst. Umso mehr könnte man allerdings geneigt sein, die Neuro-Politologen des Betreibens von »Cyber-Phrenologie« zu bezichtigen. Damit ist das Bestreben gemeint, mit den modernen Methoden der Hirnforschung von physiognomischen Merkmalen auf Persönlichkeitseigenschaften zu schließen. Genau dieses Prinzip hat nämlich schon Ende des 18. Jahrhunderts Franz Joseph Gall verfolgt. Mit seiner »Schädellehre« (Phrenologie) postulierte der Arzt aus Schwaben, es sei möglich, aus der Kopfform des Menschen seinen Charakter abzulesen.

Der Begriff »Cyber-Phrenologie« stammt von Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung an der Eidgenössisch-Technischen Hochschule Zürich. In einem Interview mit den Kunsthistorikern Gabriele Werner und Horst Bredekamp erläutert Hagner, was er unter der neuen »Physiognomik des Geistes« versteht: »Nach meiner Auffassung kann keine visuelle Darstellung des Gehirns bei der Arbeit allein definitive Aussagen über das Geistesleben des Menschen machen. Dennoch ist die schöne neue Bilderwelt der aktuellen Hirnforschung außerordentlich populär, und das liegt nicht zuletzt daran, dass hier neben visuellen Formen und Themen auch Thesen aufgegriffen werden, die ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Dafür ist mir kein besserer Begriff als Cyber-Phrenologie eingefallen, der schlicht darauf hinweisen soll, dass die mittels der neuen bildgebenden Verfahren gewonnenen Ansichten des Gehirns einen physiognomischen Blick implizieren, der nach der Devise funktioniert: Zeig mir dein Gehirn, und ich sage dir wer du bist, oder wenigstens, was du denkst.«[66]

Schon Franz Joseph Galls Phrenologie wurde von einigen Zeitgenossen scharf kritisiert. So befand beispielsweise der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »der Schädelknochen für sich [sei] ein so gleichgültiges, unbefangenes Ding, dass an ihm unmittelbar nichts anderes zu sehen und zu meinen ist als nur er selbst.«[67] Auch der französische Physiologe Jean Pierre Flourens hielt nichts von Galls Schädellehre. Für Flourens ließ sich Galls Doktrin auf zwei Grundannahmen reduzieren. Erstens, dass sich der »Verstand« nur im Gehirn befinde und zweitens, dass jeder seiner Unterbereiche sein »eigenes Hirnorgan« habe.[68] Für Flourens enthielt die erste Annahme nichts Neues und die zweite Annahme »wohl nichts Wahres.«[69] Exakt dasselbe sagen viele Zeitgenossen heute auch von der bunten Cyber-Phrenologie des Imagingzeitalters.

Trotz weit verbreiteter Praxis ist die Anwendung von Neuroimaging-Methoden auf geistige Prozesse alles andere als unproblematisch. In dieser Art von Experimenten steckt implizit die logische Prämisse, dass die verschiedenen Bewusstseinsleistungen in separaten und von einander abgrenzbaren Hirnregionen oder funktionellen Modulen ablaufen. Etwa in der Art, wie es der Harvard-Psychologe Steven Pinker in seinem Buch »How the mind works« beschreibt: »Der Geist ist in Module oder mentale Organe gegliedert, jedes mit einem spezialisierten Aufbau, das es zu einem Experten auf der Bühne der Interaktion mit der Welt macht.«[70] Nur wenn man diese Sichtweise teilt, ist es überhaupt sinnvoll, eine Taxonomie des Geistes – beziehungsweise seiner biologischen Grundlage – zu versuchen.

Aber schon diese logische Prämisse ist unter Fachleuten höchst umstritten. Kritiker wie der Psychologe William Uttal von der Arizona State University haben schon vor zehn Jahren zu bedenken gegeben, dass das modulare Denken bezüglich kognitiver Leistungen einem historisch bedingten willkürlichen Denken in Kategorien entspringe.[71] »Mustererkennung«, »gerichtete Aufmerksamkeit«, »Arbeitsgedächtnis«, »visuelles Gedächtnis« – all dies sind Konzeptualisierungen von Kognitionspsychologen. Und im Gehirn nach einer realen biologischen Matrix für kognitionspsychologische Konzepte zu fahnden, ist ohne Zweifel ein fragwürdiges Unternehmen. Ähnlich sieht dies der Kritiker Steven Faux. Ganz oben auf seiner persönlichen Hitliste fragwürdiger neuropsychologischer Konzeptualisierungen des Gehirns sieht der Psychologe der Drake University die »exekutiven Funktionen«: »Das ist ein echter Favorit – die ›zentrale Exekutive‹ zu messen. Was bitte soll das sein?«[72] Dieselbe Frage mag man sich auch für das bei den Neuro-Ökonomen beliebte »Verlustaversions-System« stellen.[73] Ein eigenes, spezifisches Netzwerk im Gehirn, das nur dann anspricht, wenn finanzieller Verlust droht?

Das Denken in kognitiven Modulen ist allerdings zweckmäßig für den Forscheralltag: »Die Annahme mentaler Modularität scheint vor allem deshalb attraktiv zu sein, weil es praktisch ist, um darüber zu reden und nachzudenken und […] um Experimente zu entwerfen.«[74]

Matthew Crawford vom Institute for Advanced Studies in Culture gibt in seinem Aufsatz »Die Grenzen des Neuro-Talks« zu bedenken, dass solche konzeptuellen Vereinfachungen keineswegs nur wissenschaftlich und erkenntnistheoretisch fragwürdig sind, sondern durchaus gesellschaftsrelevante Folgen haben: »Vereinfachungen wie diese sind nicht unschuldig. Sie liefern nämlich Unternehmen wie No Lie MRI[75] den unerlässlichen Vorwand zur Erlangung von Glaubwürdigkeit. Was wiederum dazu führen könnte, die Ausübung von Zwangsmaßnahmen durch Zivilbehörden zu rechtfertigen.«[76] Dass man bildgebende Verfahren auch ganz praktisch für politische Zwecke einsetzen kann, zeigt das Beispiel der Lighted Candle Society. Diese gemeinnützige amerikanische Organisation hat dem Zerfall moralischer Werte unter ihren Landsleuten den Kampf angesagt. Die Lighted Candle Society hat angekündigt, in einer fMRT-Studie nachweisen zu wollen, dass Pornographie süchtig macht und deshalb verboten gehöre.[77] Verlaufe die Studie erfolgreich, würden juristische Schritte gegen die Pornoindustrie ergriffen.

Neuro-Sexismus

Mit Verweis auf die scheinbar harte Wissenschaftlichkeit der Neuroforschung lassen sich neuerdings auch wieder Thesen vertreten, die eine Zeit lang unpopulär waren. Beispielsweise, dass Frauen und Männer eben doch ganz verschieden seien. Und dass diese Unterschiedlichkeit – in aller Regel zum Nachteil der Frau – in der Beschaffenheit ihrer Gehirne fest verdrahtet sei. Für diese besondere Ausprägung von Neuro-Autorität hat sich bereits der Begriff »Neuro-Sexismus« eingebürgert. Der Vorwurf: Uralte Geschlechtervorurteile würden per fMRT-Kleckskunde (»blobology«) mit bunten Hirnbildern neu aufgekocht. Gerade das Klischee »emotionale Frau – rationaler Mann« ist wieder gut im Geschäft. So vertritt der Cambridge-Psychologe Simon Baron-Cohen unbeirrt die Position, das weibliche Gehirn sei auf emotionale Analysen und das männliche Gehirn auf das Verstehen von Systemen ausgelegt.[78] Cordelia Fine, Kognitionspsychologin und feministische Kritikerin der Neurowissenschaften, spricht in ihrem Buch »Geschlechterwahn«[79] von »gewaltigen intellektuellen Bocksprüngen«, die in der Hirnforschung gemacht würden, um von der »Analyse fragwürdiger Hirndaten« zu Aussagen über geschlechtertypisches Verhalten zu kommen.

Das Prinzip ist alt, nur die Methoden sind neu. Die Autorin verortet den Ursprung des Neuro-Sexismus nämlich im 19. Jahrhundert. Zur Untermauerung politischer Ziele, beispielsweise Frauen von höherer Bildung und der Wahlurne fernzuhalten, wurde schon vor 100 Jahren die Anatomie des Gehirns bemüht. So berichtet Fine vom namhaften amerikanischen Neurologen Charles Dana, der 1915 anhand von sechs Unterschieden im Zentralnervensystem von Männern und Frauen argumentierte, dies sei der Beweis dafür, dass es den Frauen am notwendigen Intellekt für Regierungsgeschäfte und Politik fehle.[80] Die Psychologin fragt sich weiter, ob das, was heute abläuft, so wesentlich anders ist, als was Wissenschaftler des Viktorianischen Zeitalters behaupteten. Dass die kruden Untersuchungstechniken durch moderne Hirnscanner ersetzt wurden, heiße noch lange nicht, dass die Interpretation der Befunde nun wahrer sei als damals. Sicher ist nur, dass als Wissenschaft getarnter Sexismus sozial gut akzeptiert bleibt.

Das Jahrhundert des Gehirns

Rein kalendarisch wäre die »Dekade des Gehirns« längst abgelaufen. Aber auch eine Dekade nach der »Dekade des Gehirns« ist der neurowissenschaftliche Boom ungebrochen. Auf wissenschaftlichen Konferenzen wurde bereits das gesamte 21. Jahrhundert zum »Jahrhundert des Gehirns« erklärt.[81] Ähnlich, wie das »Gen« das »zentrale organisierende Thema der Biologie des 20. Jahrhunderts war«,[82] dürfte das Gehirn die entsprechende Stellung in unserem Jahrhundert einnehmen. Die Hirnforschung ist längst zur Leitwissenschaft geworden und erhebt nicht selten den Anspruch, andere Disziplinen sollten sich an ihren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren. Weshalb dem so ist, fassen Ewa Hess und Hennric Jokeit in ihrem Aufsatz »Neurokapitalismus« kurz und knapp zusammen: »Grundlage, Impetus und Versprechen dieses Anspruchs [der Neurowissenschaften] ist ihre Maxime, dass alles menschliche Verhalten durch die Gesetzmäßigkeiten der Aktivitäten von Nervenzellen und der Art, wie sie im Gehirn organisiert sind, bestimmt ist.«[83]

Gar von echter Neuro-Arroganz möchte man sprechen, wenn beispielsweise der Psychologe Hans Markowitsch und der Wissenschaftsjournalist Werner Siefer genau zu wissen scheinen, was richtige Wissenschaft ist und was nicht. In ihrem Neuro-Forensik-Klassiker »Tatort Gehirn« lassen sie den Leser wissen: »Natürlich kann man naturwissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren und Recht und Hirnforschung als nicht interaktionsfähige Disziplinen ansehen. Rechtsprechung existiert auf der Basis des Volksglaubens und damit allenfalls der Alltagspsychologie.«[84] Sich gerade noch knapp über dem Niveau von Hausfrauenzeitschriften-Psychologie angesiedelt zu wissen, dürfte für viele Rechtswissenschaftler eine unerfreuliche Leseerkenntnis gewesen sein. Während die Neurowissenschaften vor Selbstvertrauen nur so strotzen und gerne auch den weltbildgebenden Auftritt pflegen[85], scheinen die Geisteswissenschaften mehr denn je von Selbstzweifeln geplagt.

Lange ist es her, dass eine Geisteswissenschaft den Status einer Leitwissenschaft innehatte. Letztmals gelang dies der Soziologie in den 1970er Jahren. Ganz ähnlich wie dieser Tage die »Neuro-X-Disziplinen« entstanden in jener Zeit eine Fülle von neuen Soziologie-Bindestrich-Wissenschaften: Wirtschafts-Soziologie, Sport-Soziologie, Medizin-Soziologie, Medien-Soziologie, Ethno-Soziologie, Sozio-Linguistik und so weiter. Heute triumphiert die vermeintlich exakte empirische Hirnforschung über die vermeintlich spekulativen und theoriengeleiteten Geisteswissenschaften.

Die Neuro-Enterprise hat ihren eigenen Finanzindex

Trotz zunehmender Kritik an der tatsächlichen Aussagekraft neurowissenschaftlicher Befunde boomt die Neuro-Industrie heute mehr denn je. Längst hat sich ein globalisierter Neuro-Wirtschaftszweig mit einer einflussreichen Lobby gebildet. In ihrem Essay »Die Auswirkungen der neuen Wissenschaften des Gehirns« stellt Joelle Abi-Rached von der London School of Economics eine interessante Frage: »Ist die Ausrichtung der neurowissenschaftlichen Forschung ein demokratischer Prozess, oder einer, der von bestimmten Gruppen mit politischen, wirtschaftlichen oder anderen Interessen angetrieben ist?«[86]

Die Neuro-Industrie unserer Tage ist ein dicht verwobenes Konglomerat aus privatwirtschaftlichen Unternehmen, staatlichen Institutionen und Interessenverbänden. Bedeutende Mitspieler sind die pharmazeutischen Großkonzerne, die Herstellerfirmen von Forschungs- und Therapietechnologie (wie Siemens, Hitachi oder GE Healthcare), universitäre Institute und private Forschungseinrichtungen, die Zulassungsbehörden und Ethikkommissionen, Finanzdienstleister, Berufsverbände von Ärzten und Neurowissenschaftlern, private und staatliche Forschungs-Sponsoren sowie die neurowissenschaftlichen Fachzeitschriften.

Dass die »Neuro-Enterprise«[87] ein bedeutender Wirtschaftszweig geworden ist, zeigt sich schon daran, dass sie ihren eigenen Finanzindex hat: Den NASDAQ NeuroInsights Neurotech Index (»NASDAQ NERV«). Der Neurotech-Index wurde von der New Yorker Börse in Zusammenarbeit mit Zack Lynchs eingangs vorgestellten Neurotechnology Industry Organization geschaffen. Der Index ist gerade in Hochform. Am Tag, an dem ich dies schreibe, ist der NASDAQ NERV knapp vier Punkte unter der bisherigen Rekordmarke.

Allein schon die Existenz eines eigenen Finanzindexes vermittelt eine klare Botschaft an potenzielle Investoren: Auf dem Neurotech-Markt lässt sich Geld verdienen. Bislang in erster Linie mit Firmen, die Forschungstechnologie für die Neurowissenschaften herstellen. Denn diese wird heute schon in großem Stil nachgefragt. Nach Vorstellung der Neuro-Lobbyisten ist es aber nur eine Frage der Zeit, bis die »revolutionären Erkenntnisse aus der Hirnforschung« zur Entwicklung einer Vielzahl von kommerziell verwertbaren Produkten führen. Und genau so wie vor einigen Jahren die Vorreiter der Biotech-Industrie macht auch die »Neuro-Enterprise« große Versprechungen. Bald schon sei das Gehirn verstanden und werde damit zum Objekt zielgerichteter Manipulation. Die Vielfältigkeit der möglichen Einflussnahmen wird als grenzenlos gezeichnet. Neurologische, neurodegenerative und psychiatrische Störungen sollen mit Medikamenten, Hirnstimulatoren und Neuroprothesen gezielt behandelbar werden. Hirnscanner zur Lügendetektion könnten an Flughäfen und in Gerichtssälen Einzug halten. Nebenwirkungsarme Psychopharmaka werden uns als Lifestyle-Drogen bei der Selbstoptimierung helfen. Ganz zu Schweigen von den ungeahnten Möglichkeiten für die Unterhaltungsindustrie, sollte dereinst einmal das Computer-Brain-Interface entwickelt sein.

Alles schon da gewesen

Irgendwie kommt einem das doch bekannt vor. Wir erinnern uns: »Im Buch des Lebens zu lesen«, hieß es zu Beginn des Humangenomprojekts in den 1990er Jahren, würde die Türen zu revolutionären Behandlungsmethoden weit aufstoßen. Krebserkrankungen, zystische Fibrose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen – all diese Geißeln der Menschheit könnten heilbar werden, wenn erst einmal die genetischen Grundlagen der Krankheiten verstanden sind. Gerade diese lautstark vorgetragenen medizinischen Heilsversprechungen überzeugten die Politik von der Notwendigkeit des Humangenomprojekts: »Die Möglichkeit der Gentherapie, besonders der Austausch defekter Gene, wurde hartnäckig in den Vordergrund gestellt, obwohl es gerade hier in den neunziger Jahren schwere und desillusionierende Fehlschläge gab.«[88] Doch die Versprechungen gingen noch viel weiter. So stellte der Biologe und Science-Redakteur Daniel Koshland Ende der 1980er Jahre gar in Aussicht, das Human Genome Project könnte dazu beitragen, soziale Probleme wir Drogensucht, Obdachlosigkeit und Gewaltverbrechen zu lösen.[89]

Die Total-Sequenzierung des menschlichen Erbguts liegt zwischenzeitlich schon eine ganze Dekade zurück und im heutigen Zeitalter der Postgenomik ist allgemeine Ernüchterung eingetreten. Wie sich herausstellte, kann man das gesamte Genom des Menschen wohl kartographieren. Eine erstaunliche wissenschaftliche Leistung, wenn man bedenkt, dass es gelang, die drei Milliarden Basenpaare des menschlichen Genoms in weniger als 15 Jahren zu bestimmen. Leider versteht man aber die biologische Bedeutung des genetischen Codes für den Organismus nicht oder höchstens ansatzweise. Durch den Zuwachs an verfügbaren genetischen Daten wurde die Sachlage eben nicht wie erhofft vereinfacht. Die Molekularbiologen mussten im Gegenteil erkennen, dass die genetische Regulation unserer Zellen ungleich komplexer abläuft, als man dies früher angenommen hatte. Schon bald wurde beispielsweise klar, dass »[…] die Rede vom ›Gen für dies‹ und ›Gen für das‹ im entwicklungs- und evolutionsbiologischen Zusammenhang eher irreführt als aufklärt.«[90]

Wo ist die genetische Revolution geblieben?

Die Wissenschaftshistoriker Staffan Müller-Wille und Hans-Jörg Rheinberger sind sich heute sicher, dass »die wissenschaftliche Karriere des Genbegriffs nicht etwa durch sein Erklärungspotenzial, sondern viel mehr durch die Struktur und Dynamik seines Forschungspotenzials ermöglicht wurde.«[91] Trotz enormer staatlicher und privater Investitionen in die Gentherapieforschung und der Vergabe von Risikokapital in Milliardenhöhe an unzählige Biotech-Startups ist bislang nichts therapeutisch Anwendbares entwickelt worden. Kein einziges gentherapeutisches Verfahren hat es bis heute in die Klinik geschafft.

Wo die proklamierte »genetische Revolution« bloß geblieben sei, fragt sich in einem Spiegel-Interview auch der deutsche Medizinethiker und Philosoph Urban Wiesing: »Es gab […] Vorhersagen, dass in 15 bis 20 Jahren die Medizin im Wesentlichen aus Gentherapie bestehen würde. Derzeit gibt es aber keine einzige mir bekannte Studie, die Gentherapie nah an der therapeutischen Nutz- und breiten Einsetzbarkeit untersucht. Kurzum: Im Bereich der Genetik wurden angesichts der neuen Entdeckungen Prognosen in die Welt gesetzt, die weit überzogen waren.«[92]

Alles nur eine Frage der Geduld? Mag sein. Immerhin laufen derzeit verschiedene klinische Studien. Bioinformatik und Systembiologie machen Fortschritte. Und auch das »ENCODE-Project«,[93] das alle funktionellen Elemente des Humangenoms identifizieren und charakterisieren will, könnte dereinst die Gentherapie-Unternehmung weiter bringen. Andererseits sind vierzig Jahre Forschungserfahrung auch nicht gerade wenig. Der erste Versuch einer Gentherapie am Menschen wurde nämlich bereits 1971 publiziert.[94]

Zugegeben, die genetische Regulation biologischer Prozesse ist eine komplizierte Angelegenheit und selbstverständlich auch für das Gehirn von fundamentaler Bedeutung. Das Gehirn, so scheint es, ist aber eine nochmals ungleich kompliziertere Angelegenheit. Schon allein deshalb scheint es extrem unwahrscheinlich, dass die großen Zukunftsversprechen der Neuro-Lobbyisten unserer Tage auch nur ansatzweise in Erfüllung gehen werden. Ähnlich wie in der Genetik seit neuestem die Identifizierung von »Transkriptom« und »Proteom« als therapeutischer Heilsweg propagiert wird,[95] geht auch das funktionelle Neuroimaging gerade in die nächste Runde.

Nachdem konventionelle fMRT-Untersuchungen von psychischen Störungen nichts klinisch Umsetzbares erbracht haben, erhofft man sich den großen Durchbruch nun durch das »Human Connectome Project«. Worum es dabei geht, ist auf der entsprechenden amerikanischen National Institute of Health-Webseite erklärt: »Das NIH Human Connectome Project ist ein ambitioniertes Vorhaben, die Nervenbahnen zu kartographieren, die den Hirnfunktionen zugrunde liegen. Übergreifender Zweck des Projekts ist es, Daten zur strukturellen und funktionellen Konnektivität des menschlichen Gehirns zu sammeln und gemeinsam zu nutzen. […] Alles in allem wird das Human Connectome Project zu wichtigen Fortschritten in unserem Verständnis davon führen, was uns einzigartig menschlich macht und die Voraussetzungen für zukünftige Studien krankhafter Hirnnetzwerke bei vielen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen schaffen.«[96]

Mit brachialer Rechengewalt zu einer Theorie des Gehirns

In Bezug auf Geltungsbereich, erwartete Vielfalt möglicher Anwendungen und erkenntnistheoretische Autorität stehen die heutigen Neurowissenschaften der Genetik der 1990er Jahren in nichts nach. In der Genetik haben sich die großen Versprechungen längst relativiert. In den Neurowissenschaften hingegen ist heute, eine Dekade nach der »Dekade des Gehirns«, der Glaube an die Erklärungsmacht der Hirnforschung und seine revolutionären Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft noch ungebrochen.

Bestes Beispiel dafür ist das monumentale Human Brain Project, für das Projektleiter Henry Markram gerade EU-Fördergelder von einer Milliarde Euro einzuwerben versucht. Der renommierte Neurowissenschaftler von der Eidgenössisch-Technischen Hochschule Lausanne steht einem internationalen Wissenschaftlerteam vor, das sich ein ambitioniertes Ziel gesetzt hat: In zehn Jahren wollen sie das menschliche Gehirn als Simulation im Computer modellieren.

Mit dem Nachbau des kompletten menschlichen Gehirns »in silico« sollen die Ursachen von Alzheimer und Parkinson verstanden werden und ein »biologisch realistisches« Modell für Schizophrenie und Depression inklusive einer Testplattform für neue Medikamente entstehen. Letzten Endes will man nicht weniger als das Gehirn selbst verstehen. Und als Nebeneffekt sollen Ideen für völlig neuartige Computer und Roboter abfallen. Erneut mag man sich verdächtig stark an das Human Genome Project erinnert fühlen. Nicht nur, weil sich die Projektnamen bloß in einem Wort unterscheiden, sondern auch wegen der Größe der gemachten Versprechungen. Mit der brachialen Rechengewalt von Supercomputern wird sich das Rätsel Gehirn wohl lösen lassen, so das offensichtliche Rezept des Human Brain Project Konsortiums.

Die Forscher sind längst an der Arbeit. Bis vor kurzem hieß das Vorhaben noch Blue Brain Project und war deutlich bescheidener. Man wollte erst einmal eine kortikale Säule aus etwa zehntausend Neuronen im Computer nachbilden. Zu diesem Zweck hat Kooperationspartner IBM Markrams Brain Mind Institute schon 2005 einen Supercomputer ins Labor gestellt. Die Nachbildung eines dieser elementaren Großhirnrinden-Module ist dem interdisziplinären Forscherteam 2006 auch tatsächlich gelungen.

Und was hat das Ganze gebracht? Nun ja, offensichtlich nicht gerade Revolutionäres. Wie auf der Blue Brain Project Webseite ausfindig zu machen ist, gab es zwei Jahre später eine Fachpublikation im Human Frontier Science Program Journal.[97] Dazu einige technische Mitteilungen in Neuroinformatik- und Kybernetik-Zeitschriften. Und nochmals ein Jahr später ein Kapitel im Lehrbuch »Computational Modelling Methods for Neuroscientists«.[98] Aber mit der Milliarde Euro, die man aus dem Future & Emerging Technologies-Programm der EU zu bekommen erhofft (sowie einem noch größeren IBM Blue Gene Computer) wird der große Durchbruch dann schon gelingen – so die implizite Versprechung des hart an der Grenze zum Größenwahn operierenden Vorhabens.

Dabei sind noch nicht einmal die grundlegendsten Fragen geklärt. Beispielsweise, wie es denn überhaupt gehen soll, die zwischenzeitlich Hunderttausende von neurowissenschaftlichen Datensätzen von der molekularen Struktur bis zur Systemebene – die sich häufig auch noch widersprechen – zu einem einheitlichen virtuellen Gehirnmodell zu vereinigen. Man hat zwar keine Ahnung, wo man hinrennt, tut dies aber immer schneller.

Der Konsument, das unbekannte Wesen

Mit dem exzellenten Ruf der Hirnforschung und dem unerschütterlichen Glauben an die Wissenschaftlichkeit und praktische Relevanz von neurobiologischen Studien lässt sich heute bereits Geld verdienen. Ganz besonders bei einem Zielpublikum, das naturgemäß wenig Ahnung von Hirnforschung hat und somit auch nicht kritisch beurteilen kann, wie groß die tatsächliche Aussagekraft einer bestimmten Hirnaktivierung ist. Werber und Marketing-Fachleute zum Beispiel. Ein Paradebeispiel für das Bestreben, die Neurowissenschaften zu kommerziellen Zwecken zu nutzen, ist das seit etwa 2002 bestehende Gewerbe des Neuro-Marketings. Mit neurowissenschaftlichen Methoden, allen voran der fMRT, sollen die Geschmäcker und Vorlieben der Konsumenten auf neurobiologischer Ebene entschlüsselt werden. Und daraus, so die implizite Versprechung, könne dann das Kaufverhalten vorausgesagt werden. Und zwar viel zuverlässiger, als dies mit konventionellen Marketinguntersuchungen wie Fragebögen oder qualitativen Interviews möglich sei. Dies zumindest behaupten amerikanische Neuro-Marketing-Firmen wie SalesBrain oder Lucid Systems in der Eigenwerbung. Auf ihrer Webseite erklärt Lucid Systems