Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig: Eine Novelle - Werfel, Franz - kostenlos E-Book

Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig: Eine Novelle E-Book

Franz, Werfel

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The Project Gutenberg eBook, Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig, by Franz Werfel

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Title: Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig

Author: Franz Werfel

Release Date: January 11, 2015 [eBook #47939]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK NICHT DER MÖRDER, DER ERMORDETE IST SCHULDIG***

E-text prepared by the Online Distributed Proofreading Team (http://www.pgdp.net) from page images generously made available by Internet Archive (https://archive.org)

Note:

Images of the original pages are available through Internet Archive. See

https://archive.org/details/nichtdermrderd00werf

Franz Werfel

*

Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig

Eine Novelle

Kurt Wolff Verlag München

18.-22. Tausend / Herbst 1922 Druck von Emil Herrmann senior in LeipzigCopyright 1920 by Kurt Wolff Verlag in München und Leipzig

Motto:
Nun sind wir entzweit!
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Wie wir einst im grenzenlosen Lieben
Späße der Unendlichkeit getrieben
Ahnen wir im Traum.
— — — — — — — — — — —
und in einer wunderbaren leisen
Rührung stürzt der Raum.
Werfel: Vater und Sohn.

Erster Teil

Wie habe ich immer die Knaben beneidet, deren Väter in den Portierlogen oder auf den Türbänken gelassen und freundlich an Sonntagnachmittagen ihre Pfeife rauchten, und wie erst die Buben in den Bürgerzimmern, wo der Hausherr behaglich gerötet, in Hemdsärmeln, die Virginier im Munde und ein halbgeleertes Bierglas vor sich, an dem weißen Tisch saß. Ich will von der Erschütterung schweigen, die ich einmal, noch als ganz kleiner Kadettenschüler empfand, als ich an dem offenen Fenster einer Parterrewohnung vorbeiging und dahinter einen älteren Mann am Klavier sah, der aus einem aufgeschlagenen Notenbuch die Arie des Cherubim: „Neue Freuden, neue Schmerzen“ spielte, die sein Sohn, ein wunderschöner, elfjähriger Junge, mit der reinen heiligen Stimme des Kirchensopranisten sang. — Bitterlicher als damals habe ich nie mehr geweint, denn mein Weg führte aus der Kaserne, wo ich allsonntäglich meinem Vater über die Ergebnisse der Woche Rechenschaft ablegen mußte, in die Kadettenanstalt zurück.

Ja, mein Vater rauchte Zigaretten und spielte nicht Klavier. Er rauchte Zigaretten und zwar solche, die ihm meine Mutter, seine verschüchterte, harte Dienerin traurigen Angedenkens, allabendlich bis in die Nacht hinein mit der Maschine stopfte; denn sein Tagesbedarf war groß. Mit nobel zitternden, gelbspitzigen Fingern führte er diese Zigaretten zum Mund, ob er nun in der Bataillonskanzlei saß, über den Exerzierplatz ritt, oder gelangweilt nach der Ursache eines Zornausbruchs sinnend in seinem Zimmer auf und abging. Schon als achtjährigem Buben war es mir klar, daß der kein guter Mensch sein könne, der immerfort solche Rauchstöße durch die Nüstern der Nase blies. Alles an diesem Vater war: Von oben herab! Und Rauch durch die Nüstern stoßen, das taten doch nur die Drachen, die es jetzt nicht mehr gab.

Wir waren um diese Zeit in einer der großen Landeshauptstädte mit starker Garnison stationiert. Ich erinnere mich, daß mein Vater anfangs, als Hauptmann, dem Hausregiment zugeteilt gewesen ist. Ich selbst war Zögling der Kadettenanstalt dieser Stadt, also schon als Kind zu schwerer Zuchthausstrafe verurteilt. Doch noch härter war mein Los als das der anderen Offizierssöhne!

Wer nicht in einem unerbittlichen Institut aufgewachsen ist, wird sein Lebtag die Bedeutung des Wortes — Sonntag — nicht ermessen. Sonntag, das ist der Tag, wo die erdrosselnde Hand der Angst um den Hals sich lockert, Sonntag, das ist ein Erwachen ohne bangen Brechreiz, Sonntag, das ist der Tag ohne Prüfung, Strafe, erbitterten Lehrerschrei, der Tag ohne Schande, ohne zurückgewürgte Tränen, Erniedrigungen, der Tag, da man in einem süßen Glockenmeer erwacht, die Bäume des armseligen Anstaltsgartens sind Bäume und nicht fühllose Gefangenenwächter wie sonst, der Tag, wo jeder mit dem weißen Erlaubnisschein die Wache am Tor passiert, und in die Freiheit und Freude tritt.

Ach, selbst der Sonntag konnte mich nicht froh machen, dieser Tag, den die Kameraden in aller Frühe schon mit unterdrückten Jubelschreien begrüßten, wenn sie aufsprangen und ihre Köpfe unter die mager tröpfelnde Waschgelegenheit hielten. Sie durften den ganzen Tag über ausbleiben bis neun Uhr abends, ja, manche sogar bis zehn, bis elf; dann erst zu solch später Stunde warf sich das furchtbare Montagsgespenst mit der Wucht der Versäumnisse und ungelösten Aufgaben über sie.

Aber am Morgen entflohen sie zitternd und rot vor Glück dem Kerker, kehrten in ein Heim ein, wo sie, wenn auch spärlich, so doch eine Spur von Liebe und Betreuung empfingen; sie wurden am Nachmittag in eine Konditorei geführt, oder durften mit ihren Eltern auf der Terrasse eines Cafés sitzen, oder in einem Restaurationsgarten in den schneidigen Blech- und Paukendonner der Militärmusik tauchen.

Was war mein Sonntag? Um zehn Uhr morgens verließ ich die Kadettenschule mit entsetzlichem Herzklopfen und einer schweren Übelkeit im Magen, ohne daß ich vermocht hätte, den Frühstückskaffee aus der verbeulten Soldaten-Blechschale herunterzutrinken. Denn ich mußte Punkt halb elf in der Bataillonskanzlei vor meinem Vater stehn, der mich mit dienstlich verächtlichem Blicke maß und anfuhr:

„Korporal, wie stehn Sie da?“

Das wiederholte sich jedesmal. Meine Knie schlotterten dann, und mit Anspannung aller Kräfte nahm ich strammer Stellung. Es folgte das Verhör über die Noten und Zensuren, die ich in der abgelaufenen Woche davongetragen hatte. Niemals ein Lob, immer aber flogen mir Kommisschimpfworte an den Kopf, und ich pries den Gottestag, an dem es mir so gut erging, daß ich „nur mit Hohn“ bedacht worden war.

Während dieser Hinrichtungen blies der Vater den Rauch der Zigaretten ohne Aufhören durch die Nase. (Ich habe in meinem Leben keine Zigarette berührt, und das ist wohl das einzige Laster, dem ich nicht verfiel.) Der Rapport schloß damit, daß der Vater sich über ein Dienststück beugte, den Rechnungsfeldwebel, der in der Ecke der Kanzlei die ganze Zeit über stramm stand, zu sich heranwinkte, und ohne aufzublicken mir befahl:

„Abtreten!“

Auf der Straße wurde es mir ganz bitter im Mund. Ich konnte mit meinen kleinen Beinen kaum mehr weiter.

Von Sonne und Furcht waren mir die Augen ganz betäubt, und dennoch mußte ich mit gestreckten Knien vorwärts schreiten, den Kopf salutierend nach rechts und nach links werfen, um ja keinen Offizier zu übersehn.

Und noch eines! Alle meine Mitschüler trugen am Sonntag eigene Uniformen aus Kammgarnstoff und von gutem Schnitt. — Ich allein mußte in der plumpen ärarischen Montur meinen Ausgang machen, und wie oft schämte ich mich der blauen, die Beine verunstaltenden Hosen.

Todmüde kam ich so gegen die Mittagsstunde zu dem Hause, wo meine Eltern wohnten. Doch auch dieses Haus war im Bann meines Schicksals gelegen, es stand in der Hörweite der Retraite und Hornsignale.

Jedesmal mit neuem Herzklopfen läutete ich an. Meine Mutter öffnete mir selbst; denn Offiziersfrauen können sich ja keine Dienstboten halten. Ich küßte ihr die Hand, sie fuhr mir kurz mit ihren bigotten trockenen Lippen über die Stirne. Dann mußte ich den Waffenrock ablegen und ein ausgewachsenes kurzärmeliges Lüsterjäckchen anziehn, eines meiner Schulbücher nehmen und still dasitzen, während die Mutter mit kurzen merkwürdigen Rucken in der Küche hantierte. Wie sie hin- und herging, dachte ich oft: „Warum trägt meine Mutter so große, gerade Stiefel mit breiten platten Absätzen, ganz anders als die geschwungenen Schuhe, welche die hellgekleideten Frauen auf der Straße tragen? — Warum empfinde ich bei ihrem Schritt nicht dasselbe wohlige Gefühl, das mich angesichts der schönen klappernden Frauenschritte da draußen durchrieselt?“ —

Mittags kam der Vater nach Hause. Seine Lackstiefeletten blitzten. Er brachte es fertig, durch den ärgsten Staub und Kot zu gehn, ohne daß sein tadelloses Schuhwerk auch nur von dem kleinsten Fleck verunstaltet wurde. Es geschah regelmäßig dasselbe. Er hing den Tschako und frischvernickelten Salonsäbel an den Haken, zog sein Bartbürstchen und kämmte sich zurecht, schlug in der Türe leicht die Sporen aneinander und begrüßte meine Mutter und mich, die schon mit der Suppe warteten, mit einem förmlichen „Servus“, wie er es von Kameradschaftsabenden her gewohnt war, wenn er unter rangsjüngere Kameraden trat.

Beim Essen wurde wenig gesprochen, denn einen schweigsameren Menschen als meine Mutter habe ich nie gesehen, die nur ein Gegenstand völlig in Schwung zu bringen vermochte: Der Judenhaß. Mein Vater machte zwischen zwei Bissen dann und wann eine Bemerkung über einen Offizier. Den Untergebenen und Gleichgestellten pflegte er schlechtweg mit seinem Zunamen zu nennen, den Vorgesetzten bezeichnete er mit der Charge, wobei er niemals vergaß, das Wort „Herr“ voran zu setzen.

Er war ein ausgezeichneter Offizier. Das Dienstreglement war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.

Wenn er das Wort an mich richtete, so war es immer eine Prüfungsfrage. Einmal zog er sogar, während ich in meinem verflachsten Rindfleisch stocherte, eine zusammengefaltete Generalstabskarte aus der Tasche und verlangte von mir, ich solle die Karrenwege im Raume von Jezierna, das ein unbedeutendes galizisches Nest ist, genau beschreiben. Das war selbst meiner Mutter zu viel. „Laß das Kind essen, Karl!“ sagte sie. Und ich habe ihr dieses gute Wort — „Kind“ — nie vergessen.

Diese Mahlzeit war der Höhepunkt meines Sonntags. Um fünf Uhr mußte ich schon wieder in dem weißgetünchten Zimmer mit den zehn Eisenbettgestellen sitzen und über einer arithmetischen Aufgabe brüten, verzehrt von Montagsangst und Sodbrennen.

Nur in den Ferien war es etwas anders. Zwar unterließ es mein Vater nicht, die Schule zu ersetzen und alltäglich mir einen Rapport zu verordnen, wo er das Pensum, das er mir tags vorher aufgebürdet hatte, abhörte, — aber ich durfte doch eine Stunde länger im Bett liegenbleiben, das nicht ganz so hart war, als das der Kadettenanstalt; auch blieb mir Zeit, ein wenig zu flanieren, mit dem Hund zu spielen, oder eine Indianergeschichte zu lesen.

Vollends erträglich wurde der Zustand, wenn die Zeit der Manöver heranrückte und der Vater mit seinem Regiment ins Sommerquartier ging. Von dem ersten Augenblick seiner Abwesenheit an war meine Mutter wie verwandelt. Sie ging mit mir viel spazieren, erzählte von ihrem Vater, der Rechnungsrat im Finanzministerium gewesen war und ein berühmter Schachspieler, — selbst ihre Schuhe, die meinen Schönheitssinn immer beleidigt hatten, bekamen eine weniger strenge und angenehm weibliche Form; ich mußte mir nicht mehr selbst die abgerissenen Knöpfe annähen, sie wusch mir auch den Kopf und zog mir mit Sorgfalt den Scheitel. —

Eines Tages kehrten wir sogar in eine Konditorei ein, und zum erstenmal im Leben durfte ich Schokolade mit Schlagobers genießen.

Einmal in dieser Ferienzeit erwachte ich in der Nacht. Da sah ich meine Mutter mit einer Kerze vor meinem Bett stehen. Sie hatte das Haar geöffnet und ich konnte erkennen, daß es sehr schön war.

Über ihr Gesicht liefen viele Tränen. Sie setzte sich zu mir und küßte mich in einem wilden plötzlichen Überschwang. Da fing auch ich an, unaufhaltsam zu weinen. Am Morgen erwachte ich und hatte das erstemal in meiner Jugendzeit wirklichen Appetit.

In den ersten Tagen des September kam der Vater von den Manövern zurück. Doch diesmal hatte ich ein ungeahntes Glück. Er schien nicht derselbe zu sein. Sein Gesicht war freundlicher und wohl gerötet, seine Gestalt weniger infanteriepedantisch, fast die eines Reiters. Er trug keine gelben Waschhandschuhe, als er eintrat, sondern weiße dünne Glacés, klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Nun, Bub, wie waren die Ferien?“ Ich traute meinen Ohren nicht und wurde maßlos rot.

Die Veränderung im Benehmen meines Vaters hatte einen guten Grund. Die Manöver waren für ihn außerordentlich günstig abgelaufen. Bei der Kritik hatte ihn der Thronfolger dreimal höchst schmeichelhaft erwähnt, er war fast außertourlich mit Überspringung von sieben älteren Hauptleuten zum Major avanciert, und was die seltenste Auszeichnung ist, ihm war der Adel mit dem Prädikat „Edler von Sporentritt“ verliehen worden. Es war vorauszusehen, daß er, trotzdem er das Studium der Kriegsschule einst hatte unterbrechen müssen, zum Generalstab versetzt werden würde.

Die letzten acht Tage dieser Ferien waren die glücklichsten meiner ganzen Kindheit. Der Vater war jovial und eifrig bestrebt, die Gewohnheiten eines Frontsoldaten mit denen eines militärischen Diplomaten zu vertauschen.

Hausrapporte, Prüfungen, Gespräche über Kasernfragen verschwanden ganz. In unser Hinterzimmer zog eine Hausschneiderin ein; für meine Mutter sollte ein Straßenkostüm nach der Mode angefertigt werden. Ihr Gesicht glühte in mädchenhafter Erregung, wenn sie mit der alten Jungfer über ein Schnittmuster gebeugt stand oder selbst an der Nähmaschine saß. Es konnte auch geschehen, daß mein Vater, der jetzt eine weniger vorschriftsmäßige feinere Uniform trug, in das Kabinett trat, um einer Anprobe beizuwohnen. Wenn er seine Meinung über eine Falte oder Rüsche aussprach, vergaß er nicht, seinen Worten einen näselnden, leichtfertigen Ton zu geben.

Eines Abends hatten wir sogar Gäste. Der Regimentskommandant und der Brigadier mit ihren Damen. Es gab vor dem Braten eine Vorspeise, französischen Salat in Muscheln. Ich, der bei Tisch dabei sein durfte, erstarb in Ehrfurcht vor dieser geheimnisvollen edlen Speise.

Meine Mutter bewegte sich in ihrem guten Seidenen, das heute ganz ungewohnt vornehm wirkte. Ihr schönes Haar trat gut zutage. Sie trug eine dünne Goldkette, an der ein Türkiskreuz hing, um den Hals, an den Handgelenken klirrende Silberarmbänder.

Es wurde Wein und Bier getrunken. Der Brigadier gab wohlwollend jüdische Anekdoten zum besten, der Oberst Kasernhofblüten. Beide nannten meinen Vater: „Lieber von Sporentritt!“ Sie waren bürgerlichen Namens und nicht wenig stolz, daß ein so hoch qualifizierter Offizier in ihrem Dienstbereiche stand. Als sie aufbrachen, zwickte mich der General freundlich in die Wange. Ich stand starr wie eine Ordonanz an der Türe.

Meine Eltern waren mit diesem wohlgelungenen Souper sehr zufrieden. Was ich bisher noch nie gesehen hatte, ich sah meinen Vater mit unterm Kopf verschränkten Armen sich in einem Schaukelstuhl wiegen. Das war für mich eine überaus aristokratische Geste.

Vor dem Schlafengehen küßte der Vater meiner Mutter die Hand. Ich glaube, das war der glücklichste Augenblick ihres Lebens.

So nahte für mich der letzte Sonntag dieser wunderbaren Ferien heran, und der Zufall wollte es, daß dieser Tag gerade mit meinem dreizehnten Geburtstage zusammenfiel. So durfte auch ich einmal im Leben ein Sonntagskind sein.

Am Morgen dieses Tages trat ich zu meinem Vater ins Zimmer, der gerade beim Frühstück saß. Er ließ mich niedersetzen und teilnehmen. Trotz seiner Freundlichkeit in den letzten Tagen hätte ich in meiner Verschrockenheit doch nicht gewagt, dieser Aufforderung zu folgen.

„Es ist ja heute dein Geburtstag,“ sagte er, „setz’ dich nur!“ Ich trank zaghaft aus der Tasse, die er mir hingestellt hatte. Er schwieg lange still und ich fühlte, daß er über mich nachdachte.

„Du bist heute dreizehn Jahre“ — begann er plötzlich — „und die Jugend geht rasch vorbei! Gerade an meinem dreizehnten Geburtstag, erinnere ich mich, hatte mir mein Vater, der Oberstleutnant, ein besonderes Vergnügen zum Geschenke zugedacht. Ich will dir das gleiche Geschenk machen, und du magst ebenso an deinem Sohne handeln. Du wirst es einmal verstehn, daß die Tradition den Wert einer Familie bedeutet. Halte dich heute nach Tisch bereit und jetzt geh!“

Nach dem Essen, das besser war als sonst, gebot mir der Vater noch einmal, mich anständig zurecht zu machen. Er selbst aber stand auf und ging in sein Zimmer. Nach einer halben Stunde kam er zurück. Aber was war geschehen? Er hat Zivilkleidung angelegt — und so wenig ich damals davon verstehen konnte, so sehr fühlte ich doch die Verwandlung ins Armselige, die mit diesem sonst so steifen und klirrenden Menschen vor sich gegangen war. Das war nicht mehr die erdrückende Erscheinung von vorhin, so sahen die vornehmen Herren auf der Straße nicht aus, dieser Vater glich jetzt den mageren Gestalten hinter den Postschaltern.

Unter den allzu kurzen Ärmeln traten viel zu weit die angeknöpften Manschetten vor, der Kragen schien eng und von einer veraltet unerfreulichen Fasson zu sein. Die genähte Krawatte ließ den gelben Kragenknopf sehn. Die Hosen, überaus gebügelt, spiegelten hinten, was dadurch besonders sichtbar wurde, daß der Rock ebenso kurz wie alles andere war.

Tadellos allein wirkten Frisur, — Stock, Hut und Handschuhe, die der Vater, als wäre er das sehr gewohnt, leichthin in der Hand trug.

Wie wach ist doch ein Kinderherz!

Ich verstand so viel!

Der Mann, der mein Vater war, jetzt hatte er sich enthüllt.

Armut, Engbrüstigkeit und Schäbigkeit; nun traten sie als Wahrheit hervor, nachdem Glanz und Planz im Kasten hingen! Und doch!

Eine ungeheure Welle von Wärme und Mitleid für ihn stieg in mir auf.

Wir gingen über die Straße, beide mit dem dummen und kniewerfenden Schritt der Soldaten.

„Wohin gehen wir?“ wagte ich zu fragen.

„Das wirst du schon sehen.“

Als wir mitten auf der großen Brücke standen, wußte ich plötzlich, und das Blut stockte mir vor wunderbarem Entsetzen: „Es geht auf die Hetzinsel.“ Die Hetzinsel war gleichsam der Wurstelprater unsrer Stadt.

Meine Kameraden, die sie hatten besuchen dürfen, berichteten das Tollste. Panoptikum, Grotten — und Bergbahn, verzaubertes Schloß, Photograph, Schießstätten, rasende Karusselle, elektrische Theater, daß diese Entzückungen nicht fehlen durften, war ja selbstverständlich. Daß aber ein wirkliches bodenständiges Stück Wüste da wäre, mitten auf dieser Flußinsel, ein Stück wahrer Sahara, auf dem echte Beduinen ab halb vier Uhr alltäglich ihre „Fantasia“ ritten, das hatte mir ein besonders glücklicher und gewiegter Besucher versichert.

Mein Vater und ich stiegen die breite Treppe, welche die große Brücke seitlich unterbrach, hinab, traten durch ein hochgebautes Torgerüste, von dem hundert brennende Fahnen niederwallten, und standen schon im Wunder.

Im ersten Augenblick verging mir der Atem vor dem gigantischen Lärm, der auf mein Ohr eindrang, das angstvoll nur an das Schrillen der Exerzierpfeife und die Bosheit des Lehrerworts gewöhnt war. Selbst die Furcht vor meinem Vater schwand für eine Sekunde. Ich wollte die Hand ausstrecken, um die seine anzufassen, aber durchblitzt fuhr ich noch im letzten Augenblick zurück.

Unzählige Menschen in unzähligen Gruppen wogten durch-, mit-, gegeneinander und bildeten doch eine gleichgerichtete gemeinschaftliche Strömung, gerade so wie die vielen durcheinandertanzenden Wirbel des Wassers einen Strom. Die irrsinnige Musik, der Triumph der Menge schloß mich ein wie etwas ungeahnt Gütiges, mein kleiner zertretener Mut begann zu wachsen, ich sah diesen Vater neben mir fast klar beobachtend an und fühlte: „Was ist denn der Mächtige da heut im grauen, nicht mehr neuen Röckchen denn anderes, als Einer unter Vielen!? Wem kann er heute was kommandieren, wer würde ihm gehorchen!? Keiner schert sich um ihn, keiner grüßt ihn, kein Soldat salutiert, ja — sie schauen ihn ruhig frech an und scheuen sich gar nicht, ihn zu puffen.“

Mein Vater schien ähnliche Gedanken zu hegen.

Wenn ihn jemand berührte oder gar auf den Fuß trat, knirschte er mit den Zähnen und stampfte auf. Das Gesicht war verzerrt und verfallen. In seinen vor der übermäßigen Sonne zusammengekniffenen Augen blitzte Haß. Sein heute unvorteilhaft zur Schau getragener Körper kämpfte um die Möglichkeit, plötzlich luftleeren Raum um sich zu haben, aus dem Bann der Menge zu fallen, eng und goldverschnürt mitten in einer tausendfältigen Stille dazustehen.

Oh, wie sollten kurz und scharf aus seiner Kehle die Kommandoworte fahren: „an!“ und „Feuer!“

Wir aber wurden im unbesiegbaren Strom von Leibern, Gelächtern, Gekreischen vorwärts gestoßen, und je mehr ich fühlte, daß mein Vater darunter litt, um so mehr genoß ich die süße Rache, ihn zu dieser Ohnmacht verurteilt zu sehen. Seltsam! Ich erlebte den ersten Sieg gegen diesen Vater in der Stunde, da er mir die erste Güte entgegenbrachte.

Indessen waren wir der schmalen Gasse zwischen schreienden Buden, dem Schweißgeruch der in einer Flußenge zusammengezwängten Menge, der Unzahl von Kindertrompeten und bunten Luftballons entkommen und standen im Strudel eines großen Platzes.

Viele gewaltige Orchestrions und elektrische Orgeln donnerten.

Dreizehn Jahre alt!

Es war das mächtigste Erlebnis, das ich bisher empfangen hatte, und dieses Erlebnis wurde vielleicht nur von einem noch übertroffen, als ich von Bord des „großen Kurfürsten“ die vielen Begrüßungsorchester durcheinandertoben hörte, die uns mit einer nie geschriebenen Dämonsmusik im Lande der Hoffnungen empfingen, wo ich jetzt diese Geschichte aus meinem Leben aufzeichne.

Die elektrischen Orgeln brüllten, die langgezogenen Schrecknisse ihrer Opernmelodien zu einem fabelhaften Chaos verschlingend.

Ich stand erschöpft in diesem Platzregen von harmonischen Felsen. Mein Körper war eingeschlafen, ich konnte mich kaum rühren.

Der Vater zog mich in ein Ringelspiel. Ich mußte mich auf ein Pferd mit übertrieben geschnitztem Hals setzen und die Zügel in die Hand nehmen. O, welch ein eigentümlicher Geruch von Holz, Leder und warmen Roßhaaren! Die Farben und Gestaltenfülle war zu groß, als daß ich hätte noch unterscheiden können. Hohl setzte die Orgel ein: „Müllerin du Kleine!“ Das Spiel begann sich langsam zu drehen. Ein Mann in kurzen Hosen und schwarzem Trikot avancierte und retirierte schneidig auf der rotierenden Scheibe. Oben wehten rote Vorhänge über Kinderjuchzern. Die Bewegung wurde schneller, immer schneller, die Drehscheibe, auf der die Pferde, Wagen, Drachen, Königstiger, Löwen, Traumtiere liefen, schien einen Trichter bilden zu wollen, — ich lehnte mich mit glühenden Wangen zurück, um mich dem Rausch der Schnelligkeit hinzugeben. Da aber sah ich meinen Vater, groß, wie über alle anderen gewachsen, dastehen, scharfen Blicks, vorgestellt den rechten Fuß, und den Stock, wie eine Longierpeitsche in der Hand. Er rief mir im Ton des Reitlehrers zu:

„Gerade sitzen! Oberkörper zurück!“

Doch — schon war ich vorbei und nahte voll Angst in der neuen Tour. Unbeweglich stand er da. Ich hörte seine Stimme:

„Sattel auswetzen!“

Vorüber! Während der nächsten Tour hatte ich schon den bitteren Geschmack im Munde. Des Vaters Stellung war um keinen Zoll verändert.

Und wieder die Stimme.

„Schenkel an den Sattel, Fußspitzen auswärts.“

Als ich von meinem Holzpferd stieg, war ich traurig und zerschlagen wie nach einer Prüfung.

Mein Vater hatte sich für den kurzen Augenblick meines Sieges von vorhin bitter gerächt. Doch gab er sich damit zufrieden, tadelte mich nicht weiter und löste Karten für die Grottenbahn, deren Geheimnisse ein Zwerg im Kostüm der Hofnarren und eine Riesendame mit der Pauke ausriefen. Diesmal nahm der Vater teil, doch zeigte sein Gesicht keine Regung. Die Orgel, die hier spielte, war mächtiger als die der anderen Unternehmungen. Es ging von ihren Tonungeheuern ein Luftzug aus, der mir wie Zauberei erschien. Wir fuhren knarrend in den schwarzen Schacht ein. Da es ganz finster war, hatte Gott den Vater von mir genommen. Ich sah ihn nicht. Die Beklommenheit fiel und ich überließ mich dem Traum. Aber es waren viele Träume:

Hexen ritten, während der Winterwind die Tannen entwurzelte, dürr, nackt und mit flatternden Strähnen auf wippenden Ästen. Schweigend,