New Work - Christine Thiel - E-Book

New Work E-Book

Christine Thiel

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Beschreibung

Der medial erzeugte »Hype« um das Digitale NomadInnentum motiviert jüngere, gut ausgebildete WissensarbeiterInnen dazu, sich ein mobiles Leben jenseits der Festanstellung zu erarbeiten. Wie gestalten sie ihr mobiles Arbeitsleben jenseits medialer Selbstinszenierungen? Welche Ressourcen und Persönlichkeitszüge benötigen sie für diesen Lebensstil? Davon erzählen mobile WebworkerInnen an den globalen Hotspots in München, Teneriffa, Bali und Thailand. Ihre Fallstudien zeigen den Umgang mit Herausforderungen wie Desillusionierung, Prekarisierung und Einsamkeit. Deutlich wird, wie die Digitale Transformation, eine neoliberale Arbeitsmarktpolitik sowie eine zunehmende Ökonomisierung und Prekarisierung die Wünsche Vieler formen und weit über das rein Geschäftliche in ihre privaten Alltagswelten hineinreichen.

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Christine Thiel

New Work

Der mobile Alltag Digitaler Nomaden zwischen Hype und Selbstverwirklichung

Campus Verlag Frankfurt / New York

Über das Buch

Der medial erzeugte »Hype« um das Digitale Nomad_innentum motiviert jüngere, gut ausgebildete Wissensarbeiter_innen dazu, sich ein mobiles Leben jenseits der Festanstellung zu erarbeiten. Wie gestalten sie ihr mobiles Arbeitsleben jenseits medialer Selbstinszenierungen? Welche Ressourcen und Persönlichkeitszüge benötigen sie für diesen Lebensstil? Davon erzählen mobile Webworker_innen an den globalen Hotspots in München, Teneriffa, Bali und Thailand. Ihre Fallstudien zeigen den Umgang mit Herausforderungen wie Desillusionierung, Prekarisierung und Einsamkeit. Deutlich wird, wie die Digitale Transformation, eine neoliberale Arbeitsmarktpolitik sowie eine zunehmende Ökonomisierung und Prekarisierung die Wünsche Vieler formen und weit über das rein Geschäftliche in ihre privaten Alltagswelten hineinreichen.

Vita

Christine Thiel, Dr. phil., promovierte an der Universität München über ortsunabhängiges Arbeiten. Sie arbeitet remote als Community- und IT-Projektmanagerin bei einem Münchner Karrierenetzwerk.

Inhalt

Dank

Prolog

I.Konturen der Arbeitsmarkttransformation

1Digitales NomadInnentum im Spiegel der Arbeitsmarkttransformation

II.Strukturen der Szene

2Drei Perspektiven auf die Szene

3Szene als Interaktionsgeflecht

3.1Zusammenhalt im Inneren: Ikonen als Identifikationsfiguren

3.2Binnendifferenzierungen: Szenekern und Szenepublikum

3.3Abgrenzung nach außen: Szenespezifische Sinnangebote

4Szene als Markt

4.1Genese des Szene-Marktes: Aufbau und Vermarktung eines Lebensstils

4.2»Klassengesellschaft der Entrepreneure«: Monetäre Szenehierarchien

4.3Zwischen Verdrängung und Kritik: Umgang mit den Marktlogiken

5Denkschulen in der Szene

5.1»I choose freedom«: Mindset, Empowerment & mentale Freiheit

5.2»Arbeite und lebe nach deinen eigenen Regeln«: UnternehmerInnentum & neoliberale Freiheit

5.3»Namaste, Freiheit!«: Spirituelles NomadInnentum

III. »I choose freedom«: Befreiungsdiskurse

6Charakteristika des Befreiungsdiskurses

7Befreiung aus der Festanstellung? Selbstständigkeit statt Sicherheit

7.1Bilder über angestellte Erwerbsarbeit: Festanstellung als »Hamsterrad« und »Knast«

7.2Eliminierung von Arbeit: passives Einkommen

7.3Sinnlose Freizeit: Sinnstiftung durch Arbeit

8Befreiung von gesellschaftlichen Regeln und Normen? Selbstverwirklichung statt »Standardleben«

8.1Gesellschaft aus der Distanz: Reflektion durch Reisen

8.2Reflektion des institutionalisierten Lebenslaufs: Ambivalenzen und Konflikte

9Befreiung von staatlichem Zugriff? Selbst(vor)sorge statt Sozialstaat

9.1Die Zukunft als Black Box: Altersvorsorge

9.2Risiko statt Sicherheit: ALG II als Fall-Back-Lösung?

9.3»Globales Rosinenpicken«: Geoarbitrage und globale Steuersparmodelle

IV.»New Work«: mobiler Arbeits- und Lebensstil

Vignette: Mobiler Alltag jenseits ästhetischer Bilder. Zwischen (Im-)Mobilität und (Un-)Produktivität

10Rechtliche Grauzonen an den Hotspots in Asien: »neue« Begrenzungen und Mobilitätszwänge

10.1»Einreiseverfahren in Thailand. Stetig wechselnd.«: Halbwissen und Wissensfelder

10.2Aufenthalt in Thailand: Arbeiten in der gesetzlichen Grauzone

10.3Ausreisen, um zu bleiben: Mobilitätsstrategien im Umgang mit Grenzregimen

11Weniger Freiheit, weniger Frustration? Routinen als Stabilisatoren im mobilen Alltag

11.1Reisen vs. Multilokalität: (Im-)Mobilitätsroutinen als Stabilisatoren

11.2Zeitliche und räumliche Begrenzungen von Arbeit und Leben: fordistische Stabilisatoren

11.3Meditieren und Morgenroutine: mentale Stabilisatoren aus der Lifestyle-Philosophie

12Arbeit im Netz – Arbeit mit dem Netz: Entgrenzung von Arbeit und Leben

12.1Selbstmarketing und Selbstökonomisierung: Zwischen Authentizität und Selbstverleugnung

12.2Netzwerk-Praktiken in der Szene: zwischen Freundschaft und Business-Kontakt

12.3Zusammenarbeit mit Team und KundInnen: Vertrauensbildung online und offline

V. Fazit

13Zwischen Befreiungsdiskursen und Praktiken

13.1Zwischen selbstbestimmter Künstlerexistenz und neokapitalistischen Logiken

13.2Zwischen postfordistischen Rhetoriken und fordistischen Praktiken

13.3Zwischen Mobilitätsidealen und neuen Begrenzungen

14Zwischen Freiheit und neue Begrenzungen

15Mobile WebworkerInnen als Prototypen des flexiblen Kapitalismus?

Literatur

Dank

Während meines Forschungs- und Schreibprozesses haben mich zahlreiche Personen und Institutionen inspiriert und unterstützt. An dieser Stelle möchte ich ihnen meinen Dank aussprechen.

Mein besonderer Dank gilt den Interviewten, die sich mir geöffnet und mit mir diskutiert haben. Sie haben es mir so ermöglicht, Selbstverständliches aus einem anderen Licht zu sehen und eigene Bilder und Vorstellungen in meinem Kopf zu hinterfragen. Viele von ihnen habe ich über mehrere Jahre auf ihrem Weg begleiten dürfen, mit anderen habe ich ein Stück des Weges geteilt. Sie haben mir ihre Denkhorizonte aufgezeigt und tiefe Einblicke in ihre Arbeits- und Lebenswelten gegeben, die nun das Herzstück dieser Arbeit bilden. Ohne ihre Offenheit und ihre Zeit, die sie mir und meiner Forschung geschenkt haben, hätte diese Arbeit niemals entstehen können.

Gleichermaßen dankbar bin ich meiner Betreuerin Irene Götz, die mir stets auf sehr empathische, unterstützende und wohlwollende Weise zur Seite stand. Danke für all die motivierenden und ermutigenden Worte, die mich stets mit frischer Inspiration und großem Tatendrang ins Feld oder an den Schreibtisch zurückkehren ließen, aber auch für die großen Freiräume beim Forschen und Verschriftlichen der Dissertation. Danke auch für die Einführung und Vernetzung in einschlägige wissenschaftliche Netzwerke und Kontexte. Zu nennen sind hier insbesondere das internationale Promotionsprogramm »Transformations in European Societies«, wo ich meine Zweitbetreuerin Johanna Rolshoven kennenlernte, die mich ebenfalls auf sehr empathische und hilfreiche Weise in meinem Schreibprozess unterstützte. Auch das DoktorandInnen-Kolloquium von Irene Götz ermöglichte mir wichtigen Kontakt und Austausch mit KollegInnen, der sich jenseits dieser Veranstaltung fortsetzte. An dieser Stelle möchte ich mich für die enge fachliche und freundschaftliche Zusammenarbeit mit Sharon Brehm und Noemi Sebök-Polyfka bedanken. Beide haben nicht nur nahezu das gesamte Manuskript gelesen, sondern mich auch durch die Höhen und Tiefen meiner Dissertation begleitet. Viele relevante Diskussionen und Debatten über zentrale Forschungsfragen führte ich außerdem auf den DoktorandInnen-Treffen der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Hanns-Seidel-Stiftung. Ohne diese beiden Stipendien hätte die vorliegende Studie in ihrer jetzigen Form nicht entstehen können, weil das Forschungsdesign so angelegt war, dass es hohe Mobilität und vollen Zeiteinsatz erforderte, die mit einer ortsgebundenen Festanstellung nicht vereinbar gewesen wären. Die Möglichkeit, Multi-Sited-Ethography an verschiedenen Hotspots durchzuführen, die Menschen vor Ort kennenzulernen und dabei selbst in gewisser Weise zur mobilen Webworkerin zu werden, war für mein Erkenntnisinteresse von außerordentlicher Wichtigkeit. Für die durch die Finanzierung dieses Forschungsprojektes ermöglichte Flexibilität bin ich außerordentlich dankbar. Ich hoffe, möglichst viele der Eindrücke vor Ort über diese Arbeit weitertransportieren zu können.

Während ich meine Forschung an den verschiedenen Orten dieser Welt durchführte, gaben mir meine Eltern Brigitte und Richard Thiel sowie meine Großeltern immer einen Ort, den ich Heimat nennen durfte, wohin ich zurückkehren konnte, um Kraft zu schöpfen oder in Ruhe an meiner Dissertation zu schreiben.

Prolog

Diese Studie wurde am 24. 6. 2020 von der LMU München als Dissertation angenommen. Sie ist das Ergebnis eines fünfjährigen Forschungs- und Schreibprozesses, dessen Ausgangspunkt im Jahr 2015 mein Interesse für die Auswirkungen der digitalen Transformation auf die Arbeitswelt war. Welche neuen Bilder, Ideologien, Machtwirkungen und Praxen im Hinblick auf Arbeit und Lebensführung entstehen? Wie werden diese in der Praxis realisiert?

Ich entschied mich dafür, diese Entwicklung am Beispiel der digitalen NomadInnen-Szene zu untersuchen, die auf diesem Nährboden entstanden ist, weil diese viele Phänomene der digitalen Transformation und des damit verbundenen Umbruchs von Lebens- und Arbeitswelten auf die Spitze treibt. Der medial erzeugte »Hype« um das digitale NomadInnentum motiviert jüngere, gut ausgebildete WissensarbeiterInnen dazu, sich ein mobiles Leben jenseits der Festanstellung und ohne materiellen Besitz zu erarbeiten, um zwischen Bali, Thailand oder anderen Orten des globalen Südens einerseits und München andererseits flexibilisiert – aber eben auch vielfach prekarisiert – als »Freelancer« Aufträge annehmen zu können.

Wie gestalten sie ihr mobiles Arbeitsleben jenseits medialer Selbstinszenierungen? Welche Ressourcen und Persönlichkeitszüge benötigen sie für diesen Lebensstil? Davon erzählen mobile WebworkerInnen an den globalen Hotspots in München, Teneriffa, Bali und Thailand. Ihre Fallstudien zeigen, wie sehr die Idealbilder von einem freien, selbstbestimmten und hochmobilen Arbeits- und Lebensstil das Streben der WebworkerInnen bestimmen. Zugleich erweist es sich als oft kaum leistbare, nur mit viel Arbeit am Selbst zu meisternde Herausforderung, diesen Bildern gerecht zu werden und mit Desillusionierung, Prekarisierung und Einsamkeit umzugehen.

Die Mikroanalyse ihrer Lebenswelten zeigt, wie die digitale Transformation, eine neoliberale Arbeitsmarktpolitik sowie eine zunehmende Ökonomisierung und Prekarisierung die Wünsche Vieler formen und weit über das rein Geschäftliche in ihre privaten Alltagswelten hineinreichen. Wie das Freiheitsstreben der mobilen WebworkerInnen mit den Bedingungen eines »flexiblen Kapitalismus« (Sennett) ineinandergreift, wird in diesen Fallstudien ausgeleuchtet. Dabei zeigt sich, wie das mobile Arbeiten auf bestehende gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Verhältnisse zurückwirkt und soziale Ungleichheiten und kapitalistische Strukturen reproduziert.

Es liegt in der Natur der digitalen Transformation, dass sich diese sehr schnell vollzieht. Während meiner Forschungs- und Verschriftlichungsphase war ich deshalb mit einem kontinuierlichen Wandel konfrontiert, dem ich methodisch Rechnung getragen und in die Arbeit integriert habe. Was jedoch niemand absehen konnte, war die abrupte Veränderung der Arbeitswelt und der globalen Mobilitätsregime durch die Corona-Krise im Frühjahr 2020, in der letzten Überarbeitungsphase meiner Arbeit, in der ich ihr lediglich den letzten Schliff verpasste. Aufgrund dessen, dass mir bereits eine finale Version meiner Forschungsergebnisse aus den Jahren 2015 bis 2019 vorlag, entschied ich mich dafür, diese gravierenden Umbrüche nicht mehr in meine Arbeit aufzunehmen. Es wäre sicherlich ein sehr spannendes Forschungsdesiderat für eine neue Arbeit, sich mit den vielfältigen Auswirkungen und Nachwirkungen der Krise zu befassen, über die sich zum Zeitpunkt der Einreichung der Dissertation nur mutmaßen lässt.

I.Konturen der Arbeitsmarkttransformation

1Digitales NomadInnentum im Spiegel der Arbeitsmarkttransformation

Digitale Transformation und Globalisierung führen zu einer weltweiten Verschiebung der Macht von den Nationalstaaten auf globale Märkte und in digitale Räume. Geschäftsmodelle wie Airbnb, Uber oder Crowdworking untergraben staatliche Arbeitsmarktregularien und soziale Sicherungssysteme. Risiko und Verantwortung werden unter dem Deckmantel der Freiheit auf die einzelnen AkteurInnen abgewälzt. Scheitern wird so zu einer scheinbar persönlichen Angelegenheit, systemimmanente Schwachstellen werden personifiziert. Besorgte Stimmen aus den Reihen von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft werden laut, die vor einem wachsenden Heer proletarischer TagelöhnerInnen warnen und staatliche Regulierung fordern, während viele der Betroffenen nach mehr Deregulierung rufen. Sascha Lobo bündelt diese Phänomene unter dem Begriff des Plattform-Kapitalismus1, der als neue Wirtschaftsordnung nicht nur Branchen neu strukturiert und ein Reagieren von Seiten des Staates auf neue Marktmechanismen notwendig macht, sondern auch Bilder, Ideologien, Machtwirkungen und Praxen im Hinblick auf Arbeit und Lebensführung verändert, und neue Macht-Wissen-Komplexe und Subjektivierungsformen im Sinne Michel Foucaults herausbildet. Die Veränderungen, die mit der digitalen Transformation einhergehen, werden auch unter dem Begriff New Work diskutiert. Geprägt wurde der Begriff von dem amerikanischen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann. Basierend auf der Annahme, dass das bisherige Arbeitssystem aufgrund zunehmender Vernetzung überholt sei, sehen er und seine AnhängerInnen die Zukunft der Arbeit in den Werten Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an einer (digitalen) Gemeinschaft (vgl. Bergmann/Schumacher 2008).

Die Erfahrungen in der Postfordistischen Arbeitswelt2 – Entgrenzung, Flexibilisierung, Subjektivierung und Prekarisierung, wie auch Entfremdung durch das Abarbeiten von Arbeitsfragmenten, die als Nebenprodukte der digitalen Transformation in den Unternehmen entstanden sind und stark an die fordistische Fließbandarbeit erinnern –, lassen den von Luc Boltanski und Ève Chiapello beschriebenen Sehnsuchtsort einer freien und selbstbestimmten KünstlerInnen-Existenz (vgl. Boltanski/Chiapello 2003) neu aufleben, und dank moderner Technologien massentauglich werden.

Mit dem Aufkommen von digitalen Plattformen und der Sharing Economy steht zudem wieder einmal der Traum von einer Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Raum, der in der Geschichte der Menschheit von der Französischen Revolution 1789 bis hin zur kalifornischen Ideologie in den 1990er Jahren immer wieder zu realisieren versucht wurde. Leitbilder, mittels derer neue gesellschaftliche Utopien gezeichnet werden, sind Open Access, Transparenz, Demokratisierung und Enthierarchisierung. Dabei lässt sich eine kulturelle Aufladung von Ökonomisierungsprozessen mit revolutionären Werten und Leitbildern beobachten, die die Utopien von Open Access und ubiquitärer Zugänglichkeit – für viele unbemerkt – ad absurdum führen. Insgesamt entpuppen sich digitale Plattformen Tiziana Terranova zufolge als »jüngste Inkarnation der unerschöpflichen Suche nach neuen Märkten«, die die neuen proletarisierten Internet-ArbeiterInnen in die Ökonomie der »kontinuierlichen Innovation« mit immer schnelleren Innovationsrhythmen einspeist (Terranova 2000: 39–40). Die zunehmende Innovationsgeschwindigkeit neuer Märkte und digitaler Geschäftsmodelle, vor allem aber ihre Position als Mittlerplattform ohne Verantwortung für Inhalte stellen die Gesellschaft vor Herausforderungen. Auch die transnationalen Strukturen digitaler Plattformen werden zu einem gesellschaftlichen Problem, denn sie ermöglichen ein Agieren in gesetzlichen Grauzonen jenseits nationalstaatlicher (Steuer-)Gesetzgebung. Die diskutierten Gesetze zur Besteuerung von digitalen Plattformen im EU-Raum sind dabei nur ein Teil der anstehenden Strukturreformen. Mindestens genauso wichtig sind die Anpassung von Bildungs- und Arbeitsmodellen an die neuen Möglichkeiten, die die digitale Transformation bietet, und an die Herausforderungen, die sie mit sich bringt.

Auf diesem Nährboden von digitaler Transformation und Plattformkapitalismus ist die Szene der digitalen NomadInnen entstanden. Mit dem Begriff erfasse ich all jene, die ihr Einkommen als Selbstständige, UnternehmerInnen oder Angestellte mittels digitaler Technologien generieren beziehungsweise dies anstreben. Digitale Geschäftsmodelle sollen ihnen einen ortsunabhängigen Lebensstil ermöglichen. Die mobilen WebworkerInnen verkörpern das Bild der selbstbestimmten und ortsungebundenen WissensarbeitersInnen und stehen für flexible Erwerbstätigkeit im wissensintensiven Dienstleistungssegment. In der Umsetzung aber werden auch sie mit prekären Arbeitssituationen konfrontiert. Ich spreche von einer Szene, da das Feld der digitalen NomadInnen sowohl von innen als Szene attribuiert wird, als auch von außen betrachtet die Kriterien einer Szene erfüllt, die der Szene-Forscher Ronald Hitzler als relevant definiert: Ein geteiltes Set an Einstellungen und Werten, sowie das Vorhandensein von Szenetreffpunkten und Szenemedien (vgl. Hitzler et al. 2001). Das digitale NomadInnentum als übergeordnetes Leitbild der mobilen WebworkerInnen stellt dabei sowohl ein mediales Konstrukt und eine Zuschreibung dar, als auch eine Selbstbeschreibung der auf Ortsunabhängigkeit und Mobilität zielenden WebworkerInnen. Die SzenegängerInnen teilen die Einstellung, dass das aktuelle Arbeitssystem aufgrund zunehmender Vernetzung überholt sei. Sie sehen die Zukunft der Arbeit in den Werten Selbstständigkeit und Freiheit durch den Aufbau digitaler, ortsunabhängiger Geschäftsmodelle, und Teilhabe an einer (digitalen) Gemeinschaft in Form der Szenebewegung. Die digitale NomadInnenszene manifestiert sich an digitalen und analogen Szenetreffpunkten weltweit. Entstanden ist die Szenebewegung der digitalen NomadInnen in den USA. Sie wurde im Jahr 2012 von den heutigen Szeneikonen in den deutschsprachigen Raum gebracht. Den Ikonenbegriff entlehne ich dem Feld zur Bezeichnung der vier Personen, auf die die Entstehung der digitalen NomadInnenszene im deutschsprachigen Raum zurückzuführen ist: Conni Biesalski, Tim Chimoy und das Paar Felicia Hargarten und Marcus Meurer. Der Begriff markiert deren Vorbildfunktion und Meinungsführerschaft in der Szene. Die vier Ikonen begründen als Vorbilder und MeinungsführerInnen die Entstehung der deutschsprachigen, virtuell und analog organisierten digitalen NomadInnenszene. Diese bietet als eigene Diskursgemeinschaft Anknüpfungspunkte für die mobilen WebworkerInnen, und unterscheidet die mobilen WebworkerInnen von der breiten Masse an KreativarbeiterInnen.

Ähnlich wie in der Kreativwirtschaft3 scheint das primär verbindende Element ein Diskurs – ein Konstrukt aus Idolen, Idealen und Utopien – der sich durch starke Stereotypenbildung und Abgrenzung gegenüber dem negativ besetzten Angestelltenstereotyp auszeichnet (vgl. z. B. Friebe/Lobo 2006; Lange et al. 2009b; Huber 2012). Nicht mehr Sicherheit und Karriere, sondern Freiheit, Selbstverwirklichung und Sinn dominieren das Bild vom »guten Leben«. Dem Joch der Angestellten und »abhängiger« Routinearbeit mit vorhersehbaren Lebensläufen wird das Bild der aktiven und selbstbestimmten SolounternehmerInnen gegenübergestellt: »I choose freedom«,4 »Lebe und arbeite nach deinen eigenen Regeln«5 und »Reise und lebe intensiver. Arbeite ortsunabhängig von überall auf der Welt«6. Bilder der Werbeindustrie aus dem IT-Bereich, aber auch Chats und Foren innerhalb der Digitalen-NomadInnen-Szenen, die sich via Internet gebildet haben, versprechen ganzjähriges Urlaubsfeeling durch das Arbeiten am Strand, unter Palmen oder im Café. »Workation« nennen sie diese Art des Arbeitens, ein Neologismus aus »work« und »vacation«. Ein neues Gemeinschaftsgefühl, betitelt mit dem Schlagwort »sharing is caring«, wird in den Fokus gerückt und betont die herausragende Rolle der für das ökonomische Überleben notwendigen Akkumulation und Organisation von sozialem Kapital. Zum Teil muten die mobilen WebworkerInnen wie die neuen Aussteiger an, wie die Hippies des digitalen Zeitalters, die sich auf Tim Ferriss »4‑Stunden-Woche« (Ferriss 2010) berufen.7 Diesem Bild stehen jedoch die Selbstdisziplinierung und das Erfolgsstreben vieler der mobilen WebworkerInnen entgegen. Minimalismus in Bezug auf materiellen Besitz und mobile Arbeitsmittel sollen für Übersichtlichkeit in einer materialistischen, unübersichtlichen Welt sorgen, Prekarität sowohl im Sinne eines niedrigen Einkommens als auch unsicherer Erwerbsbedingungen wird in diesen medialen Inszenierungen und Rhetoriken oft heroisiert. Einige der genannten Charakteristika sind keineswegs neu, man kennt sie aus der Kreativbranche. Neu sind die räumliche Entgrenzung und globale Verbreitung, die extensive Nutzung digitaler Medien als Plattform für die Geschäftsmodelle, für Identitätsaushandlungen und Selfbranding, und die virale Rekrutierung neuer Szenemitglieder (und damit KundInnen) aus der Angestelltenwelt. Neu ist auch, dass diese Phänomene unter dem Label des digitalen NomadInnentums zu einer virtuell organisierten Szene zusammengefügt werden, die als Netzwerk Anknüpfungspunkte für alle jene bietet, die sich dieser Gemeinschaft zurechnen.

Das Phänomen des digitalen NomadInnentums steht symptomatisch für die Entwicklung von Teilen der Arbeitswelt, und wirkt zugleich auf diese zurück. An der Arbeitsmarkttransformation partizipieren die WebworkerInnen – zumindest aus ihrer Sicht – in avantgardistischer Weise, indem sie die im Zuge der digitalen Transformation entstandenen Plattformen, Technologien und Businessmodelle für die Erreichung ihrer Ziele, nämlich Orts- und Zeitunabhängigkeit, nutzen und weiterentwickeln. Primär handelt es sich dabei um die Akquise ortsunabhängiger Aufträge und die Generierung eines Marktes, der ihren mobilen Lebensstil erlaubt. So wird zum Beispiel für den Sprung vom Angestelltenjob in die selbstständige Ortsunabhängigkeit oft von Crowdworking und Clickworking8 Gebrauch gemacht. Mit zunehmender Erfahrung wird dann die Arbeit, die von Unternehmen auf Crowdworking-Plattformen wie oDesk oder Elane outgesourct wurde, erneut ausgelagert. Die Sharing Economy erleichtert den mobilen WebworkerInnen einen bei Ortsunabhängigkeit sinnvollen minimalistischen Lebensstil, und wird zugleich weiter auf deren Bedürfnisse hin angepasst und ökonomisiert: Zum Beispiel entsteht eine weltweite Infrastruktur an Co-Working-Spaces und Co-Living-Modellen. Co-Working-Spaces sind die »neuen« Büros der Kreativen und der mobilen WebworkerInnen. Sie bieten eine flexibel betretbare Arbeitsinfrastruktur (vgl. Lange/Wellmann 2009; Bender 2014; Friebe/Lobo 2006). Co-Living-Modelle bieten ein entsprechendes Äquivalent für das temporäre und mobile Leben an einem Ort. So ermöglicht das Start-up des österreichischen Unternehmers Bruno Haid, genannt Roam, für eine fixe monatliche Miete Co-Living-Spaces weltweit zu nutzen. Diesen Geschäftsmodellen ist gemein, dass sie, wie schon Airbnb und Uber, größtenteils global agieren, meist staatliche Arbeitsmarktregularien umgehen und weitere prekäre Arbeitsverhältnisse ohne soziale Absicherung und meist mit geringer Entlohnung produzieren. Auf der anderen Seite ermöglicht die weltweite digitale Vernetzung »globales Rosinenpicken« nicht nur für die Oberschicht und für Unternehmen. Digitale NomadInnen betreiben Geoarbitrage9, oder entwerfen globale Steuersparmodelle, die zum Beispiel über die Abmeldungen des deutschen Wohnsitzes bei nachfolgender Anmeldung eines Unternehmenssitzes im Ausland und Geldanlage in einem dritten Land funktionieren. Um diese Geschäftsmodelle und die daran geknüpften Lebensstilmodelle aufrecht erhalten zu können, wird Deregulierung oder zumindest die Aufrechterhaltung des Status quo der Gesetzgebung gefordert, wie sich aktuell zum Beispiel an den politischen Debatten über eine Verschärfung des Gesetzes zur Scheinselbstständigkeit oder die Rentenpflicht für Selbstständige manifestiert. Denn schärfere Gesetze und größere staatliche Regulierungen würden die Lebensstilmodelle der mobilen WebworkerInnen ins Wanken bringen. Insofern »promoten« sie durch ihre Strategien und Praktiken den deregulierten Markt in spezifischer Weise. Zugleich tragen sie durch ihre Praktiken dazu bei, dass die Aufmerksamkeit des deutschen Staates und auch von Staaten wie Thailand, an denen die Hotspots der WebworkerInnen entstehen und wachsen, zunehmend auf gesetzliche Grauzonen fällt. Dies lässt sich etwa an den Diskussionen um die Rentenpflicht für Selbstständige in Deutschland oder an einer verschärften Visapolitik Thailands ablesen: Sobald eine kritische Masse an Personen, die dem neuen Trend folgen, überschritten ist, findet Regulierung von bislang wenig oder deregulierten Praktiken statt.

Ziel dieser Arbeit ist die Analyse des Arbeits- und Lebensstils mobiler WebworkerInnen, die der Szene der digitalen NomadInnen folgen. Dazu frage ich nach den Bildern und Machtwirkungen, die als Motive hinter der Entscheidung für solch einen Arbeits- und Lebensstil stehen, um schließlich deren Interdependenzen mit dem Strukturwandel des Arbeitsmarktes herauszuarbeiten. Meine Hypothese ist, dass neue Machtstrukturen im Wesentlichen von digitalen Institutionen des Plattformkapitalismus als Spielart des Liberalismus geprägt sind und neue Wissenskomplexe und Praktiken hervorbringen. Dabei begründe ich die Zunahme flexibler Formen der Arbeit explizit nicht nur mit den strukturellen Veränderungen des Arbeitsmarktes, um nicht die selbstbestimmten Entscheidungen der AkteurInnen zu vernachlässigen. Eine solche Perspektive ist strukturalistisch gedacht und beraubt die AkteurInnen ihrer Handlungsmacht, der sogenannten Agency. Sie werden gewissermaßen auf Re-AkteurInnen reduziert. Das aktive Streben nach und die Idealisierung von »atypischen« Beschäftigungsverhältnissen wird erst erklärbar, wenn man die Freiheitsdispositive und die Machtwirkungen ideologischer Bilder mitdenkt, wie sie medial vermittelt werden und auch in den Communitys der WissensarbeiterInnen kursieren. Die vorliegende Arbeit fokussiert daher auf das Wechselspiel zwischen dem Strukturwandel und dem Freiheitsstreben der AkteurInnen. Dazu stützt sie sich auf Foucaults Machtanalytik, insbesondere auf seine Gouvernementalitätstheorie. Sie nimmt liberale Technologien der Kontrolle und Subjektivierungsmechanismen in den Blick, die überlagert werden von den Machtwirkungen digitaler Institutionen und deren Einflussnahme auf die gesellschaftlich wirksamen Wirklichkeiten. Die zweite theoretische Säule bildet Ulrich Bröcklings Sozialfigur des Unternehmers seiner Selbst. Diese ermöglicht es, die Zielrichtung des diskursiven Idealbildes zu fassen, »auf welche die zeitgenössischen Technologien der Selbst- und Fremdführung zulaufen« (Bröckling 2004: 272). Auf diese Weise werde ich zeigen, dass die verschiedenen Formen der Befreiung von der als fordistisches Relikt gezeichneten Festanstellung, vom staatlichen »Zugriff« auf Steuern oder Arbeitsgesetze sowie von bürgerlichen Idealen wie Familie und Besitz in einen »Macht-Wissens-Komplex« im Sinne Foucaults eingebunden sind und dem Ethos des Entrepreneurships im Sinne Bröcklings folgen.

Mit Blick auf die Diskurse ethnographiere ich den mobilen Arbeits- und Lebensstil der WebworkerInnen. Ich arbeite heraus, wie die mobilen WebworkerInnen der digitalen NomadInnenszene mit der Arbeitsmarkttransformation umgehen, und wie sie Arbeit und Alltag gestalten und erleben. Insbesondere geht es mir darum, zu zeigen, welche neuen (Arbeits-)Praktiken die Diskurse und Machtstrukturen im Feld der digitalen NomadInnen hervorbringen, und wie diese wiederum auf szenespezifische und gesellschaftliche Diskurse und Machtstrukturen zurückwirken. Weil die Diskurse und Praktiken sich sowohl online (in Blogs, Facebook-Gruppen und auf einschlägigen Websites)10 wie offline manifestieren, arbeite ich die Verflechtungen und Interdependenzen zwischen den Online- und Offline-Diskursen im Feld sowie den Praktiken der mobilen WebworkerInnen heraus. Das Herzstück der Forschung bildet eine Multi-Sited-Ethnography mit mehreren mehrmonatigen Feldaufenthalten an den Knotenpunkten des Szenenetzwerkes in Thailand, Teneriffa und Bali, sowie in München. Dort habe ich teilnehmende Beobachtungen in einschlägigen Co-Working-Spaces durchführt. Ich lebte und arbeitete an den angesagten Hotspots der digitalen NomadInnen mit, führte Interviews und ethnografierte die analogen und digitalen Netzwerke.

Durch die neuartige Kombination von Konzepten mit dem Untersuchungsfeld der digitalen NomadInnen und die Rückbindung an gesellschafts- und arbeitsmarktpolitische Problemfelder stoße ich in eine gesellschaftlich wie wissenschaftlich relevante Forschungslücke. Obwohl zu den Spielarten des Postfordismus, zu kreativer Arbeit, Subjektivierung, Prekarisierung, Mobilität und Mobilisierung im Feld der Wissensarbeit schon genügend Studien vorliegen (vgl. Götz et al. 2015; Götz/Huber 2010; Herlyn et al. 2009; Voß 1991; Pongratz/Voss 2003; Moldaschl/Voß 2003a), so wurde nur selten anhand einer differenzierten Fallstudie aufgezeigt, wie postfordistische und fordistische Logiken, Denkstile, Diskurse, Praktiken und Ästhetiken in diesem Feld mit Institutionen der Macht wie Amazon, Google et cetera und deren Geschäftsmodellen ineinandergreifen – und wie dies narrativ reflektiert und legitimiert wird.

II.Strukturen der Szene

2Drei Perspektiven auf die Szene

»Die digitalen Nomaden-Szene ist eine Szene, weil sie die Merkmale einer Szene erfüllt: gemeinsame Treffen, ein Set von Einstellungen, Freiheitsliebe, Faszination von anderen Kulturen, und eine gewisse Affinität zu Online. Der Drang nach einem selbstbestimmten Leben, der Drang, sich nicht wiederzufinden in Konzernjobs oder solchen Dingen, und eine gewisse Risikofreude.« (Interview: Erwin, 12. 1. 2017, München)

Zur Beschreibung der digitalen NomadInnenszene greife ich auf Ronald Hitzlers Konzept der Szene als Interaktionsgeflecht zurück. Dieses beschreibt Szenen als diffuses, dynamisches und fluides, und dennoch strukturiertes Netzwerk (vgl. Hitzler et al. 2001). Hitzlers Szenekonzept bietet sich als Gliederungsschema an, da das Netzwerk der digitalen NomadInnen-Szene zuvorderst durch Interaktionen der AkteurInnen sowohl online als auch offline entsteht, und durch diese aufrechterhalten und weiterentwickelt wird. Der Netzwerkbegriff impliziert eine gewisse Strukturhaftigkeit, ein

»Arrangement von Akteuren, die einerseits bestimmte, sozusagen dem unabdingbaren Kern der szenischen Kultur angehörende mentale Dispositionen und materiale Ausdrucksformen teilen, andererseits aber aufgrund bestimmter Stilrichtungen bzw. Ausprägungen eben dieser mentalen Dispositionen und Ausdrucksformen unterschiedliche Positionen, Motive und Kompetenzen innehaben.« (Hitzler et al. 2001: 212)

Mithilfe Hitzlers Szenekonzept kann die Komplexität der Positionen und Perspektiven im Feld erklärt und eingeordnet werden. Das Konzept ermöglicht es, das Arrangement der AkteurInnen zu fassen, indem es ein Gliederungsschema anbietet, das die SzenegängerInnen in Szene-Eliten, Szenekern und Szenepublikum einteilt. Dieses Schema übernehme ich, modifiziere es jedoch hinsichtlich der Bezeichnung der Szene-Eliten. Statt von Szene-Eliten spreche ich in dieser Arbeit von Ikonen, wie bereits an den Ausführungen in den vorherigen Kapiteln deutlich wurde. Der Begriff stammt aus dem Feld, und bezeichnet die Vorreiterrolle, Meinungsführerschaft und die monetär elitäre Stellung der Ikonen Conni Biesalski, Tim Chimoy, Felicia Hargarten und Marcus Meurer innerhalb der Szene. Darüber hinaus verweist die Ikonenmetapher darauf, dass die Ikonen über eine auratische Ausstrahlung und Anziehungskraft verfügen, aufgrund derer die SzenegängerInnen ihnen folgen (vgl. Kapitel 3.1 Zusammenhalt im Inneren: Ikonen als Identifikationsfiguren). Auch der Szenekern verfügt über Bekanntheit in der Szene. Die Mitglieder des Szenekerns stehen, um mit Hitzler zu sprechen, »auf der (nicht selten medial erzeugten) Bühne« (Hitzler et al. 2001: 214). Das Szenepublikum nimmt aktiv am Szene-Geschehen teil oder verfolgt die Geschehnisse eher passiv über virtuelle Kanäle (vgl. Kapitel 3.2 Binnendifferenzierungen: Szenekern und Szenepublikum).

Zugleich kann das Feld der digitalen NomadInnen als Ort sozioökonomischer Aushandlungsprozesse und damit als Markt betrachtet werden. Die Geschäftsmodelle der Szene-Ikonen und der meisten SzenegängerInnen zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Lebensstil der digitalen NomadInnen an andere digitale NomadInnen vermarkten. Ich beschreibe die Szene deshalb als selbstreferenziellen Markt. Den Begriff entlehne ich von Holm Friebe und Sascha Lobo, die diesen zur Beschreibung der Marktstrukturen in den Zirkeln der digitalen Bohème verwendeten (vgl. Friebe/Lobo 2006). Selbstreferenzielle Märkte entstehen den beiden Autoren zufolge dadurch, dass

»Menschen, die an etwas teilhaben und langfristig selbst davon profitieren wollen, […] häufig die besten Kunden [sind]. Sie tragen so – ähnlich einer selbsterfüllenden Prophezeiung – dazu bei, dass die Märkte, von denen sie selbst einmal leben möchten, überhaupt erst entstehen.« (Friebe/Lobo 2006: 143)

Übertragen auf das Feld der digitalen NomadInnen bedeutet dies: Entstanden ist der Szenemarkt durch die Vermarktung des Lebensstils mobiler WebworkerInnen an (künftige) WebworkerInnen. Die KundInnen der meisten WebworkerInnen sind selbst mobile WebworkerInnen (oder wollen es werden). Den daraus entstehenden Szenemarkt verstehe ich aufgrund der Vermengung von Szene- und Marktstrukturen als sozialen und kulturellen Raum, an dem Zuschreibungen und Aushandlungen von Bedeutung und Wert stattfinden, und an dem um Deutungs- und Handlungsmuster gerungen wird. Dabei werden soziale Zusammenhänge über Wahlhandlungen der MarktteilnehmerInnen hergestellt, die auf Preise, Transaktionen und Wettbewerb ausgerichtet sind. Der Markt wird damit zu einem sozialen Spielfeld, auf dem nicht weniger als eine szenespezifische soziale Ordnung erzeugt und verhandelt wird (vgl. Foucault 2004b; Bourdieu/Schwibs 2007; Bröckling 2015; Manske 2009). Diese Ordnung bezeichne ich nach Ulrich Bröckling als »Klassengesellschaft der Entrepreneure« (Bröckling 2015: 14). Sie zeichnet sich dadurch aus, dass zwar alle »im Wettbewerb« um eine ähnliche Zielgruppe stehen, aber nicht »in der gleichen Liga« spielen: »Ein Abstieg aus den höheren Klassen mag erniedrigend sein, weiter unten geht es im Extrem ums schiere Überleben« (Bröckling 2015: 14). Bröcklings Ligen-System deckt sich weitestgehend mit Hitzlers Gliederungsschema. Es veranschaulicht zusätzlich die starken monetären Hierarchien, die das Feld der digitalen NomadInnen charakterisieren (vgl. Kapitel 4.2 »Klassengesellschaft der Entrepreneure«: monetäre Szenehierarchien).

Eine dritte Perspektive auf das Feld bildet die Denkrichtungen im Feld ab, die die Ikonen als Vorreiter und MeinungsführerInnen in die Szene getragen haben. Die Denkrichtungen bilden zugleich die von den Ikonen bearbeiteten Marktsegmente ab. Da die Ikonen als Persönlichkeiten im Fokus stehen, und die Marktsegmente jeweils mit einer der Ikonen verbunden sind, spreche ich von »Denkschulen«. Den Begriff »Denkschulen« nutze ich zur Klassifikation der Denkrichtungen, die sich vornehmlich an den Bildern und Diskursen ausrichten, die die Ikonen initiierten. So spricht die Denkschule des Paares Felicia Hargarten und Marcus Meurer primär diejenigen an, die sich noch nicht oder gerade eben aus der Festanstellung befreit haben. Ihre AnhängerInnen befinden sich dementsprechend in der Planungs- und Initiierungsphase ihres mobilen Business-Konzeptes. Dagegen richtet sich Tim Chimoy primär an diejenigen, die sich bereits in der Konsolidierungsphase sowohl ihres Business als auch des mobilen Lebensstils befinden. Conni Biesalski bearbeitet das dritte Marktsegment. Sie bringt digitales NomadInnentum mit Spiritualität, Yoga und Meditation zusammen. Zur Bearbeitung ihrer jeweiligen Marktsegmente haben die Ikonen jeweils eigene Geschäftsmodelle und Strategien entwickelt.

3Szene als Interaktionsgeflecht

3.1Zusammenhalt im Inneren: Ikonen als Identifikationsfiguren

Als Ikonen verfügen Conni Biesalski, Tim Chimoy, Felicia Hargarten und Marcus Meurer über medial vermittelte Bekanntheit und Anerkennung in der Szene, wie ich in diesem Kapitel anhand von Stimmen der SzenegängerInnen zeigen werde. Sie stehen für die Demonstration der Machbarkeit des ortsunabhängigen Lebens und Arbeitens, und nehmen eine Vorreiterrolle im Feld der deutschsprachigen digitalen NomadInnen ein. Die Szene halten sie über die Administration digitaler Plattformen und die Organisation von Szene-Events zusammen. Dazu zählen Blogs und Facebook-Gruppen für die WebworkerInnen, Konferenzen und Co-Workations11. Auf solchen virtuellen und analogen Plattformen wird, wie der Szeneforscher Ronald Hitzler betont,

»›greifbar‹ bzw. festgemacht, was ansonsten eben nur nebulös existiert: die Szene, die sich von Ereignis zu Ereignis immer wieder neu zu erschaffen vermag und deren Ereigniskette letztlich doch im Strom der Zeit abzusinken droht.« (Hitzler et al. 2001: 217)

Die Ikonen gelten als TrendsetterInnen und MeinungsführerInnen und beeinflussen maßgeblich die Szene-Entwicklung, indem sie die Szenekultur reproduzieren und weiter vorantreiben (vgl. Hitzler et al. 2001). Als »Kenner« reflektieren sie »über die Qualität von Treffpunkten und über das Geschehen bei Events, thematisieren Szene-Entwicklungen, stellen Szeneaccessoires vor und charakterisieren Szenepersönlichkeiten« (Hitzler et al. 2001: 217).

Die Ikonen werden durch ihre AnhängerInnen überhaupt erst zu Ikonen erhoben. Ohne sie würde deren Selbstinszenierung und Stilisierung auf ihren Blogs und Events als kulturelle »Bilder«, als »Kultbilder« ins Leere laufen. Die Ikonenmetapher als traditionelle Figur der Antike steht im digitalen Szenekontext für etwas Auratisches. Sie üben also eine Strahlkraft aus, die Veränderung zum Positiven verspricht. Ihre AnhängerInnen pilgern zu ihnen, möchten den Ikonen nahe sein und sie »berühren«. Diejenigen an der Spitze verkörpern bestimmte Werte und Vorstellungen, sowie ein bestimmtes Bild von Arbeit und ein Lebensgefühl. Diese Bilder vom flexiblen und mobilen Arbeiten über digitale Technologien und das entsprechende freiheitliche Lebensgefühl vermarkten sie, und sprechen damit die Hoffnungen ihrer AnhängerInnen auf ein eben solches Leben an. Um diesem Bild zu entsprechen, imitieren ihre AnhängerInnen die Ikonen, adaptieren ihren Habitus, das heißt ihr Auftreten, ihren Lebensstil, ihre Kleidung, ihren Geschmack und ihre Sprache. Sie markieren damit ihre Zugehörigkeit nicht zu einer bestimmten Klasse, wie Pierre Bourdieu dies für den Habitus-Begriff betont, sondern zum Szenenetzwerk (vgl. Bourdieu 1992). Aufgrund der Bekanntheit der Ikonen beziehen sich die SzenegängerInnen auf Blogs, in Facebook-Gruppen oder in Gesprächen immer wieder auf sie.

Besonders deutlich wird dies an Marias Narrationen. Maria ist Teil meines Samples, ich habe sie direkt zu Beginn meiner Feldforschung in München im Jahr 2015 kennengelernt. Maria bloggt zu Persönlichkeitsentwicklung und Spiritualität, und arbeitet als Motivationscoachin, während sie mobil als Yogalehrerin und Fußballtrainerin zwischen München, Hamburg und Jamaika pendelt. Bereits ihre Entscheidung für den Arbeits- und Lebensstil als digitale Nomadin führt sie auf die Lektüre von Conni Biesalskis Blog zurück. Dadurch ist sie überhaupt erst »auf das Bloggen gekommen.« (Interview: Maria, 11. 3. 2016, München). Der durch das Bloggen mögliche mobile Lebensstil spricht Maria an: »Und hab dann gedacht, oh, das hört sich doch ganz gut an, so reisen und arbeiten« (Interview: Maria, 11. 3. 2016, München). Deshalb bewarb sie sich bei Conni Biesalski und ihrem damaligen Business-Partner Sebastian Kühn im Jahr 2014 bei einem Workshop namens »Blogcamp«. Mit ihrem zu Conni Biesalskis Themenspektrum passenden Thema zur Persönlichkeitsentwicklung und Spiritualität wurde sie in das Camp aufgenommen (vgl. Kapitel 5.3 »Namaste, Freiheit!«: spirituelles NomadInnentum). In dem virtuell und analog aufgesetzten Camp lernte sie die ersten Schritte des Bloggens, und baute sich Schritt für Schritt ihren eigenen Blog auf. Maria gehört zur Gruppe derer, die sich sämtliche Kompetenzen für ein ortsunabhängiges Business erst aneignen mussten, da sie ihre beruflichen Kompetenzen nicht in ein Online-Business transformieren konnte. Deshalb gestaltete sich der Aufbau des Blogs Maria zufolge sehr mühsam. Maria verbrachte täglich »bis zu 16 Stunden hinter dem Rechner« (Interview: Maria, 11. 3. 2016, München), denn

»ich konnte ja das ganze Wordpress und so gar nicht. Das konnte ich ja gar nicht. Das musste ich mir auch alles anlernen. Und da steckt so viel Arbeit dahinter, du musst halt dein Theme12 anpassen, dann musst du deine eigenen Bilder machen. Und dann musst du deine eigenen Artikel schreiben. […] Du sitzt Stunden dahinter, Stunden dahinter. Stunden. Stunden. Und auch, ich bin ja vom Schreiben abgegangen, und dachte, ich mache YouTube-Videos. Da bin ich auch schneller mit, und auch mit dem Schneiden und so. Das kann ich gut. Was da aber das Problem ist, wo du auch als digitaler Nomade drauf achten musst: Schnelles Internet. […] Weil du musst die Videos ja hochladen. Das dauert dann je nachdem, wann ich es hochlade, also ob ich das dann mitten in der Nacht mache, wo dann sonst niemand im Internet ist. Und du kannst dann in der Zeit auch nichts anderes machen.« (Interview: Maria, 11. 3. 2016, München)

Maria eignet sich im Blogcamp von Conni Biesalski wichtige Fähigkeiten für den Aufbau eines Blogs an. Damit folgt Maria Conni Biesalskis Vorbild. Conni Biesalski selbst stellt sich als »als ortsunabhängige Unternehmerin mit Online Business, die komplett von Null gestartet hat« (Biesalski 2015c) dar. Auf ihrem Blog beschreibt sie dies mit folgenden Worten:

»Am Anfang hatte ich ja so wie viele andere auch null Plan. Das wollen immer viele nicht glauben, weil es so aussieht, als wären erfolgreiche Menschen erfolgreich geboren, aber ich bin auch als völlig ahnungslose digitale Nomadin ins kalte Wasser gesprungen.« (Biesalski 2015a)

Conni Biesalski dient damit – wie die anderen Ikonen – denjenigen als Vorbild, die wie Maria ebenfalls ohne Vorkenntnisse ein Online-Business aufbauen wollen. Dadurch wird sie zugleich zur Identifikationsfigur für Maria (und viele andere in der Szene): Conni Biesalski inszeniert den Mythos »des vom Tellerwäscher zum Millionär aufgestiegenen Selfmademan« (Bröckling 2007: 52) des digitalen Zeitalters. Dieser gewinnt Bröckling zufolge mit dem Aufstieg des unternehmerischen Selbst als gesellschaftliches Leitbild zunehmend an Bedeutung13. Doch Conni Biesalski stellt nicht nur das Versprechen in den Raum, dass harte Arbeit durch finanzielle und soziale Freiheit belohnt wird. Vielmehr zeigt sie durch ihren eigenen Werdegang, die Blogs und die Blogcamps, dass dieses Versprechen via digitaler Geschäftsmodelle für jeden potentiell einlösbar ist – wenngleich nur wenige es tatsächlich erreichen. Sie selbst dient dabei als Exempel für die Realisierbarkeit dieses Mythos. Die damit einhergehende harte, ausdauernde Arbeit antizipiert Conni Biesalski explizit auf ihrem Blog. Maria reproduziert Conni Biesalskis Narrationen, bis hin zum Erleben einer persönlichen Krise aufgrund der anfänglich harten Bedingungen:

»Ich meine, klar, kannst du dann auch an den schönsten Orten der Welt arbeiten. Aber wenn du dann da auch 16 Stunden hinter deinem Rechner sitzt und nicht mehr wegkommst von deinem Rechner, dann hast du davon auch nichts. Und das sehe ich auch bei dem ein oder anderen. Also so wie Conni, die hat das ja auch irgendwann erkannt. Aber auch durch eine persönliche Krise. […] Ich meine, Conni von Planet Backpack, wenn du die jetzt so ein bisschen verfolgst, die macht das ja jetzt auch, dass sie sich so runterfährt und schaut bei sich, was habe ich denn für Themen.« (Interview: Maria, 11. 3. 2016, München)

Als Unternehmerin ihrer Selbst baut Maria sich nicht nur ein eigenes Online-Business auf, sondern optimiert auch, wie dies Bröckling als charakteristisch für die Ausrichtung der Lebensführung am Vorbild des Unternehmers bezeichnet, ihre Persönlichkeit (vgl. Bröckling 2007). Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sich Maria »in einer Phase der Neuorientierung« (Interview: Maria, 11. 3. 2016, München). Ihre eigene Sinnkrise und ihre Orientierungslosigkeit legitimiert und normalisiert sie durch den Rückgriff auf Conni Biesalskis öffentlich thematisierte Sinnkrise: Wie Conni Biesalski auf ihrem Blog die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt, und ihren Blick nach innen wendet (vgl. Kapitel 5.3 »Namaste, Freiheit!«: spirituelles NomadInnentum), so beschreibt auch Maria ihre aktuelle Phase als geprägt durch die Sinnfrage und den Versuch, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Daran zeigt sich erneut Conni Biesalskis Vorbildfunktion für Maria.

Zusammenfassend lässt sich so festhalten, dass Maria ihr Streben, ihr persönliches Erleben und ihre Erkenntnisse narrativ mit den (Selbst-)Darstellungen der Ikone Conni Biesalski auf ihrem Blog »Planet Backpack« verknüpft und ihre Entscheidungen unter Bezugnahme auf Conni Biesalski begründet. Dieses eine auf Conni Biesalski bezogene, auf die anderen Ikonen übertragbare Beispiel zeigt, dass die Szene-Ikonen auf große Resonanz bei den SzenegängerInnen stoßen. Ihre Blogpost-Inhalte werden von ihnen aufgegriffen, adaptiert und auf eine mehr oder weniger individuelle Weise nachgelebt.

3.2Binnendifferenzierungen: Szenekern und Szenepublikum

Zu den SzenegängerInnen rechnet Ronald Hitzler sowohl den Szenekern als auch Teile des Szenepublikums. Im Feld der digitalen NomadInnen macht die Gruppe des Szenekerns meiner Schätzung zufolge etwa dreißig bis fünfzig Personen aus. Diese Schätzung basiert auf den halbjährlichen Speaker-Listen der DNX-Konferenz (Hargarten/Meurer 2017). Sie ist untermauert von einer stetigen, oftmals täglichen teilnehmenden Beobachtung über soziale Netzwerke und Gespräche mit den SzenegängerInnen. Die Mitglieder des Szenekerns haben in der Szene über ihre Blogs und Auftritte auf Konferenzen allgemeine Bekanntheit erlangt. Deshalb stellt die »SpeakerInnen-Liste« der bekanntesten Konferenz im Feld der digitalen NomadInnen, der DNX-Konferenz, den zuverlässigsten Indikator dafür dar, wer zum Szenekern gehört. Denn wie Hitzler zufolge für Szenen charakteristisch, steht der Szenekern im Feld der digitalen NomadInnen »auf der (nicht selten medial erzeugten) Bühne« (Hitzler et al. 2001, S. 214). Die DNX-Konferenz wird von den Ikonen Felicia Hargarten und Marcus Meurer organisiert. Sie findet mit wechselnden SpeakerInnen einmal im Frühjahr im Betahaus14 in Berlin und ein zweites Mal im Herbst an Orten weltweit statt (Hargarten/Meurer 2017). DNX steht für »Digitale NomadInnen Expo«, »Digitale NomadInnen Konferenz« beziehungsweise »Digitale NomadInnen Festival«. Die genaue Bedeutung erfuhr im Zeitverlauf einen Wandel. Sie ist mit über 1000 BesucherInnen das größte Event für digitale NomadInnen. Auf der DNX-Konferenz treten bekannte Persönlichkeiten aus dem Szenekern auf, die zu Themen wie ortsunabhängigem Arbeiten, Selbstständigkeit, Persönlichkeitsentwicklung, Spiritualität und Sinnfragen des Lebens sprechen. Die Auftritte sind sehr informell. Die Vortragenden tragen Freizeitkleidung, erzählen Geschichten aus ihrem eigenen Leben und teilen, was sie daraus gelernt haben (DNX 2016a). Wer hier als »SpeakerIn« oder »Workshop-LeiterIn« eingeladen wird, hat es in die vordersten Ränge des Szenekerns geschafft. Im Zeitverlauf meiner Forschungsperiode standen viele Personen auf dieser Szenebühne. Auch Personen aus meinem Sample haben es auf diese Bühne geschafft. Zum Beispiel Stefan, der eine Plattform für Vielbegabte aufgebaut hat, über die er Online-Kurse und Coachings vermarktete. Im Zeitverlauf verlagerte er seinen Fokus auf Online-Marketing. Oder Sonja aus meinem Sample, die sich als Graphikdesignerin und Bloggerin selbstständig gemacht hat, und auf der Konferenz über Graphik Design spricht.

Sonja hat nach ihrem Besuch der DNX-Konferenz im Mai 2015 den Entschluss gefasst, ihre Festanstellung als Graphikdesignerin zu kündigen, um ihrer Leidenschaft, dem Wassersport, nachzugehen. Ihre Reise begann in Brasilien, wo sie zum Start in ihr neues Leben ein DNX-Camp von Felicia Hargarten und Marcus Meurer besuchte. In den DNX-Camps leben und arbeiten die TeilnehmerInnen Sonjas Ausführungen im Interview zufolge für zwei Wochen gemeinsam, treiben Sport und unternehmen Ausflüge. Die Camps sind zugleich Networking-Veranstaltungen, auf denen lose Kontakte für eine potentielle künftige Zusammenarbeit geknüpft werden. Die TeilnehmerInnen sind bunt gemischt. Angehende WebworkerInnen werden so in die digitale Art des Arbeitens eingeführt, während die erfahreneren unter ihnen zwei Wochen organisierte Auszeit mit Struktur und Tagesroutine an einem Urlaubsort genießen, und ihr Netzwerk pflegen. Sonja beschreibt dies als den bestmöglichen Einstieg in die ortsunabhängige Selbstständigkeit. Insbesondere Felicia Hargarten und Marcus Meurer haben für sie eine Vorbildfunktion, wie an nachfolgendem Zitat deutlich wird:

»Also wirklich Feli & Marcus können überall arbeiten, die setzen sich dann auf den Boden, in die Hängematte, und sind schon voll drin. Und dann bin ich auch irgendwie so reingekommen. Und das konnte ich mir dann da auch abschauen, dass ich sehe, ich brauch nur meinen Laptop, und ich weiß genau, wenn ich mich an meinen Laptop setz, das muss ich jetzt machen, und ich brauch nur meinen Laptop und setz mich irgendwo hin und dann geht’s los. Das heißt, das war auch für den Einstieg total gut, sich das von ihnen abzuschauen. Ich mein, das war für mich auch der beste Einstieg, den ich hätte haben können.« (Sonja, 13. 12. 2015, Skype-Interview München-Brasilien)

Sonja hilft für ihre schnelle Integration in der Szene und ihren Aufstieg innerhalb der Szenehierarchien nicht nur, dass sie schnell einen neuen Arbeitsstil durch Nachahmung adaptieren kann. Vielmehr noch knüpft Sonja in diesen beiden Wochen ihre ersten Business-Kontakte (vgl. Kapitel 12.2 Netzwerkpraktiken in der Szene: Zwischen Freundschaft und Business-Kontakt). Insbesondere ihr enger Kontakt zu Felicia Hargarten und Marcus Meurer beschleunigt ihren Aufstieg in der Szenehierarchie: Bereits wenige Wochen nach dem Interview, das direkt im Anschluss an das DNX-Camp stattfand, sehe ich anhand der Signatur unter einem E-Mail-Newsletter der DNX-Organisatoren, dass Sonja nun als freie Eventmanagerin für Felicia Hargarten und Marcus Meurer arbeitet. Auch ihre auf Facebook geposteten Blogbeiträge verlinkt Sonja nun oft mit Felicia Hargartens und Marcus Meurers Beiträgen, und erhält im Gegenzug Likes aus der DNX-Community, die ihre Bekanntheit weiter steigern. Außerdem kann sie durch Interviews auf dem DNX-Podcast der Ikonen ihre Reichweite steigern.15 Indem sie sich für Testimonials und Kommentare auf den Seiten der Ikonen zur Verfügung stellt, steigert sie zugleich ihre Bekanntheit und festigt die Verknüpfung ihres Namens mit den Namen der Szene-Ikonen. Die Verknüpfung ihres Namens mit den Ikonen fungiert wie ein Gütesigel in der Szene – sie verschafft sich dadurch einen Vertrauensvorschuss bei künftigen LeserInnen und KundInnen. Bereits im Frühjahr 2017 – also etwa eineinhalb Jahre nach ihrer Kündigung – leitet sie auf der DNX-Konferenz einen Workshop zum Thema Website-Design.

Sonjas Beispiel zeigt, dass die Steigerung von Bekanntheit in der Szene und der Aufstieg in der Szenehierarchie über regelmäßige und intensive Partizipation an Szeneaktivitäten online und offline erfolgt. Die Durchlässigkeit zwischen Szenepublikum und Szenekern ist relativ hoch, der Übergang fließend. In dem Zusammenhang kann mit Hitzler von einem »diffuse[n] Übergang, der insbesondere im Rahmen von Events in vielfältiger Weise passiert werden kann und auch passiert wird« (Hitzler et al. 2001: 214) gesprochen werden. Sonjas Beispiel verdeutlicht aber auch, dass der Aufstieg in der Szenehierarchie nicht zwingend mit einem finanziellen Aufstieg verbunden sein muss: Im Herbst 2018 berichtet Sonja auf einem Facebook-Webinar davon, dass sie sich vor allem durch temporäre Projektjobs in Agenturen in München finanziert (vgl. Kapitel 4.2 »Klassengesellschaft der Entrepreneure«: monetäre Szenehierarchien).

Die Gruppe des Szenepublikums macht zahlenmäßig mit schätzungsweise 8.000 Personen im Vergleich zu Szene-Eliten und Szenekern nahezu die ganze Szene aus. Aufgrund der Diffusität und Fluidität des Feldes, dem Bestreben der mobilen WebworkerInnen, sich gouvernementalen Strukturen zu entziehen (vgl. Kapitel III. »I choose freedom«: Befreiungsdiskurse und darin insbesondere Kapitel 9. Befreiung von staatlichem Zugriff? Selbst(vor)sorge statt Sozialstaat), und weil bislang Studien zum Phänomen der digitalen NomadInnen fehlen, ist eine zahlenmäßige Annäherung an die Größe der (deutschsprachigen) Szene schwierig. Offizielle Zahlen oder Statistiken liegen nicht vor, auch nicht zu ortsunabhängiger Selbstständigkeit. Statistiken gibt es nur zur Entwicklung der Zahlen aller Selbstständige bezogen auf Deutschland, doch aus diesen lassen sich keine Rückschlüsse auf die Szene ziehen. Daher kann eine mögliche Annäherung einzig durch Hochrechnungen der Zahlen von Facebook-Gruppen erfolgen. Die größte globale, englischsprachige Gruppe umfasst rund 126.00016 Mitglieder, die zwei größten deutschsprachigen Gruppen – um die es hier geht – rund 17.00017 beziehungsweise 21.00018 Mitglieder. Dabei ist zu beachten, dass einerseits nicht alle deutschsprachigen SzenegängerInnen zwingend in den deutschsprachigen Gruppen Mitglied sind, und sich andererseits in diesen Gruppen nicht nur aktive digitale NomadInnen tummeln, sondern diese auch die Ränder der Szene abbilden.

Die Gruppe des Szenepublikums lässt sich nach Hitzler in zwei Untergruppen teilen. Hitzler differenziert zwischen SzenegängerInnen und denjenigen, die das Szenegeschehen vom Rande aus und oft sogar nur virtuell verfolgen. Der Großteil meines Samples gehört den SzenegängerInnen aus dem Szenepublikum an. Nicht alle sind gleichermaßen an die Szene gebunden. Am aktivsten in der Szene sind meist diejenigen, deren Businessmodelle sich an KundInnen innerhalb der Szene richten, die also beispielsweise ein Online-Coaching oder Online-Marketing-Business für digitale NomadInnen aufbauen. Dazu zählt zum Beispiel Verena, die sich Anfang 2017 im Online-Marketing selbstständig gemacht hat, und 2018 auf vielen Events und Konferenzen weltweit präsent ist, um Bekanntheit zu erlangen. Wie Verena sind die aktiven SzenegängerInnen also oft diejenigen, die ihre Festanstellung erst vor Kurzem gekündigt haben, ohne bereits alternative Einkommensquellen aufgebaut zu haben. Sie streben den Aufstieg in den Szenekern an, denn Bekanntheit und Reichweite innerhalb der Szene sind für sie von essentieller Bedeutung für ihr Business. In diesem Streben sind sie motiviert durch den Glauben, dass sich damit finanzieller Erfolg einstellt (was keine zwingende Kausalität darstellt, wie Sonjas Beispiel gezeigt hat). An den Rändern wird die Szene immer diffuser. Hitzlers Metapher einer Wolke kann an dieser Stelle als Sinnbild dienen, denn sie verdeutlicht in dem Zusammenhang, dass man sich im Dunstkreis einer Szene bewegen kann, ohne dass klar würde und werden müsste, ob man nun vollends in die Szene versunken ist, oder sich an deren Rändern bewegt (vgl. Hitzler et al. 2001).

3.3Abgrenzung nach außen: Szenespezifische Sinnangebote

Zusammengehalten wird die digitale NomadInnenszene über Bilder und Diskurse. Propagiert werden Autonomie und Selbstverwirklichung durch den Aufbau einer ortsunabhängigen Selbstständigkeit, die Loslösung von gesellschaftlichen Zwängen, und auch vom staatlichen Zugriff. Ein zentrales Motiv ist demnach die Freiheit, die in unterschiedlichen Gewändern daherkommt. Freiheit ist dabei relativ, und wird stets im Kontrast mit Bildern von Arbeit, Gesellschaft und Staat, die von als gesellschaftliche Normzustände dargestellt werden, definiert. Obgleich diese Diskurse im Feld stetig weitergezeichnet werden, so bleibt das Leitmotiv der Freiheit dennoch stets das selbe. Diesem Leitmotiv hängen die mobilen WebworkerInnen im Feld der digitalen NomadInnen-Szene an (vgl. Kapitel III. »I choose freedom«: Befreiungsdiskurse). Diese Leitmotive lassen sich mit Ronald Hitzler als »szenetypische Sinnangebote« (Hitzler et al. 2001: 215) beschreiben, mit denen sich die SzenegängerInnen identifizieren. Hitzler definiert diese Sinnangebote als

»diffus und dennoch verbindlich; nirgendwo werden sie expliziert, und doch muß sich der Szenegänger danach richten. Identifikation mit solchen ambivalenten Sinnangeboten, mit solchen paradox anmutenden Kulturen kann deshalb nur als individuell zugerichtete, originell erweiterte und kreativ kombinierte Aneignung erfolgen.« (Hitzler et al. 2001: 215)

Aufgrund dessen unterliegen diese Sinnangebote permanenten Aushandlungsprozessen innerhalb der Szene. Die Sinnangebote rund um die Leitthemen Arbeit, Gesellschaft und Staat halten die Szene zusammen und grenzen sie zugleich nach außen ab.

Deutlich wird dies an Johns Beispiel. John ist ein Online-Marketer Mitte Vierzig, der sich in seinen Dreißigern nach der Scheidung nicht nur von Frau, Haus und Besitz, sondern auch von seinen Büroräumen und MitarbeiterInnen getrennt hat, um sein Business anschließend vollständig ortsunabhängig aufzusetzen. Direkt im Anschluss daran hat er einige Jahre auf Mallorca und den Philippinen gelebt. Heute wohnt er schwerpunktmäßig in München und verbringt die Wintermonate auf den Kanaren oder auf Mallorca. John erzählt davon, dass er mit diesem Bruch und seiner anschließenden Lebensgestaltung, die er an den Idealen des digitalen NomadInnentums ausrichtete, bei Familie und Freunden größtenteils auf Neid und Unverständnis gestoßen sei:

»Viele Freunde haben sich in ihrem Lebensentwurf angegriffen gefühlt und irgendwie nur drauf gewartet, dass ich scheitere. Aber da hörst halt dann »daheim ist doch am schönsten« und solche Sprüche, oder »ja, ich kenn da jemanden, der ist auch ausgewandert, und der war gleich wieder da« und »wirst schon sehen«. Ich habe immer gesagt, ich bin nicht ausgewandert, ich fahr bloß ein bisschen länger weg. […] Also ich habe es dann auch immer vermieden, den Kontakt überhaupt zu halten, oder ich gehe halt hin, und treffe mich auf ein Bier, und dann reden wir nicht über Lebensentwürfe.« (Interview: John, 2. 11. 2015, München)

John interpretiert den Lebensstil der digitalen NomadInnen anders als sein Umfeld. Er trifft seinen Ausführungen nach mit seinem Lebensentwurf bei seinem Umfeld auf Unverständnis: Sein Umfeld »versteht« (Interview: John, 2. 11. 2015, München) das Konzept des digitalen NomadInnentums nicht. Doch geht es weniger um kognitives Verstehen, sondern um Verständnis im Sinne geteilter Einstellungen und Werte und das Auseinanderfallen der Deutung von Johns Lebensentwurf: Selbst- und Fremdbild von Johns Lebensentwurf fallen auseinander. Dies zeigt sich daran, dass Johns Umfeld seinen neuen Lebensstil zu dessen Unmut mit erfolglosem »Auswandern« assoziiert. John hat die Erklärung seines Lebensstils aufgegeben, und knüpft daher in Gesprächen mit seinem (einstmaligen) Umfeld an deren Deutung seiner Mobilität als »Auswandern« an, um mit einem zweiten Halbsatz deren Auffassung seines Lebensstils als »ich fahr bloß ein bisschen länger weg.« (Interview: John, 2. 11. 2015, München) zu relativieren. Dadurch grenzt er sich trotz der Übernahme der Deutung seines Umfeldes von den als erfolglos dargestellten »Auswanderern« ab, und verortet sich näher am positiv konnotierten Diskurs eines Reisenden.

Daraus erwächst eine Konkurrenz um den »besseren« Lebensentwurf. Dies passiert beispielsweise über Johns Anspielung auf den »Neid« (Interview John 2. 11. 2015 München). Sein Umfeld interpretiert seinen digital-nomadischen Lebensstil als Illusion. Dagegen betrachtet John die Lebensentwürfe seines Umfeldes als gutbürgerlich – und überholt (Feldforschungstagebuch: 9. 12. 2015). Diese Polarisierung ist charakteristisch für die Szenediskurse (vgl. Kapitel III. »I choose freedom«: Befreiungsdiskurse): Die als gesellschaftlich absolut gesetzten Sinnangebote einer bürgerlichen-fordistischen Gesellschaft werden als rückständig kritisiert und den Sinnangeboten der Szene gegenübergestellt, die postfordistischen Idealen folgen. Um die Konkurrenz dieser beiden Sinnangebote geht es auch in Johns obiger Aussage. Der Szenediskurs im Feld der digitalen NomadInnen stellt postfordistische Lebens- und Gesellschaftsentwürfe als (noch) nicht in der Gesellschaft verankert dar, obwohl die Mehrheitsgesellschaft eine Wertediffusion erlebt. Werte wie Mobilität und Flexibilität überlagern längst bürgerlich-fordistische Lebensentwürfe, die auf Sesshaftigkeit und Stabilität basieren (vgl. Beck 1997; Urry 2000; Rolshoven 2007; Rolshoven/Winkler 2008; Götz 2010b; Lenz 2010a; Gutekunst et al. 2016; Sommer 2016). Im Szenediskurs werden diese postfordistischen Leitbilder von Freiheit und Selbstbestimmtheit jedoch zum Teil als exklusiv szenespezifische Sinnangebote dargestellt, und formen so das Szenenarrativ. Dementsprechend wird in der szenespezifischen Darstellung nicht immer explizit, dass die szenespezifischen Sinnangebote ein Extrem des gesamtgesellschaftlich noch nicht vollständig realisierten postfordistischen Gesellschaftsentwurfes abbilden. Stattdessen differenziert der Szenediskurs zwischen dem Bild einer extrem bürgerlich-fordistischen Gesellschaft und einer extrem postfordistisch geprägten Szene, die als hochmobil und hochflexibel dargestellt wird. Dass sich die gesellschaftliche Realität zwischen diesen beiden Extremen abspielt, wird durch diese Gegenüberstellung vernachlässigt.

Indem John diesen Dualismus und das Unverständnis zwischen sich und seinem Umfeld eröffnet, manifestiert er eine Linie zwischen denen, die seiner Meinung nach gesellschaftlichen Vorstellungen eines gutbürgerlichen Lebens folgen, und jenen, die aus seiner Sicht progressiv den Sinnangeboten der digitalen NomadInnenszene anhängen. Wegen dieser Konkurrenz der Lebensentwürfe vermeidet John Gespräche mit Familie und Freunden über seinen Lebensentwurf oder reduziert gar den Kontakt. Diese Vermeidungsstrategien dienen der Abgrenzung und dem Selbstschutz. Dementsprechend wendet sich John vermehrt der Szene zu. Dort kann er in der Gruppenidentität aufgehen und wird dadurch in seiner Identität bestärkt:

»Also für mich definiert sich Szene darüber, dass Leute zusammenkommen, die like-minded sind, dass du mit Leuten zusammenkommst, mit denen du sofort reden kannst, und einen Draht hast. Und bei den digitalen Nomaden gings mir so. Du musst dich nicht von Anfang an erklären, sondern da kannst du sofort über Detailthemen sprechen, und du kannst dir sicher sein, die schauen dich nicht an wie ein Auto.« (Interview: John, 2. 11. 2015, München)

Die nach außen hin stark abgegrenzte Szenegemeinschaft wird für John, wie für die meisten SzenegängerInnen meines Samples, zum Anknüpfungspunkt für Gespräche über Themen rund um seinen Lebensstil als digitaler Nomade. Die SzenegängerInnen verbindet erstens das Unverständnis ihres Umfeldes, und damit eine starke Abgrenzung von und nach außen. Zweitens verbinden sie szenespezifische Sinnangebote, szenespezifisches Wissen, und ähnliche Erfahrungen. Dies drückt die Personifizierung »Like-Minded-People« (Interview: John, 2. 11. 2015, München) aus. Der Begriff der »Like-Minded-People« ist im Szenediskurs sehr zentral. Er beschreibt das Gefühl, verstanden zu werden, und verweist auf den daraus erwachsenden »Gemeinschaftsgeist« der Szene, der auch als »Spirit« (Informelles Gespräch: John, 2. 11. 2015, München) betitelt wird. Die meisten der Interviewten nehmen auf den Begriff in ähnlicher Weise Bezug. Zum Beispiel spricht Erwin aus München, der sich als Coach selbstständig macht, wiederholt von einem »Gefühl von Gemeinschaft, sich gegenseitig inspirieren und helfen« (Interview: Erwin, 12. 1. 2017, München). Die Bloggerin Maria betont ebenfalls die gegenseitige Hilfsbereitschaft in der Szene.

Die zentrale Rolle dieser gegenseitigen Hilfsbereitschaft im Szenediskurs wird durch deren Labelung als »Sharing is caring« betont. Das Label stammt ursprünglich aus der Sharing-Economy, und verweist auf die als antikapitalistisch dargestellten Werte hinter dem kollektiven Teilen von Wissen, Dienstleistungen und Gütern: »Also dieses Sharing is caring ist auch ganz, ganz groß in dieser Szene« (Interview: Maria, 11. 3. 2016, München). Was bedeutet »Sharing is caring« im Szenekontext? An Marias nachfolgender Aussage wird die Modifizierung der Bedeutung des Begriffs auf die Szene hin deutlich:

»Also das ist dann in der digitalen Nomadenszene oft so, dass du einen Blog oder einen Beitrag von jemandem siehst, den gut findest. Und dann denkst du, ah cool, mit dem würde ich mich ja gerne mal verbinden. So, dann schreibst du den an. Wenn du Glück hast, kriegst du eine Antwort, wenn du noch mehr Glück hast, kriegst du ein Skype-Gespräch, und wenn du ganz viel Glück hast, triffst du denjenigen dann halt mal auf deiner Reise. […] Mit Feli & Marcus ist das zum Beispiel so. Auch wenn ich die nicht oft sehe, persönlich, also im Endeffekt habe ich sie dreimal in meinem Leben erlebt. Einmal vor einem Jahr, dann auf dem DNX-Camp in Tarifa, und dann nochmal auf der DNX. Aber wenn ich zum Beispiel was habe, dann schreibe ich Marcus eine Frage, und dann krieg ich da auch eine Antwort. Aber bei vielen kriegst du auch keine Antwort. Also ich habe ein ziemlich gutes Gefühl zu denen. Also ein ziemlich nahes Gefühl. […] Und das ist halt das, was ich halt gut finde an den digitalen Nomaden, du kannst viel schneller mit jemandem, der ein Business hat, interagieren. Viele haben ja gar keine Geheimnisse. Und in der normalen Industrie ist das ja nicht so. Ich meine den Chef von Siemens, den kriegst du ja nie ans Telefon.« (Interview: Maria, 11. 3. 2016, München)

An Marias Aussage werden drei Kernpunkte deutlich. Erstens spiegelt sich darin die szenespezifische Interpretation des Begriffs »Sharing is caring«. In der digitalen NomadInnenszene ist mit »Sharing is caring« das für Szenen charakteristische großzügige Teilen von Wissen – zum Beispiel über die Logiken digitaler Geschäftsmodelle, Steuersparmodelle, sowie Einreise- und Visabestimmungen an den globalen Hotspots gemeint. Dieses Wissen wird nicht nur auf Blogs öffentlich dargestellt, sondern auf Nachfrage auch untereinander ausgetauscht. Was die SzenegängerInnen mit dem Slogan »Sharing is caring« als spezifisch für die digitale NomadInnen-Szene darstellen, ist Hitzler zufolge ein Charakteristikum von Szenen im Allgemeinen. So betont er, dass sich Szene generell durch das Teilen von »langfristig und zum Teil auch mühsam erworbene[n] spezifische[n] Kompetenzen« (Hitzler et al. 2001: 215) auszeichnen.

Zweitens wird »Sharing is caring« von Maria nicht nur als Teilen von Wissen konzeptualisiert, sondern umfasst eine weitere Bedeutungsebene, die dem Teilen von Wissen implizit ist: Die von Maria erlebte Nahbarkeit derer, die über für sie relevantes Wissen verfügen – also primär der Ikonen im Feld. Diese Nahbarkeit besteht für Maria darin, dass sie die Ikonen Felicia Hargarten und Marcus Meurer anschreiben kann, und auf eine Antwort hoffen darf. Für wie ungewöhnlich und innovativ sie diese Nahbarkeit der Ikonen trotz der hierarchischen Szenestrukturen hält, wird an ihrem Vergleich der Szene-Ikonen mit dem als unnahbar beschriebenen Chef von Siemens deutlich, der in ihrer Aussage als Pars pro Toto für die traditionelle Industrie stehen kann. Auf diesen Vergleich gehe ich im folgenden Absatz näher ein.

Drittens wird an Marias Vergleich der Szene-Ikonen mit dem unnahbaren Vorstandvorsitzenden von Siemens, Joe Kaeser, deutlich, wie ausgeprägt sie die Hierarchien innerhalb der Szene empfindet, und wie hoch sie die Ikonen ansiedelt: Maria stellt die Ikonen auf eine Stufe mit einem Vorstandsvorsitzenden eines Weltkonzerns, der einen Jahresumsatz von 83.049 Mio. Euro zu verantworten hat (Statista). Ein rein am Umsatz orientierter angemessener Vergleich müsste den Ikonen wohl eher einen Kleinstunternehmer beziehungsweise einer Kleinstunternehmerin mit Umsatzerlösen unter 2 Mio. Euro gegenüberstellen: Bereits ein Vergleich mit Kleinen oder mittleren Unternehmen wäre bei der Anlegung des Kriteriums der Umsatzerlöse etwas zu hoch gegriffen – setzen diese doch zwischen 2 und 10 Mio. Euro beziehungsweise zwischen 10 und 50 Mio. Euro um. In einem solchen Vergleich würden sich vermutlich viele der KleinstunternehmerInnen als deutlich nahbarer und erreichbarer erweisen, als ein Joe Käser. Die meisten KleinstunternehmerInnen achten auf direkten Kontakt zu (potentiellen) KundInnen, Kommunikation und Transparenz.

Meine Bitte an die Interviewten, Schlagworte wie »Gemeinschaftsgefühl«, »Spirit« und »Sharing is caring« näher zu erläutern und mit Beispielen zu versehen, fördert je nach SprecherIn verschiedene Erklärungen zu Tage. Während Maria damit die Nahbarkeit der Ikonen und das Teilen von Wissen adressiert, ohne auf den monetären Hintergrund zu fokussieren, zeigt Erwins Antwort im Vergleich dazu, wie stark das »sich gegenseitig inspirieren und helfen« (Interview: Erwin, 12. 1. 2017, München) von einem monetären Hintergrund geprägt ist. Das von ihm hervorgehobene »Gefühl von Gemeinschaft« (Interview: Erwin, 12. 1. 2017, München) basiert auf vermarktlichten Strukturen. Besonders interessant ist Erwins Antwort in diesem Kontext aufgrund der Art und Weise, wie er sie vorbringt: Langsam, stockend, scheinbar selbst überrascht von seiner Antwort, führt er aus, was »Sharing is caring« in der Szene ausmacht: