Nichts ist so, wie es scheint - Fatima Wendt - E-Book

Nichts ist so, wie es scheint E-Book

Fatima Wendt

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Beschreibung

Nach dem Unfalltod ihrer besten Freundin Becky und der Ermordung deren Mannes versucht Privatdetektivin Patrizia Baum, das Ausspionieren fremdgehender Ehemänner, ihren nervigen Geschäftspartner und die Erziehung ihres Patenkindes unter einen Hut zu bekommen. Als eines Tages eine Frau in ihrer Detektei auftaucht und sie bittet herauszufinden, was deren Familie vor ihr verheimlicht, stößt sie bei der Suche nach der Wahrheit auf Menschen aus ihrer eigenen Vergangenheit ...

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Seitenzahl: 321

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Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und -auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2011 novum publishing gmbh
ISBN Printausgabe: 978-3-99003-322-7
ISBN e-book: 978-3-99026-334-1
Lektorat: Dr. phil. Ursula Schneider
Umschlagfoto: Stanislav Perov | Dreamstime.com
Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.
www.novumpro.com
AUSTRIA · GERMANY · HUNGARY · SPAIN · SWITZERLAND
Juni 2000
Schwungvoll ließ sich Pat auf die breite, helle Besuchercouch in ihrem Empfangsbereich fallen und begann, langsam den Bericht durchzublättern, den Chris ihr gerade eben in die Hand gedrückt hatte. „Weißt du, was ich nicht verstehe, Chris? Corso hat drei verschiedene Aussagen gemacht und dies ist keinem bei der Polizei weiter aufgefallen. Das glaubst du doch selbst nicht. Da stimmt irgendwas nicht!“
Sie blickte zu ihrem Partner auf, der reglos am Fenster stand und auf die Straße starrte. Gedankenverloren tippte sie sich mit einem Kugelschreiber gegen ihre Nasenspitze, ein Tick, den sie einfach nicht unterdrücken konnte. Als Chris nichts erwiderte, warf sie den Bericht achtlos auf den Beistelltisch und ging zu ihm hinüber. Sanft berührte ihre Hand seine breite Schulter.
„Ist alles in Ordnung?“, ekundigte sie sich vorsichtig.
Seit seine Frau vor sechs Monaten bei einem Unfall tödlich verunglückt war, hatte er sich verändert. Aus dem einst so liebevollen und lustigen Mann war ein verbitterter Zeitgenosse geworden. Natürlich litt Pat mit ihm mit, schließlich war seine Frau ihre beste Freundin gewesen. Sie vermisste Becky immer noch jeden Tag. Sie vermisste das ansteckende, gackernde Lachen ihrer Freundin, ihre herzliche, unkomplizierte Art. Ja, selbst den übertriebenen Ordnungswahn, mit dem Becky ihre Freunde und ihre Familie regelmäßig fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Obwohl Pat wusste, dass ihr Schmerz von einer anderen Sorte war als der von Chris, verstand sie ihn und versuchte, für ihn da zu sein. Leider machte er es ihr oft nicht leicht und an manchen Tagen verließ Pat einfach wortlos das Büro, ehe sie etwas sagte, was ihr später leidtun würde.
Jetzt tätschelte sie ihm tröstend die Schulter, als er weiterhin schwieg.
„Geh doch nach Hause. Für heute mache ich den Rest allein, es ist ja nicht mehr so viel zu tun“, schlug sie ihm vor und trat zögernd einen Schritt zurück. Ihr Blick haftete immer noch auf seinem breiten Rücken. Sekunden später, die ihr wie Minuten vorkamen, wandte er sich endlich zu ihr um und starrte sie ausdruckslos an. Dann, als ob jemand einen Knopf gedrückt hätte, kehrte plötzlich Leben in ihn zurück und seine grauen Augen begannen den stumpfen Ausdruck zu verlieren. Krampfhaft versuchte er seine Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln zu bewegen, versagte dabei jedoch kläglich. „Ich werde dir heute wohl wirklich keine große Hilfe mehr sein. Ist dann wohl wirklich besser zu gehen, oder?“
„Ich denke schon. Außerdem würde sich Max sicher freuen, wenn du mal wieder früher nach Hause kommst.“
„Na gut, dann lasse ich dich jetzt mal allein. Morgen bin ich dann wieder voll einsatzbereit.“
Er stand vor ihr, versuchte dynamisch und gut gelaunt zu wirken. Doch die breiten Schultern hingen mutlos nach vorn und er sah fast ein bisschen hilflos aus. Pat spürte, dass ihn irgendetwas beschäftigte, noch etwas anderes als der Tod seiner Frau. Schon seit Tagen war er unkonzentriert und mit seinen Gedanken woanders, doch bis jetzt hatte er noch nicht mit ihr darüber geredet.
Chris fuhr sanft mit den Fingerspitzen über ihre Wange.
„Danke, dass du für mich da bist. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne dich machen sollte.“ Dann wandte er sich ruckartig ab. Bei der Tür angekommen, drehte er sich noch einmal kurz zu Pat um. Als er sprach, klang seine Stimme verzweifelt.
„Ich vermisse sie so sehr, ab und an weiß ich einfach nicht mehr, wie ich weitermachen soll. Ich frage mich so oft, was passiert wäre, wenn ich an ihrer Stelle im Auto gesessen hätte. Ich meine, sie war unterwegs, um für mich etwas zu holen! Für mich! Also hätte ich doch in dem Auto sitzen müssen, oder etwa nicht?“
„Nein, Chris, sag so was nicht! Du kannst nichts für diesen Unfall, hör endlich auf, dir das einzureden“, unterbrach Pat ihn energisch.
Doch er ließ sich nicht stoppen, nach und nach sprudelten die Selbstvorwürfe und Schuldgeständnisse aus ihm heraus.
„Ich hab sie doch schließlich darum gebeten, dass sie mir diesen blöden Bohrer besorgt. Sie wollte eigentlich gar nicht losfahren, weil sie so starke Kopfschmerzen hatte. Aber nein, ich musste sie trotzdem dazu drängen. Ich hätte in dem Auto sitzen müssen, ich hätte umkommen müssen, nicht sie! Sie war doch so viel stärker als ich und hätte es wahrscheinlich besser verkraftet. Sie hätte sich nicht aufgegeben. Nicht so, wie ich es getan habe.“
„Hör auf, Chris! Du warst nicht schuld, das weiß jeder! Becky hätte sich nicht in den Wagen gesetzt, wenn sie es nicht gewollt hätte. Du hast sie doch zu nichts gezwungen!“ Ohne dass Pat es wollte, war ihre Stimme einige Oktaven höher gestiegen. Der Gedanke, dass sich Chris für alles die Schuld gab, tat ihr in der Seele weh, so was durfte er nicht denken.
„Doch, es war meine Schuld und das kannst du mir auch nicht ausreden!“
„Aber …“
„Nichts aber. Ich weiß, was ich getan habe und damit muss ich jetzt leben. Ich muss damit leben, Pat, nicht du! Also hör auf, dir darüber Gedanken zu machen. Ich frage mich einfach nur jeden Tag, was gewesen wäre, wenn nicht sie in dem Auto gesessen hätte, sondern jemand anderes.“
„Es saß aber kein anderer in diesem Auto! Unglücklicherweise saß Becky in diesem Auto! Sie ist umgekommen und kein anderer. Es bringt nichts, sich zu fragen, was wäre wenn, es gibt kein Wenn in diesem Fall! So leid es mir tut, Chris, sie saß am Steuer und kein anderer.“ Pat überkam sofort das schlechte Gewissen, als ihr klar wurde, wie herzlos sie klang.
Doch er bedachte sie nur mit einem letzten, rätselhaften Lächeln, was all seinen Schmerz widerzuspiegeln schien. „Vielleicht auch nicht, Pat, vielleicht auch nicht.“ Die Tür schloss sich automatisch hinter ihm und er verschwand in der Dunkelheit.
Einen Moment lang blieb Pat reglos an derselben Stelle stehen und fragte sich, was Chris mit seinen letzten Worten gemeint haben könnte. Darauf konnte sie sich keinen Reim machen. Mühsam kämpfte sie gegen die aufsteigenden Tränen. Chris hatte vielleicht recht damit, dass Becky sich nicht aufgegeben hätte, aber für sie wäre es doch genauso schlimm gewesen, wenn Chris an ihrer Stelle im Auto gesessen hätte. Pat hätte ihn ebenso vermisst wie jetzt Becky. Mit schlechtem Gewissen gestand sie sich ein, dass sie ihn vielleicht sogar ein bisschen mehr vermisst hätte als Becky. Schließlich war sie mit Chris im selben Heim aufgewachsen und hatte eine Menge mit ihm durchgemacht und erlebt. Es schmerzte sie, mit ansehen zu müssen, wie er sich selbst langsam Stück für Stück aufgab und sich die Schuld an dem Unfall gab. Pat wünschte, dass sie ihm helfen könnte, doch ließ er es nicht zu. Statt darüber mit ihr zu sprechen, wurde er immer verschlossener und zog sich zurück. Warum ließ er sich bloß nicht von ihr helfen?
Mit einem Ruck löste Pat sich aus der Starre und wandte sich ihrem Büro zu. Auf dem Weg dorthin sammelte sie den fast vergessenen Bericht vom Tisch, welchen sie noch durchlesen musste. Schließlich gab es einen Fall zu lösen und die Arbeit würde sie ablenken.
Einige Stunden später griff Pat missmutig nach dem Telefon, das auf ihrem Nachttisch lag und beharrlich klingelte. Zuerst hatte sie das Klingeln unbewusst in ihrem Traum eingebunden, bevor sie merkte, dass es real war. Verschlafen blinzelte sie den Wecker an und versuchte an den leuchtenden, grünen Ziffern zu erkennen, wie spät es war. 01.55 Uhr! Wer rief sie bloß um diese Zeit an? Pat hoffte für denjenigen, dass es wirklich wichtig war, sonst würde er sie kennenlernen und dann nicht gerade von ihrer besten Seite. Es gab nur wenige Dinge, die sie nicht mochte, und dazu gehörte eindeutig die Tatsache, dass man sie aus dem Schlaf riss.
„Baum!“, meldete sie sich mürrisch.
„Patrizia Baum?“, erkundigte sich eine sympathische und für diese Uhrzeit extrem munter klingende Frauenstimme.
„Ja, die bin ich.“ Genervt fuhr sich Pat mit der Hand durch das lockige Haar.
„Entschuldigen Sie die späte Störung, Frau Baum. Mein Name ist Hauptkommissarin Meyer vom Landeskriminalamt Hamburg! Wäre es möglich, dass Sie so schnell wie möglich zu der Wohnung von Christoph Brückner kommen?“
„Wieso? Was ist passiert?“ Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Pats Magengegend aus.
„Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Herr Brückner tot ist.“ Die Stimme am anderen Ende klang plötzlich einstudiert und emotionslos. Eine Stimme, die schon zu oft solch eine unerfreuliche Nachricht mitgeteilt hatte.
„Tot?!“, schrie Pat erstickt auf. Sie war plötzlich hellwach, kerzengrade saß sie in ihrem Bett und starrte entsetzt die Wand vor sich an.
„Frau Baum, es tut mir wirklich leid. Seine Nachbarn haben uns heute Nacht angerufen, weil sie verdächtige Geräusche aus seiner Wohnung gehört hatten. Doch leider war es schon zu spät, als wir eintrafen. Wir konnten nichts mehr für ihn tun.“
Pat lauschte der ruhigen Stimme und fühlte sich merkwürdig leer. Nach und nach bekamen die Wörter einen Sinn für sie. Plötzlich geriet von einem Moment auf den anderen ihre ganze Welt aus den Fugen. Statt der gähnenden Leere breitete sich ein heißer Schmerz in ihrem Körper aus und ließ sie vollkommen erstarren. Irgendwas lief hier ganz gewaltig schief. Chris sollte tot sein? Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein! Sie hatten doch vorhin noch miteinander gesprochen. Er wollte sich einen schönen Abend mit seinem Sohn machen. Seinem Sohn … „Max? Was ist mit Max?“, stieß sie aufgebracht hervor.
„Deswegen rufe ich an. Ihre Nummer war die einzige, die er uns genannt hat. Er sagt, dass sie seine Patentante sind?“
„Ja, das stimmt.“ Ihre Stimme klang belegt und heiser, nur mit Mühe brachte sie die einzelnen Wörter hervor. Es war fast so, als ob sie zu groß für den Mund wären und nicht herauskommen könnten.
„Für den Jungen ist es, glaube ich, am besten, wenn Sie ihn abholen. Er hat heute Nacht etwas Schlimmes erlebt und wir müssen wissen, was. Bei einer vertrauten Person wird er sich wohler fühlen.“
„Ich komme sofort vorbei.“
„Ja, gut. Ich erwarte Sie dann. Bis gleich.“ Ohne ein weiteres Wort legte die Polizistin auf.
Tausend Gedanken stürmten auf Pat ein, Tausende von Fragen wirbelten durch ihren Kopf, doch nur eine hallte ständig wie ein Echo wider. Wieso ausgerechnet Chris? Das Telefon glitt ihr aus den erstarrten Fingern und fiel geräuschvoll auf den Laminatboden. Sie fühlte sich wie in Trance. Chris, ihr bester Freund, tot! Was passierte nun mit Max? Er war jetzt Vollwaise, Großeltern hatte er auch nicht, da Becky, genau wie sie, in einem Kinderheim aufgewachsen war. Als Max’ Patentante würde sie nun die Verantwortung übernehmen müssen und sie war sich nicht sicher, ob sie das schaffen würde. Es war eine Sache, für ein paar Stunden auf ein Kind aufzupassen, jedoch eine völlig andere, wenn man plötzlich ein Kind aufziehen musste. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf und verdrängte all die Fragen, wie sie dies bloß schaffen sollte.
Vorsichtig glitt sie aus dem Bett, die Beine fühlten sich schwach und wackelig an. Einen Moment lang verharrte Pat an der Stelle und starrte die Wand vor sich an. Die unangenehme Kühle des Bodens unter ihren Fußsohlen nahm sie kaum wahr. Das Einzige, was sie spürte, war ihr Magen, der sich schmerzhaft verkrampfte. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Immer wieder musste sie daran denken, dass sie Chris nie mehr wiedersehen würde. Nie mehr würden sie zusammen lachen, nie mehr streiten und nie mehr gemeinsam durch irgendwelche dornigen Gebüsche kriechen, um einen Fall zu lösen. Er war ohne Vorwarnung einfach aus ihrem Leben verschwunden. Der Gedanke traf sie mit der Wucht eines Steinschlages und hinterließ ein verzweifeltes, hoffnungsloses Gefühl und eine tiefe Leere in ihr. Tränen schossen in ihre Augen und ließen sich nicht mehr stoppen, unaufhaltsam bahnten sie sich einen Weg über die erhitzte Wange und hinterließen einen salzigen, feuchten Pfad.
So schnell wie möglich hastete sie ins Bad und übergab sich. Über die Kloschüssel gebeugt, würgte sie keuchend, bis nichts mehr kam, dann sank sie völlig erschöpft auf den flauschigen Vorleger. Zusammengekrümmt blieb sie vor dem Klo liegen. Ihr Körper erzitterte unter den markerschütternden Schluchzern. Innerhalb eines halben Jahres hatte sie die zwei wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren und wusste nicht, wie sie das überstehen sollte. Doch nun musste sie erst einmal für Max da sein, er würde sie brauchen.
Langsam richtete Pat sich auf und atmete tief durch. Zitternd füllte sie ein Glas Wasser und spülte sich damit den Mund aus, dann griff sie nach einem Handtuch und wischte sich das nasse Gesicht ab. Sie wartete einen Moment, bis der Schwindel nachließ, ehe sie in den Flur ging und sich mit fahrigen Fingern die nächstbeste Jacke und einen rosa Mantel über ihr Nachthemd zog und in Turnschuhe schlüpfte. Rasch griff sie nach ihrer Handtasche und angelte den Autoschlüssel aus der Holzschüssel. Aufgeregt stürmte sie aus dem Haus zum Auto hin.
Ihre Hände zitterten, als sie den Schlüssel ins Schloss der Fahrertür schob, ein Tränenschleier behinderte ihre Sicht. Es dauerte eine Weile, ehe Pat das Auto starten konnte. Ärgerlich wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und gab Gas. Die Räder drehten einen Moment lang durch, kleine Kieselsteine und Erde wurden dumpf gegen die Hauswand geschleudert. Ohne nach links und rechts zu schauen, schoss sie aus der Hofeinfahrt und lenkte den Wagen mit schlingernden Bewegungen auf die Hauptstraße. Den inneren Autopiloten eingeschaltet, nahm sie kaum etwas von der Fahrt wahr. Sie kannte diese Strecke, hielt automatisch an den roten Ampeln an und bog an den richtigen Kreuzungen ab. Hätte sie später jemand gefragt, wie sie zu Chris’ Wohnung gekommen sei, sie hätte es nicht sagen können.
Becky und Chris hatten damals ganz in ihrer Nähe ein Haus besessen, doch nach Beckys Tod hatte Chris es verkauft und war mit Max in eine Eigentumswohnung auf die andere Seite der Stadt gezogen. Er hatte die Vergangenheit, die das alte Haus lebendig hielt, nicht mehr ausgehalten. Die Vorstellung, dass ihm von Becky nur noch die Erinnerungen geblieben waren, konnte und wollte er nicht ertragen.
Zu der neuen Wohnung fuhr man normalerweise nur eine Viertelstunde – jedenfalls wenn man ein gesetzestreuer, sich an die Verkehrsregeln haltender Bürger war. Wohl wissend, dass sie die Geschwindigkeitsbegrenzung deutlich übertrat, drückte Pat das Gaspedal durch und ihr Passat beschleunigte nur allzu willig. Innerhalb von acht Minuten kam sie bei Chris’ Wohnung an und ließ ihr Auto direkt am Straßenrand stehen.
Zitternd stieg sie aus dem Auto und wollte sich auf den Weg zur Wohnung machen, als ihr die verheulten Augen einfielen. Mittlerweile mussten sie schon total verquollen und rot aus-sehen. So wollte sie auf keinen Fall wildfremden Menschen gegenübertreten – nicht mit diesen Froschaugen. Hastig verschwand sie noch einmal im Wageninneren, um aus dem Handschuhfach ihre geliebte Sonnenbrille herauszufischen. Die riesigen Brillengläser verdeckten nicht nur die geröteten Augen, sondern auch einen Großteil von Pats Gesicht. Ihr war klar, dass es ein wenig merkwürdig aussehen musste, wenn sie mitten in der Nacht mit einer Sonnenbrille rumlief, aber das war ihr egal. Wichtiger war es für sie, anonym zu bleiben und den Schmerz zu verbergen. Niemand sollte wissen, wie sehr sie die Nachricht getroffen hatte.
Je näher sie dem Haus kam, desto zögerlicher wurden Pats Schritte. Sie hatte das Gefühl, als seien ihre Beine plötzlich tonnen-schwer. Jeder Schritt kostete sie unglaubliche Anstrengung. Sie wollte Chris nicht sehen, nicht in diesem Zustand. Sie wollte ihn lachend auf dem Sofa in ihrem Büro sitzen sehen, aber nicht tot in seiner Wohnung. Pat blieb stehen und be-obachtete das lebhafte Gewusel vor dem Haus. Überall standen Streifenwagen herum, die unheimliche Schatten auf die Straße und die Büsche warfen, mit ihrem blinkenden Blaulicht. Der Krankenwagen, der hier nicht mehr gebraucht wurde, fuhr gerade davon. In der dunklen Gasse, etwas abseits der Wohnung, wartete bereits der Leichenwagen auf seine Fracht. Ungewöhnlich viele uniformierte Polizisten liefen umher und sprachen in die knisternden Funkgeräte oder riefen sich gegenseitig Befehle zu. Ein kalter Schauer rann über Pats Rücken. Was war hier bloß geschehen?
Wieder krampfte sich ihr Magen zusammen, doch diesmal unterdrückte sie den Zwang, sich zu übergeben. Den Leichenwagen zu sehen, machte alles nur noch realistischer. Nie mehr würden sie und Chris ein Wort miteinander wechseln, nie mehr würde er zu ihr kommen und ihr einen guten Rat geben. Pat konnte es einfach nicht glauben. Das war alles nur ein schlechter Traum – gleich würde ihr Wecker klingeln und sie aus alledem rausreißen. Auch wenn sie sonst in regelmä-ßigen Abständen das Bedürfnis überkam, ihren Wecker gegen die Wand zu werfen, wartete sie nun geradezu sehnsüchtig darauf, dass er endlich anfing zu klingeln. Doch leider tat er ihr diesen Gefallen nicht.
Also holte sie tief Luft und ging zögernd durch das eiserne Hoftor. Ein uniformierter Polizist hielt sie gleich darauf an. „Hallo, Sie dürfen hier nicht rein! Dies ist ein Tatort und der Zutritt ist für Unbefugte nicht erlaubt!“
Unwillkürlich fragte Pat sich, ob man diese Sätze wohl neuer-dings bei der Polizeiausbildung auswendig lernte. Jeder Blödhans sah ja wohl, dass dies ein Tatort war. Allein die unzähligen Dienstwagen wiesen wie eine werbekräftige Leuchtreklame darauf hin. „Ich muss dort rein …“ Sie versuchte, im Dunklen das Namensschild des jungen Polizisten zu entziffern, was sich als gar nicht so einfach herausstellte, da sie ihre Kontaktlinsen nicht drin hatte. „… Kommissar Jakobi. Kommissarin Meyer hat mich angerufen und darum gebeten, dass ich komme. Ich möchte gern mein Patenkind abholen.“ Pat hatte gehofft, dass ihre Stimme energisch und selbstbewusst klang, doch stattdessen brachte sie nur ein heiseres Gekrächze zustande.
Misstrauisch betrachtete der Polizist die Frau vor sich. Wie eine sensationslüsterne Journalistin sah sie nun wirklich nicht aus. In dem zu großen Mantel und den schäbigen Turnschuhen glich sie eher einer von diesen Irren aus der Psychoabteilung seiner Mum. Die riesige Sonnenbrille und das zerzauste Haar bestärkten seine Befürchtung. Vorsichtig zog er sein Funkgerät vom Gürtel ab und drückte den Knopf an der Seite. „Meyer, hier ist eine Frau für dich, sie sagt, du erwartest sie. Ihr Name ist …?“, fragend blickte er Pat an. „Pat Baum!“, half sie ihm.
„Ihr Name ist Pat Baum. Wartest du auf sie?“, seine Stimme war voller Skepsis. Blechern hallte die Stimme von Kommissarin Meyer aus dem Funkgerät. „Ja klar, Jackson, schick sie hoch.“
„Okay, Sie können durch.“
„Danke.“ Erleichtert huschte sie an ihm vorbei und betrat den Fahrstuhl. Mit klopfendem Herzen fuhr sie zur Wohnung hoch. Zwar hatte sie schon des Öfteren tote Menschen ge-sehen, aber noch nie jemanden, den sie persönlich kannte. Es waren immer fremde Personen gewesen, zu denen sie keinen Bezug hatte und für die sie, außer dem normalen Mitgefühl, nichts weiter empfunden hatte. Von Beckys leblosem Körper hatte sie sich damals auch nicht verabschieden können, da der Leichnam nach dem Unfall nicht mehr für eine letzte Verabschiedung hergerichtet werden konnte. Die Verletzungen waren zu gravierend gewesen und so war sie verbrannt worden.
Die Fahrstuhltür öffnete sich quietschend und mit angehaltenem Atem betrat sie die Wohnung. Geschäftig liefen überall uniformierte und zivil gekleidete Polizisten umher, sicherten Spuren, befragten Nachbarn und machten mit blitzenden Kameras Fotos vom Tatort. Die meisten Menschen standen jedoch in der Küchentür und Pat wusste sofort, dass Chris dort drinnen liegen musste. Ohne dass sie es wollte, setzte sich ihr Körper in Bewegung. Ihre Füße machten einen Schritt nach dem anderen direkt auf die Küche zu. Die Polizisten schienen sie nicht einmal zu bemerken. Ohne aufgehalten zu werden, kam sie direkt bis an die Leiche von Chris heran. Sie keuchte entsetzt auf, als sie auf seinen leblosen Körper herabblickte.
Er war erschossen worden, das war nicht zu übersehen. Aber es war nicht nur ein einzelner Schuss, der ihn getötet hatte. Er war regelrecht durchsiebt worden. Chris’ Klamotten waren von Blut durchtränkt und unter seinem Körper hatte sich bereits eine Blutlache gebildet. Überall in der Küche hatten sich Blutspritzer verteilt, an den hellen Schränken, den gelben Wänden, selbst an den Fensterscheiben hatte sich das Blut wie feiner Nieselregen niedergelassen.
Pat wollte nur noch weg von dort, weg von dem schreck-lichen Bild, das sich ihr bot. Ihre Füße rührten sich jedoch nicht. Wie versteinert starrte sie auf die Leiche ihres besten Freundes und nahm jedes noch so schreckliche Detail wahr. Die vielen zerfetzten Schusswunden, die beinahe ein Muster zu ergeben schienen, das schmerzverzerrte, blutüberströmte Gesicht und die riesige, klaffende Wunde am Schädel. Nur zu gut konnte sie sich denken, was die graue, matschige Masse auf dem Boden war.
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ihr jemand sachte auf die Schulter tippte. „Frau Baum?“
Pat wandte sich erschrocken um. Vor ihr stand eine gut aussehende, resolut wirkende Frau mit ernsten, braunen Augen, die sie fragend anblickten.
Pat war froh, dass sie ihre Sonnenbrille aufgesetzt hatte, sie verdeckte ihr blankes Entsetzen und die aufsteigenden Tränen. Wortlos klappte sie einige Male den Mund auf und zu, ehe sie dann einfach nur zustimmend nickte.
„Ich bin Kommissarin Meyer. Wir haben gerade miteinander telefoniert.“ Die Polizistin musterte sie, registrierte das blasse, angespannte Gesicht und die verkrampfte Körperhaltung. „Lassen Sie uns doch lieber ins Wohnzimmer gehen, dann können Sie sich hinsetzen.“ Sanft umfasste Kommissarin -Meyer ihren Oberarm und führte Pat mit leichtem Druck aus der Küche. Diese drehte sich noch einmal zu Chris um, um einen letzten Blick auf ihn werfen zu können.
Wer hatte ihm das bloß angetan? Wer hatte es gewagt, ihrem besten Freund dies anzutun? Entsetzt wandte sie sich von dem grausigen Bild ab und ließ sich von der Polizistin in den anderen Raum führen.
Wie in Trance betrat Pat das Wohnzimmer und erblickte Max, der im Schlafanzug auf dem riesigen, blauen Sofa kauerte. Er wirkte so klein, so verloren. Eine junge Polizistin hockte neben ihm und versuchte ihn abzulenken, indem sie ihm eine Geschichte aus einem Buch vorlas. Pat erkannte, dass er Angst hatte und total verstört war. Es schnürte ihr die Kehle zu, als sie daran dachte, wie schlimm es für ihn sein musste, so schnell hintereinander beide Eltern zu verlieren. Er war doch erst sechs Jahre alt und hatte gar nicht die Möglichkeit bekommen zu erkennen, welch wunderbare Menschen seine Eltern waren. Gewesen waren, verbesserte sie sich augenblicklich. Sie hoffte, dass er den Mord an seinen Vater nicht mitbekommen hatte.
Max’ dunkler Haarschopf hob sich langsam und er entdeckte Pat. Mit riesigen Augen blickte er sie hilflos und stumm an. Pat eilte sofort zu ihm, um ihn zu trösten. Sie ging vor ihm in die Knie und umarmte ihn fest. Sie konnte spüren, wie der zarte Kinderkörper am ganzen Leib zitterte. Beruhigend streichelte sie ihm über sein Haar und flüsterte ihm tröstende Worte zu.
Sam Keuten war ein hartgesottener Polizist, ein Polizist, den kaum noch etwas berührte. Er hatte zu viele Dinge gesehen und erlebt, um sich irgendwelche Emotionen zu erlauben. Aber der Fall, zu dem er in dieser Nacht gerufen worden war, schlug ihm auf den Magen.
Er warf einen kurzen Blick auf den Jungen, der auf dem Sofa saß und blicklos vor sich hinstarrte. Der Kleine hatte neben seinem Vater gesessen, als die ersten Polizisten eintrafen. Immer wieder hatte er mit seinen kleinen Händchen über das Gesicht seines Vaters gestreichelt. Weinend hatte er auf den Mann eingeflüstert und ihn gebeten aufzustehen, nicht begreifend, dass sein Vater dies nicht mehr tun konnte. Meyer hatte ihm erzählt, dass sie den Jungen nur mit großer Mühe von Christoph Brückner hatten losreißen können. Sam war daher froh, dass er nicht der Erste am Tatort gewesen war. Verbrechen mit und an Kindern schlugen ihm auf den Magen, machten ihn zornig. Er kam sich in solchen Situationen immer hilflos vor. Ein Gefühl, das er hasste wie die Pest. Hilflosigkeit war etwas, was man sich heutzutage einfach nicht mehr leisten konnte.
Als er den leblosen Körper musterte, war ihm klar, dass es sich hier um ein persönliches Motiv handelte. Der Mann war nicht einfach nur erschossen, sondern regelrecht hingerichtet worden. So wurde nur gemordet, wenn man sich rächen wollte und irgendetwas für die Person empfand, die man tötete. Dies war eindeutig der Fall. Sam hoffte für den Jungen, dass dieser den Mord nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. Während er sich in der Wohnung umschaute, rieb er sich unbewusst mit der Hand über den Bauch. Sein Magen brannte mal wieder höllisch.
Eine rothaarige, junge Frau kam zusammen mit Kommissarin Meyer in das Wohnzimmer. Sie trug einen sackartigen Mantel, blaue Turnschuhe und auf ihrer Nase thronte eine riesige, schwarze Sonnenbrille, die ihr schmales, blasses Gesicht verdeckte. Es war eine merkwürdige Kostümierung für einen Mordtatort und er fragte sich unwillkürlich, warum diese Frau mitten in der Nacht mit einer Sonnenbrille herumlief. Und vor allen Dingen, warum sie ausgerechnet hier herumlief? Dies war der Schauplatz eines Verbrechens, da hatten fremde Personen nichts zu suchen! Gerade als er sich in Bewegung setzen wollte, um Meyer zu fragen, wer ihre Begleiterin war, lief die Frau auf den Jungen zu und umarmte ihn heftig. Als sie sich vor ihm niederkniete, klaffte der Mantel ein Stückchen auf und Sam konnte einen Blick auf einen weiteren Teil ihrer merkwürdigen Kostümierung erhaschen. Sie trug ein Baumwollnachthemd, auf dem Snoopy in allen Variationen abgedruckt war.
Kopfschüttelnd starrte er sie einen Moment lang an. Sie schien zu dem Jungen zu gehören, also hatte sie einen berechtigten Grund, sich hier aufzuhalten. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und wandte sich wieder seinen Kollegen zu. Es würde eine verdammt lange Nacht werden! Da sollte er sich nicht ablenken lassen von Snoopy-Nachthemden und Sonnenbrillen in der Nacht.
Pat fuhr Max zärtlich durch sein zerzaustes, braunes Haar. „Hey Spatz. Geht’s dir gut?“ Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als seine großen, grünen Augen sie hilflos anblickten. Er sah total verstört aus. Pat hatte gehofft, dass er vielleicht gar nicht realisierte, was wirklich passiert war. Aber als sie nun in sein ernstes kleines Gesicht sah, begriff sie, dass es ihm sehr wohl bewusst war. Er wusste, dass sein Vater nicht mehr zurückkommen würde. „Wollen wir fahren? Du schläfst einfach erst mal bei mir, dann muss keiner von uns beiden allein sein.“
Er nickte zögerlich. „Hm … ich möchte weg von hier, ganz weit weg.“ Seine Stimme klang dünn.
Pat umarmte ihn nochmals liebevoll. „Gut, dann geh schnell mit der netten Polizistin deine Sachen holen.“ Sie nickte der jungen Frau zu, welche neben Max saß. Diese lächelte freundlich und stand sofort auf. „Natürlich. Komm, Max.“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.
Pat fuhr ihm zärtlich durchs Haar und gab ihm einen Kuss auf seinen zerzausten Haarschopf. Dann blickte sie den beiden hinterher, wie sie den Raum verließen. Erschöpft wandte sie ihr Gesicht zu Kommissarin Meyer. „Er hat doch erst vor einigen Monaten seine Mutter verloren und jetzt das …“ Ihre Stimme versagte.
Kommissarin Meyer sah mitfühlend auf sie herab und ließ sich dann neben ihr auf dem Sofa nieder. „Frau Baum, es tut mir leid. Für Sie und für den Jungen. Als wir eintrafen, saß er neben der Leiche seines Vaters und ich habe ihn nur mit Mühe und Not von ihm lösen können. Er wird Hilfe brauchen, um das zu verarbeiten.“
„Er saß neben Chris? Meinen Sie, er hat … dass er den Mörder gesehen hat?“, erkundigte sich Pat schockiert.
„Ich hoffe nicht, er hat bisher nichts dazu gesagt. Wir müssen herausfinden, was wirklich passiert ist. Was der Junge alles gesehen hat. Ich weiß ja nicht, in welcher Beziehung Sie zu Christoph Brückner gestanden haben, aber …“
„Er ist … nein, war mein Geschäftspartner und mein bester Freund. Ich kannte ihn schon seit Ewigkeiten.“ Pat kam der Polizistin zuvor, bevor diese falsche Schlüsse zog. „Wir sind zusammen in einem Heim aufgewachsen. Ich kenne ihn fast mein Leben lang! Wir haben vor drei Jahren zusammen eine Privatdetektei aufgemacht und …“ Ihre Stimme brach wieder und sie blickte Kommissarin Meyer wortlos an.
Diese musterte sie mit neu erwachtem Interesse. „Ach, Sie und Herr Brückner sind Privatdetektive? Das ist ja interessant, wissen Sie, ob …“
Bevor die Polizistin die Frage beenden konnte, wurde sie rüde von einem gut aussehenden, dunkelhaarigen Mann unterbrochen. „Lucy, ich denke, für heute reicht es! Wir können alles Weitere morgen früh mit ihr klären.“
„Aber ich wollte gerade Frau Baum fragen, ob …“
„Jetzt nicht!“ Ein warnender, fast kalter Ausdruck trat in seine Augen und Kommissarin Meyer gab widerwillig nach. Sie wusste mittlerweile, wann es besser war, bei ihm nachzugeben. Wortlos beobachtete die Polizistin ihn dabei, wie er sich zu der Frau umwandte.
„Kommissar Keuten, der leitende Ermittler in diesem Fall.“ Er streckte ihr höflich seine Hand entgegen. Vorsichtig ergriff Pat sie und erwiderte seinen festen und warmen Händedruck. Sam registrierte in Sekundenschnelle das schmale, sommersprossige Gesicht und die Anspannung, unter der die Frau stand. „Hier haben Sie meine Karte. Melden Sie sich doch bitte morgen früh bei uns. Wir haben noch einige Fragen an Sie. Ich denke, für den Jungen ist es im Moment am besten, wenn er so schnell wie möglich von hier wegkommt.“
Pat nahm seine Visitenkarte mit spitzen Fingern entgegen und steckte sie in ihre Manteltasche, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen. „Ich werde mich bei Ihnen melden, Kommissar Keuten.“ Sie starrte ihn einen Moment lang an, sie hatte das Gefühl, ihn von irgendwoher zu kennen. Die Frage war bloß, woher? Ihr Blick glitt zu Kommissarin Meyer. Diese fixierte missmutig ihren Kollegen und schien gar nicht glücklich über seine Unterbrechung zu sein. Doch Pat hatte jetzt keinen Nerv, sich auch noch über die Machtspiele von Polizisten Gedanken zu machen. Daher bat sie um des lieben Friedens willen auch Kommissarin Meyer um ihre Visitenkarte.
Sofort griff diese in die Innentasche ihres schwarzen Jacketts und beeilte sich, Pat ihre Karte in die Hand zu drücken. „Sie können mich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen!“ Selbstzufrieden blickte sie ihren Kollegen an, doch dieser hatte seine Aufmerksamkeit bereits wieder Pat zugewandt.
„Frau Baum, wir sehen Sie dann morgen auf dem Revier!“ Er wollte gerade gehen, als ihm noch etwas einfiel. „Es tut mir sehr leid, was mit Ihrem Freund passiert ist. Wir werden alles tun, um seinen Mörder zu finden.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging zu einem der Spurensicherer.
Pat sah Kommissar Keuten nachdenklich hinterher und überlegte, woher sie ihn kannte. Sie hatte ihn schon mal gesehen, kam aber im Moment einfach nicht darauf, wo.
Max riss sie aus ihren Überlegungen, indem er zögerlich nach ihrer Hand griff. „Können wir gehen?“ Die Frage klang drängend und ihr wurde klar, wie schnell er von hier weg wollte. „Natürlich, mein Schatz, lass uns fahren.“
Sie verabschiedete sich von Kommissarin Meyer und versprach ihr, sich so schnell wie möglich am nächsten Morgen wegen der Vernehmung zu melden. Sie hob Max hoch und trug ihn aus dem Raum. Obwohl er sich unter normalen Umständen gegen so etwas mit Händen und Füßen wehrte, schließlich war er schon sechs Jahre alt und ging in die Schule, legte er nun seine Arme um ihren Hals und kuschelte sich eng an sie. Nur zu gern ließ er sich von diesem Ort des Grauens wegbringen.
Pat schnappte sich noch schnell den kleinen Koffer und verließ eilig den Schauplatz der Tragödie. Die letzte Verbindung zu Chris war gerissen. Sie wusste, dass nun sowohl für sie als auch für Max ein neues Leben begann, und hoffte, dass sie alles im Sinne von Becky und Chris bewältigen würde. Denn das war sie ihnen schuldig.
Sam schmiss seinen Autoschlüssel auf den gefliesten Küchentresen und ging direkt ins Badezimmer. Schon auf dem Weg dorthin begann er sich auszuziehen und ließ die Kleidungsstücke achtlos auf den dunklen Holzboden fallen. Das Einzige, was er jetzt noch wollte, war eine heiße Dusche und ein paar Stunden Schlaf. Er war seit über 24 Stunden unterwegs und das Bett schrie geradezu nach ihm. Völlig erschöpft stellte er sich unter die Dusche und drehte den Wasserhahn auf. Das heiße Wasser prasselte kraftvoll auf ihn herab und löste die verspannte Nacken- und Rückenmuskulatur. Lange Zeit stand er nur so, die Hände an der Wand abgestützt, reglos unter der Dusche und ließ das Wasser warm und entspannend an sich herunterrinnen.
Seine Gedanken glitten zu Patrizia Baum. Wie sie auf dem Sofa gesessen hatte, so hilflos und unendlich traurig. Er hatte geahnt, dass Meyer die Vernehmung am liebsten sofort durchgeführt hätte, das freudig erregte Glitzern in ihren Augen hatte sie verraten. Doch Patrizia Baum war noch nicht bereit gewesen für eine Befragung. Sam hatte erkannt, dass sie kurz vor dem Zusammenbrechen war. Deshalb war er dazwischen gegangen und hatte seine Kollegin unterbrochen. Sam wusste, dass Meyer dachte, er hätte sie mit Absicht unterbrochen, nur um sich aufzuspielen. Doch er hatte es nur getan, weil sie ab und zu über ihr Ziel hinausschoss und dabei sehr taktlos vorgehen konnte. Sie war eine großartige Polizistin, keine Frage, aber Taktgefühl war etwas, was sie erst noch lernen musste.
Seine Gedanken beschäftigten sich wieder mit Pat. Er hatte sie nicht sofort wiedererkannt, da ihr Gesicht durch die Sonnenbrille verdeckt gewesen und ihr rotes Haar länger geworden war. Ansonsten hatte sie sich nicht viel verändert. Die zierliche Figur, die ruhige, exotische Stimme und dieser Tick mit dem Nasetippen. Pat und er hatten vor einigen Jahren zusammen bei der Polizei Hannover ihre Ausbildung gemacht. Während er ein Hans Dampf in allen Gassen gewesen war, hatte sie sich still und unauffällig verhalten. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie je etwas mit den anderen Arbeitskollegen unternommen hätte. Sie schien mehr der Einzelgängertyp zu sein. Er selbst hatte nie viel mit ihr zu tun gehabt und nach der Ausbildung auch gar nicht versucht, mit ihr in Verbindung zu bleiben. Später hatte er gehört, dass Pat vor drei Jahren den Dienst von einem Tag auf den anderen ohne ersichtlichen Grund quittiert hätte. Nun fragte er sich nach dem Anlass.
Sam stellte die Dusche ab, trocknete sich rasch und fiel dann, nackt wie er war, in sein Bett. Kaum hatte sein Kopf die Kissen berührt, war er auch schon eingeschlafen. Als Polizist lernte man, die kurzen Zeiten, die es zum Schlafen gab, auch zu nutzen. Unruhiges Hin- und Herwälzen gab es bei Sam nie. Jede Sekunde des erholsamen Schlafes zählte, da konnte man sich Schlaflosigkeit nicht leisten.
Als Pat langsam ihre Augen öffnete, hatte sie das Gefühl, nur wenige Sekunden geschlafen zu haben. Draußen war es noch dunkel, nur die Straßenlaternen warfen ein wenig Licht ins Schlafzimmer. Mit brennenden Augen betrachtete sie den Jungen, der neben ihr im Bett lag. Sie hatte kaum einschlafen können, da Max lange Zeit einfach nur geweint hatte. Mit viel Geduld war es ihr irgendwann gelungen, den Jungen zu trösten und zu beruhigen. Nur zu gut verstand sie den Schmerz, den das Wissen, nun beide Eltern verloren zu haben, ihm bereitete.
Jetzt lag er eng an sie gekuschelt und atmete ruhig und gleichmäßig. Pat strich ihm vorsichtig über den braunen Haarschopf und fragte sich verzweifelt, wie sie bloß die nächsten Tage überstehen sollte. Chris war ein wichtiger Teil ihres Lebens. Er war ihr Partner gewesen, ihre Vernunft, ihr Gewissen, ihr Planer, ihr Freund. Nicht nur ihr Freund, sondern auch der Bruder, den sie nie hatte. Und nun würde sie mit dem Chaos, das sie in regelmäßigen Abständen zu veranstalten pflegte, selbst klarkommen müssen. Es gab keinen Chris mehr, der sie auf den Boden der Tatsachen zurückbrachte und sie zwang, erst zu denken und dann zu handeln. Von nun an war sie auf sich selbst gestellt und das machte ihr Angst.
Es gab eine Menge zu regeln, die Polizeivernehmung, das Jugendamt und dann die Arbeit. Es hatte lange gedauert, bis ihre Detektei richtig lief, sie konnte jetzt keine Fälle abgeben. Die Frage war, wie würde sie all das schaffen?
Den Morrison-Fall, den würde sie in null Komma nichts erledigen. Die Frau wollte nur wissen, ob ihr Mann irgendein Geheimnis hatte, da er jeden Abend einfach wortlos für ein paar Stunden verschwand. Sie hatte schon sämtliche Beweise, die sie brauchte, um ihn zu überführen. Doch was war mit dem Rest?
Pat wollte selbst Nachforschungen zum Tod von Chris anstellen. Sie wusste nur zu gut, was mit Fällen passierte, welche nicht innerhalb einiger Wochen geklärt wurden. Schließlich hatte sie lange genug bei der Polizei gearbeitet. Pat konnte den Gedanken, dass Chris’ Fall in irgendeiner Akte in einem stau-bigen Karton endete, nicht ertragen. Sie war es ihm schuldig herauszufinden, was passiert war und wer ihn umgebracht hatte. Da kam es gelegen, dass sie noch Kontakte zur Polizeiverwaltung und zur Gerichtsmedizinerin hatte. Dort würde sie sich die nötigen Informationen beschaffen und Nachforschungen anstellen. Der Bastard würde ihr nicht entkommen! Oh nein, dafür würde sie schon sorgen!
Ihr Blick fiel wieder auf den Jungen, der neben ihr lag, das braune Haar zerzaust, den Mund leicht geöffnet, er schlief fest. Am nächsten Morgen würde Pat als Erstes zum Jugendamt marschieren, um dort die Angelegenheit des Sorgerechts zu klären. Danach wollte sie sich mit der Polizei in Verbindung setzten, um einen Termin für die Vernehmung zu vereinbaren. Ihr Büro musste morgen geschlossen bleiben, das musste die Detektei aushalten, schließlich war sie die letzten zweieinhalb Jahre ununterbrochen geöffnet gewesen.
Sie ließ sich in die weichen Kissen zurücksinken und versuchte, noch eine Mütze Schlaf zu bekommen, ehe der Tag begann. Sie konnte es sich im Augenblick nicht leisten, müde zu sein.
Am nächsten Morgen eilten Pat und Max durch die engen, dunklen Flure des Jugendamtes. Der Junge folgte nur mühsam ihrem hastigen Schritttempo. Er hatte das Gefühl, wie ein alter Hund hinter ihr her gezogen zu werden. Da beide in der Nacht kaum ein Auge zugetan hatten, war es geradezu vorprogrammiert gewesen, dass sie verschliefen. In aller Eile hatte sie sich etwas angezogen und Max geweckt. Zum Frühstück waren sie an einen McDrive-Schalter gefahren. Sie wollte diese Angelegenheit so schnell wie möglich regeln, nicht dass sie nachher noch eine unangenehme Überraschung erlebte. Darauf konnte sie wirklich verzichten! Aus eigener Erfahrung wusste sie nur zu gut, dass das Jugendamt nicht immer die richtigen Entscheidungen traf.
In ihrer Hast wäre Pat beinahe an der richtigen Tür vorbeigelaufen. Ruckartig blieb sie stehen. Max, der damit nicht gerechnet hatte, prallte gegen ihren Körper. Fragend blickte er zu ihr auf. Sie drückte ihm sanft die Hand. „Entschuldigung, wir müssen hier rein, haben es leider nicht gleich gesehen.“