Nic Blake - Die Prophezeiung der leuchtenden Welt - Angie Thomas - E-Book

Nic Blake - Die Prophezeiung der leuchtenden Welt E-Book

Angie Thomas

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Beschreibung

In einer Welt, in der Auffallen Gefahr bedeutet, ist es nicht leicht, anders zu sein …

Ständig muss man sich verstellen! Für die 12-jährige Nic Blake ist es eine echte Herausforderung, als fantastisch begabte Ungewöhnliche in der Welt der Gewöhnlichen aufzuwachsen. Sie will ihre Gabe einmal so gut beherrschen können wie ihr Vater die seine. Doch bevor er sie darin unterrichten kann, wirbelt eine Reihe unglaublicher Ereignisse rund um eine alte Prophezeiung alles durcheinander.
Zusammen mit ihren beiden besten Freunden jagt Nic quer durch den Süden der USA. Ihre Aufgabe? Eine mächtige verschollene Waffe finden. Gelingt ihnen das nicht rechtzeitig, droht Nics Familie ein schreckliches Schicksal.

Der Start der grandiosen Fantasy-Reihe von Bestsellerautorin Angie Thomas für Kinder ab 10

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Seitenzahl: 441

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ANGIE THOMAS

Aus dem amerikanischen Englisch

von Henriette Zeltner-Shane

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Arbeit der Übersetzerin an diesem Buch wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Nic Blake and the Remarkables – The Manifestor Prophecy«

bei Balzer + Bray, einem Imprint von HarperCollins Publishers, New York

Text: copyright © 2023 by Angela Thomas,

Published by Arrangement with AC THOMAS WRITES LLC

Übersetzung: Henriette Zeltner-Shane

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München

Umschlagillustration Figuren: Character Art copyright © 2023 by Setor Fiadzigbey, Reproduced by permission of HarperCollins Publishers

Umschlagillustration Hintergrund: Background Art © 2023 David SanAngelo, Reproduced by permission of Walker Books Ltd, London SE11 5HJ (www.walker.co.uk)

Illustrationen im Innenteil: Interior Art copyright © 2023 by Setor Fiadzigbey,

Reproduced by permission of HarperCollins Publishers

ah • Herstellung: AJ

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-30149-1V002

www.cbj-verlag.de

Zu Ehren von Virginia Hamilton und all den Vorfahren, die wussten, dass wir fliegen können

Inhalt

1. Höllenhunde und Happy Birthdays

2. Die Abenteuer des Tyran J. Porter

3. Die Menschenkönnenwirklich fliegen

4. Chaos im Museum

5. Die hässliche Wahrheit

6. Tauziehen

7. Die Wachtruppe

8. JP sieht alles

9. Die Underground Railroad

10. Hairy Man Junior

11. High John de Conqueror

12. Irgendwo in Sicherheit

13. Das Vermächtnis der L.O.R.E.

14. Die Großen Hexenmeister von Giles County

15. Durchgeknallte Zauberstäbe

16. Der Boss

17. Rohos Rückkehr

18. Fallen und Rap

19. Die Geschichte der Msaidizi

20. Heimkehr

21. Die Manifestoren-Prophezeiung

22. Leider auserwählt

23. Schicksal eines Vaters

24. Kein Abschied für immer

1

Höllenhunde und Happy Birthdays

Als mein bester Freund JP zwölf wurde, schenkten seine Eltern ihm ein Handy. Das war eine große Sache, weil JP erstens alles verliert, und zweitens seine Eltern meinen, Handys wären »die direkte Verbindung zum Teufel«. (Ich wusste nicht, dass der ein Telefon hat.)

Alabama McCain, die ein Stück die Straße runter wohnt, bekam zu ihrem zwölften Geburtstag ein Sweatshirt. Das hatte ein Mitglied ihrer liebsten K-Pop-Band einmal getragen. Seltsam. Aber nicht so seltsam wie die Tatsache, Alabama zu heißen, obwohl man aus Mississippi ist.

Sean Cole bekam zu seinem Zwölften einen Quad. Jetzt kurvt er damit durch die Gegend und fährt Mülltonnen um. Seine Mom sagt, er ist eben ein Junge. Ich sage, er ist eben ein Idiot.

Mit meinem Geschenk zum zwölften Geburtstag werde ich alle ausstechen. Dad wird mir beibringen, die Gabe zu nutzen, sodass ich endlich auch eine richtige Manifestorin bin. Aber zuerst muss ich einen Höllenhund fangen.

Auf Zehenspitzen schleiche ich durch den Wald, damit das trockene Laub unter meinen Füßen nicht raschelt. Gestern hat Dad im Homeschooling-Unterricht gesagt, dass Höllenhunde Geräusche auf Hunderte Kilometer Entfernung hören. Ich glaube, dass ich einen Höllenhund auf Hunderte Kilometer Entfernung riechen kann. Denn was auch immer das ist – der ganze Wald stinkt davon nach hartgekochten Eiern und Fritos-Chips.

»Denk dran, was ich dir gesagt habe, Nic Nac.« Dads Stimme ist wie aus einer Gegensprechanlage zu hören. »Halt Ausschau nach Hinweisen. Höllenhunde hinterlassen immer eine Spur.«

Was für eine Spur? Eine aus Gestank?

Mit dem Arm wische ich mir über die Stirn. Man könnte meinen, acht Uhr morgens wäre zu früh, um ins Schwitzen zu geraten, aber für Ende Mai in Mississippi ist das ganz normal. Die Sonne brennt durch die Bäume, und die Luft ist schwül und klebrig. Es fühlt sich an, als würde man durch Karamell laufen.

Ich packe den Griff meines Netzes fester. Das Gewebe ist aus Riesenhaar geknüpft, einem der stärksten Materialien der Welt. Bei Dads stundenlangem Vortrag habe ich zwar nicht so richtig zugehört, aber ich habe mir gemerkt, dass Riesenhaar eine der wenigen Sachen ist, die Höllenhunde nicht zerbeißen können. Ich weiß außerdem, dass Höllenhunde Feuer spucken. Also suche ich nach Spuren: verbrannte Blätter, verkohlte Erde …

Rauch. Vor mir steigt eine Rauchsäule in die Luft. Wo’s raucht, gibt’s auch einen Höllenhund.

Auf Zehenspitzen pirsche ich in diese Richtung, und zack, da steht er auf einer Lichtung: ein Höllenhund mit gesträubtem braunem Fell. Er hat Hörner, was bedeutet, dass es ein Weibchen ist. Es hat ungefähr die Größe eines Tigers und nagt an einem Knochen, der so groß ist wie es selbst. Aber hey, besser der Knochen als ich.

Jetzt heißt es, das Biest zu fangen. Wenn ich nur wüsste, wie man die Gabe nutzt, dann wäre das ein Klacks. Aber neeein. »Du bist noch zu jung, um das zu lernen«, meinte Dad. »Das ist keine Spielerei. Warte, bis du zwölf bist.«

Ich habe gesagt: »Diese Regeln finde ich blöd.« Ein Glück, dass ich ab heute zwölf bin, denn das bedeutet: Bye-bye, Regeln. Aber im Moment kommt es nur auf das Netz an. Ich hebe es über meinen Kopf, während ich mich zentimeterweise näher an die Hündin heranbewege. Braves Hündchen. Hab keine Angst vor diesem Drei-Gänge-Menü auf zwei Beinen, das da grade auf dich zu…

Uuund jetzt hat sie mich gesehen. Ich bleibe wie angewurzelt stehen.

»Sie kann Furcht riechen, Nic Nac«, höre ich Dad sagen. »Hab keine Angst.«

Sagt der Typ, der selbst nicht drei Schritte von einem Höllenhund entfernt ist.

Nein, nein, so läuft das nicht. Eine von uns muss als Erste angreifen, und das werde ich sein.

Ich gehe einen Schritt vorwärts.

Sie knurrt und macht das Gleiche.

Ich wage noch einen Schritt.

Sie greift an.

Ich mache mir beinahe in die Hose.

Sie schmeißt mich um.

Hunderte Kilo Höllenhund drücken mich zu Boden. Der Gestank brennt mir in den Augen. Ich werde nie wieder zu Sean sagen, dass er stinkt. Falls ich ihn überhaupt noch mal wiedersehe. Denn wahrscheinlich bin ich nur Sekunden von Engeln und der Himmelspforte entfernt.

Doch auf einmal schrumpft die Hündin. Sie riecht nur noch nach Käse – nicht gerade gut, aber auch nicht schlimm. Und anstatt mir den Kopf abzubeißen, leckt sie mir übers Gesicht. Der Wald verschwindet, der Garten hinter unserem Haus wird sichtbar. Und aus dem feuerspuckenden, gigantischen Höllenhund ist ein schwanzwedelnder Höllenhundwelpe geworden.

Dad steht lachend auf der Terrasse. »Happy Birthday, Nic Nac.« Er macht eine Handbewegung und beseitigt so den Rest der Illusion, die er geschaffen hat. Und er lässt das Tarnungs-Mojo verschwinden, mit dem er vor unseren Nachbarn verborgen hat, dass unser Garten in einen Wald verwandelt war. Dad ist ein ziemlich guter Manifestor. Er hat es geschafft, dieses Fellknäuel zehnmal größer wirken zu lassen, als es ist. In Wirklichkeit ist es nur so klein wie ein Schuhkarton.

Ich wische mir die warme Hundespucke von den Wangen. »Gehört sie mir?«

»Ich will jetzt keine Namen nennen, aber es gibt da eine Person, die mir damit in den Ohren gelegen ist, dass sie einen Höllenhund oder einen Drachen will. Und weil ein Drache nicht in Frage kommt, ist es eben ein Höllenhund geworden.«

Ich grinse. »Siehst du? Wusste ich doch, dass du das checken wirst.«

»Freu dich nicht zu früh, Nic Nac. Denn es gibt Regeln, wenn du diesen Welpen behalten möchtest.«

»Und zwar?«

Dad hebt staunend die Augenbrauen. »Wer bist du und was hast du mit meinem Kind gemacht? Denn die Nichole Blake, die ich kenne, hasst Regeln.«

»Apfel.« Ich zeige auf mich. »Stamm.« Ich zeige auf ihn.

Er lacht. »Eins zu null für dich, Miss Blake. Ei…«

»Was macht ihr denn da?«

Dad und ich zucken zusammen.

»JP«, sagt Dad und atmet tief durch. »Dir auch einen guten Morgen.«

Mein bester Freund späht über den Zaun, der unsere Gärten trennt. JP ist erst der zweite Mensch, mit dem ich in meinem Leben Freundschaft geschlossen habe. Der erste war Rebecca aus meiner Homeschooling-Gruppe in Atlanta. Wir freundeten uns über Oreos, unsere Lieblings-Schokokekse, an. Eigentlich dachte ich, dass ich nie mehr so gut mit jemandem befreundet sein würde. Aber dann kam JP. Als ich ihn das erste Mal sah, trug er ein Hemd und eine Fliege, als hätte er sich für den Kirchenbesuch am Sonntag hergerichtet und nicht für den Unterricht in seiner vierten Klasse an einem Dienstag. Dabei zwang ihn niemand, sich so anzuziehen. JP mag einfach nur Fliegen. Er streckte mir die Hand hin und sagte: »Ich bin Joshua Paul Williams. Du kannst mich aber Joshua Paul nennen.«

Wir nennen ihn nur JP. Manchmal auch Pastor JP, wegen der Fliegen. Außerdem ist JPs Dad Prediger, und JP hat das gleiche sommersprossige Gesicht, den gleichen runden Bauch und die gleichen kurzen braunen Haare wie er.

Außer mir ist JP das einzige Schwarze Kind in unserer Straße. Aber wir sind nicht deshalb befreundet, sondern weil JP das einzige Kind ist, für das ich nicht das komische Mädchen bin, das zu Hause unterrichtet wird. Ich bin mir übrigens nicht hundertprozentig sicher, ob JP ohne mich überleben könnte. Also nicht, weil er ein Gewöhnlicher ist (das heißt, nicht die Gabe oder irgendwelche anderen übernatürlichen Fähigkeiten besitzt – schließlich sind die meisten Leute hier Gewöhnliche). Sondern weil er ein absoluter Chaot ist.

Gerade zupft er sein Brillenband zurecht. »Entschuldigung, wenn ich euch erschreckt habe. Meine Momma sagt, ich würde schleichen wie eine Schlange in Schlappen.«

»Äh, Schlangen haben aber keine Füße«, sage ich.

»Ich verstehe trotzdem, was sie meint«, mischt Dad sich ein. »Wie lange stehst du denn schon da, junger Mann?«

JP zuckt mit den Schultern. »Nicht so lange.«

Die Sache ist die: Die meisten Gewöhnlichen wissen nichts von der Gabe oder davon, dass es überhaupt Ungewöhnliche gibt. Sie können diese Dinge nicht sehen. Nur Illusionen sind so stark, dass die Gewöhnlichen sie sehen können. Zum Glück hat das Tarnungs-Mojo Dads Illusion vor JP verborgen. Und mein Höllenhundwelpe sollte für ihn wie ein ganz normaler Welpe aussehen. Allerdings besteht die klitzekleine Chance, er könnte irgendwas gesehen haben. Gewöhnliche haben manchmal solche Momente. Normalerweise erklären sie sich die dann damit, dass ihre Fantasie ihnen einen Streich gespielt hat.

»Mr. Blake, meine Momma lässt fragen, ob Nic heute Abend mit uns zu der Lesung kommt und ob ich morgen mit Ihnen ins Museum darf«, sagt JP. »Sie hätte ja selbst gefragt, aber sie ist immer so schüchtern, wenn Sie dabei sind. Sie findet Sie nämlich süß. Aber lassen Sie das nicht meinen Daddy hören.«

Iiiiih! »JP, so was sagt man doch nicht weiter!«

»Wenn’s aber stimmt!«

Dad schüttelt den Kopf. Wir haben schon in zehn verschiedenen Vierteln gewohnt – wenn ich mich nicht verzählt habe –, und wirklich überall hatte Dad einen richtigen Fanclub. Er ist groß und schlank und kriegt Grübchen, wenn er lächelt, seine Haut ist tiefbraun, er hat schwarze Locs und die Arme voller Tattoos. Könnt ihr euch vorstellen, wie es ist, den süßesten Vater in der ganzen Nachbarschaft zu haben? Wi-der-lich. Cringe-Alarm!

»Es bleibt dabei. Nic kann mitkommen«, sagt Dad. »Und du begleitest uns morgen. Sag deiner Momma, ich bedanke mich dafür, dass ihr Nic heute mitnehmt.«

»Yes, Sir. Ich kann noch gar nicht glauben, dass wir TJ Retro treffen.«

»Und er wird unsere Bücher signieren«, füge ich hinzu. JP und ich sollten eigentlich die offiziellen Chefs des TJ-Retro-Fanclubs sein (schließlich sind wir auch schon die offiziellen Autoren seines inoffiziellen Wikis). Wir haben seine Stevie-James-Bücher x-mal gelesen. Darin geht es um den Waisenjungen Stevie, der rausfindet, dass er ein Zauberer ist. Zusammen mit seinen besten Freunden Kevin und Chloe besucht er eine magische Schule. Eines Tages wird er gegen Einan, den bösesten Zauberer der Welt, kämpfen müssen.

Die Zauberer und ihre Magie erinnern mich ein bisschen an uns Manifestoren und die Gabe. Wobei die Gabe im echten Leben mächtiger ist als Magie. Ihr müsst wissen, dass die Gabe eine uns Manifestoren angeborene Fähigkeit ist. Magie ist dagegen eine unehrenhaftere Version der Gabe. Schwer zu kontrollieren und extrem zerstörerisch. Außerdem kann man Magie im echten Leben nur mit einem Zauberstab ausüben, und die Kraft von Zauberstäben lässt mit der Zeit nach. Wir Manifestoren brauchen keine Zauberstäbe.

Obwohl die Stevie-Bücher also nicht korrekt sind, finden wir sie cool. Der dritte Band ist letzte Woche erschienen, und heute Abend kommt Mr. Retro auf seiner Lesereise nach Jackson. JP und ich haben das neue Buch noch nicht gelesen und versuchen, alle Spoiler zu vermeiden, bis wir unsere Exemplare signiert bekommen haben. Das nennt man Disziplin.

»Der gute alte TJ Retro und seine ungenauen Bücher«, murmelt Dad.

»Wie können Bücher über Zauberei denn ungenau sein, Mr. Blake?«, fragt JP. »Zauberei gibt’s doch gar nicht.«

»Ja, Dad, wie können die ungenau sein?«, hake ich nach.

Er wirft mir einen vielsagenden Blick zu, und ich grinse. Dad hasst Bücher über Zauberei. Er nennt sie »aus Gewinnstreben erfundene Geschichten«. Genau genommen stehen ja in allen Unterhaltungsbüchern aus Gewinnstreben erfundene Geschichten, aber ich lasse ihm seine Meinung.

Er räuspert sich. »Sie sind einfach nicht mein Ding, JP.«

»Oder mit anderen Worten: Er hat eben keinen Geschmack«, sage ich.

Dad nimmt mich in einen sanften Schwitzkasten. »Was sagst du da?«

»Lass mich los!«, rufe ich lachend.

Er drückt mir einen feuchten Schmatzer auf die Stirn. »Ich habe Geschmack«, sagt er und lässt mich wieder los. »Den besten sogar. Merk dir das.«

»Das wünschst du dir wohl«, sage ich, während mein Höllenhundwelpe mir am Bein hochspringt. »Schau mal, JP. Ich hab endlich einen Hund bekommen.«

Da JP ein Gewöhnlicher ist, kann er den Rauch nicht sehen, den der Welpe ausstößt, und auch nicht die kleinen Hörner an seinem Kopf. Aber JP beachtet ihn sowieso kaum. »Oooh, ich gehe jetzt mal lieber. Die Ferien-Bibelstunde wartet höchstens auf Jesus. Happy Birthday, Nic!«

Er verschwindet vom Zaun, und ich runzle die Stirn. »Was war das denn gerade?«

»Bei JP kann man nie so genau wissen«, meint Dad. »Jetzt komm, wir müssen mit deinem Unterricht anfangen.«

Für die anderen Kinder in Jackson haben Anfang der Woche die Sommerferien begonnen, aber Dad unterrichtet mich zu Hause das ganze Jahr durch. Heute finde ich das okay. Es ist nämlich Zeit für Unterricht in der Gabe, Leute. Zeit, eine richtige Manifestorin zu werden.

Denn wisst ihr, obwohl wir Manifestoren alle mit der Gabe geboren sind, müssen wir lernen, sie zu benutzen. Und es gibt eine Menge Möglichkeiten, sie zu benutzen. Am einfachsten geht das mit Mojos und Jujus, die die Elemente kontrollieren. Wir können zum Beispiel Feuer zwischen unseren Händen erzeugen oder Wasser aus der Erde schießen lassen. Tun wir das mit guter Absicht, ist es ein Mojo. Tun wir es mit böser Absicht, ist es ein Juju. Wir können auch unsere Vorstellungskraft verwenden, um Dinge herbeizurufen oder Illusionen zu erzeugen und so weiter. Es kann Jahre dauern, bis man gelernt hat, die Gabe zu meistern, und außerdem entdecken Manifestoren ständig neue Möglichkeiten, sie zu nutzen. Ich muss ja nicht tausend Wege kennen, aber ich wüsste gerne, wie man irgendwas damit macht.

Mein Welpe tapst hinter uns ins Haus. Wir wohnen jetzt seit zwei Jahren in Jackson. Davor haben wir in New Orleans gelebt, und davor in Memphis, Atlanta, Charleston, Washington und New York. Man kann also sagen, dass wir schon an ziemlich vielen Orten gewohnt haben. Beim letzten Umzug hat Dad mich die neue Stadt aussuchen lassen, und ich habe Jackson gewählt. Ich kann’s auch nicht erklären, aber irgendwie kam es mir so vor, als müssten wir hierher.

Ich finde, das war eine gute Entscheidung. Bisher ist das eines meiner Lieblingshäuser. Es hat einen ersten Stock und einen Keller. Und es liegt in einem Künstlerviertel, das Fondren heißt. Einmal im Monat gibt es ein Fest für die ganze Nachbarschaft, und sonntags gehen Dad und ich immer in einen Diner, der nur ein paar Straßen entfernt ist, um uns Milchshakes und Cheeseburger zu gönnen.

So, wie es aussieht, haben wir hier ein Zuhause gefunden, aber es kann jeden Tag passieren, dass Dad sagt: »Hey, wie wär’s mit einem Tapetenwechsel?« Tatsächlich meint er damit: »Hey, jemand von den Gewöhnlichen hat mich dabei erwischt, wie ich die Gabe genutzt habe, also nichts wie weg hier.« Das kommt leider oft vor.

In der Küche lässt ein tiefes Knurren die Tür zum Keller erzittern. Ich setze mich an die Frühstückstheke. »Ist das der Dämon, den du in der Gouverneursvilla gefangen hast?«

Dad macht eine Handbewegung, und im Spalt unter der Kellertür ist auf einmal Licht zu sehen. Der Dämon quiekt. »Yep. Schon der zweite in zwei Wochen. Ich sag’s dir, Dämonen können dieses Haus einfach nicht in Ruhe lassen.«

Dad arbeitet hier in Jackson als Handwerker. Gewöhnliche wissen nicht, dass 85 Prozent ihrer Probleme im Haushalt von Gespenstern, Dämonen, Ghulen und anderen Geschöpfen aus der Welt der Ungewöhnlichen verursacht werden. Zwölf Prozent von dem, woran diese Geschöpfe nicht schuld sind, lassen sich locker mit der Gabe beseitigen, und für die restlichen drei Prozent braucht man nichts weiter als einen Schraubenzieher und ein Stoßgebet.

»Na gut, Nic Nac«, sagt Dad. »Schnelles Quiz – wann haben wir Manifestoren erstmals die Gabe erhalten?«

O Mann, jetzt kommt er mir damit. Ich bin bereit für Unterricht in der Gabe, nicht für ein Quiz. Aber was sein muss, muss sein. »Unsere Vorfahren wurden erstmals mit der Gabe gesegnet, als sie versklavt waren. Sie erhielten sie, damit sie in die Freiheit entkommen konnten.«

»Bist du dir da sicher?«, fragt Dad.

Ach, Mist, wenn er schon so fragt, bin ich mir nicht mehr sicher. »Äääh … ich denke schon.«

»Tut mir leid, Baby Girl. Da liegst du falsch. Denk dran, was ich dir immer sage – nichts, was irgendwelche Schwarzen Menschen betrifft, hat mit der Sklaverei begonnen. Was uns Manifestoren angeht, so haben unsere Vorfahren in Afrika, die Wallinzi, die Gabe als Erste bekommen. Mit ihnen werden wir uns in deinem heutigen Unterricht beschäftigen.«

»Was? Aber … aber ich dachte, du wolltest mir beibringen, wie ich die Gabe benutze. Heute ist doch der Tag, an dem ich es lernen sollte, weißt du nicht mehr?«

Dad runzelt die Stirn. »Ist das so?«

»Ja! An meinem elften Geburtstag hast du gesagt, ich kann es lernen, wenn ich zwölf bin. Davor hast du an meinem zehnten gesagt, ich könnte es mit elf lernen.«

»Ich erinnere mich nicht mehr …«

»Uuund an meinem neunten Geburtstag hast du gesagt, ich könne es lernen, wenn ich zehn werde.«

»Das ist ja schon eine Weile her. Bist du dir da sicher?«

Ich presse meine Lippen zusammen. »Dad, das ist nicht fair. Du hast mir erzählt, dass du gelernt hast, die Gabe zu nutzen, als du zehn warst.«

»Das stimmt. Früher dachte ich, es wäre eine schnelle Lösung für alles, aber es ist keine …«

»Spielerei«, sage ich.

»Es kann ernste …«

»Folgen haben.«

»Du könntest dich verletzen oder …«

»Jemand anderen«, beende ich auch diesen Satz. All das habe ich schon eine Million Mal gehört. »Ich will einfach nur wissen, wie man die Gabe für einfache Sachen benutzt. Zum Beispiel, um die Illusion zu erzeugen, ich hätte mein Zimmer aufgeräumt. Oder wie man sie gegen einen Gamer Troll einsetzt.«

»Ooooder du räumst dein Zimmer wirklich auf. Bitte mach das. Neulich kam da so ein echt schlimmer Gestank rausgeweht. Und ich bringe dir ganz bestimmt nicht bei, wie du die Gabe gegen einen Gamer Troll einsetzt. Dann würdest du nur Unfug machen und irgendwelchen armen Kindern die Zähne ausfallen lassen.«

Ich mache große Augen. »Das geht mit der Gabe?«

Dad spitzt die Lippen. »Wie ich schon sagte, ist die Gabe keine schnelle Lösung, wenn du in der Klemme steckst, Baby Girl. Außerdem geht nichts über das hier.« Er tippt mir an die Schläfe. »Dein Verstand ist die einzige Gabe, die du brauchst. Du selber bist die einzige Gabe, die du brauchst. Alles, was du brauchst, hast du in dir.«

»Tja, und wenn die Gabe schon in mir drin ist, muss ich dann nicht auch wissen, wie man sie benutzt?«

Er grinst. »Du lässt nicht locker. Das muss ich dir lassen. Aber ich denke, wir sollten noch ein Jahr warten, Nic Nac.«

Ich möchte ihm sagen, dass er mir doch eine Chance geben soll. Dass ich vorsichtig sein werde. Großes Ehrenwort. Dass ich nur wissen möchte, dass ich es kann und ich eine richtige Manifestorin bin.

Aber darauf würde Dad nicht hören. Das klappt bei ihm nie. Ich seufze.»Yes, Sir.«

Da gibt er mir einen Kuss auf die Stirn. »Lass uns diese Lektion über die Wallinzi hinter uns bringen, damit wir uns dann auf den Weg zu Ms. Lena machen können.«

Nach ungefähr zwei Stunden Unterricht steigen wir in Dads Pick-up Truck – Dad und ich und mein Höllenhundwelpe. Ich glaube, ich werde sie Cocoa nennen. Ihr Fell hat die Farbe von einer Tasse heißer Schokolade. Der Dämon, den Dad in der Gouverneursvilla gefangen hat, schläft in einem Käfig auf der Ladefläche, und auf dem Rücksitz steht ein Träger mit Flaschen aus blauem Glas, in denen die rauchigen Gestalten von Gespenstern herumwirbeln. Dad hat sie diese Woche in verschiedenen Häusern eingefangen. Als er durch ein Schlagloch auf unserer Straße fährt, klirren die Flaschen aneinander.

»Das soll wohl ein Witz sein«, sagt er. »Schon wieder eins?«

In Jackson gibt es unzählige Schlaglöcher. Manchmal machen die Leute kleine Teiche oder Blumenbeete daraus. Das ist cool, aber gleichzeitig auch traurig.

Ich schaue zu dem zurück, durch das Dad gerade gerumpelt ist. »War das gestern auch schon da?«

»Nein, glaub ich nicht. Die Dinger reißen richtig schnell auf. Ich wette, das hat was mit dem Vulkan unter der Stadt zu tun.«

Die meisten Leute wissen gar nicht, dass Jackson auf einem inaktiven Vulkan errichtet wurde, der nur wenige tausend Meter unter der Stadt liegt. Der Krater soll sich direkt unter dem Mississippi Coliseum befinden. Ich bin nur froh, dass er nicht aktiv ist. Denn glaubt mir, wenn er noch aktiv wäre, hätte ich Dad nicht gesagt, dass wir hierherziehen sollen. Obwohl die kulinarischen Spezialitäten von Jackson – Karamellkuchen und Hühnchen am Spieß – das Risiko eines Vulkanausbruchs schon wert wären.

Auf der Fahrt zur Farish Street rumpeln wir noch durch jede Menge anderer Schlaglöcher. Dad hat mir in einer unserer Geschichtsstunden erzählt, dass die Straße früher der Ort für Schwarze Menschen in Mississippi war, weil sie hier ausnahmsweise nicht diskriminiert wurden. Im Internet habe ich ein paar alte Fotos gefunden, auf denen man sieht, wie voll die Gehwege vor den Geschäften und Restaurants waren.

Heute sind die meisten Gebäude an der Farish Street verlassen. Auf Gewöhnliche wirkt das Haus von Ms. Lena auch so. Sie wissen ja nicht, dass die zugenagelte Tür nur eine Illusion ist, hinter der sich eine Stahltür mit uralten Zeichen verbirgt.

Als Dad die Tür aufmacht, trägt er den Käfig mit dem Dämon. Blues-Klänge, Stimmengewirr und der Duft von Frittiertem empfangen uns. Heute ist es hier total voll, wie immer am Freitag. Denn da serviert Ms. Lena ihren berühmten frittierten Seewolf mit Cajun Fries, das sind Pommes, wie man sie hier in den Südstaaten zubereitet.

In dem Juke Joint, einer einfachen Kneipe von der Art, wie sie früher hauptsächlich von der Schwarzen Bevölkerung besucht wurde, ist das Licht schummrig, damit man nicht so genau sieht, wie baufällig die Einrichtung schon ist. Aber die Ungewöhnlichen erhellen die Umgebung zum Glück ein bisschen. Jede und jeder Ungewöhnliche ist nämlich von einem Glow, einem bunten Leuchten, umgeben. An dieser Aura kann man erkennen, was für eine Art Ungewöhnlicher jemand ist. Sehen können den Glow nur andere Ungewöhnliche, aber Dad meint, die Gewöhnlichen könnten ihn spüren. Meist sagen sie dann, jemand hätte »das gewisse Etwas«.

Wir Manifestoren besitzen einen goldenen Schimmer, der ein bisschen heller leuchtet als der Glow der anderen. Wahrscheinlich ist das kein Zufall, weil wir zu den mächtigsten Ungewöhnlichen gehören. Versteht mich nicht falsch, Rougarous, wie man Werwölfe hier im Süden nennt, Vampire, Riesen, Elfen, Angehörige des Meervolks und andere Ungewöhnliche haben auch einiges drauf, aber nur wir verfügen über die Gabe.

Ein paar Manifestoren an der Bar werden von einer kleinen violett schimmernden Aziza mit brauner Haut, glitzernden Flügeln und spitzen Ohren bedient. Das ist Ms. Sadie. Man darf sie nicht »Fee« nennen, sonst erklärt sie einem, dass Feen aus Europa stammen und Azizas aus Afrika, und dass Azizas stärker sind als Feen. Sie können Sachen hochheben, die tausend Mal schwerer sind als sie selbst.

Eine Manifestorin, die in einer Nische sitzt, zeigt einem rot leuchtenden Vampir einen Koffer voller kleiner Lederbeutel. Das ist Mrs. Barbara, die als Vertreterin für Miss Peachys Phänomenale Mojo- und Juju-Beutel unterwegs ist. Auf dem Koffer schimmert in Glitzerbuchstaben der Werbeslogan: »Lass dich überraschen!« Ungewöhnliche lieben die Beutel, weil in ihnen die Gabe steckt. Allerdings weiß man vor dem Öffnen nicht, was man bekommt. Es kann ein Mojo-Beutel sein, der es Geld und Gold regnen lässt. Oder es ist ein Juju-Säckchen, das die Schwerkraft in einem Raum außer Kraft setzt oder echten Regen erzeugt. Eigentlich ist es so eine Art Rubbel-Los für Ungewöhnliche. Manche Leute geben ihr ganzes Geld aus, um einen Mojo-Beutel zu erwischen, der Geld oder Gold enthält, dabei sind die meisten nicht mehr als zehn Dollar wert. Selten findet man einen, der einem Millionen einbringt. Dad sagt, damit wird niemand reich – nur Miss Peachy.

Einen Tisch weiter unterhält sich ein Rougarou mit brauner Haut und einem grauen Leuchten mit einer Gestaltwandlerin (orangefarbener Glow) und einem Vampir. Er zeigt ihnen Bilder auf seinem Handy.

»Hey, da ist ja das Geburtstagskind!« Mr. Zeke, der Rougarou, hat uns bemerkt.

Ich grinse, als sich das wie ein Lauffeuer im Lokal rumspricht. Das ist ganz anders als früher. Bevor Dad und ich nach Jackson kamen, hatten wir nie besonders viel mit anderen Ungewöhnlichen zu tun. Und wenn, dann sagte Dad, ich sollte mich nicht mit ihnen unterhalten. Ich finde, er übertreibt ein bisschen damit, dass ich mich vor Fremden in Acht nehmen soll. Als wir noch neu in Jackson waren, lernte er Ms. Lena kennen und begann, gelegentlich ins Lokal zu kommen, um ihr die Kreaturen zu verkaufen, die er bei seiner Arbeit fing. Erst war er total zurückhaltend, aber im Laufe der Zeit sind die Stammgäste hier so was wie unsere Familie geworden.

Deshalb bekomme ich jetzt eine Geburtstagsumarmung nach der anderen. Ms. Sadie verspricht mir einen Root-Beer-Float mit Karamellsoße oben drauf. Mrs. Barbara schenkt mir einen Miss Peachy’s-Beutel und behauptet, sie hätte das starke Gefühl, dass vielleicht ein Mojo drin wäre, das es Gold regnen lässt. Ich stecke ihn erst mal in meine Tasche. Bei dem Glück, das ich immer habe, würde es mich nicht wundern, wenn es stattdessen ein Juju-Beutel ist, der es Frösche regnen lässt.

Wir gehen zu Mr. Zeke hinüber, und er schließt mich in seine flauschigen Arme. Ich kann mir nur ungefähr vorstellen, wie er bei Vollmond aussehen muss. »Happy Birthday, Nic! Wie geht’s dir mit zwölf?«

»Bisher genauso wie mit elf.«

»Warte mal ab, bis du hundert bist«, sagt Mr. Earl, der Vampir. »Fühlt sich keine Spur anders an. Ein ganzes Jahr lang dachte ich, ich wäre noch 110, dabei war ich schon 111.«

»Du bist 114, Earl«, sagt Mr. Zeke.

»Hach, verdammich. Seht ihr, was ich meine?«

»Ich sehe, dass jemand einen Höllenhund bekommen hat«, meint Ms. Casey, die Gestaltwandlerin, und schaut dabei Dad an.

Ich grinse. »Yep! Irgendwann musste er ja mal nachgeben.«

»Yeah, yeah. Dir wird das Grinsen schon noch vergehen, wenn du die ganzen Höllenhundhäufchen einsammeln musst«, sagt Dad. »Wie war deine Reise, Zeke?«

»O Mann, umwerfend ist nicht übertrieben. Gerade habe ich Earl und Casey die Fotos gezeigt. Ich war so nah dran, wie es ging.«

Jedes Jahr reist Mr. Zeke in eine für Ungewöhnliche bedeutende Stadt oder an einen für uns geschichtlich bedeutenden Ort. Dieses Jahr war er in Afrika, um den Garten Eden zu sehen. Also, von außen. Es darf ja niemand rein. Dad hat gesagt, die Wallinzi, von denen wir abstammen, leben in der Stadt, die den Garten umgibt. Mr. Zeke zeigt uns ein Foto von sich, auf dem er vor den Toren des Gartens steht. Die Mauer aus Elfenbein ist Hunderte Meter hoch, und zwei Engel in goldener Rüstung bewachen sie.

»Wie ist die Stadt?«, will Dad wissen. »So schön, wie man hört?«

»Noch schöner«, sagt Mr. Zeke. »Diese Wallinzi allerdings … ein interessantes Völkchen.«

»Lustig, dass ich gerade angefangen habe, Nic etwas über sie beizubringen.«

»Dann solltest du sie auch wissen lassen, dass sie nicht gerade freundlich zu Fremden sind«, fügt Mr. Zeke hinzu. »Vor allem nicht zu uns ›weniger begabten‹ Ungewöhnlichen. Ihr wisst ja, wie manche Manifestoren sein können.«

Mr. Earl und Ms. Casey brummen zustimmend. Einige Manifestoren geben anderen Ungewöhnlichen gerne zu verstehen, dass wir die mächtigsten von ihnen sind. Dad sagt, das ist dumm. Denn als Schwarze Menschen haben wir doch selbst miterlebt, wie Leute wie wir als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Das sollten wir nicht mit anderen machen.

»Tut mir leid, dass du das erleben musstest, Mann«, sagt er zu Mr. Zeke.

»So ist es nun mal, Maxwell. Ich habe über die L.O.R.E. jeden Tag damit zu tun.«

Und schon wird im ganzen Lokal gegrummelt. Im Ms. Lena’s sollte man die L.O.R.E., was die Abkürzung für die League of Remarkable Efforts ist und quasi die Regierung der Ungewöhnlichen bezeichnet, besser nicht erwähnen. Die L.O.R.E. besteht hauptsächlich aus Manifestoren. Und die überwachen uns Ungewöhnliche, damit wir keinen Ärger mit den Gewöhnlichen bekommen. Also keinen richtig großen. Ich meine, als Mr. Earl in die Blutbank von Jackson eingebrochen ist, da musste er selbst mit der Polizei der Gewöhnlichen klarkommen. Aber würde er Randale machen und einen Haufen Gewöhnliche beißen, dann würde die L.O.R.E. eingreifen. Die L.O.R.E. regiert auch über die geheimen Städte der Ungewöhnlichen in Nordamerika, wie zum Beispiel Uhuru, wo Dad und ich geboren worden sind.

Ich war als Baby zum letzten Mal in einer solchen Stadt. Dad und ich sind Exilanten, weil wir in keiner Ungewöhnlichen-Stadt leben. Genau wie alle anderen im Ms. Lena’s. Die Hälfte von ihnen hat diese Städte freiwillig verlassen; einige sagen, weil die L.O.R.E. ihnen dort zu viele Vorschriften macht. Die andere Hälfte wurde von dort vertrieben. Dad behauptet, er hätte selbst entschieden, dass wir in der Welt der Gewöhnlichen leben. Aber manchmal frage ich mich, ob er wirklich eine Wahl hatte. Wenn ich daran denke, wie oft wir umgezogen sind und wie sehr Dad früher anderen Ungewöhnlichen aus dem Weg gegangen ist – als hätte er irgendwas zu verheimlichen. Und dann wiederum kann ich mir nicht vorstellen, dass er irgendwas machen würde, wofür man ihn irgendwo rausgeworfen hätte.

»Apropos L.O.R.E., gibt’s etwas, das ich wissen muss?«, fragt Dad.

Mr. Zeke sieht mich an – so kurz, dass ich es fast nicht mitkriege – und sagt dann: »Du weißt ja, wie es um diese Zeit des Jahres ist.«

Äh, was soll das jetzt heißen?

Dad nickt. »Danke, Mann.«

Mr. Zeke streckt ihm die Faust hin. »Hey, wir Exilanten müssen doch zusammenhalten.«

Dad schlägt seine Faust gegen Mr. Zekes. »Immer. Komm, Nic Nac.«

Ich folge ihm in den hinteren Teil des Lokals. »Was passiert denn um diese Zeit des Jahres?«

»Angelegenheiten erwachsener Leute«, sagt er. So bezeichnet er auch die Politik und das, was mit Mr. Earl passierte, nachdem er in die Blutbank eingebrochen war.

Dad will gerade an Ms. Lenas Tür klopfen, da schwingt sie auch schon auf. An allen Wänden des Büros stehen Regale. Darin befinden sich Käfige mit Kreaturen und Phiolen mit Flüssigkeiten in allen Farben. Eine ältere Schwarze Frau sitzt in der Mitte an einem Schreibtisch. An ihren Fingern stecken goldene Ringe, und ihre Haut schimmert in einem bronzefarbenen Glow.

Ms. Lena ist eine Visionärin, das heißt, sie kann in die Zukunft sehen. Das ist etwas anderes als eine Prophetin. Propheten erhalten göttliche Botschaften über die Zukunft bestimmter Menschen, und die suchen sie dann auf, um ihnen diese Botschaften mitzuteilen. Prophezeiungen sind nicht besonders genau und können auch missverstanden werden. Visionäre sehen dagegen Sachen aufblitzen, die passieren werden. Das ist ungefähr so, als würde man nur einzelne Puzzleteile sehen, aber nicht das fertige Bild.

»Ah, mein bester Lieferant«, sagt Ms. Lena. Ihr Akzent aus New Orleans lässt mich daran denken, wie es war, mit Dad dort herumzuspazieren. »Ich sehe, du bringst den Höllenhundwelpen zurück. Aber ich hab dir gesagt: Umtausch ausgeschlossen.«

Ich hätte wissen müssen, dass Dad Cocoa bei Ms. Lena gekauft hat. Sie ist die erste Adresse für alles von Höllenhunden über Blitzvögel bis hin zu allen möglichen Elixieren.

»Oh, nein, wir bringen sie nicht zurück«, sagt Dad. »Wir haben sie nur auf die Fahrt mitgenommen.«

»Ah-ha. Und sie spuckt nur Rauch, oder? Ich hab ihr nämlich ein Mittel gegeben, damit das mit dem Feuer aufhört, aber ich übernehm nicht die Verantwortung, falls sie doch euer Haus abfackelt.«

Ähm, was?

»Nur Rauch«, bestätigt Dad. »Kein Feuer.«

»Ah-ha«, macht Ms. Lena wieder. Ich glaube, das ist ihr Lieblingswort, auch wenn es kein richtiges Wort ist. »Also, dann stiehl mir nicht die Zeit, sondern lass sehen, was du hast.«

Dad stellt den Käfig auf ihren Schreibtisch, während der Dämon sich an die Eisenstangen krallt. Er ist etwa dreißig Zentimeter groß, hat eine rote höckerige Haut und grüne Knopfaugen. Ms. Lena entfernt den Verschluss von einer Phiole und schüttet eine klare Flüssigkeit auf den Dämon. Der heult, als seine Haut zischt wie Wasser in einer heißen Pfanne.

»Weihwasser«, erklärt Ms. Lena. »Wenn er zu wild wird, verpasse ich ihm auch noch ein bisschen Öl.«

Sie spricht das englische Wort »oil« wie »earl« aus. Das machen manche Leute aus New Orleans so. Ms. Lena ist da geboren und aufgewachsen. Doch dann kam der Hurrikan Katrina. Drei Tage verbrachte sie auf einem Hausdach, bis irgendwelche Sumpfbewohner – Verwandte der Angehörigen des Meervolks aus dem Bayou – sie retteten.

»Wie viele Gespenster hast du denn diesmal für mich, Maxwell?«, fragt sie.

»Zehn, und darunter ein richtig wütendes aus Madison.«

»Ooooh, Kinder, Kinder! Ihr habt Ms. Lena den Tag gerettet. Damit werden wir schönes Geld verdienen!«

»Wer kauft denn eigentlich die Gespenster von Ihnen?«, frage ich.

Ms. Lena stützt eine Hand in ihre Hüfte. »Wer will das wissen?«

»Sie meint es nicht bös, Ms. Lena«, sagt Dad schnell.

Da hebt Ms. Lena die Hand. »Gegen ein neugieriges Kind gibt es nichts einzuwenden. Wenn du’s genau wissen willst, Miss Naseweis – es gibt hier ein paar reiche Ungewöhnliche, die Gespenster sammeln. Frag mich nicht, was sie mit ihnen machen. Das geht mich nichts an, solange sie gut dafür bezahlen.«

Seltsam. Wenn ich reich wäre, würde ich mir irgendwas Nützliches kaufen. Etwa einen Drachen als Haustier, der darauf trainiert wäre, mich zu beschützen. Praktische Sachen eben.

»Dein Daddy meinte, dieser Höllenhundwelpe wäre dein Geburtstagsgeschenk«, sagt Ms. Lena. »Wie alt bist du jetzt?«

»Zwölf.«

»Oooh.« Sie lässt lächelnd ihre Goldzähne aufblitzen. »Ich erinnere mich noch sehr gut an das Alter. Lass mich mal versuchen, eine Vision für dich einzufangen. Normalerweise tue ich das nicht gratis, aber zu deinem Geburtstag würde ich eine Ausnahme machen.«

»Nein, nicht nötig, Ms. Lena«, sagt Dad. »Wir möchten Ihnen keine Umstände machen.«

»Ach, sei still, Maxwell. Das ist doch gar kein Problem.«

»Nein, wirklich«, sagt Dad. »Lieber nicht.«

Doch Ms. Lena greift schon nach meinen Händen. »Warum nicht? Das dauert nur eine Mi…«

Unsere Fingerspitzen berühren sich kaum.

Ein scharfer Windstoß weht an mir vorbei. Dad, Cocoa und Ms. Lena verschwinden, und ich befinde mich in einem düsteren Tunnel.

Panisch blicke ich mich um. »Was zum …«

Schon blitzt die nächste Vision auf. Ich stehe in einer riesigen Höhle, sehe alles um mich herum aber nur verschwommen. Vor mir ist irgendwas Großes, Dunkles. Ich kann nicht erkennen, was. Plötzlich schreit jemand: »Nic, lauf! Er ist hinter dir!«

Ich will mich gerade umdrehen und nachsehen, aber schon weht wieder dieser scharfe Wind und ich bin zurück in Ms. Lenas Büro.

Sie lässt meine Hände los und ruft: »Wie hast du das gemacht?«

Ich halte mir den pochenden Schädel und blinzle die Sternchen aus meinen Augen. Es dauert einen Moment, bis ich alles wieder scharf sehe. Als es so weit ist, merke ich, dass Ms. Lena mich entsetzt anstarrt.

Ich starre genauso schockiert zurück. Ihr Glow flackert, als würde jemand einen Lichtschalter an- und ausknipsen.

»Was hast du gemacht?«, kreischt sie. »Sag es mir auf der Stelle, Kleines!«

Dad lässt mich nicht antworten. Er packt mich und Cocoa und stürmt mit uns aus dem Lokal.

2

Die Abenteuer des Tyran J. Porter

Dad fährt uns in einem Höllentempo nach Hause und donnert dabei in jedes Schlagloch. »Erzähl mir ganz genau, was passiert ist, Nichole.«

Ich fange am Anfang an. Unsere Finger berührten sich, dann gab es einen Windstoß, danach kamen der Tunnel, die Höhle, die Stimme. »War das eine Vision?«

»Klingt so«, sagt Dad. Dazu macht er ein Gesicht, wie ich es erst ein- oder zweimal gesehen habe. Dad ist geschockt.

Holy Moly, er ist geschockt. Dabei hat Dad vor gar nichts Angst. Wenn er also entsetzt ist, sollte ich wohl schon mal meine Beerdigung planen. »Was hat das zu bedeuten?«

»Immer mit der Ruhe, Baby Girl.«

»Wieso habe ich ihre Vision gesehen?«

»Keine Ahnung.«

»Was war das überhaupt für eine Vision?«

»Keine Ahnung.«

Mein Kinn beginnt zu zittern. »Hab ich sie verletzt?«

»Hey, hey, beruhig dich. Du hast nichts falsch gemacht.«

»Aber ihr Schimmer, Dad. Der hat geflackert.«

»Bestimmt gibt es dafür eine Erklärung. Wir wissen zwar einiges über die Gabe, doch es gibt auch so viel, wovon wir keine Ahnung haben. Aber ich verspreche dir, dass du nichts falsch gemacht hast, hörst du?«

Während er das sagt, erzählt sein Gesichtsausdruck was ganz anderes. Seit wir Ms. Lenas Lokal verlassen haben, ist seine Stirn sorgenvoll gerunzelt.

Irgendwas stimmt nicht mit mir … Oder noch schlimmer, ich habe was richtig Übles angestellt.

Dad biegt in unsere Einfahrt ab und stellt den Motor aus. Wir sitzen schweigend da, und er streicht mit den Fingern über ein Tattoo auf seinem Unterarm. V.XXVII – die römischen Ziffern für den 27. Mai, meinen Geburtstag. Genau genommen sind es zwei Tattoos übereinander, sodass es fast wie in 3D aussieht.

»Weißt du«, meint er schließlich, »ich glaube, es wäre das Beste, wenn du heute Abend nicht zu der Signierstunde gehst.«

»Aber du hast doch gesagt, dass ich nichts falsch gemacht habe!«

»Hast du auch nicht. Aber du solltest nicht unter so vielen Gewöhnlichen sein.«

In meinen Augen beginnt es zu brennen. »Denkst du, dass ich jemanden verletzen könnte?«

»Nein!«, sagt er schnell. »Nein, Baby Girl.«

»Warum kann ich dann nicht hingehen? Mr. Retro zu treffen, ist doch eins von meinen Geburtstagsgeschenken!«

»Nichole.« Sein Ton klingt so, als sollte ich mit meinem vorsichtiger sein. »Hör zu, Mrs. Williams und JP können doch deine Bücher mit signieren lassen. Wir feiern solange hier Geburtstag. Ich habe Kuchen besorgt und hole noch eine Pizza von Sal and Mookie’s. Dann können wir …«

Ich springe aus dem Wagen und marschiere ins Haus, während ich mir schon die Augen ausweine.

Den Großteil meines Geburtstags verbringe ich mit Cocoa allein in meinem Zimmer.

Irgendwann höre ich Dad mit Mrs. Williams telefonieren und ihr sagen, mir ginge es nicht so gut. Er meint, es wäre nichts Schlimmes, aber er wolle auf Nummer sicher gehen und mich deshalb heute Abend zu Hause behalten. Das bringt mich auf den Gedanken, dass irgendwas richtig Schlimmes mit mir sein muss.

Irgendwo im Zimmer meldet sich mein Tablet mit einem Piepsen. Cocoa hört auf, mit einem Paar Socken zu spielen, und läuft direkt auf einen Haufen schmutziger Klamotten in der Ecke zu. Ich wühle darin herum, bis ich das Tablet ausgegraben habe. Darauf sind drei Nachrichten von JP.

Meine Momma hat’s mir schon erzählt!

Nic, es geht um TJ Retro!

Krank kannst du wann anders sein!

Ich lasse mich auf mein Bett fallen. Das Schlimmste daran, mit Gewöhnlichen befreundet zu sein, ist, dass man ihnen nicht einfach so was sagen kann wie »Ich bin nicht wirklich krank. Aber ich habe heute irgendwas mit einer Visionärin gemacht. Und deshalb hat mein Dad mehr Schiss, als er sich anmerken lassen will.«

Das kommt nicht in die Tüte. Also schreibe ich: Ich wünschte, ich könnte mitkommen. Kannst du meine Bücher für mich signieren lassen?

Na klar, schreibt JP.

Ich werde ein Selfie für dich machen.

Genau genommen wird es für mich sein, weil ich drauf sein werde, nicht du. Aber ich werde die ganze Zeit an dich denken!

Mach ich es gerade nur noch schlimmer?

JA, schreibe ich und schmeiße mein Tablet zurück auf den Kleiderhaufen.

Cocoa springt aufs Bett und legt den Kopf auf meinen Bauch. Dann schaut sie mit ihren großen roten Augen zu mir hoch, als wollte sie sagen: »Meisterin, was darf ich für dich tun?«

Ich kraule sie hinter den Ohren. »Immerhin habe ich dich heute bekommen. Das ist wenigstens ein bisschen Geburtstag.«

Es klopft an meiner Tür, und Dad steckt den Kopf ins Zimmer. »Darf ich reinkommen?«

»Ist ja egal, weil du sowieso reinkommst.«

»Stimmt, aber ich glaube, ich habe zwei gute Gründe dafür.«

Ich setze mich auf. Dad trägt zwei kleine Geburtstagskuchen mit dicker hellbrauner Glasur herein. Karamellkuchen. Ich bin verrückt nach Karamell.

Aber anstatt nachzugeben, lasse ich mich rückwärts wieder auf mein Bett fallen.

»Das funktioniert nicht?«, meint Dad. »Na gut, wie wär’s dann damit?«

Er stellt die Kuchen auf meinen Nachttisch und reibt die Handflächen aneinander. Mit einer Handbewegung bringt er dann meine Zimmerdecke zum Verschwinden. Ein nächtlicher Sternenhimmel wird sichtbar. Dad erzeugt einen Stern nach dem anderen. Kleine flimmernde, große schimmernde, die an Diamanten erinnern. Sie gleiten zum Himmel hinauf, und ein paar verwandeln sich in Sternschnuppen.

Dad grinst mich an. »Ich hab dir doch gesagt, dass du die Sterne verdienst.«

Ich verschränke die Arme. »Hübsche Illusion, aber nein.«

»Ach, jetzt komm schon, Nic Nac! Wenn du weiter schmollst, singe ich auch noch.«

»Ich schmolle nicht, und du kannst nicht singen.«

»Sicher? Ich hab da so einige Melodien in mir«, sagt er.

»Nein.«

»Ich glaube, da will ein Song aus mir raus.«

»Nein, Dad!«

»Hap-py birth-day to ya!«, schmettert er los. Dazu versucht er auch noch zu tanzen. Cocoa knurrt ihn vom Bett aus an.

Ich muss einfach lachen. »Okay, okay! Bitte hör auf.«

Er kommt zum Nachttisch getanzt und hält mir einen der Kuchen hin. »Wünsch dir was! Und wenn du dir wünschst, dass ich nicht singen und tanzen soll – das zählt nicht.«

»Dafür brauche ich wohl ein Gebet«, sage ich und schließe die Augen. Jedes Jahr wünsche ich mir, dass zu meinem nächsten Geburtstag nicht nur Dad und ich da sind. So gern ich ihn auch habe, wünschte ich, unsere Familie wäre größer. Ich stelle mir vor, da wären eine Mom, Großeltern, Tanten, Onkel, ein Bruder um mich herum. Ich wollte schon immer einen Bruder. Ich kneife die Augen noch fester zusammen und kann sie beinahe sehen. Ihre Gesichter sind verschwommen, aber sie wirken echt.

Schnell wünsche ich sie mir noch mal und puste dann die Kerzen aus.

Dad wirft einen Blick auf den anderen Kuchen. Jedes Jahr gönnt er sich einen eigenen, um zu feiern, dass er ein weiteres Jahr als mein Vater durchgehalten hat. Frech.

»Happy Birthday«, sagt er und klingt ein bisschen traurig. Anschließend bläst er seine Kerzen aus.

Ich lecke die Glasur von einer Kerze. »Was ist denn, alter Mann? Traurig, weil ich groß werde?«

»Alter Mann? Kann ich nicht mal kurz nachdenklich sein, ohne dafür kritisiert zu werden?«

»Nope!«

»Hör auf, mich zu haten! Also, was hast du dir gewünscht?«

Meinen Wunsch nach einer Großfamilie verrate ich ihm nie. Er soll nicht denken, er wäre nicht genug. »Dass wir rauskriegen, was mit mir nicht stimmt, damit ich doch noch zu der Signierstunde kann.«

»Oh.« Dad klingt, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Das. Sollte. Er. Auch. Haben. Er streicht mir übers Haar. »Was auch immer da vorhin passiert ist, wir finden es raus. Aber was heute Abend angeht – es ist nur zu deinem Besten, Baby Girl.«

»Mir gefällt’s trotzdem nicht.«

Dad wagt es, darüber zu lächeln. »Du bist genau wie deine Momma.«

Da meldet sich ein Schmerz tief in meiner Brust. Den spüre ich immer, wenn Dad sie erwähnt. Als würde meinem Herzen ein Stück fehlen. Doch das kommt nicht oft vor, da Dad nur selten von ihr spricht.

Meine Mom ist nicht tot. Ich glaube, sie wollte einfach nicht für mich da sein. Dad sagt, dass »Erwachsene manchmal Entscheidungen treffen, die sie für das Beste halten, auch wenn sie das nicht sind«. Ich traue mich nicht, weiter nachzufragen. Wer möchte denn schon erfahren, dass die eigene Mom keine Mom sein will?

Wenn ich mich wenigstens noch an sie erinnern könnte. Dann wäre sie bei meinen Geburtstagswünschen nicht so verschwommen. Ich meine, mich noch an ihre Augen zu erinnern. Die sehe ich in meinen Träumen. Sie sind groß und dunkelbraun wie meine, und sie schaut damit auf mich herab, während sie Schlaflieder für mich singt.

»Manchmal verstehst du vielleicht nicht, was ich tue. Und was ich getan habe«, sagt Dad. »Aber dich zu beschützen, ist das Wichtigste für mich. Klar?«

Muss das sein? Der Gesang und die albernen Tanzschritte waren schon schlimm genug. Jetzt kommt auch noch das mit dem Beschützen. »Klar.«

»Mein Mädchen.« Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn und drückt mich an sich. »Weißt du, ich erinnere mich noch genau daran, wie ich dich zum ersten Mal im Arm hielt.«

»Daaad«, stöhne ich. »Nicht noch mehr Schmalz, bitte.«

»Ich glaube, ich saß stundenlang da und hab dich nur angesehen. Ich war mir nicht sicher, ob ich der Vater sein könnte, den du verdient hast. Bin ich mir bis heute nicht.« Einen Moment lang sitzt er still da, dann springt er plötzlich auf. »Magst du Pizza zum Abendessen?«

»Pizza wäre prima. Bist du okay?«

»Yeah, Baby Girl, mir geht’s gut. Wie wär’s, wenn wir uns eine bei Sal and Mookie’s holen? Wenn wir schon dabei sind, könnten wir auch gleich noch Eis besorgen.«

Ich will schon ja sagen, doch da fällt mir etwas ein: Es dauert ungefähr zehn Minuten, um zu Sal and Mookie’s zu fahren, dann muss man noch auf die Pizza warten. Das wäre mehr Zeit als genug, um …

»Kann ich hierbleiben?«, frage ich. »Irgendwie hab ich keine Lust auf andere Leute.«

»Was immer du möchtest, Baby Girl.«

»Das sollte jeden Tag gelten.«

»Ha! Kommt gar nicht infrage.« Dad pfeift Cocoa zu sich. »Komm, lass uns mal Futter besorgen.«

Sie folgt ihm aus dem Zimmer. Wobei ich denke, dass sie eher dem Kuchen folgt.

Ich warte, bis ich Dads Schritte auf der Treppe höre, bevor ich mir mein Tablet schnappe. Beim Kerzenausblasen habe ich mir noch einen Extra-Wunsch überlegt: TJ Retro treffen. Aber ich brauche dafür gar keinen Wunsch, wenn mein Dad sowieso das Haus verlässt. Das ist die Chance, mich davonzustehlen.

Ich schreibe JP.

Ein Wunder! Mir geht’s besser.

Sieht so aus, als würden wir heute Abend doch beide TJ Retro treffen.

Dad verlässt das Haus ein paar Minuten, bevor Mrs. Williams und JP aus ihrem kommen. Das Timing ist so perfekt, dass ich glaube, es war mir vom Schicksal vorherbestimmt, dass ich mir meine Stevie-Bücher schnappe, nach nebenan husche und mit ihnen zu der Signierstunde fahre.

Dad wird es wahrscheinlich anders sehen, aber das Risiko muss ich eingehen.

Auf dem Kleinbus der Williams steht an der Seite »New Life Christian Church«, dazu die Adresse und die Büro-Öffnungszeiten. Außerdem ist dort ein Foto der Familie des Kirchenoberhaupts abgebildet: Pastor Williams, Mrs. Williams, JP und JPs große Schwester Leah. Über sie weiß ich nicht viel. Sie starb, bevor wir hierhergezogen sind, und JP spricht nicht oft von ihr.

»Ich freue mich so, dass es dir besser geht, Nichole«, sagt Mrs. Williams, als sie schließlich am Steuer sitzt. Sie ist eine kleine, rundliche Frau, die ihr Haar lockig trägt. »Als dein Daddy mir vorhin erzählte, dass du krank wärst, hat es mir ja beinahe das Herz gebrochen. Niemand sollte seinen Geburtstag krank verbringen müssen.«

»Yes, Ma’am. Es ist wie ein Wunder!« Keine Ahnung, wie schlimm es ist, die Frau eines Pastors anzulügen, aber in Ordnung ist es bestimmt nicht.

Mrs. Williams wirft kurz die Hände in die Luft. »Hallelujah! Weißt du, Joshua Paul fährt ja diesen Sonntag nach der Kirche mit der Bibelschule zum Camping. Du solltest auch mitkommen. Zwei Wochen in der Wildnis, ohne Handys, Videospiele und Computer. Das würde dir bestimmt gefallen!«

Sie muss mich mit jemandem verwechseln. Für mich klingt das schrecklich.

Lemuria Books befindet sich im ersten Stock eines kleinen Einkaufszentrums an einer der Fernstraßen, die durch Jackson führen. Über dem Eingang der Buchhandlung befindet sich die Statue einer riesigen Hand, die ein aufgeklapptes Buch hält. Im Laden selbst ist es gemütlich, weil er bis in den letzten Winkel mit Büchern vollgestopft ist.

Die lange Schlange der Fans von TJ Retro reicht bis aus dem Geschäft und die Treppe runter. Im Schaufenster lächelt Mr. Retro von einem Plakat. Er ist ein Schwarzer Mann ungefähr in Dads Alter. Seine Haare sind zu Twists gedreht. In der Hand hält er ein Exemplar seines zuletzt erschienenen Buchs: Stevie James und die Seelensense. Auf dem Cover sieht man einen Schwarzen Jungen, der mit seinem Zauberstab auf eine Gestalt in einer Kutte mit Kapuze zeigt. Eine Buchhändlerin sagt, Mr. Retro werde bald da sein.

»Joshua Paul, warum läufst du nicht mit Nichole zur Bäckerei und holst uns was zu naschen?«, schlägt Mrs. Williams vor und nimmt uns die Bücher ab. »Ich stelle mich schon für euch an. Hier geht sowieso noch nichts weiter.«

»Yes, Ma’am«, sagt JP. Er ist heute Abend echt still, und glaubt mir, JP und still, das passt eigentlich nicht in ein und denselben Satz. Seit ich ins Auto seiner Mom gestiegen bin, kaut er nervös auf seinen Lippen herum.

Als wir die Treppe runter zur Bäckerei laufen, stupse ich ihn in die Seite. »Hey, du musst keine Angst davor haben, Mr. Retro zu treffen. Solange keiner von uns rülpst, pupst oder hinfällt, ist alles gut.«

»Wow, das hilft mir echt weiter. Aber ich bin nicht nervös, weil ich ihn treffe.«

»Aber warum denn dann? Ist wieder eins von deinen Challenge-Videos nicht viral gegangen?« JP liebt diese seltsamen Challenges im Netz. Etwa wenn man sich selbst dabei filmt, wie man eine aus Milchkisten gebaute Treppe raufsteigt oder eine scharfe Süßigkeit isst. Eben so Sachen, die Gewöhnliche zum Spaß machen.

»Mein letztes Challenge-Video läuft total gut, danke.«

»Okay. Hast du dann vielleicht aus Versehen einen Spoiler über Stevie James und die Seelensense gelesen? Alter, das ist nicht schlimm. Ein Spoiler verdirbt noch nicht das ganze Buch.«

»Stevie, Kevin und Chloe nehmen Einan die Seelensense weg.«

Ich schnappe nach Luft. »Was? Das kannst du mir doch nicht so ohne Vorwarnung erzählen!«

Er verschränkt die Arme. »Ich dachte, ein Spoiler verdirbt noch nicht das ganze Buch.«

»Das … das stimmt auch. Ich bin bloß überrascht. Wie schaffen sie das? Und was machen sie dann damit?«

»Mehr Spoiler verrate ich dir nicht. Aber das ist es auch nicht, was mich beschäftigt.«

»Was denn dann?«

»Ich kann’s dir nicht sagen. Dann denkst du, ich spinne.«

»Das denke ich sowieso schon. Aber!«, füge ich schnell hinzu, weil er nach Luft schnappt. »Ich spinne auch. Wir passen zusammen wie Erdnussbutter und Kartoffelchips.« Also wie das beste Sandwich, das die Menschheit kennt.

»Nein, ich meine, du wirst denken, ich hätte den Verstand verloren und wäre irgendwo ganz weit weg. Im Weltall, hinter Pluto, in einer anderen Galaxie.« Er senkt den Blick. »Ich darf nicht noch jemanden verlieren.«

Ich streiche ihm über die Schulter. JP redet zwar nicht über seine Schwester, aber es ist sonnenklar, dass er sie echt vermisst. »Mich wirst du nicht verlieren«, sage ich. »Erzähl mir einfach, was los ist.«

»Okay. Heute Morgen, als du mit deinem Dad im Garten hinter eurem Haus warst, da hab ich gesehen …« Irgendwas hinter mir erregt seine Aufmerksamkeit. »Nic, schau! Schau!«

Ich drehe mich um und blicke in Richtung seines ausgestreckten Zeigefingers zum Fenster der Bäckerei. Draußen hält gerade ein schwarzer Geländewagen. Ein Schwarzer Mann in Jeans, T-Shirt und Sneakers steigt hinten aus.

JP zupft an meinem Shirt. »Da … das ist er, Nic! Das ist er!«

Mir fällt die Kinnlade runter. Aber nicht, weil ich endlich den berühmten TJ Retro sehe. Sondern weil TJ Retro einen goldfarbenen Schimmer hat.

Mein Lieblingsautor ist ein Manifestor.

JP packt meine Hand, und zusammen rennen wir zurück nach oben, um uns wieder zu seiner Mom in die Schlange vor dem Buchladen zu stellen. Nur wenige Augenblicke später kommt TJ Retro die Treppe rauf und wird mit Applaus empfangen.

Er lächelt und winkt. Als er mich erblickt, guckt er zweimal hin. Ich bin die einzige andere Person hier mit einem Leuchten, die einzige andere Manifestorin. Auf die kurze Entfernung ist es eindeutig: Seine braune Haut sieht für mich aus wie in goldenes Licht getaucht.

Er will etwas sagen, doch da zieht eine Angestellte der Buchhandlung ihn schon weiter.

»Er hätte beinahe mit uns gesprochen!«, sagt JP. »Meinst du, er kennt uns aus dem Internet? Wir hinterlassen schließlich viele Kommentare und Nachrichten auf seiner Seite.«

JP