On The Come Up - Angie Thomas - E-Book
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On The Come Up E-Book

Angie Thomas

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Beschreibung

Jeder hat ein Recht auf Redefreiheit – aber nicht jeder wird gehört…

Die 16-jährige Bri wünscht sich nichts sehnlicher, als eine berühmte Rapperin zu werden. Als Tochter einer Rap-Legende ist das nicht leicht: Ihr Vater starb, kurz bevor er den großen Durchbruch schaffte, und Bri tritt in riesengroße Fußstapfen. Dann verliert ihre Mutter ihren Job. Plötzlich gehören Essensausgaben, Zahlungsaufforderungen und Kündigungen ebenso zu Bris Alltag wie Reime und Beats. Als sich die unbezahlten Rechnungen stapeln und ihre Familie kurz davor ist, ihre Bleibe zu verlieren, wird klar: Eine berühmte Rapperin zu werden, ist für Bri nicht länger nur ein Wunsch, sondern ein Muss …

Angie Thomas bei cbj & cbt:
The Hate U Give
On The Come Up
Concrete Rose
Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 563

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ANGIE THOMAS

Aus dem Amerikanischen

von Henriette Zeltner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2019 by Angela ThomasPublished by Agreement with Angela ThomasAll rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part in any form.Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »On the Come Up« bei Balzer + Bray, an Imprint of HarperCollins Publishers, New York.© 2019 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenAlle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenAus dem Amerikanischen von Henriette ZeltnerLektorat: Heike Brillmann-EdeUmschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad OeynhausenUmschlagmotive: © 2019 by Anjola Cokerhe · Herstellung: AJSatz: KompetenzCenter, MönchengladbachISBN 978-3-641-23491-1V003
www.cbj-verlag.de

Für die Kids mit den SoundCloud-Accounts

und den großen Träumen.

Ich habe euch im Blick.

Und für meine Mom, die als Erste an mich geglaubt hat.

I. Teil

OLD SCHOOL

KAPITEL 1

Vielleicht muss ich heute Abend noch jemand killen.

Das könnte jemand sein, den ich kenne. Oder ein Fremder. Oder jemand, der noch nie bei einem Battle mitgemacht hat. Es könnte auch ein Pro sein. Dabei spielt es keine Rolle, wie viele Punchlines die anderen raushauen oder wie gut ihr Flow ist. Ich muss sie killen.

Aber erst mal muss der Anruf kommen. Und damit ich den überhaupt annehmen kann, muss ich verdammt noch mal raus aus Mrs Murrays Stunde.

Irgendwelche Multiple-Choice-Fragen decken meinen Laptop fast zu. Bis auf die Uhr. Die Uhr bedeutet alles. Wenn sie stimmt, sind es noch zehn Minuten bis halb fünf. Und wenn Aunt Pooh stimmt, die jemand kennt, der jemand kennt, dann ruft DJ Hype zwischen halb fünf und halb sechs an. Wenn ich ihn verpasse, dann schwör ich …

Erst mal kann ich nur einen Dreck tun, weil Mrs Murray mein Handy hat und mit Mrs Murray nicht zu spaßen ist.

Ich sehe nur den oberen Teil ihrer Sisterlocks. Der Rest verbirgt sich hinter einem Buch von Nikki Giovanni. Gelegentlich summt sie ein »Mmmm«, genau wie meine Grandma während einer Predigt. Lyrik ist Mrs Murrays Religion.

Alle anderen haben die Midtown School of the Arts schon vor fast einer Stunde verlassen, bis auf uns Elftklässler, weil Eltern oder andere Erziehungsberechtigte uns für die Vorbereitung auf den American College Test, ACT, angemeldet haben. Das garantiert einem keine 36 Punkte, aber Jay meinte, die sollte ich mal lieber anstreben, weil sie »diesen Leuten eine glatte Stromrechnung für den Kurs bezahlt« hätte. Also schleppe ich mich jeden Dienstag- und Donnerstagnachmittag in dieses Klassenzimmer und händige Mrs Murray mein Mobiltelefon aus.

Eigentlich komme ich damit klar, eine ganze Stunde lang nicht zu wissen, was der Präsident getwittert hat. Oder keine Nachrichten von Sonny und Malik zu kriegen (in denen es manchmal auch nur um den Scheiß geht, den der Präsident twittert). Aber heute möchte ich am liebsten ans Pult treten, mir mein Handy aus dem Haufen schnappen und einfach rausrennen.

»Psst! Brianna.« Malik sitzt hinter mir, und hinter ihm formt Sonny stumm die Worte: »Schon was gehört?«

Ich lege den Kopf schräg und ziehe die Augenbrauen hoch, was so viel heißt wie: Wie soll ich das wissen, wenn ich kein Handy habe? Das zu verstehen ist zwar viel verlangt, aber Sonny, Malik und ich sind schon eng befreundet, seit wir in den Bäuchen unserer Moms waren. Die sind nämlich beste Freundinnen und waren alle drei gleichzeitig mit uns schwanger. Sie nennen uns die »Unheilige Dreieinigkeit«, denn sie behaupten, wir hätten schon synchron in ihren Bäuchen gestrampelt, wenn sie sich damals trafen. Nonverbale Kommunikation? Für uns also nichts Neues.

Sonny zuckt die Achseln, um mir zu sagen: Keine Ahnung, wollte nur mal fragen, aber auch: Verdammt, du brauchst nicht so eingebildet tun.

Aus schmalen Augen mustere ich seine zierliche, hellhäutige, an einen Hobbit erinnernde Gestalt – er hat dafür die passenden Locken und großen Ohren. Ich tue nicht eingebildet, du hast nur eine bescheuerte Frage gestellt.

Dann drehe ich mich wieder nach vorn. Mrs Murray beobachtet uns über die Kante ihres Buches hinweg und steuert ein bisschen eigene nonverbale Kommunikation bei.Ihr wisst genau, dass in meinem Kurs nicht gequasselt wird.

Genau genommen quasseln wir ja auch nicht, aber wie soll ich ihr das sagen – mit oder ohne Worte?

16:27.

Noch drei Minuten, und ich halte das Handy in der Hand.

16:28.

Noch zwei Minuten.

16:29.

Noch eine.

Mrs Murray klappt ihr Buch zu. »Die Zeit ist um. Gebt euren Übungstest so ab, wie er ist.«

Shit. Der Test.

Bei mir bedeutet, »wie er ist«, dass keine einzige Frage beantwortet ist. Zum Glück ist es Multiple Choice. Weil es pro Frage vier Möglichkeiten gibt, besteht eine 25-prozentige Chance, dass ich zufällig die richtige Antwort ankreuze. Während alle anderen schon ihre Handys abholen, kreuze ich willkürlich meine Kästchen an.

Alle außer Malik sind am Pult. Er überragt mich turmhoch, während er die Jeansjacke über seinen Hoodie zieht. In den letzten zwei Jahren ist er von »kleiner als ich« so in die Höhe geschossen, dass er sich jetzt bücken muss, um mich zu umarmen. Seine Frisur, ein High Top Fade, lässt ihn sogar noch größer wirken.

»Verdammt, Bri«, sagt Malik. »Hast du denn keine einzige –«

»Schhhh!« Dann gebe ich meine Antworten ab und hänge mir den Rucksack über die Schulter. »Ich hab den Test gemacht.«

»Und bist hoffentlich auf die Note L für Loser gefasst, Breezy.«

»Ein L in einem Übungstest ist kein richtiges L.« Ich setze mein Snapbackcap auf und ziehe es so tief ins Gesicht, dass es mein Babyhaar an den Seiten verdeckt. Das ist gerade ein bisschen strubbelig und wird es auch bleiben, bis Jay mir die Haare neu flechtet.

Sonny ist als Erster an Mrs Murrays Pult. Er will sich mein Handy als wahrer Freund noch vor mir schnappen, aber Mrs Murray ist schneller.

»Geht klar, Jackson.« Sie benutzt seinen richtigen Vornamen, der zufällig auch mein Nachname ist. Seine Momma hat ihn zu Ehren meiner Großeltern, ihrer Pateneltern, so genannt. »Ich muss kurz mit Brianna reden.«

Sonny und Malik sehen mich an. Was zum Teufel hast du angestellt?

Ich mache wahrscheinlich genauso große Augen wie sie. Seh ich so aus, als ob ich das wüsste?

Mrs Murray deutet mit dem Kopf zur Tür des Klassenraums. »Du und Malik, ihr könnt schon mal gehen. Es wird nicht lange dauern.«

Sonny dreht sich zu mir. Du bist am Arsch.

Könnte sein. Damit mich niemand falsch versteht, Mrs Murray ist nett, aber immer auch total direkt. Einmal habe ich einen halbherzigen Aufsatz über die Funktion von Träumen bei Langston Hughes geschrieben. Mrs Murray machte mich danach dermaßen rund, dass ich mir wünschte, Jay hätte mir stattdessen die Meinung gesagt. Und das will was heißen.

Sonny und Malik gehen raus. Mrs Murray setzt sich auf den Rand des Pults und legt mein Handy neben sich. Das Display ist dunkel. Also noch kein Anruf.

»Was ist los, Brianna?«

Ich schaue zwischen ihr und dem Telefon hin und her. »Was meinen Sie?«

»Du warst heute extrem abgelenkt«, sagt sie. »Und hast nicht mal den Übungstest gemacht.«

»Doch, hab ich!« Irgendwie. Ein bisschen. Sozusagen. Nicht wirklich. Nah.

»Mädchen, bis vor einer Minute hattest du keine einzige Frage beantwortet. Und ganz ehrlich, du bist schon seit einer ganzen Weile unkonzentriert. Glaub mir, wenn du nächste Woche dein Zeugnis bekommst, wirst du es schwarz auf weiß sehen. Aus Bs werden nicht ohne Grund Cs und Ds.«

Shit. »Ds?«

»Ich habe dir gegeben, was du verdienst. Also, was ist los? Du hast doch in letzter Zeit nicht mal den Unterricht versäumt.«

In letzter Zeit. Meine letzte Suspendierung liegt genau einen Monat zurück. Und ich wurde schon seit zwei Wochen nicht mehr ins Direktorat geschickt. Das ist ein neuer Rekord.

»Ist zu Hause alles okay?«

»Sie klingen wie Ms Collins.« Das ist die junge blonde Schulpsychologin, die zwar nett ist, aber übertreibt. Jedes Mal, wenn ich zu ihr geschickt werde, stellt sie mir Fragen, die klingen wie aus einem Handbuch mit dem Titel Wie spreche ich mit diesen schwarzen Quoten-Kindern, die so oft in mein Büro geschickt werden.

Wie ist dein Alltag zu Hause? (Geht Sie nichts an.)

Hast du in letzter Zeit irgendwelche traumatischen Ereignisse mit angesehen, zum Beispiel Schießereien? (Nur weil ich im »Ghetto« lebe, heißt das nicht, dass ich täglich Kugeln ausweichen muss.)

Fällt es dir noch schwer, mit der Ermordung deines Vaters zurechtzukommen? (Das war vor zwölf Jahren. Ich kann mich kaum an ihn oder den Vorfall erinnern.)

Fällt es dir noch schwer, mit der Abhängigkeit deiner Mutter zurechtzukommen? (Sie ist seit acht Jahren clean. Momentan ist sie nur süchtig nach Seifenopern.)

Was geht, homegirl, nah’mean? (Okay, Slang hat sie nicht benutzt, aber das kann ja noch kommen.)

Mrs Murray grinst. »Ich versuche nur rauszukriegen, was mit dir los ist. Also, was hat dich heute so abgelenkt, dass du meine Zeit und das hart verdiente Geld deiner Momma vergeudet hast?«

Ich seufze. Sie wird mir mein Handy nicht zurückgeben, bevor ich rede. Na schön, dann rede ich eben. »Ich warte darauf, dass DJ Hype mir sagt, dass ich heute Abend beim Battle im Ring antreten kann.«

»Im Ring?«

»Ja. In Jimmy’s Boxing Ring. Er veranstaltet da jeden Donnerstag Freestyle Battles. Ich hab mich für heute Abend beworben.«

»Ich weiß, was der Ring ist. Es überrascht mich nur, dass du da mitmachst.«

Sie betont das Du so, dass mir ganz flau im Magen wird. Als würde es bei jedem anderen auf der Welt mehr Sinn ergeben. »Warum überrascht Sie das?«

Sie hebt beschwichtigend die Hände. »Damit will ich gar nichts sagen. Ich weiß, dass du Talent hast. Ich habe deine Gedichte gelesen. Ich wusste nur nicht, dass du Rapperin werden willst.«

»Das wissen viele nicht.« Und genau da liegt das Problem. Ich rappe schon, seit ich zehn bin, habe mich damit aber nie so wirklich aus der Deckung getraut. Ich meine, klar, Sonny und Malik wissen davon, meine Familie auch. Aber seien wir doch mal ehrlich: Wenn deine Mom sagt, du bist eine gute Rapperin, dann ist das ungefähr so, als ob sie dich süß nennt, wenn du zwar gut, aber gleichzeitig fertig aussiehst. Solche Komplimente gehören von dem Augenblick an, wenn man ihren Bauch verlässt, zur elterlichen Verantwortung.

Vielleicht bin ich gut, keine Ahnung. Bis jetzt habe ich noch auf den richtigen Moment gewartet.

Heute Abend könnte der perfekte Zeitpunkt sein und der Ring ist auf alle Fälle der perfekte Ort. Einer der heiligsten Orte in ganz Garden Heights, gleich nach unserer Kirche Christ Temple. Man kann sich nicht Rapper nennen, bevor man keinen Battle im Ring absolviert hat.

Deshalb muss ich das hinkriegen. Wenn ich heute gewinne, kriege ich einen festen Platz im Programm des Rings. Und wenn ich erst mal im Programm bin, kann ich bei mehr Battles antreten. Und wenn ich bei mehr Battles antrete, kann ich mir einen eigenen Namen machen. Und wer weiß, was dann passiert?

Mrs Murrays Miene wird freundlicher. »Du trittst in die Fußstapfen deines Dads, was?«

Es ist seltsam. Immer, wenn andere Leute ihn erwähnen, kommt mir das vor wie eine Bestätigung dafür, dass er nicht irgendeine Fantasiegestalt ist, an die ich mich kaum erinnern kann. Und wenn sie ihn dann auch noch meinen Dad und nicht die Underground-Rap-Legende Lawless nennen, dann ist das wie eine Erinnerung daran, dass ich zu ihm gehöre und er zu mir.

»Schätze schon. Bis jetzt hab ich mich noch kein bisschen auf den Ring vorbereitet. Ich meine, auf einen Battle kann man sich ja auch kaum vorbereiten. Aber wenn ich gewinne, könnte das der Beginn meiner Karriere sein, verstehen Sie?«

»Lass es mich klar und deutlich zum Ausdruck bringen«, sagt sie und richtet sich gerade auf. In meinem Kopf schrillen schon die Alarmglocken. Achtung: Deine Lehrerin wird dich gleich einnorden, Boo! »Du hast dich so stark aufs Rappen konzentriert, dass deine Noten in diesem Halbjahr in den Keller gegangen sind. Dir egal, dass die Noten in der Elften entscheidend für die Zulassung zum College sind. Egal, dass du mir mal gesagt hast, du möchtest nach Markham oder Howard.«

»Mrs Murray –«

»Nein, denk erst mal eine Sekunde nach. Dein Ziel ist das College, richtig?«

»Ich denke schon.«

»Du denkstschon?«

Ich zucke mit den Achseln. »Das College ist ja nichts für jeden, oder?«

»Vielleicht nicht. Aber ein Highschoolabschluss? Auch dafür sieht es kritisch aus. Jetzt stehst du auf einem D, wenn du so weitermachst, wird aus dem D ein F. Ein ähnliches Gespräch habe ich mal mit deinem Bruder geführt.«

Ich bemühe mich, nicht die Augen zu verdrehen. Das ist nicht gegen Trey oder Mrs Murray gerichtet, aber wenn du einen älteren Bruder hast, der ein Vorzeigeschüler war, dann haben die Leute immer was auszusetzen, wenn du nicht mindestens genauso fantastische Leistungen bringst.

Hier an der Midtown ist es mir noch nie gelungen, so gut zu sein wie Trey. In einem Schaukasten hängen noch die Programme und Zeitungsausschnitte von damals, als er die Hauptrolle in A Raisin in the Sun spielte. Eigentlich wundert es mich, dass diese Schule nicht in die »Trey Jackson School of The Arts – Weil Wir Ihn So Lieben« umbenannt wurde.

Aber egal.

»Er ist mal von As auf Cs abgesackt«, erzählt Mrs Murray, »aber er hat die Kurve gekriegt. Und sieh ihn dir jetzt an. Er hat Markham mit Auszeichnung absolviert.«

Und ist diesen Sommer wieder zu Hause eingezogen. Weil er keinen ordentlichen Job finden konnte, backt er schon seit drei Wochen Pizza zum Mindestlohn. Das motiviert mich nicht gerade.

Ich will nicht über ihn herziehen. Überhaupt nicht. Es ist cool, dass er sein Examen gemacht hat. Niemand aus der Familie unserer Mom hat einen Collegeabschluss. Grandma, die Mom von unserem Dad, liebt es, allen zu erzählen, ihr Enkel sei »magnum cum laude«. (So sagt man das zwar nicht, aber viel Glück dabei, wenn man das Grandma ausreden möchte.)

Mrs Murray sage ich nichts davon. »Ich werde meine Noten wieder verbessern. Ich schwöre«, versichere ich ihr. »Vorher muss ich nur diesen Battle bestehen und sehen, was dann passiert.«

Sie nickt. »Ich verstehe. Und deine Mom wird das sicher auch tun.« Dann wirft sie mir mein Handy zu.

Fuuuuck.

Ich stürme auf den Flur raus. Sonny und Malik lehnen an den Spinden. Sonny tippt irgendwas in sein Handy. Malik hantiert mit seiner Kamera. Er ist immer im Filmemacher-Modus. Aus ein paar Meter Entfernung haben Long und Tate, die Sicherheitsleute der Schule, sie im Auge. Die beiden machen immer Stress. Niemand will es laut aussprechen, aber wenn man schwarz oder braun ist, haben sie einen viel eher auf dem Schirm. Und das, obwohl Long selbst schwarz ist.

Malik blickt von seinem Handy auf. »Alles okay, Bri?«

»Verzieht euch jetzt mal«, ruft Long. »Lungert hier nicht rum.«

»Verdammt noch mal, können wir uns vielleicht eine Sekunde lang unterhalten?«, frage ich zurück.

»Ihr habt ihn gehört«, sagt Tate und deutet mit dem Daumen zum Ausgang. Er hat strähniges blondes Haar. »Macht, dass ihr rauskommt.«

Ich will schon etwas sagen, aber Sonny meint: »Lass uns einfach abhauen, Bri.«

Schön. Ich folge Sonny und Malik zum Ausgang und werfe einen flüchtigen Blick auf mein Handy.

16:45. Hype hat immer noch nicht angerufen.

Nach der Fahrt mit dem City Bus und dem Fußmarsch nach Hause: immer noch nichts.

Genau um 17:09 komme ich zu Hause an.

Jays Jeep Cherokee steht in unserer Einfahrt. Durchs Haus dröhnt Gospelmusik. Und zwar einer dieser fröhlichen Songs, die in der Kirche den Praise Break einleiten, bei dem Grandma schreiend um den Altar rennt. Höllisch peinlich.

Jedenfalls spielt Jay solche Songs nur samstags, wenn Putztag ist und sie mich und Trey zum Aufstehen und Helfen bewegen will. Man kann schlecht fluchen, wenn jemand von Jesus singt, also stehe ich dann wortlos auf und putze.

Ich frage mich, warum sie diese Musik jetzt spielt.

Sobald ich das Haus betrete, spüre ich die Kälte. Zwar ist es nicht so kalt wie draußen – ich kann also meinen Anorak ausziehen –, aber den Hoodie lasse ich an. Letzte Woche wurde uns das Gas abgestellt und ohne Gas können wir nicht heizen. Jay hat einen elektrischen Heizlüfter auf den Flur gestellt, aber der macht die Luft nur unwesentlich wärmer. Wir müssen jetzt Wasser in Töpfen auf dem Herd heiß machen, wenn wir baden wollen, und schlafen mit Extradecken. Ein paar Rechnungen sind zwischen Mom und Trey hängen geblieben. Sie musste die Gasfirma um Zahlungsaufschub bitten. Dann um einen weiteren und noch einen. Irgendwann hatten die es dort wohl satt, auf ihr Geld zu warten, und drehten uns den Hahn ab.

Das kommt vor.

»Ich bin zu Hause«, rufe ich aus dem Wohnzimmer.

Ich will gerade meinen Rucksack und den Anorak auf die Couch werfen, als ich Jay von irgendwoher blaffen höre: »Häng deine Jacke auf und bring den Rucksack in dein Zimmer!«

Verdammt, wie macht sie das? Trotzdem tue ich, was sie sagt, und folge dann der Musik in die Küche.

Jay holt zwei Teller aus dem Schrank – einen für mich, einen für sie. Trey wird noch eine Weile unterwegs sein. Jay hat immer noch ihr Kirchen-Outfit an, das sie als Sekretärin der Kirche trägt – einen knielangen Rock, eine langärmelige Bluse, die ihre Tattoos und die Narben ihrer Drogenzeit verdeckt, und dazu einen Pferdeschwanz. Es ist Donnerstag, also hat sie heute Abendschule. Dort will sie ihren Abschluss als Sozialarbeiterin machen, damit andere Leute die Hilfe bekommen, die ihr als Drogenabhängiger gefehlt hat. Seit ein paar Monaten geht sie in die Abendschule. Normalerweise hat sie dann nur Zeit, um entweder was zu essen oder sich umzuziehen, nicht für beides. Anscheinend hat sie sich heute Abend fürs Essen entschieden.

»Hey, Li’l Bit«, sagt sie ganz lieb, als hätte sie mich nicht gerade eben noch angeschnauzt. Typisch. »Wie war dein Tag?«

17:13. Ich setze mich an den Tisch. »Er hat noch nicht angerufen.«

Jay stellt einen Teller vor und den anderen neben mich. »Wer?«

»DJ Hype. Ich hab mich für den Ring beworben. Erinnerst du dich?«

»Ach das.«

Das, als wäre es keine große Sache. Jay weiß, dass ich gern rappe, aber ich glaube, ihr ist nicht klar, dass ich rappen will. Sie tut so, als ginge es um das neueste Videospiel, das mir gefällt.

»Lass ihm Zeit«, sagt sie. »Wie war die ACT-Vorbereitung? Ihr habt heute den Übungstest gemacht, stimmt’s?«

»Yep.« Das ist alles, was sie derzeit interessiert. Dieser verdammte Test.

»Und?«, fragt sie, als erwarte sie mehr Information. »Wie ist es dir ergangen?«

»Ganz gut, schätze ich.«

»War es schwer? Leicht? Gab es Bereiche, in denen du dich schwergetan hast?«

Da sind wir mal wieder beim Verhör. »Es ist nur ein Übungstest.«

»Der uns einen ersten Eindruck darüber liefert, wie du dann im richtigen Test abschneidest«, sagt Jay. »Bri, das ist wichtig.«

»Ich weiß.« Sie hat es mir ja auch schon eine Million Mal gesagt.

Jay verteilt Hähnchenfleisch auf die Teller. Von Popeyes. Heute ist der Fünfzehnte. Sie hat gerade ihr Gehalt bekommen, also essen wir was Anständiges. Jay schwört allerdings, dass Popeyes bei uns nicht so gut ist wie in New Orleans. Dort sind sie und Aunt Pooh geboren. Manchmal kann ich New Orleans aus Jays Stimme heraushören. Etwa wenn sie »Baby« sagt. Das klingt, als sei Molasse in das Wort gesickert und habe daraus mehr Silben als nötig gemacht.

»Wenn wir dich auf ein gutes College kriegen wollen, dann musst du das Ganze ernster nehmen«, sagt sie.

Wenn wir das wollen? Es ist ja wohl eher das, was sie will.

Dabei will ich ja aufs College. Aber ganz genau weiß ich es eben noch nicht. Das Wichtigste für mich ist das Rappen. Wenn mir das gelingt, dann wird es besser sein als jeder gute Job, den ich mit einem Collegeabschluss ergattern könnte.

Ich greife nach meinem Handy. 17:20. Kein Anruf.

Jay zieht Luft durch die Zähne. »Aha.«

»Was?«

»Ich sehe schon, wo du mit deinen Gedanken bist. Wahrscheinlich konntest du dich wegen dieser Ring-Sache auch nicht auf den Test konzentrieren.«

Genau. »Doch.«

»M-hmmm. Wann sollte Hype denn anrufen, Bri?«

»Aunt Pooh hat gesagt, zwischen halb fünf und halb sechs.«

»Pooh? Du kannst doch nichts von dem, was sie sagt, als gegeben nehmen. Sie hat auch schon behauptet, jemand aus Garden Heights hätte einen Alien gefangen und bei sich in den Keller gesperrt.«

Das stimmt.

»Und selbst, wenn er zwischen halb fünf und halb sechs anruft, ist ja noch etwas Zeit«, sagt sie.

»Ich weiß, ich bin nur –«

»Ungeduldig. Wie dein Daddy.«

Wenn es nach Jay geht, dann bin ich so stur wie mein Daddy, so vorlaut wie mein Daddy und so aufbrausend wie mein Daddy. Als sei sie das alles nicht auch. Und wie. Sie behauptet auch, Trey und ich würden aussehen wie er. Das gleiche Lächeln, nur ohne die goldenen Grillz. Die gleichen Grübchen in den Wangen, die gleiche relativ helle Haut, wegen der uns manche »Redbones« und »Light Brights« nennen, und die gleichen dunklen, weit auseinanderstehenden Augen. Ich habe weder Jays hohe Wangenknochen noch ihre helleren Augen geerbt. Und einen Teint wie sie kriege ich nur, wenn ich im Sommer den ganzen Tag in der Sonne war. Manchmal ertappe ich sie dabei, wie sie mich anstarrt, als suche sie sich selbst in mir. Oder als würde sie Dad sehen und könnte den Blick nicht abwenden.

Ein bisschen so wie jetzt. »Stimmt was nicht?«, frage ich.

Sie lächelt, aber nur schwach. »Nein, alles okay. Hab Geduld, Bri. Wenn er anruft, geh ins Gym, mach deinen li’l Battle –«

Li’l Battle?

»– und komm anschließend gleich nach Hause. Treib dich nicht mit Poohs Anhang rum.«

Seit Wochen ist Aunt Pooh mit mir zum Ring gegangen, damit ich ein Gefühl für die Sache kriege. Ich habe mir vorher schon dutzende YouTube-Videos angesehen, aber vor Ort zu sein, ist was ganz anderes. Jay hatte nichts dagegen, dass ich hingehe – Dad hatte dort Battles, und Mr Jimmy toleriert keinen Unsinn. Nur dass ich mit Aunt Pooh hinging, war ihr nicht so recht. Und definitiv war es ihr nicht recht, dass Aunt Pooh sich meine Managerin nannte. »Diese Irre ist bestimmt keine Managerin!«, lautete Jays Kommentar.

»Wie kannst du deine Schwester bloß so runtermachen?«, frage ich sie.

Sie löffelt Reis nach Cajun-Art auf die Teller. »Ich weiß, was sie so treibt. Du weißt es auch.«

»Schon, aber sie wird darauf achten, dass nichts passiert –«

Pause.

Jay legt uns frittierte Okraschoten auf die Teller. Dann Maiskolben. Am Ende kommen noch weiche, fluffige Biscuits dazu. Man kann über Popeyes’ Biscuits sagen, was man will, aber sie sind weder weich noch fluffig.

Was wir hier auf unseren Tellern haben, ist Popkenchurch.

Das hat man, wenn man frittiertes Hühnchen und Cajun-Reis bei Popeyes, Biscuits bei Kentucky Fried Chicken und frittierte Okras sowie gekochte Maiskolben bei Church’s kauft. Trey nennt es das »Prä-Herzstillstand-Gericht«.

Dabei muss man wissen, dass Popkenchurch problematisch ist, und zwar nicht nur wegen der möglichen Verdauungsbeschwerden danach. Jay besorgt es nur für uns, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Als sie uns vor ein paar Jahren mitteilte, dass ihre Aunt Norma Krebs im Endstadium hatte, kaufte sie Popkenchurch. Als sie einsehen musste, dass sie mir letztes Jahr Weihnachten keinen neuen Laptop schenken konnte, kaufte sie Popkenchurch. Als Grandma entschied, nicht aus diesem Bundesstaat wegzuziehen, um ihrer Schwester nach einem Schlaganfall beizustehen, kaufte Jay Popkenchurch. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der seine Wut derart an einer Hähnchenkeule auslassen kann wie sie an jenem Tag.

Es verheißt jedenfalls nichts Gutes.

»Was ist passiert?«

»Bri, du musst dir keine Sorgen –«

Mein Handy brummt und wir zucken beide zusammen. Auf dem Display leuchtet eine Nummer auf, die ich nicht kenne.

Es ist genau halb sechs.

Jay lächelt. »Dein Anruf!«

Meine Hände zittern bis in die Fingerspitzen, aber ich tippe aufs Display und halte das Telefon an mein Ohr. Dann ringe ich mir ein »Hallo?« ab.

»Ist das Bri?«, fragt eine mir nur allzu vertraute Stimme.

Meine Kehle ist plötzlich ganz trocken. »Yeah. Das ist sie … ich … selber.« Zum Teufel mit der Grammatik.

»What’s up? Hier ist DJ Hype! Bist du bereit, Baby Girl?«

Dies ist der absolut schlechteste Moment dafür, aber es verschlägt mir die Sprache. Ich räuspere mich. »Bereit für was?«

»Are you ready to kill it? Glückwunsch, du bist heute Abend im Programm für den Ring!«

KAPITEL 2

Ich texte Aunt Pooh drei Worte: »Ich bin drin.«

Sie braucht eine Viertelstunde. Maximal.

Ich höre sie, bevor ich sie sehe. Flash Light von Parliament dröhnt vor der Tür. Sie taucht neben ihrem Oldsmobile Cutlass auf und legt los: Milly Rocking, Disciple Walking – alle Tanzschritte auf einmal, als wäre sie eine One-Woman-Show in der legendären Musiksendung Soul Train.

Ich komme raus und ziehe mir die Kapuze über mein Snapbackcap – hier draußen ist es so kalt, da würde selbst einem Eisbären der Arsch abfrieren. Mir frieren schon fast die Finger ab, als ich die Haustür zuschließe. Jay ist vor ein paar Minuten zu ihrem Kurs gefahren.

Irgendwas ist passiert, das weiß ich. Außerdem hat sie nicht gesagt, es sei nichts. Sie hat nur gesagt, es ist nichts, worüber ich mir Sorgen machen muss. Das ist ein Unterschied.

»Da ist sie ja!« Aunt Pooh zeigt mit dem Finger auf mich. »Die kommende Ringlegende!«

Die Haarspangen an ihren Braids klimpern, während sie tanzt. Sie sind so grün wie ihre Sneakers. Gemäß der Garden Heights Gang-Regel Nummer 1 muss ein Garden Disciple immer was Grünes tragen.

Klar, dafür lebt sie. Ihre Arme und ihr Hals sind mit Tattoos bedeckt, die nur ein Garden Disciple dechiffrieren kann. Abgesehen von dem Rote-Lippen-Tatoo auf ihrem Hals. Die stammen von ihrer Freundin Lena.

»Was hab ich gesagt?« Sie lässt grinsend ihre Weißgold-Grillz aufblitzen und klatscht mir bei jedem Wort auf die ausgestreckte Hand. »Hab. Dir. Doch. Gesagt. Du. Kommst. Rein!«

Ich ringe mir ein knappes Lächeln ab. »Yeah.«

»Du bist im Ring, Bri! Im Ring! Weißt du, wie viele Leute hier aus der Gegend sich so eine Chance wünschen? Was ist los mit dir?«

Eine Menge. »Irgendwas ist passiert, aber Jay will mir nicht sagen, was.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Sie hat Popkenchurch gekauft.«

»Verdammt, echt jetzt?«, sagt sie, und man könnte meinen, dass das auch Aunt Pooh in Alarmbereitschaft versetzt. Doch dann sagt sie nur: »Warum hast du mir keinen Teller davon mitgebracht?«

Meine Augen werden schmal. »Nur kein Neid. Sie besorgt Popkenchurch nur, wenn was passiert ist, Aunt Pooh.«

»Nah, Mann. Du interpretierst da zu viel rein. Dieser Battle hat dich ganz nervös gemacht.«

Ich beiße mir auf die Lippe. »Vielleicht.«

»Definitiv. Jetzt lass uns dich zum Ring bringen, damit du diesen Quatschköpfen mal zeigen kannst, wie’s geht.« Sie hält mir ihre Handfläche hin. »Sky’s the limit?«

Das ist unser Motto. Es ist aus einem Song von Biggie, der älter ist als ich und fast so alt wie Aunt Pooh. Ich klatsche sie ab. »Sky’s the limit.«

»Wir sehen die Dummköpfe an der Spitze«, zitiert sie den Song nicht ganz korrekt und gibt mir einen schmatzenden Kuss auf die Stirn. »Selbst, wenn du diesen nerdigen Hoodie trägst.«

Vorne drauf ist Darth Vader. Jay hat ihn vor ein paar Wochen bei einer Tauschbörse entdeckt.

»Was? Vader ist total angesagt!«

»Mir egal. Das ist Nerd Shit!«

Ich verdrehe die Augen. Wenn du eine Aunt hast, die erst zehn war, als du auf die Welt kamst, dann benimmt sie sich manchmal wie eine Aunt und manchmal wie eine nervige große Schwester. Vor allem, weil Jay sie mit großgezogen hat – ihre Mom wurde getötet, als Aunt Pooh ein Jahr alt war, und als ihr Dad starb, war sie neun. Jay hat Pooh immer wie ihr drittes Kind behandelt.

»Äh, Nerd Shit?«, sage ich zu ihr. »Eher dope Shit. Du musst mal deinen Horizont erweitern.«

»Und du musst aufhören, dich beim SciFi-Channel zu bedienen.«

Star Wars ist genau genommen keine Science-Fiction, aber egal. Das Verdeck des Cutlass ist offen, also klettere ich zum Einsteigen über die Tür. Aunt Pooh zieht ihre tief hängende Hose hoch, bevor sie auch reinspringt. Was bringt es eigentlich, sie tief hängen zu lassen, wenn man sie dann doch dauernd hochzieht? Und da will sie meinen Modegeschmack kritisieren.

Jetzt stellt sie ihre Rückenlehne weiter nach hinten und dreht die Heizung voll auf. Klar, sie könnte auch das Verdeck schließen, aber diese Mischung aus kalter Abendluft und Heizungswärme ist Ia.

»Lass mich mal was von meinem Stoff nehmen.« Sie greift ins Handschuhfach. Aunt Pooh hat aufgehört zu kiffen, konsumiert dafür aber Lutscher, genau genommen: Blow Pops. Anscheinend will sie lieber zuckerkrank werden, als andauernd high zu sein.

Mein Handy brummt in der Hoodie-Tasche. Ich texte Sonny und Malik die gleichen drei Wörter wie zuvor Aunt Pooh und die beiden flippen aus.

Ich sollte eigentlich auch ausflippen oder zumindest eine gewisse Begeisterung an den Tag legen. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass meine Welt ins Chaos gestürzt ist.

Und jede Sekunde kann sie mich mitreißen.

Der Parkplatz vom Jimmy’s ist schon fast voll, aber nicht alle wollen in das Gebäude. Das Let out hat auch bereits angefangen. Das ist die Party unter freiem Himmel, die jeden Donnerstagabend nach dem letzten Battle im Ring stattfindet. Seit fast einem Jahr nutzen die Leute das Jimmy’s schon als Party-Location, ähnlich wie die Magnolia Avenue am Freitagabend. Dazu muss man wissen, dass letztes Jahr ein Junge von einem Cop ermordet wurde, nur ein paar Straßen vom Haus meiner Großeltern entfernt. Er war unbewaffnet, aber die Grand Jury, also die Geschworenen, hat entschieden, den Polizisten nicht anzuklagen. Danach gab es wochenlang Unruhen und Proteste. Die Hälfte der Läden und Lokale in Garden wurden dabei entweder absichtlich von Randalierern niedergebrannt oder wurden geplündert. Club Envy, der ursprüngliche Treffpunkt am Donnerstagabend, zählte zu den Opfern.

Dieser Parkplatz-Club ist aber eher nicht so mein Ding. (Party machen bei eisiger Kälte? Nicht wirklich.) Aber es ist cool zu sehen, wie Leute ihre neuen Felgen oder ihre Hydraulik präsentieren und dabei die Autos hoch- und runterhüpfen lassen, als gäbe es keine Schwerkraft. Die Cops fahren ständig vorbei, aber das ist in Garden Heights die neue Normalität. Das soll so einen Scheiß bedeuten in der Art von »Hi, ich bin euer freundlicher Cop aus der Nachbarschaft, der euch nicht erschießen wird«. Aber es kommt eher rüber wie ein Scheiß in der Art von »Wir behalten eure schwarzen Ärsche genau im Blick«.

Ich folge Aunt Pooh zum Eingang. Aus dem Gym dringt Musik, und die Türsteher tasten die Leute ab, bevor sie mit ihren Metalldetektoren herumwedeln, die einen an Zauberstäbe erinnern. Wenn jemand eine Waffe dabeihat, legt die Security sie in einen Eimer und gibt sie erst zurück, wenn der Ring vorbei ist.

»Der Champion ist da!«, ruft Aunt Pooh, als wir uns der Schlange nähern. »Ihr könntet sie genauso gut auch jetzt schon krönen!«

Das genügt, damit sie und ich mit High Fives und Kopfnicken empfangen werden. Ein paar Leute fragen: »Was geht, Li’l Law?« Auch wenn wir uns genau genommen an der Schlange vorbeidrängeln, ist das für alle in Ordnung. Dank meines Dads bin ich hier so ’ne Art Royalty.

Ich ernte aber auch hier und da ein herablassendes Grinsen. Es wirkt wohl komisch, wenn eine 16-Jährige in einem Darth-Vader-Hoodie glaubt, sie habe im Ring eine Chance.

Die Türsteher klatschen mit Aunt Pooh ab. »What’s up, Bri?«, sagt Reggie, der Stämmige. »Heute Abend endlich dabei?«

»Yep! Und sie wird abräumen«, sagt Aunt Pooh.

»Alles klar.« Frank, der Größere, wedelt einmal mit dem Zauberstab um uns herum. »Trägst Laws Fackel weiter, was?«

Nicht wirklich. Eher will ich meine eigene Fackel tragen. Aber ich antworte mit »Yeah«, weil das von mir erwartet wird. Gehört dazu, wenn man Royalty ist.

Reggie winkt uns durch. »Möge die Macht dich raufbeamen, Scotty.« Er zeigt auf meinen Hoodie und macht dann den Vulkaniergruß.

Wie zum Teufel kann man Star Trek mit Star Wars verwechseln? Wie? Für manche Leute in Garden Heights ist das leider Nerd Shit. Oder, wie irgendein Idiot bei der Tauschbörse meinte: White Shit.

Unglaublich, wie wenig Ahnung manche Leute von Weltraum-Soaps haben.

Wir gehen rein. Wie immer gibt’s hier hauptsächlich Typen, aber ich entdecke auch ein paar Mädchen (was dem kleinen Anteil Frauen im Hip-Hop entspricht, ist ja sowieso ein total frauenfeindlicher Betrieb, aber egal …). Manche Kids sehen aus, als kämen sie direkt von der Garden Heights High School. Andere kommen einem vor, als wären sie zu Zeiten von Biggie und Tupac bereits am Leben gewesen. Und einige alte Kerle waren vermutlich schon dabei, seit Hüte von Kangol und Adidas-Schuhe mit Muschelkappe gefragt waren. Der Rauch von Gras und Zigaretten hängt in der Luft, während sich alle um den Boxring in der Mitte drängen.

Aunt Pooh findet neben dem Ring einen Platz für uns. Kick In The Door von Notorious B.I.G. übertönt alles Geplauder. Der Bass erschüttert den Fußboden wie ein Erdbeben und die Stimme von B.I.G. scheint das ganze Gym auszufüllen.

Ein paar Sekunden Biggie lassen mich alles vergessen.

»Was für ein Flow!«

»Dieser Shit ist heiß«, sagt Aunt Pooh.

»Heiß? Dieser Shit ist Legende! Biggie beweist im Alleingang, dass das Delivern entscheidet. Das reimt sich alles nicht genau, aber es funktioniert. Und er reimt Jesus auf Penis! Also bitte! Jesus und Penis.« Okay, das ist wahrscheinlich eine Beleidigung für Jesus, trotzdem. Das ist Legende.

»Is’ gut, is’ gut.« Aunt Pooh lacht. »Hab’s verstanden.«

Ich nicke im Takt und sauge jede Line in mich auf. Aunt Pooh beobachtet mich lächelnd, was die Narbe auf ihrer Wange von damals, als jemand sie mit einem Messer attackiert hat, wie ein Grübchen aussehen lässt. Hip-Hop macht süchtig und Aunt Pooh hat mich angefixt. Als ich acht war, spielte sie mir Nas’ Illmatic vor und meinte: »Dieser Kerl wird mit ein paar Lines dein Leben ändern.«

So war es. Seit Nas mir erklärt hat, die Welt gehöre mir, war nichts mehr so wie vorher. Auch wenn das Album damals schon alt war, war es für mich wie ein Aufwachen, nachdem ich mein ganzes Leben bis dahin verschlafen hatte. Das kam einer spirituellen Erfahrung schon verdammt nah.

Nach diesem Gefühl bin ich süchtig. Es ist der Grund, warum ich rappe.

Bei den Türen entsteht Unruhe. Ein Typ mit kurzen Dreadlocks bahnt sich den Weg durch die Menge, dabei dappen Leute respektvoll mit ihm. Das ist Dee-Nice, einer der bekanntesten Rapper des Rings. Alle seine Battles gingen viral. Erst kürzlich hat er mit dem Battle-Rappen aufgehört. Witzig, dass er so jung schon mit was aufhört. Letztes Jahr hat er seinen Collegeabschluss an der Midtown gemacht.

»Schon gehört?«, fragt Aunt Pooh. »Der Ol’ Boy hat gerade einen Vertrag gekriegt.«

»Echt?«

»Yep. Siebenstellig. Im Voraus.«

Verdammt. Kein Wunder, dass er sich zur Ruhe gesetzt hat. Ein Deal über eine Million Dollar? Und nicht nur das: Jemand aus Garden Heights hat einen Deal über eine Million Dollar ergattert!

Die Musik wird immer leiser, das Licht gedimmt. Ein Scheinwerfer strahlt direkt auf Hype und die Leute beginnen zu jubeln.

»Machen wir uns bereit zum Kampf!«, sagt Hype, als ginge es hier ums Boxen. »Für unseren ersten Battle haben wir in dieser Ecke M-Dot!«

Ein kleiner, tätowierter Typ klettert, begleitet von Jubel und Buhrufen, in den Ring.

»Und in dieser Ecke haben wir Ms Tique!«, sagt Hype.

Ich kreische los, als ein dunkelhäutiges Mädchen mit Creolen und kurzen Locken in den Ring steigt. Ms Tique ist ungefähr so alt wie Trey, aber sie spittet wie eine alte Seele. Als hätte sie schon ein paar Leben hinter sich, von denen keins ihr wirklich gefallen hat.

Sie will ganz hoch hinaus.

Hype stellt noch die Ringrichter vor. Da ist einmal Mr Jimmy höchstpersönlich, außerdem Dee-Nice und CZ, ein ungeschlagener Ring-Champion.

Hype wirft eine Münze, Ms Tique gewinnt. Sie lässt M-Dot anfangen. Der Beat setzt ein. A Tale of 2 Citiez von J. Cole.

Das Gym dreht durch, und ich? Ich beobachte, was im Ring vor sich geht. M-Dot marschiert auf und ab, während Ms Tique ihn nicht aus den Augen lässt. Wie ein Raubtier seine Beute. Selbst als M-Dot auf sie losgeht, zuckt sie nicht mit der Wimper, reagiert gar nicht, sondern starrt ihn nur an, als wüsste sie schon, dass sie ihn zerstören wird.

Es ist pure Schönheit.

Er hat ein paar gute Lines. Sein Flow ist okay. Aber als Ms Tique an der Reihe ist, trifft sie ihn mit Punchlines, die mir eine Gänsehaut machen. Jede Zeile ruft beim Publikum eine Reaktion hervor.

Sie gewinnt die ersten beiden Battles ganz locker und schon ist es vorbei.

»Alright, Leute«, sagt Hype. »Zeit für unser Rookie Royale! Zwei Rookies werden zum ersten Mal im Ring battlen.«

Aunt Pooh wippt auf ihren Absätzen. »Yeeeeah!«

Plötzlich hab ich weiche Knie.

»Zwei Namen wurden gezogen«, erklärt Hype. »Deshalb, ohne Umschweife, unser erster MC ist –«

Er spielt einen Trommelwirbel. Leute stampfen im Rhythmus und lassen den Boden beben. Deshalb bin ich mir nicht ganz sicher, ob meine Beine wirklich so zittern, wie ich glaube.

»Milez!«, sagt Hype.

Die andere Seite des Gyms bricht in Jubel aus. Die Menge teilt sich und ein Junge mit brauner Haut und Zickzacks in seinem Haar bahnt sich den Weg zum Ring. Er ist ungefähr so alt wie ich. An seiner Halskette hängt ein großes Kreuz.

Ich kenne ihn und auch wieder nicht, falls das irgendeinen Sinn ergibt. Irgendwo hab ich den schon mal gesehen.

Ein schlanker Typ in einem schwarz-weißen Trainingsanzug folgt ihm. Seine Augen sind hinter einer dunklen Brille versteckt, obwohl die Sonne längst untergegangen ist. Er sagt irgendwas zu dem Jungen und dabei glitzern zwei goldene Eckzähne in seinem Mund.

Ich stupse Aunt Pooh an. »Da ist Supreme.«

»Wer?«, fragt sie, immer noch mit ihrem Lutscher im Mund.

»Supreme!«, sage ich, als ob sie ihn kennen müsste. Eigentlich sollte sie das auch. »Der ehemalige Manager von meinem Dad.«

»Ach ja. Ich erinnere mich an ihn.«

Ich erinnere mich nicht. Als er bei uns ein und aus ging, war ich noch ein Kleinkind. Aber ich kann Dads Geschichte auswendig wie einen Song. Sein erstes Mixtape nahm er mit sechzehn auf. Damals benutzten die Leute noch CDs. Also machte er Kopien und verteilte sie in der Nachbarschaft. Supreme bekam eine und war dermaßen begeistert, dass er Dad bat, ihn managen zu dürfen. Dad war einverstanden. Ab da wurde mein Dad zu einer Underground-Legende und Supreme zu einem legendären Manager.

Dad feuerte ihn, unmittelbar bevor er starb. Jay behauptet, es gab »kreative Differenzen«.

Der Junge, der zu Supreme gehört, klettert in den Ring. Kaum hat Hype ihm das Mikro gegeben, ruft er: »Ich bin euer Boy Milez mit Z. Der Swagerific Prince!«

Der Jubel schwillt an.

»Nah, der mit diesem dämlichen Arsch-Song«, sagt Aunt Pooh.

Daher kenne ich ihn! Der Song heißt Swagerific, und ich schwöre bei Gott, das ist der dämlichste Song aller Zeiten. Ich kann mich gar nicht durchs Viertel bewegen, ohne seine Stimme zu hören: »Swagerific, so call me terrific. Swag-erific. Swag, swag, swag …«

Es gibt auch einen Tanz dazu, den Wipe Me Down. Kleine Kinder lieben den. Das Video hatte online ungefähr eine Million Views.

»Begrüßt mal laut meinen Pops. Supreme!«, ruft Milez und zeigt auf ihn.

Supreme nickt, während die Leute jubeln.

»Schöne Scheiße«, sagt Aunt Pooh. »Du trittst gegen den Sohn vom Manager deines Pops an.«

Verdammt, so sieht’s aus. Und nicht nur das. Ich trete auch gegen jemand an, der schon was vorzuweisen hat. So bescheuert der Song sein mag, jeder kennt Milez, und die Leute jubeln ihm jetzt schon zu. Ich bin im Vergleich dazu ein Niemand.

Aber ein Niemand, der rappen kann. Zu Swagerific gehören Lines wie: »Life aint fair, but why should I care? Why should I care? I got dollars in the air. I got dollars, I got dollars, I got dollars …«

Ähm. Nun ja. Das wird nicht schwer werden. Aber das bedeutet auch, dass Verlieren keine Option ist. Damit könnte ich nicht leben.

Hype spielt noch mal einen Trommelwirbel. »Unser nächster MC ist …«, ruft er, und einige Leute schreien ihre eigenen Namen, als ob er sie deshalb aufrufen würde. »Bri!«

Aunt Pooh reißt meinen Arm in die Höhe und führt mich zum Ring. »Hier kommt der Champ!«, schreit sie, als wäre ich Muhammad Ali. Dabei bin ich definitiv nicht Ali. Ich habe höllisch Angst.

Trotzdem steige ich in den Ring. Das Scheinwerferlicht strahlt in mein Gesicht. Hunderte andere Gesichter starren mich an, Handys werden auf mich gerichtet.

Hype gibt mir ein Mikro. »Stell dich selbst vor.«

Ich sollte mich anpreisen, doch alles, was ich herausbringe, ist: »Ich bin Bri.«

Ein paar Leute im Publikum lachen.

Auch Hype kichert. »Okay, Bri. Bist du nicht auch Laws Tochter?«

Was hat denn das damit zu tun? »Yeah.«

»Damn! Wenn Baby Girl auch nur ein bisschen Ähnlichkeit mit ihrem Pops hat, dann kriegen wir gleich was Heißes zu hören.«

Die Menge tobt.

Ungelogen, ich bin ein kleines bisschen sauer, weil er meinen Dad erwähnt hat. Ich verstehe zwar, warum.

Trotzdem.

Ob ich gut bin oder nicht, sollte nicht das Geringste mit ihm zu tun haben. Er hat mir das Rappen nicht beigebracht. Das habe ich selbst getan. Also, warum kriegt er die Anerkennung?

»Zeit, die Münze zu werfen«, sagt Hype. »Bri, du darfst wählen.«

»Zahl«, murmle ich.

Hype wirft die Münze und klatscht sie auf seinen Handrücken. »Zahl. Wer fängt an?«

Ich deute mit dem Kopf zu Milez. Ich kann kaum sprechen. Ausgeschlossen, dass ich anfange.

»Alright. Seid ihr da draußen alle bereit?«

Die Menge kann im Prinzip mit Ja, verdammt antworten. Und ich? Nein, verdammt.

Aber mir bleibt keine Wahl.

KAPITEL 3

Der Beat setzt ein – Niggas in Paris von Jay-Z und Kanye.

Mein Herz hämmert heftiger als der Bass in diesem Song. Milez kommt auf mich zu. Viiiel zu nah. Andererseits gibt mir das Gelegenheit, ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Er redet eine Menge Mist – und, damn, da liegt Angst in seinem Blick.

Dann fängt er an zu rappen.

I ball so hard, you wish you was like me.

I’m fresh down to my Nikes.

Spend one hundred K in a day,

The boy don’t play,

Going broke ain’t likely.

I ball hard, this hood life crazy.

But I’m a G, it don’t faze me.

Ferrari gassed, Glock in back,

Ready to pop if paparazzi chase me.

Okay, das muss ich ihm lassen, diese Zeilen sind besser als alles in Swagerific, trotzdem, das kann der Junge doch nicht ernst meinen. Er ist kein großer, kein kleiner, er ist überhaupt kein Gangster, also warum gibt er dann an mit diesem Leben? Er wohnt nicht mal in der Hood. Jeder weiß, dass Supreme inzwischen in der Vorstadt lebt. Trotzdem reißt sein Sohn die Klappe auf über das Leben hier?

Geht gar nicht.

Ich muss ihn rausfordern. Vielleicht mit so was wie: »Your career? I end it. Your G status authentic as the gems in your pendant.«

Ha! Das ist gut.

Er rappt immer noch darüber, was für’n Gangster er ist. Ich grinse und warte auf meinen Einsatz. Bis –

I ball hard, so why bother?

This ain’t a battle, more like slaughter.

I murder this chick in cold blood,

Like someone did her whack-ass father.

Was zum Teufel?

Ich gehe auf Milez zu. »Was zum Teufel hast du gesagt?«

Hype unterbricht die Musik, und ich höre: »Whoa, whoa, whoa«, während andere in den Ring stürmen. Aunt Pooh zerrt mich zurück.

»Du kleiner Scheißer!«, schreie ich. »Sag das noch mal!«

Aunt Pooh drängt mich in die Ecke. »Was zum Teufel ist in dich gefahren?«

»Hast du den Scheiß gehört?«

»Yeah, aber du machst ihn mit deiner Musik fertig, nicht mit deinen Fäusten! Oder willst du disqualifiziert werden, bevor du überhaupt dran warst?«

Ich atme tief durch. »Diese Line –«

»Hat dich genau so getroffen, wie er das wollte!«

Sie hat recht. Verdammt, sie hat recht.

Die Menge buht. Auch sie will keine Ausfälle gegen meinen Dad hören.

»Hey! Ihr alle kennt die Regeln. Alles ist erlaubt«, sagt Hype. »Sogar Law ist im Ring Freiwild.«

Noch mehr Buhrufe.

»Alright, alright!«, versucht Hype zu beruhigen. »Milez, das war unter der Gürtellinie, Buddy. Also bitte.«

»Mein Fehler«, sagt Milez ins Mikro, aber er grinst dabei.

Ich zittere, so sehr wünsche ich mir, ihn zu schlagen. Noch schlimmer wird das Ganze, weil meine Kehle wie zugeschnürt ist. Inzwischen bin ich von mir selbst schon fast so angepisst wie von ihm.

»Bri, bist du bereit?«, fragt Hype.

Aunt Pooh schiebt mich zurück in die Ringmitte.

»Yeah«, presse ich hervor.

»Dann los«, sagt Hype. »Zeig’s uns!«

Der Beat setzt wieder ein, aber all die Lines in meinem Kopf sind plötzlich weg …

»Ich …«

Murder this chick in cold blood.

Ich habe die Schüsse, die ihn uns genommen haben, noch im Ohr.

»Er …«

Like someone did her whack-ass father.

Ich kann Jay immer noch schluchzen hören.

»Ich …«

Murder …Whack-ass father.

Ich sehe ihn noch vor mir im Sarg, ganz kalt und starr.

»Abgewürgt!«, schreit jemand.

Shit.

Immer mehr Leute fallen ein, es wird ein Sprechchor daraus. Aus Milez’ Grinsen wird ein Feixen. Sein Dad lacht in sich hinein.

Hype unterbricht den Beat.

»Verdammt«, sagt er. »Runde 1 geht automatisch an Milez.«

Ich taumle in meine Ecke zurück.

Ein Aussetzer.

Ich hatte einen verdammten Aussetzer.

Aunt Pooh klettert auf die Seile. »Zum Teufel! Du lässt dich von dem fertigmachen?«

»Aunty –«

»Du weißt, wie viel für dich auf dem Spiel steht, ja?« Sie schneidet mir das Wort ab. »Das ist sie. Deine Chance, groß rauszukommen. Und du gibst dich kampflos geschlagen?«

»Nein, aber …«

Sie schiebt mich zurück in den Ring. »Schüttel diesen Scheiß ab!«

Milez kriegt in seiner Ecke High Fives und Faustchecks. Sein Dad lacht stolz.

Das würde ich mir auch wünschen. Nicht so ein Arschloch als Vater, sondern meinen Dad. Ich würde mich sogar mit guten Erinnerungen begnügen. Aber eben nicht mit denen an den Abend, als er ermordet wurde.

Es passierte vor unserem alten Haus. Er und Jay hatten einen kinderfreien Abend. Damals lebte Aunt Pooh noch bei uns, und sie hatte sich bereit erklärt, für mich und Trey den Babysitter zu spielen.

Dad gab jedem von uns einen Abschiedskuss, als wir gerade eine Runde Mario Kart anfingen, dann verließen er und Jay das Haus. Draußen heulte ein Motor auf. Gerade als meine Prinzessin Peach Treys Bowser und Aunt Poohs Toad abgehängt hatte, knallten fünf Schüsse. Ich war damals erst vier, aber das Geräusch hab ich bis heute im Ohr. Dann Jays Schreien oder besser Heulen, das irgendwie nicht klang wie von einem Menschen.

Es heißt, ein Crown habe den Abzug gedrückt. Die Crowns sind die größte Truppe von King Lords hier an der East Side. Zahlenmäßig könnten sie ihre eigene Gang bilden. Dad gehörte keiner Gang an, aber er war mit so vielen Garden Disciples derart eng, dass sie ihn in ihr Drama reinzogen. Die Crowns haben ihn beseitigt.

Nach allem, was ich über ihn gehört habe, hätte er sich nie von jemand ausbooten lassen. Ich kann mir das auch nicht gefallen lassen.

»Runde 2!«, verkündet Hype. »Milez, da du die erste Runde gewonnen hast, darfst du entscheiden, wer anfängt.«

Er grinst breit. »Das schaff ich.«

»Dann gehen wir jetzt mal retro!«, sagt Hype.

Er scratcht die Platten und der Beat beginnt. Deep Cover von Snoop und Dr. Dre. Das mit dem retro war also kein Scherz. Es ist der erste Song, den Snoop aufgenommen hat.

Die alten Knacker im Gym drehen auf. Ein paar von den Jüngeren sehen verwirrt aus. Milez schaut mich gar nicht an, während er rappt. Als würde ich keine Rolle mehr spielen.

Yo, they call me the prince,

I ain’t new to this game.

Been plotting for years

And I can’t be tamed.

You can call me a G,

Your son wish he was me,

And every girl with a pulse

Falls inevitably.

I get money,

Like it’s going out of style.

All my whips brand new.

I got Jordan on the dial.

Regel Nummer 1 beim Battle? Kenne die Schwächen deines Gegners. Nichts, was er in dieser Runde spittet, zielt auf mich. Das mag einem vielleicht nicht besonders verdächtig vorkommen, doch genau das ist es. Total verdächtig sogar. Ich hatte einen Hänger. Ein echter MC würde daraus den Todesstoß machen. Verdammt, das würde ich auch. Er erwähnt es nicht mal. Das bedeutet mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit, dass sein Zeug vorgeschrieben ist.

Vorher Geschriebenes ist im Ring ein No-No. Und was ist ein noch größeres No-No? Vorgeschriebenes von jemand anders.

Keine Ahnung, ob er sich diese Lines selbst ausgedacht hat. Vielleicht hat er das sogar, aber ich kann allen das Gefühl geben, er hätte es nicht getan. Ist das fies? Absolut. Aber nachdem nicht mal mein Dad tabu ist, ist verdammt noch mal gar nichts mehr tabu.

Regel Nummer 2 beim Battle? Nutze die Gegebenheiten zu deinem Vorteil. Supreme sieht nicht aus, als würde er sich noch Sorgen machen. Aber glaubt mir: Das sollte er.

Auch das ist mein Vorteil.

Regel Nummer 3? Gibt es einen Beat, dann muss dein Flow wie ein Handschuh drüberpassen. Der Flow ist der Rhythmus der Reime und jedes Wort, jede Silbe wirkt sich darauf aus. Selbst die Aussprache eines Worts kann den Flow ändern. Während die meisten Leute Deep Cover von Snoop und Dr. Dre kennen, hab ich mal ein Remake von diesem Rapper namens Big Pun auf YouTube gefunden. Sein Flow bei diesem Song war einer der besten, die ich je gehört habe.

Vielleicht kann ich ihn ja imitieren.

Vielleicht kann ich Milez dieses dämliche Grinsen aus dem Gesicht wischen.

Vielleicht kann ich tatsächlich gewinnen.

Milez hört auf und der Beat verklingt. Er erntet ein paar Jubelrufe, aber nicht viele. Der Ring liebt Punchlines, aber nichts Lahmes über dich selbst.

»Okay, ich hab’s gehört«, sagt Hype. »Bri, du bist dran!«

Meine Ideen sind wie Puzzleteile verstreut. Jetzt muss ich sie alle zu etwas zusammenfügen, das einen Sinn ergibt.

Der Beat setzt wieder ein. Ich nicke mit. Es gibt nur mich, die Musik und Milez.

Die Worte haben sich wie von allein zu Reimen gefügt und ergeben einen Flow, den ich jetzt einfach rauslasse.

Ready for war, Milez? Nah, you fucked up this time.

Should address this cipher to the writer,

The biter, who really wrote them rhymes.

Come at Brianna, you wanna get buried?

Spit like a legend, feminine weapon,

I reckon your own father’s worried.

Bow down, baby, get down on your knees.

You got paper, but I’m greater.

Ask your clique, and while you at it ask Supreme.

Straight from the Garden where people dearly

departin’. Screw a pardon, I’m hardened,

And Milez’s heart is on back of milk cartons.

It’s MIA, and this is judgment –

Ich höre auf. Die Menge rastet aus. Das kann man so sagen.

»What?«, schreit Hype. »What?«

Sogar die ganz hart und wild aussehenden Typen wippen auf und ab, während sie sich die Fäuste vor den Mund halten und »Ohhh!« rufen.

»What?«, schreit Hype noch mal und spielt dann eine Sirene. Die Sirene. Die er nur benutzt, wenn ein MC irgendwas spittet, das dope ist.

Ich, Brianna Marie Jackson, kriege die Sirene.

Holy Shit.

»Sie hat den Pun Flow drauf!«, ruft Hype. »Hol mal jemand ’nen Wasserschlauch! Damit wir die Hitze aushalten! Diese Hitze ist ja nicht zum Aushalten!«

Das ist überwältigend. Ich dachte schon, die Reaktionen wären krass gewesen, als ich mal für Aunt Poohs Freunde freestyle gerappt habe. Aber das hier ist ein neues Level. So wie Luke, als er plötzlich nicht mehr nur Luke war, sondern Luke der coole Jedi.

»Milez, tut mir leid, aber mit ein paar Takten hat sie dich umgelegt«, sagt Hype. »Ruf den Staatsanwalt! Das ist ein Tatort für die Mordkommission! Kampfrichter, was meint ihr?«

Alle halten Schilder mit meinem Namen hoch.

Die Menge tobt noch lauter.

»Bri gewinnt!«, sagt Hype.

Milez kratzt sich nervös den Bartflaum an seinem Kinn.

Ich grinse. Erwischt.

»Kommen wir zur letzten Runde«, sagt Hype. »Es steht unentschieden, und wer auch immer diese Runde gewinnt, hat gewonnen. Bri, wer beginnt?«

»Er«, sage ich. »Lass ihn seinen Müll loswerden.«

Um uns herum sind noch ein paar Oohs zu hören. Yeah, das hab ich gesagt.

»Milez, du bleibst besser korrekt«, sagt Hype. »Lass hören!«

Der Beat beginnt – Shook Ones von Mobb Deep. Das ist langsamer als Deep Cover, aber perfekt fürs Freestyling. In jedem Battle, das ich auf YouTube gesehen habe, ging die Post richtig ab, wenn dieser Beat einsetzte.

Milez starrt mich böse an, während er rappt. Irgendwas darüber, wie viel Geld er hat, wie viele Mädchen ihn mögen, über seine Klamotten, seinen Schmuck, das Gangsterleben, das er führt. Das hatten wir alles schon. Ist ausgelutscht. Klingt ebenso vorgeschrieben.

Ich muss ihn killen.

Hier stehe ich und gehe auf ihn los, als hätte ich keine Manieren. Manners, darauf reimen sich eine Menge Wörter, wenn ich sie richtig einsetze. Cameras. Rappers. Pamper. Hammer – MC Hammer. Vanilla Ice. Führende Leute der Hip-Hop-Szene halten diese Musiker für Popstars, aber nicht für echte Rapper. Ich kann ihn mit denen vergleichen.

Die Line, die mein Markenzeichen ist, muss ich auch unterbringen: »Brillant« kann man nur buchstabieren, wenn man mit »Bri« anfängt. Darauf hat mich Aunt Pooh gebracht, bevor sie mich damit aufzog, so eine Perfektionistin zu sein.

Perfection. Das kann ich auch verwenden. Perfection. Protection. Election. Wahl – Präsidenten. Präsidenten sind Leaders. Leader. Either. Ether. Wie in dem Song, in dem Nas Jay-Z gedisst hat.

Ich brauche noch etwas über seinen Namen. Milez. Miles per hour. Geschwindigkeit. Lichtgeschwindigkeit. Am Ende muss dann etwas über mich selbst kommen.

Milez lässt das Mikro sinken. Ein paar Leute jubeln. Supreme klatscht, aber sein Gesicht wirkt hart.

»Okay, bis dann, Milez!«, sagt Hype. »Bri, bring uns besser mal ins Schwitzen!«

Die Instrumentalmusik setzt wieder ein. Aunt Pooh hat gesagt, ich kriege nur diese eine Chance, um alle hier und auch noch deren Momma wissen zu lassen, wer ich bin.

Die muss ich jetzt nutzen.

My apologies, see, I forgot my manners.

I get on the mic ’cause it’s my life. You show off for girls and cameras.

You a pop star, not a rapper. A Vanilla Ice or a Hammer.

Y’all hear this crap he dumping out? Somebody get him a Pamper.

And a crown for me. The best have heard about me.

You can only spell »brilliant« by first spelling Bri.

You see, naturally, I do my shit with perfection.

Better call a bodyguard ’cause you gon’ need some protection,

And on this here election, the people crown a new leader.

You didn’t see this coming, and your ghostwriters didn’t either.

I came here to ether. I’m sorry to do this to you.

This is no longer a battle, it’s your funeral, boo. I’m murdering you.

On my corner they call me coroner, I’m warning ya.

Tell the truth, this dude is borin’ ya.

You confused like a foreigner. I’ll explain with ease:

You’re just a casualty in the reality of the madness of Bri.

No fallacies, I spit maladies, causin’ fatalities,

And do it casually, damaging rappers without bandaging.

Imagining managing my own label, my own salary.

And actually, factually, there’s no MC that’s as bad as me.

Milez? That’s cute. But it don’t make me cower.

I move at light speed, you stuck at per hour.

You spit like a lisp. I spit like a high power.

Bri’s the future, and you Today like Matt Lauer.

You coward. But you’re a G? It ain’t convincing to me.

You talk about your clothes, about your shopping sprees.

You talk about your Glock, about your i-c-e.

But in this here ring, they all talking ’bout me, Bri!

Das Publikum tobt.

»Ich hab’s euch gesagt!«, schreit Aunt Pooh, die wieder auf den Seilen steht. »Ich hab’s euch allen gesagt!«

Milez kann weder mir noch seinem Dad in die Augen sehen, der ihn böse anzustarren scheint. Könnte auch sein, dass er mich anstarrt. Das kann man wegen der Sonnenbrille schlecht erkennen.

»Alright, Leute!« Hype versucht, die Menge zu beruhigen, während er hinter den Turntables hervorkommt. »Von dieser Wertung hängt alles ab. Wer auch immer diese Runde gewinnt, ist Sieger. Kampfrichter, wen schlagt ihr vor?«

Mr Jimmy hebt sein Schild in die Höhe. Darauf steht Bri.

Dee-Nice zeigt sein Schild. Bri.

CZ hebt sein Schild hoch. Li’l Law.

Holy Shit.

»Wir haben eine Siegerin!«, ruft Hype in den donnernden Applaus. Er zieht meinen Arm nach oben. »Ladies and Gentlemen, die Gewinnerin des Rookie Royale am heutigen Abend heißt Bri!«

KAPITEL 4

Nur Stunden nach meinem Battle habe ich wieder meinen Albtraum.

Ich bin fünf Jahre alt und steige in Moms alten Lexus. Daddy ist ein Jahr im Himmel. Aunt Pooh ist seit ein paar Monaten weg. Sie lebt jetzt mit ihrer und Mommys Tante in den Blocks mit den Sozialwohnungen.

Ich schnalle mich an und Mommy hält mir meinen randvollen Rucksack hin. Auf ihrem Arm sind diese vielen dunklen Stellen. Einmal hat sie mir gesagt, die kämen davon, dass es ihr nicht gut geht.

»Bist du immer noch krank, Mommy?«, frage ich.

Sie folgt meinem Blick und schiebt ihren Ärmel runter. »Yeah, Baby«, flüstert sie.

Mein Bruder steigt neben mir ins Auto, und Mommy sagt, wir würden an einen besonderen Ort fahren. Am Ende stehen wir in der Einfahrt unserer Großeltern.

Trey reißt die Augen auf. Er bettelt, dass sie das nicht tun soll. Als ich ihn weinen sehe, heule ich auch los.

Mommy sagt, er solle mit mir zusammen reingehen, aber er weigert sich. Schließlich steigt sie aus, kommt auf seine Seite, öffnet seinen Sicherheitsgurt und versucht, ihn aus dem Auto zu ziehen, doch er krallt sich an den Sitz fest.

Da fasst sie ihn bei den Schultern. »Trey! Du musst mein kleiner Mann sein«, sagt sie mit zitternder Stimme. »Um deiner Schwester willen. Okay?«

Er schaut zu mir und wischt sich schnell übers Gesicht. »Es … es … es geht mir gut, Li’l Bit«, behauptet er, und dabei sind seine Worte vom Weinen wie bei einem Schluckauf unterbrochen. »Ist schon gut.«

Er öffnet meinen Gurt, nimmt mich bei der Hand und hilft mir auszusteigen.

Mommy gibt uns die Rucksäcke. »Seid brav, okay?«, sagt sie. »Tut, was eure Großeltern sagen.«

»Wann kommst du wieder?«, frage ich.

Da geht sie vor mir in die Hocke. Mit zitternden Fingern streicht sie mir durchs Haar und legt dann die Hände an meine Wangen.

»Ich komme später. Versprochen.«

»Wann später?«

»Später. Ich hab euch lieb, okay?«

Sie presst ihre Lippen für eine lange Zeit an meine Stirn. Das Gleiche macht sie bei Trey. Dann steht sie wieder auf.

»Mommy, wann kommst du wieder?«, frage ich noch einmal.

Sie steigt in den Wagen, ohne mir zu antworten, und lässt den Motor an. Tränen laufen über ihre Wangen. Sogar mit meinen fünf Jahren weiß ich schon, dass sie lange nicht zurückkommen wird.

Ich lasse meinen Rucksack fallen und renne die Einfahrt runter dem Wagen nach. »Mommy, lass mich nicht allein!«

Aber sie biegt auf die Straße ein und ich darf nicht allein auf die Straße.

»Mommy!«, schreie ich.

Ihr Auto fährt einfach immer weiter und weiter und ist bald nicht mehr zu sehen.

»Mommy! Mom-«

»Brianna!«

Auf einen Schlag bin ich wach.

Jay sitzt auf meiner Bettkante. »Baby, alles okay?«

Ich versuche, wieder gleichmäßig zu atmen, während ich mir die Tränen abwische. »Yeah.«

»Hast du schlecht geträumt?«

Ja, ich hatte einen Albtraum, der zugleich eine Erinnerung ist. Jay hat mich und Trey tatsächlich vor dem Haus unserer Großeltern zurückgelassen. Sie konnte sich nicht gleichzeitig um uns und um ihre Drogensucht kümmern. Damals lernte ich, dass Menschen, die sterben, manchmal die Lebenden mit sich nehmen.