Niemals vergeben, niemals vergessen - Mary Burton - E-Book

Niemals vergeben, niemals vergessen E-Book

Mary Burton

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die perfekte Mischung aus Hochspannung und tiefen Gefühlen

Ein einziger verheerender Augenblick hat Greer Templetons Leben zerstört und das zweier anderer Menschen beendet. Als Jahre später ein Toter auf ihrem Grundstück in Texas gefunden wird, ist Greers Albtraum zurückgekehrt. Die junge Frau hatte gehofft, sie könne ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Doch der besessene Killer hat das Band, das zwischen ihnen geknüpft wurde, keineswegs vergessen. Ein Opfer nach dem anderen bringt der Wahnsinnige zu Fall, um zu beenden, was er einst begann. Greers einzige Hoffnung ruht jetzt auf Tec Bragg - dem attraktiven Texas Ranger, der in diesem Fall ermittelt ...

Weitere Romantic-Suspense-Titel von Mary Burton bei beTHRILLED:

Die Alexandria-Reihe: Das Flüstern der Albträume. So still die Toten. Der Preis der Sünde.

Die Richmond-Reihe: Mein Wille sei dein Wille. Niemand hört dich schreien.

Die Texas-Reihe: Das siebte Opfer. Dunkles Leid. Niemals vergeben, niemals vergessen.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 534

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

Epilog

Weitere Titel der Autorin

Die Alexandria-Reihe

Band 1: Das Flüstern der Alpträume

Band 2: So still die Toten

Band 3: Der Preis der Sünde

Die Richmond-Reihe

Band 1: Mein Wille sei dein Wille

Band 2: Niemand hört dich schreien

Die Texas-Reihe

Band 1: Das siebte Opfer

Band 2: Dunkles Leid

Über dieses Buch

Die perfekte Mischung aus Hochspannung und tiefen Gefühlen …

Ein einziger verheerender Augenblick hat Greer Templetons Leben zerstört und das zweier anderer Menschen beendet. Als Jahre später ein Toter auf ihrem Grundstück in Texas gefunden wird, ist Greers Albtraum zurückgekehrt. Die junge Frau hatte gehofft, sie könne ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Doch der besessene Killer hat das Band, das zwischen ihnen geknüpft wurde, keineswegs vergessen. Ein Opfer nach dem anderen bringt der Wahnsinnige zu Fall, um zu beenden, was er einst begann. Greers einzige Hoffnung ruht jetzt auf Tec Bragg – dem attraktiven Texas Ranger, der in diesem Fall ermittelt …

Über die Autorin

Mary Burton ist im Süden der USA aufgewachsen und hat an der Universität von Virginia Englisch studiert. Nach einer Karriere im Bereich Marketing begann sie äußerst erfolgreich Thriller zu schreiben. Burton lebt und arbeitet in Virginia. Weitere Informationen über die Autorin finden Sie unter: www.maryburton.com.

MARY BURTON

Niemals vergeben, niemals vergessen

Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Will

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2014 by Mary Burton

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »You’re not safe«

Originalverlag: Zebra Books als Teil der Kensington Publishing Corp., New York, NY, USA

Published by arrangement with Kensington Publishing Corp., New York, NY, USA.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2017/2019 by LYX/Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Hannah Brosch

Covergestaltung: Tanja Østlyngen unter Verwendung von Motiven von © AlexanderTrou | Pavel Rezac

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-7560-2

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

Hill Country, Texas

Montag, 2. Juni, 1:00 Uhr

Ein heftiger Kater setzte Rory Edwards zu, als er beim Aufwachen feststellte, dass eine Henkerschlinge um seinen Hals lag. Seine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt, und er stand auf der offenen Ladefläche eines Pick-ups. Er wand sich und versuchte, sich loszureißen, doch das Hanfseil schnitt ihm schmerzhaft tief in den bereits blutverschmierten Hals und die Handgelenke.

Was zum Teufel?

Er blinzelte die verklebten Augenlider frei und schaute nach oben zu dem dicken Seil, das über dem stämmigen Ast eines entfernten Baumes lag und sich von dort aus über die knorrige Rinde bis zu einem festen Knoten am Fuß des Stammes schlängelte.

Scheiße.

Er hatte in seinem Leben ja schon viel Blödsinn angestellt, aber wie war er hier nur gelandet?

Mit wachsender Panik blickte er sich auf dem vom Vollmond beschienenen Gelände um, sah jedoch nichts als Dickicht, Bäume und einen Streifen festgetretener Erde, zu primitiv, um als Straße bezeichnet zu werden. Er wusste nicht, wo er war, hatte jedoch ein beklemmendes Gefühl von Einsamkeit. Wo auch immer er sich befand, hier gab es weit und breit keine Menschenseele. In Texas gab es Hunderttausende Hektar ödes Ackerland, wo ein Mann sterben konnte, ohne dass man ihn jemals fand. In der Ferne heulte ein Kojote.

Panische Angst erfasste ihn. Scheiße. Scheiße. Scheiße. Er riss an seinen Handfesseln, doch als das Seil nicht nachgab, konnte er seine Furcht nicht länger im Zaum halten.

»Hilfe!« Immer wieder schrie er, bis seine Kehle wund war. Niemand kam.

Nach Luft ringend verdrehte er den Hals, um mehr von seiner Umgebung zu sehen, doch als er sich vorbeugte, verlor er den Boden unter den Füßen und wäre beinahe von der Ladefläche gerutscht. Jeder Muskel seines Körpers verkrampfte sich, er trat wild um sich und warf sich nach hinten, bis er wieder Boden unter den Füßen hatte. Inzwischen hyperventilierte er, und erst Minuten später hatte er sich so weit beruhigt, dass er wieder klar denken konnte.

Diesmal sah er sich fieberhaft um, bis sein Blick an einem Foto hängenblieb, das an dem Galgenbaum befestigt war. Es war ein altes Bild, zerknittert, mitgenommen und verblichen. Er erkannte es sofort. Über zwölf Jahre hatte er dieses Foto in seiner Brieftasche mit sich herumgetragen und wie seinen Augapfel gehütet. In unzähligen Nächten hatte er es sich angesehen und Kraft daraus geschöpft, wenn ihm das Leben wieder einmal übel mitspielte.

Tränen stiegen ihm in die Augen.

Auf dem verblichenen Foto sah man einen lächelnden, jungen Rory, hochgewachsen und breitschultrig. Das dichte, sonnengebleichte Haar fiel ihm über die durchdringenden blauen Augen. Die gebräunte Haut betonte das schiefe, hinreißende Lächeln. Sein Arm lag um die Schultern eines zierlichen blonden Mädchens. Sie war hübsch. Sie sah zwar nicht so blended aus wie Rory, aber ihr Lächeln hatte etwas Magnetisches. Auf den ersten Blick wirkte Rorys Umarmung zwanglos und lässig. Zwei verliebte Teenager. Doch bei genauerem Hinsehen sah man die kaum merkliche Anspannung in seiner Miene und die Verzweiflung, die in seinem Blick lag. Der junge Rory hielt das Mädchen ein wenig zu fest, zu ängstlich im Arm.

Damals war er so sehr mit sich selbst und seinen Sorgen beschäftigt gewesen. Nie hatte er sich die Mühe gemacht, hinter die Fassade ihres gezwungenen Lächelns zu blicken. Er hatte sich nie um ihre Gefühle geschert. Niemals. Wenn er sie wirklich wahrgenommen hätte, wäre ihm doch aufgefallen, dass sie nicht glücklich war. Ja, sie lächelte, aber ihre vollen Lippen bildeten oft einen schmalen Strich, und in ihren blauen Augen spiegelten sich die Kämpfe, die sie mit sich selbst auszufechten hatte. Sie hielt sein Shirt umklammert, als wäre ihr klar, dass zwei Ertrinkende einander nicht retten konnten.

Wenn er nur etwas weniger selbstsüchtig gewesen wäre, wäre ihm aufgefallen, wie traurig sie war. Anstatt ihr leere Komplimente ins Ohr zu flüstern oder sie zu küssen, wenn sie reden wollte, hätte er ihren Schmerz lindern können. Er hätte so viel für sie tun können. Und hatte es doch nicht getan.

Die doppelte Last aus Bedauern und Versagen drückte ihn nieder, als er sie ein letztes Mal um Hilfe anflehte. »Es tut mir leid, Elizabeth. Rette mich. Bitte, nur noch ein einziges Mal. Lass mich nicht sterben. Rette mich.«

Aus der Dunkelheit hinter ihm drang leises Gelächter. »Wie oft soll Elizabeth dich denn noch retten, Rory?« Die tiefe, klare Stimme verursachte ihm eine Gänsehaut. »Meinst du nicht, dass sie mal eine Pause von deinem ständigen Gejammer verdient hat?«

Über die Stimme erschrocken zerrte Rory an seinen Fesseln. »Wer sind Sie?«

Schweigen.

»Wieso tun Sie das?«

Lachen.

Am Rand seines Blickfelds nahm er im Schatten eine Bewegung wahr, dann flammte ein Streichholz auf, als der Fremde sich eine Zigarette anzündete.

Rory verrenkte sich den Hals, um das Gesicht des anderen sehen zu können, doch das Seil schnitt schmerzhaft in seine Haut, also ließ er es wieder bleiben. Der beißende Rauch stieg aus dem Schatten heraus. »Wer sind Sie?

Ohne auf die Frage einzugehen, sagte die Stimme: »Wie viele Tage Trockenheit hast du gestern Abend ausradiert? Zweihundertfünf oder zweihundertsechs?«

Zweihundertsechs nüchterne Tage hatten Rory Selbstvertrauen geschenkt und ihn mit Stolz erfüllt. Er hatte geglaubt, nie mehr rückfällig zu werden. Und doch hatte er all diese Monate mutwillig weggeworfen. Er blickte auf den kargen Acker, der so fruchtlos war wie seine Versprechungen, nüchtern zu werden. Scheiße. Wie hatte er nur so leichtsinnig sein können?

Die Dämonen, die ihn so viele, viele Jahre lang verfolgt hatten, flüsterten ihm jetzt Worte zu, die er nur allzu gut kannte. Loser. Dummkopf. Versager.

Scheiße. Er hatte geglaubt, die Sache mit dem Trinken im Griff zu haben. Tränen stiegen ihm in die Augen und liefen ihm über die Wangen.

Loser. Dummkopf. Versager.

Am liebsten wäre er angesichts der Worte von der Ladefläche hinunter ins Leere getreten, damit das Seil seinem Leiden ein Ende setzte. Wer würde schon Notiz davon nehmen? Wen würde es kümmern? Wahrscheinlich niemanden.

Und doch hing er an seinem Leben. »Ich will nicht sterben. Ganz gleich, was ich Ihnen getan habe, ich bringe es in Ordnung. Ich mache es wieder gut.«

»Wie willst du das denn anstellen?«

»Ich weiß nicht.«

Der Fremde lachte. »Begreifst du denn nicht? Die einzig wahre Lösung ist der Tod.«

Rory schluckte. Seine Kehle war wund. »Es ist noch nicht zu spät. Wirklich. Ich kann wiedergutmachen, was ich getan habe. Mein Bruder hat Kohle. Er kriegt das wieder hin. Sagen Sie mir einfach, was Sie von mir wollen.«

Der Fremde verließ den Schatten und ging zu dem Baum hinüber. Rory erhaschte einen kurzen Blick auf eine rote Schirmmütze und eine dicke blaue Jacke, in der eine schmale Gestalt steckte. Sein Peiniger warf die Zigarette weg, und das von der sommerlichen Dürre trockene Gras raschelte unter seinen Füßen, als er die Glut austrat.

Rory verdrehte die Augen nach links, wo der andere gerade noch zu sehen war. »Ach, kommen Sie schon.« Nackte Verzweiflung lag in seiner Stimme. »Ich mach’s wiedergut.«

»Dich selbst kannst du ja gern verarschen, aber wir werden nicht auf dich reinfallen, Rory. Du kannst es nicht wiedergutmachen. Du hast es nicht in den Genen.«

Rorys hagerer Körper zitterte, und er nässte sich ein. »Was wollen Sie dann, zum Teufel?«

»Wir wollen dir nicht wehtun, Rory. Wir wollen nur deinem Leiden ein Ende setzen.«

»Ich leide doch gar nicht!« Er rang sich ein Lächeln ab, das Lächeln der Beute im Angesicht des Raubtiers. »Ich lebe mein Leben, so gut ich kann.«

»Es ist ein mieses, jämmerliches Leben, Rory.«

Rory riss an den unzerreißbaren Fesseln. »Aber es ist mein Leben, und ich habe ein Recht darauf. Ich werde wieder trocken. Ich fange neu an.«

»Ich weiß, dass du Angst hast.« Die Stimme des Fremden wurde freundlicher. »Ich weiß, dass du nicht den Mut hast, das hier durchzuziehen. Sieh dir das Foto an, Rory. Selbst als du noch alle Möglichkeiten hattest, hast du dich an die kleine Elizabeth geklammert, die sich kaum um sich selbst kümmern konnte.«

»Ich will nicht sterben!«

»Glaubst du wirklich, Elizabeth wäre der Meinung, dass dein Leben sich lohnt?«

»Elizabeth war sanft und freundlich. Sie würde wollen, dass ich weiterlebe.«

»Wirklich? Du hast ihr schrecklich wehgetan. Sie enttäuscht, als sie dich am meisten gebraucht hat. Und dann hast du auch noch alles vermasselt, was deine Familie für dich getan hat. In den letzten zehn Jahren hattest du einen Scheißjob nach dem anderen, und du hast es geschafft, zweihundertsechs Tage ohne Alkohol an einem einzigen Abend wegzuwerfen. Du redest von deinem Bruder, aber in den letzten Jahren wollte er kein einziges Mal mit dir telefonieren.«

Den letzten Weg zu seinem Bruder hatte Rory sich verbaut, als er im Vorjahr nicht zur Beerdigung seiner Mutter gefahren war. »Ich habe nie behauptet, ein Heiliger zu sein.«

»Irgendwie weißt du doch selbst, dass du kein Recht auf Glück hast.«

Rory hatte nie einen Bürojob oder das Gefängnis des Familienbetriebs für sich gewollt wie sein Bruder. »Ich kann mit Glück sehr wohl etwas anfangen. Ich amüsiere mich andauernd.«

»Was glaubst du, wann haben deine Schwierigkeiten begonnen, Rory? Wann ist dein Leben aus dem Ruder gelaufen?« Die Stimme des Fremden klang leise, aber klar. Und inzwischen ein wenig vertraut.

Rory durchforstete sein Gedächtnis, um die Stimme einzugrenzen. Wo waren sie einander begegnet? Am Abend zuvor war er in diese Bar in East Austin gegangen. Man hatte ihm einen Job versprochen, und er hatte eigentlich gar nicht hineingehen wollen, aber die Aussicht auf Arbeit war zu verlockend gewesen. Wer?

»Dass ich kein Musterknabe bin, bedeutet noch lange nicht, dass ich ein schlechter Mensch bin.«

Das Schnalzen eines Feuerzeugs, dann noch mehr Rauch von einer neuen Zigarette. »Ich glaube ja, es war schon am Tag deiner Geburt mit dir vorbei, Rory. Ich glaube, du konntest deinem Bruder nie das Wasser reichen. Ihn haben deine Eltern geliebt. Er war es, der ihre Aufmerksamkeit und Unterstützung hatte.«

Die schmerzliche Wahrheit, ausgesprochen von dem Fremden, ließ den alten Zorn in ihm auflodern, der ihn immer zu Unbesonnenheiten verleitet hatte, dessentwegen er von einer Schule nach der anderen geflogen und in viel zu vielen Gefängnissen gelandet war. »Hat mein Bruder Sie geschickt? Ich weiß, dass er mich schon lange loswerden will.«

»Es wird Zeit, dass du diese Welt verlässt und in die nächste eintrittst. Sieh der Tatsache ins Auge.«

Helle Panik löschte Rorys Zorn aus. »Das ist nicht wahr!«

»Natürlich ist es wahr.« Immer noch war die Stimme des Fremden leise, gelassen und so vernünftig. »Du warst das Versehen. Das Kind, das keiner wollte. Schon traurig, wenn die Eltern ihr eigenes Fleisch und Blut nicht wollen.«

Rory legte den Kopf in den Nacken und blickte von dem Foto weg, hinauf in den mondhellen Himmel. »Hören Sie auf.«

»Es ist nicht gut, den Schmerz zu verdrängen, Rory. Man sollte ihm lieber ins Auge sehen und damit fertig werden. Gib es doch zu. Deine Eltern wollten dich nicht.«

Rorys Augen brannten. Er war einunddreißig, konnte einen Motor kurzschließen, jedes Schloss knacken und sogar dann noch gerade gehen, wenn er eine Flasche Schnaps intus hatte. Er hatte sich ein dickes Fell zugelegt, aber die Worte das Fremden rissen die alte Wunde auf und machten aus ihm wieder das traurige, bemitleidenswerte Kind von damals. »Das ist nicht wahr.«

»Na los, Rory, jetzt ist die Zeit, um ehrlich zu sein. Die Stunde der Wahrheit. Der Schmerz war tief in dir vergraben und hat sich zwar ziemlich wirkungsvoll hinter einer Flasche versteckt, aber er ist trotzdem da.«

Rory schaute zu Elizabeths Gesicht hinüber und ballte die Hände zu Fäusten. »Wer hat Sie geschickt?«

»Niemand hat uns geschickt, Rory. Du hast uns hierher bestellt.«

»Was zum Teufel meinen Sie damit?«

»Du hast uns gerufen. Dein Leid hat uns angelockt. Ich bin nur gekommen, um dich von deinen Schmerzen zu befreien.«

Rory drehte den Kopf zu dem Fremden, wobei er auf der Ladefläche des Pick-ups aus dem Gleichgewicht geriet und bis zum Rand schlitterte. Mit wild hämmerndem Herzen brüllte er: »Ich will nicht, dass Sie mich von meinem Schmerz befreien! Ich mag mein Leben!«

»Wann hast du Elizabeth zum letzten Mal gesehen?«

»Woher kennen Sie Elizabeth?«

»Ich weiß alles über sie.«

Selbst jetzt, in dieser Lage fand Rory Trost darin, ihren Namen zu hören und sie und ihre blassblauen Augen anzusehen. »Sie hat gesagt, dass sie mich liebt.«

»Und ich glaube, das hat sie wirklich getan. Sie war bereit, für dich zu kämpfen. Und du hast alle ihre Briefe ungelesen zurückgeschickt.«

Neue Tränen liefen ihm über das Gesicht. »Ich habe sie nicht zurückgeschickt. Ich habe Elizabeth geliebt.«

»Es sind unsere Taten, die uns ausmachen, Rory, nicht unsere Worte.«

Rory zuckte zusammen. Es schockierte ihn, dass ein Fremder derart geheime, intime Einzelheiten über ihn wusste. »Woher wissen Sie das alles über mich?«

»Ich weiß eine Menge über dich. Und über Elizabeth. Und die anderen. Ich kenne alle eure geheimsten Wünsche.«

»Das tun Sie nicht.«

»Du hast einmal gesagt, du würdest als glücklicher Mensch sterben, wenn du als letztes Gesicht das von Elizabeth siehst. Stimmt das nicht?«

»Zum Teufel mit Ihnen!«, fauchte Rory.

»Ich bin hier, um dir diesen letzten Wunsch zu erfüllen. Niemand sollte in den Tod gehen, ohne dass man ihm den letzten Wunsch erfüllt.«

Der Fremde trat die Zigarette aus und öffnete die Fahrertür des Pick-ups. Er ließ sich auf den Stoffbezug gleiten, dann schlug die Tür zu. Der Motor wurde angelassen und heulte auf.

Rory machte sich bereit.

Er schaute zu Elizabeths lächelndem Gesicht. In diesen letzten Augenblicken beachtete er ihre Anspannung nicht und sah nur ihr Lächeln, ihre glatte Haut und ihr blondes, sorglos über die Schulter gestrichenes Haar.

In diesen letzten Sekunden kehrte er wieder zu dem Abend am Lagerfeuer zurück. Sie war lachend zum Feuer gelaufen und hatte sich wenige Sekunden vor dem Schnappschuss an ihn geschmiegt. Er hatte sie fest an sich gezogen und es der abendlichen Kühle zugeschrieben, dass ihr Körper sich versteifte.

Rory biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Er richtete sich auf. Für sie würde er wie ein Mann sterben. »Ich liebe dich, Elizabeth.«

Wieder heulte der Motor des Pick-ups auf, und langsam entfernte sich die Ladefläche von dem Baum. Obwohl Rory wusste, dass er seinen Fesseln nicht entkommen konnte, warf er sich hin und her und stemmte die Stiefelabsätze gegen die rostige Heckklappe. Die Schnur zog sich fest um die wunden Handgelenke zusammen, und seine Füße wurden zum Rand der Ladeklappe gezogen.

Sekunden dehnten sich zu Stunden, als seine Stiefel über die letzten Zentimeter Metall schleiften und er vom Rand der Ladefläche hinabsackte. Die Schlinge zog sich zusammen und schnitt noch tiefer in seine Haut. Heftiger Schmerz durchzuckte ihn. Je stärker er zappelte, desto mehr zog sich die Schlinge zusammen und zerquetschte ihm die Luftröhre, während seine Beine nur wenige Zentimeter über dem Boden um sich traten. Nach Luft ringend, doch ohne seine Lunge füllen zu können, baumelte er strampelnd hin und her, während das Seil ihm immer tiefer in den Hals schnitt.

Vage nahm er wahr, dass der Pick-up gehalten hatte. Der Rauch einer neuen Zigarette stieg ihm in die Nase. Der Fahrer war ausgestiegen, um zu rauchen und ihm beim Baumeln zuzusehen.

Er bleibt hier, um den Anblick zu genießen.

Jetzt wurde ihm schwindlig, und Speichel lief ihm aus dem Mund. Während ihm langsam schwarz vor Augen wurde, betrachtete er weiter Elizabeths Gesicht.

Ich liebe dich.

Dann entglitt sein Leben ihm endgültig.

»Binde ihm die Hände los.«

Ihre Stimme hatte einen schrillen Unterton, der Jackson schaudern ließ. Aus Trotz ignorierte er sie und sah weiter zu Rorys schaukelndem, leblosem Körper hinüber. Rorys Kopf war zur Seite gekippt. Seine Augen starrten blicklos in den Himmel. Die Zunge hing ihm aus dem Mund.

»Binde ihm die Hände los«, verlangte sie.

Er seufzte. »Warum?«

»Gefesselte Handgelenke deuten auf Mord hin, und das hier soll schließlich wie ein Selbstmord aussehen.«

Es ging ihm zwar gegen den Strich, aber sie hatte recht. Zum Teufel mit ihr. Immer hatte sie recht. Das nervte ihn manchmal an ihr. Sie wusste immer ganz genau, was getan werden musste. Und war immer so geringschätzig, wenn er nicht auf sie hören wollte.

»Los jetzt!«, befahl sie.

Er versteifte sich und gönnte ihr keinen Blick. Er konnte ihr selbstgefälliges Grinsen einfach nicht ertragen. Eines Tages würde er sie los sein. Eines Tages würde er frei sein.

Er zog das Schnappmesser aus seiner Gesäßtasche und wahrte einen ruhigen Ton. Fürs Erste wollte er keinen Streit. »Bei den Details warst du schon immer gut.«

»Und genau deswegen wirst du mich auch immer brauchen.«

1

Montag, 2. Juni, 8:00 Uhr

Die Erschöpfung verstärkte Ranger Tec Braggs nagende Ungeduld, als er aufs Gas trat und den schwarzen SUV über die steinige Landstraße jagte, die sich durch das Texas Hill Country zog. Verkümmerte Bäume und niedrige Sträucher säumten die staubige Straße. Über den blauen Himmel trieben ein paar dicke Wolken und verhießen einen kräftigen Regenguss, der die seit Monaten anhaltende Dürre lindern würde.

Bragg hätte darauf hoffen können, dass der Regen ihm nicht den Tatort ruinierte, aber er ließ es bleiben. Aus Erfahrung wusste er, dass das Universum sich einen feuchten Dreck um seine Wünsche scherte. Ob der Regen nun kam oder nicht, er würde schon klarkommen.

Das blinkende Blaulicht von einem halben Dutzend Polizeiautos und Pressewagen verriet ihm, dass er seinen Tatort gefunden hatte. Er fuhr an sämtlichen Fahrzeugen vorbei, bis er beim Officer des Texas Department of Public Safety angekommen war, der den Zugang zum Tatort bewachte.

Er bremste, ließ das Wagenfenster herab, während der uniformierte Polizist auf ihn zukam, und tippte sich dann an die weiße Hutkrempe.

»Morgen. Ranger Tec Bragg. Ich höre, dass ich hier gebraucht werde.«

Der Officer berührte ebenfalls die Krempe seines Polizistenhuts. »Ja, Sir, Sergeant Bragg. Fahren Sie einen Kilometer über die Schotterstraße, dann sehen Sie den Tatort schon. Sie können ihn nicht verfehlen. Der Sheriff erwartet Sie.«

»Danke.«

»Schön, dass Sie wieder da sind, Sergeant Bragg«, sagte der Officer grinsend. »Hab gehört, was Sie an der Grenze geleistet haben.«

Braggs Stimmung kippte. Ruhm war nicht sein Ding. »Ja.«

Die Straße führte zu einer weiteren Gruppe ortsansässiger Polizisten. Kurz nach Sonnenaufgang hatte der Sheriff ihn angerufen und ihn gebeten, zu einem offensichtlichen Selbstmord zu kommen. Nach Auskunft des Sheriffs hatte der Tote einen älteren Bruder, der vor Geld nur so stank und den Gouverneur zu seinen Freunden zählte. Zur Schadensbegrenzung wollte der Sheriff einen Ranger vor Ort haben.

Scheiße. Die kürzliche Beförderung, die man ihm als Belohnung für die Arbeit an der Grenze verkauft hatte, zwang ihn nun zu Dingen, die er noch mehr hasste als die Kartelle oder die Kojoten. Händchenhalten. Meetings. Pressekonferenzen. Er war mitten in der Welt der politischen Kungeleien gelandet, die er jahrelang geflissentlich gemieden hatte.

Seit seinem sechzehnten Geburtstag war Bragg seinen eigenen Weg gegangen und hatte dabei gelernt, dass man am besten unabhängig blieb. Er verließ sich auf nichts und niemanden und achtete sorgfältig darauf, dass niemand sich auf ihn verließ.

Die Absätze seiner Lederstiefel knirschten auf der trockenen Erde, als er mit großen Schritten auf den Tatort zuging. Er trug ein gestärktes weißes Hemd, das ihn kratzte, eine Cowboykrawatte und eine zerknitterte Kakihose. An seiner rechten Hüfte hing seine SIG Sauer, an der linken das Handy und die Handschellen. Auf seiner Brust prangte ein frisch polierter, wenn auch reichlich abgenutzter Stern der Texas Rangers.

Trotz der Hitze verkniff er es sich, die Hemdsärmel hochzukrempeln, und nickte weiteren Hilfssheriffs zu, die alle neugierig auf den Selbstmord waren, bei dem ein Texas Ranger wie Tec Bragg gebraucht wurde. Er näherte sich dem gelben Absperrband, wo er bereits den Sheriff des Countys, Jake Wheeler, sah.

Wheeler – ein großer, breitschultriger Typ – trug seine braune Uniform, Cowboystiefel und einen breitkrempigen Hut, der seinen dichten weißen Haarschopf bedeckte. Die Sonne hatte tiefe Falten in sein wettergegerbtes Gesicht gegraben. Über dem Rand der dicken, silbernen Zierschnalle seines Gürtels, in die seine Initialen eingraviert waren, wölbte sich sein Bauch. Wheeler war Ende fünfzig und seit zwanzig Jahren Sheriff, doch im nächsten Jahr stand ihm eine schwierige Wiederwahl bevor. Er entsprach zwar nicht gerade dem Klischee eines Politikers, doch er war sehr geübt darin, heiklen Debatten aus dem Weg zu gehen. Wheeler wollte einen brisanten Fall loswerden.

Die morgendliche Hitze hatte ihm bereits dunkle Schweißflecken auf seinem Hemd eingebracht. »Ranger Bragg.«

Bragg reichte Sheriff Wheeler die Hand. »Morgen, Sheriff.«

»Danke, dass Sie gekommen sind, Bragg. Wir haben hier möglicherweise ein Problem.«

Bragg blickte an Wheeler und den Polizisten neben dem gelben Absperrband vorbei zum Tatort hinüber. Die Leiche war kaum zu übersehen. Sie hing an einem Baum.

Ein paar Stunden oder gar Tage in der texanischen Sonne wirkten sich verheerend auf eine Leiche aus. Durch die hohen Temperaturen blähte sich der Körper binnen weniger Stunden auf, die Haut begann sich abzulösen, und der Verwesungsprozess zog schwarze Fliegen an, die hier bereits um die Leiche herumschwirrten. »So, wie er aussieht, hängt er noch nicht lange hier draußen.«

»Höchstens sechs Stunden, schätze ich. Morgen um diese Zeit hätte er schlimm ausgesehen.«

»Ich habe gehört, Sie haben seine Brieftasche gefunden.«

»Ja, sie lag unter dem Baum. Ohne die hätten wir ihn wohl nicht so schnell identifizieren können.«

Bragg schaute zum Baum hinüber, wo die gelbe Nummerntafel der Kriminaltechnikerin neben der Brieftasche stand. »Er hat sie unten liegen lassen, damit man sie auf keinen Fall übersehen würde.«

Wheeler hakte die Daumen in seine Gürtelschnalle. »Da wollte wohl jemand, dass sie gefunden wird.«

Bragg ließ die Hände auf den Hüften ruhen. »Ich habe den Namen des Opfers nicht mitbekommen.«

»Den wollte ich nicht über Funk durchgeben, solange wir uns nicht absolut sicher sind. Man weiß ja nie. Womöglich gehört die Geldbörse gar nicht dem Toten.«

»Welcher Name steht in der Brieftasche?«

»Rory Edwards.«

»Edwards? Die Öl-Familie.« David Edwards war in Texas ein politisches Schwergewicht, was erklärte, weshalb man Bragg hinzugezogen hatte.

»Genau der. Rory hat sich die schicke West Austiner Adresse seines Bruders in den Führerschein eintragen lassen.«

»Der Alte war ein Ölsucher, der es zu was gebracht hat. Die Familie hat Geld wie Heu. Wenn ich mich recht erinnere, ist der Vater schon vor Jahren gestorben.«

»So ist es. Die Mutter starb letztes Jahr, aber das Familienanwesen gehört immer noch dem älteren Bruder. Er führt den Familienbetrieb weiter und liebäugelt mit dem Gouverneursposten.«

Bragg ging näher heran, und ein durchdringender Verwesungsgeruch gesellte sich zu dem Gesumm der schwarzen Fliegen. »Sie glauben, dass das hier Rory ist?«

»Hundertprozentig sicher bin ich mir nicht. Der Kerl sieht seinem Foto nicht besonders ähnlich.«

»Toller Wochenanfang.«

Wheelers Mundwinkel hob sich zu einem schwachen Lächeln. »Allerdings.«

»Sie hätten mich doch nicht wegen eines Selbstmords herzitiert, Jake. Ich weiß ja, dass Sie im nächsten Frühjahr eine Wahl vor sich haben, aber ein Selbstmord ist doch eher unkompliziert.«

Wheelers Miene verfinsterte sich. »Sehen Sie sich den Tatort mal an.«

Bragg ließ den Blick über das Gelände schweifen. Als Erstes fiel ihm auf, dass nirgendwo in der Nähe der Leiche ein umgefallener Stuhl, ein Tritt oder eine Leiter lag. Als er sich den Baum näher ansah, stellte er fest, dass sich das Seil von der Leiche nach oben über einen Ast und bis zum Fuß des Stammes schlängelte, wo es fest verschnürt war. Den Baum zu erklimmen und bis zum Ende des Asts zu klettern, während man dabei ein Seil hinter sich herzog, wäre zwar nicht ganz einfach gewesen, doch mit etwas Willenskraft war es zu schaffen. Allerdings hätte Edwards sich bei einem Sprung aus dieser Höhe nicht nur den Hals gebrochen. Die Geschwindigkeit das Falls, kombiniert mit seinem Körpergewicht, hätte auch zu einer klaffenden Halswunde geführt oder ihn, schlimmer noch, enthauptet.

Das war kein Selbstmord.

»Wer hat die Leiche gefunden?«

»Landvermesser. Vor einiger Zeit hat ein Winzer das Land erworben, der es roden und noch mehr Reben pflanzen will. Die Landvermesser waren heute früh kurz nach Sonnenaufgang hier, um der Hitze zuvorzukommen. Sie haben ihn schon gerochen, bevor sie ihn entdeckt haben. Das Fliegengesumm hat sie zu dem Leichnam geführt. Sie haben die Sache dann gemeldet.«

»Haben Sie die Leute überprüft?«

»Ja. Sie arbeiten für eine hiesige Firma. Ich kenne sie beide persönlich. Sie waren ziemlich durch den Wind, deshalb habe ich sie gehen lassen. Ich kann Ihnen ihre Telefonnummern besorgen, falls Sie sie später noch brauchen.«

»Welches Weingut hat sie beauftragt?«

Wheeler räusperte sich. »Hab den Namen nicht verstanden.«

»Finden Sie ihn heraus.« Bragg ließ die Hände auf den Hüften liegen und betrachtete die Stiefel des Toten, die Maßarbeit waren und ihn sicher um mehrere tausend Dollar ärmer gemacht hatten. Die teuren Stiefel passten zu der exklusiven Adresse, die im Führerschein stand.

»Wollen Sie ihn sich mal näher ansehen?«, fragte Wheeler und hielt ihm ein paar Plastikhandschuhe hin.

»Klar doch.« Bragg nahm die Handschuhe, tauchte unter dem Absperrband durch und wartete, bis die Technikerin ihn für den Tatort eingetragen hatte. Er nickte den Kriminaltechnikern zu und sah sich in der Nähe der Leiche um. Fast sofort fand er die Reifenspuren, ging in die Knie und betrachtete den Abdruck. Nach der Tiefe zu urteilen, war der Pick-up rückwärts bis zu der Stelle gefahren, wo die Leiche hing, und dann geradeaus nach vorn.

Bragg folgte mit dem Blick den Spuren über die unbefestigte Straße, die durch das Dickicht und zurück zur Landstraße führte. »Rory hat den Pick-up möglicherweise hergefahren, aber nicht von hier weg.«

»Meiner Meinung nach hat da jemand nachgeholfen.«

Bragg stand auf und reckte sich. Seine Muskeln waren steif vom Schlafmangel der letzten Monate. »Ich würde darauf wetten, dass Mr Edwards auf der Ladefläche des Pick-ups stand, als der von hier wegfuhr.«

»Und dann ist er heruntergefallen und hat sich stranguliert.« Wheeler nickte. »Die Spurensicherung hat außerdem zwei Zigarettenstummel sichergestellt. Die DNA wird uns verraten, ob sie zu dem Opfer gehören.«

Schon möglich, dass man Edwards’ DNA auf einem oder beiden Stummeln finden würde, aber Braggs Bauchgefühl sagte ihm, dass dem nicht so sein würde. »Ich gehe mal davon aus, dass sie von der zweiten Person am Tatort stammen wird. Da war noch jemand anwesend und hat zugesehen, wie Mr Edwards gestorben ist.«

Wheeler massierte sich den Nacken. »Edwards hatte in der Vergangenheit schon viele Schwierigkeiten. Drogen. Alkohol. Damals in meiner County-Zeit hat er einen Autounfall verursacht, und die Familie zahlte dem Kerl, den er angefahren hatte, eine Abfindung. Damit war das Problem vom Tisch. Bei anderen Geschichten lief es wohl ähnlich. Vielleicht hat er sich einfach mal mit dem Falschen angelegt.«

»Vielleicht.« Die Hände des Toten hingen neben ihm herunter. Blut, das jetzt nicht mehr vom Herzen durch den Blutkreislauf gepumpt wurde, hatte sich in den Fingerspitzen gesammelt und sie wie bei einem Hämatom dunkel verfärbt. Die nächtliche Wärme von etwa dreißig Grad hatte der Verwesung weiter Vorschub geleistet, und die Haut an den Händen begann sich bereits zu lösen.

»Morde wie den hier habe ich schon früher an der Grenze gesehen. Die Kartelle lassen ihre Opfer draußen liegen, damit alle sie sehen können. Gehängte sieht man weniger, eher Leute, die enthauptet oder erschossen wurden. Und ganz sicher sieht man nicht oft jemanden aus einer Familie wie den Edwards, der aufgeknüpft worden ist.« Bragg bemerkte ein rotes Stoffarmband um Rorys rechtes Handgelenk. Es sah nach Handarbeit aus. »Haben Sie die Familie angerufen?«

»Bis jetzt noch nicht. Ich dachte, ich spreche es zuerst mit Ihnen durch. Solange es nicht unbedingt sein muss, will ich lieber nicht in ein Wespennest stechen.«

Und da er für die Wiederwahl kandidierte, wollte er, dass Bragg das Wespennest übernahm. »Wann kann man ihn losschneiden?«

»Wir wären so weit. Wir haben nur noch auf Sie gewartet.«

Bragg nickte und wusste, dass er gerade einen Arbeitstag voller Meetings gegen Arbeit im Feld eingetauscht hatte. Er konnte nicht behaupten, dass es ihm leidtat. »Dann mal los, holen Sie ihn runter.«

Wheeler nickte dem Officer neben dem Baum zu, und sie sahen beide zu, wie der uniformierte Polizist eine Säge zum Seil hob. Zwei andere Hilfssheriffs hielten das Seil fest, während der erste Polizist sägte. Binnen weniger Minuten wurde der Hanf brüchig und gab schließlich nach. Die Polizisten stemmten die Füße in den Boden, um die Leiche zu halten. Während ein Kriminaltechniker Fotos schoss, ließen die Officer die Leiche nach und nach zu Boden. Wegen der Totenstarre blieb sie reglos stehen. Als das Seil erschlaffte, packte ein weiterer Techniker, der Handschuhe trug, die Leiche bei den Schultern und legte sie langsam hin. Weitere Fotos wurden geknipst, während die Schmeißfliegen noch immer um die Leiche herumschwirrten.

Bragg trat zu dem Toten und besah sich die halbgeöffneten Augen und das aufgedunsene Gesicht. An den fauligen Geruch des Todes hatte er sich mittlerweile gewöhnt. Die Banden und Kartelle, die sich an der Grenze herumtrieben, handelten ebenso unbekümmert mit dem Tod wie mit Dollars. Während die jüngeren Cops um ihn herum blass geworden waren und zurückwichen, ging er in die Hocke und betrachtete das Opfer. Er hatte sich den Ruf erarbeitet, auch schwierige Aufgaben anzupacken.

Die Handgelenke des Toten waren vom Seil aufgescheuert. »Wieso hat man ihm die Hände gefesselt und sie dann wieder losgebunden?«, überlegte er laut.

»Vielleicht dachte der Mörder, wir würden uns von der Selbstmordinszenierung täuschen lassen?«, schlug Wheeler vor. »Wenn es gemäß der Wettervorhersage geregnet hätte, wären die Reifenspuren weggespült worden. Und nach ein paar Tagen hier draußen wären auch die Scheuermale an den Handgelenken verschwunden.«

»Kann sein.« Bragg sah zu dem Gestrüpp und den dürren Bäumen, die ihn umgaben. »Was gibt es hier in der Nähe?«

»Hier in der Gegend? Nicht viel. Sträucher und Dickicht. Aber auf dem Nachbargrundstück befindet sich ein Weingut, wie gesagt. Es ist klein und in Familienbesitz. Es existiert schon seit über zwanzig Jahren.«

Bragg betrachtete die bräunlichen Zähne des Toten. Er hob die Jeansjacke des Opfers an, um nach Verletzungen, Papierfetzen, Flecken Ausschau zu halten – irgendetwas, das ihm mehr über den Mann verraten würde. In der Hemdbrusttasche stieß er auf eine Quittung von einer Bar namens Tate’s. In der Hosentasche fanden sich zwei zerknitterte Dollarnoten, ein Zimmerschlüssel, ein paar Pfefferminzbonbons und ein halbes Dutzend Münzen der Anonymen Alkoholiker. »Der Kerl hat nichts, was sich zu stehlen lohnt.«

»Er muss irgendjemanden verärgert haben.«

»Allerdings.«

Bragg richtete sich auf und sah noch einmal zu dem Baum hinüber. Jetzt bemerkte er das Foto, das in der sanften Brise flatterte, und ging näher heran. Das Bild zeigte ein junges Pärchen, die beide so aussahen, als kämen sie aus einem begüterten Elternhaus. Sie trug Perlenohrringe und eine goldene Halskette, er ein weißes Hemd mit hochgeschlagenem Kragen. Sein dichter Haarschopf war strohblond, als hätte er viel Zeit draußen in der Sonne verbracht. Bragg beugte sich vor und betrachtete das glatte, bartlose Gesicht des Jungen. Wenn er sich nicht sehr täuschte, handelte es sich dabei um sein Mordopfer. »Haben Sie das hier schon gesehen?«

Wheeler kam stirnrunzelnd zum Baum herüber. »Ja, der auf dem Bild sieht aus wie das Opfer. Ist aber ein altes Foto.«

»Wer ist das Mädchen?«

»Die kenne ich nicht. Eine alte Flamme vielleicht?«

Bragg holte sein Handy heraus, fotografierte das Bild und beugte sich dann vor, um sich das Gesicht des jungen Mädchens näher anzusehen. Sie lächelte, aber fröhlich wirkte sie nicht. Wo auch immer die Aufnahme entstanden war, sie hatte dort nicht sein wollen. Rory dagegen schien glücklich zu sein. Seine Haltung war entspannt, sein Lächeln offen und breit.

»Das Foto wurde hier aus einem ganz bestimmten Grund aufgehängt.« Bragg betrachtete das Mädchen noch etwas länger und schob das Handy dann in sein Holster zurück. »Wir müssen dieses Mädchen unbedingt identifizieren.«

»Dem Äußeren des Opfers nach ist das Bild etwa zehn Jahre alt.«

»Wir müssen dahinterkommen, was er vor zehn Jahren gemacht hat. Dass er sich nicht selbst umgebracht hat, wissen wir. Derjenige, der ihn aufgeknüpft hat, hat das Bild also aus einem bestimmten Grund hier befestigt.«

Wheeler nickte. »Glauben Sie, dass sie es war?«

Bragg betrachtete das gezwungene Lächeln des Mädchens. »Sie wäre nicht die Erste, die jemanden aus ihrer Vergangenheit aufsucht und ihn umbringt.« Er sah zu der Brieftasche hinunter, die neben der Nummerntafel der Spurensicherung lag. Er kniete sich hin, holte einen Kugelschreiber aus der Hosentasche und klappte die Brieftasche auf. Sie enthielt ein paar Dollarnoten, keine Kreditkarten und einen abgelaufenen Führerschein, der in Texas ausgestellt worden war.

»Ranger Bragg.« Das war die Kriminaltechnikerin. Melinda Ashburn, wenn er den Namen noch richtig in Erinnerung hatte, war Ende zwanzig und trug das rote Haar zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgebunden. Sommersprossen sprenkelten ihre Nase. Er ging auf sie zu. »Ja, Ma’am?«

»Der Gerichtsmediziner kann die Leiche jetzt gerne mitnehmen. Ich habe alle nötigen Fotos gemacht und präzise Zeichnungen des Tatorts angefertigt. Angesichts der Hitze ist es besser, wenn wir die Leiche aus der Sonne wegschaffen.«

Hinter ihr standen die Angestellten der Gerichtsmedizin mit einer Bahre und einem schwarzen Leichensack. »Nur zu. Ich habe alles Wichtige gesehen. Aber es wäre gut, wenn Sie mir Abzüge von Ihren Fotos zukommen ließen.«

»Klar. Wird erledigt.«

Nach einem turbulenten Arbeitstag sah Bragg sich zu Hause gerne Tatortfotos an. Manchmal fing die Kamera Dinge ein, die im allgemeinen Chaos untergingen.

Bragg traf eine Stunde nach der Leiche in der Gerichtsmedizin ein. Er war noch am Tatort aufgehalten worden, weil die Presse ein Statement gewollt hatte. Während Wheeler redete, hatte er sich abseits gehalten und geschwiegen.

Jetzt empfing ihn die Kühle im Inneren des Gebäudes als willkommene Abwechslung nach der glühenden Hitze auf dem Parkplatz. Das Thermometer in seinem Wagen zeigte vierzig Grad, und bis zum Nachmittag würden die Temperaturen noch weiter steigen.

Am Ende des Ganges erwartete ihn ein großer, langbeiniger Ranger, der lässig an der Wand lehnte und sein Handy auf Nachrichten checkte. Während der Fahrt hatte Bragg Ranger Brody Winchester angerufen und hergebeten. Sie beide hatten vor Jahren in Houston zusammengearbeitet. Bragg war vor drei Monaten von El Paso hierher versetzt worden, und da er in jüngster Zeit schon mit genug Veränderung zu tun gehabt hatte, gefiel ihm die Vorstellung, mit jemandem zusammenzuarbeiten, den er kannte.

Vor kurzem hatte Winchester Dr. Jo Granger geheiratet, eine Psychologin, die hin und wieder für die Ranger arbeitete. Gerüchten zufolge waren die beiden schon im College verheiratet gewesen, doch es war nicht Braggs Stil, in den Angelegenheiten anderer Leute herumzuschnüffeln. Er hatte weiß Gott selbst genug Probleme, über die er nicht reden wollte.

Winchester stieß sich von der Wand ab und steckte das Handy in sein Hüftholster. »Nach deinem Anruf habe ich schon mal Bescheid gesagt, dass wir kommen.« Er streckte Bragg die Hand hin. »Ich hab ihnen gesagt, sie sollen sich bereithalten.«

Bragg erwiderte Winchesters festen Händedruck. »Gut. Bevor ich mit der Familie rede, will ich was in der Hand haben.«

Bragg und Winchester zeigten bei dem Polizisten am Empfang ihre Dienstmarken vor und gingen dann zu den Aufzügen.

»Ich habe das Vorstrafenregister des Opfers abgerufen, wie du mich gebeten hattest. Sheriff Wheeler hatte recht. Rory Edwards steckt schon in Schwierigkeiten, seit er fahren kann. Die Familie holt seit Jahren für ihn die Kastanien aus dem Feuer.«

Bragg drückte im Aufzug den Knopf nach unten und dachte an seinen alten Herrn, der ihm nie aus Schwierigkeiten herausgeholfen hatte, sondern vielmehr deren Ursache gewesen war. Der alte Bastard war ein Säufer gewesen, Bragg und dessen ältere Schwester Sue seine Prügelknaben. Sue war mit siebzehn von zu Hause ausgerissen. Bragg, der damals vierzehn war, hatte geglaubt, sie würde ihn nachholen, sobald sie zur Ruhe gekommen war. Doch sie hatte innerhalb weniger Monate einen Mann gefunden und ihn geheiratet. Tut mir leid, Tec, ich kann dich jetzt nicht zu mir holen. Ich hab die Gelegenheit, glücklich zu werden, und muss sie nutzen. Du wirst eines Tages deine Chance kriegen.

Im Jahr darauf hatte sie ihm eine Weihnachtskarte geschickt, auf der stand, dass sie einen Sohn namens Mitch bekommen hatte. Das war das letzte Lebenszeichen von ihr gewesen, bis vor drei Jahren, als die Houstoner Polizei ihn informierte, dass sie an einer Überdosis gestorben war. Ihr Mann, der sie vor dem Gesetz nie geheiratet hatte, war längst über alle Berge, und der Junge, Mitch, hatte sich wütend bei den Marines verpflichtet.

Vor zwei Monaten war Mitch, nachdem er auf seinem Einsatz im Irak sowohl sichtbare als auch unsichtbare Verletzungen davongetragen hatte, nach Austin zurückgekehrt. Später hatte Bragg erfahren, dass eine Straßenbombe den Humvee getroffen hatte, den Mitch fuhr, und das Fahrzeug beinahe völlig zerstört hatte. Vier Soldaten hatten sich darin befunden. Bis auf Mitch waren alle umgekommen.

Der Vorgesetzte des Jungen hatte mit Bragg Kontakt aufgenommen und ihn wissen lassen, dass der Junge in schlimmer Verfassung war. Da Bragg Mitchs einziger Angehöriger war, hatte er sich nach Austin zurückversetzen lassen. Seine Familie mochte zwar ein Scherbenhaufen sein, aber es war immerhin seine Familie.

Bragg hatte sich zwar keinen Illusionen über eine rührende Familienzusammenführung hingegeben, aber vorgehabt, abzuwarten, bis der Junge wieder auf die Beine kam, bevor er zu seinem Dienst an der Grenze zurückkehrte. Doch er hatte rasch erkennen müssen, dass er genauso wenig dazu geeignet war, für einen schwierigen jungen Mann zu sorgen, wie politische Intrigen zu schmieden.

Mitchs Verletzungen durch die Bombensplitter waren bald verheilt, doch die posttraumatische Belastungsstörung hatte unsichtbare Narben hinterlassen. Der Junge litt unter Albträumen, die meist lautstark und gewalttätig verliefen. Mitch aß nicht richtig, und seine Trinkerei entwickelte sich langsam zu einem ernsten Problem. Am Vorabend war er erst um vier Uhr morgens nach Hause gekommen und völlig betrunken gewesen. Bragg und er hatten einen furchtbaren Streit gehabt, und wenn Bragg ihm nicht den Autoschlüssel weggenommen hätte, wäre Mitch gegangen. Du bist nicht mein Vater! Es musste sich bald etwas ändern, um seinet- und um Mitchs willen.

Bragg war zwar imstande, einen Mörder bis in die Hölle zu verfolgen, fand jedoch nicht die richtigen Worte, um den Kummer seines Neffen zu lindern.

Er schob seine Sorgen beiseite und konzentrierte sich auf die vorliegende Aufgabe. »Das hier werden sie nicht mehr für ihn geradebiegen können.«

Nach der morgendlichen Auseinandersetzung war der Junge in sein Zimmer gestolpert und ins Bett gefallen. Bragg hatte ihn allein gelassen, bezweifelte inzwischen aber, ob das richtig gewesen war. Er fürchtete, dass der Junge so, wie er sich zurückzog, kaum bis zum September durchhalten würde.

»Wie geht’s Mitch?« Winchester, der ein ehemaliger Marine war, drückte den Aufzugknopf.

Bragg redete nie über sein Privatleben. Niemals. Doch wie das Wetter scherte dieses Problem sich nicht um seine Wünsche. »Er ist sehr still. Redet wenig.«

Winchester schwieg einen Augenblick. »Du weißt ja, dass meine Frau Psychologin ist.«

»Ja.«

»Jo würde sich sicher gerne mal mit ihm unterhalten. Sie kann gut mit Menschen umgehen.«

In Braggs Wange zuckte ein Muskel. »Mitch ist eine harte Nuss.«

»Er braucht Ansprache und Beschäftigung. Alleinsein ist die Hölle. Trinkt er viel?«

Braggs Finger zuckten. »Ja.«

Mitch war Braggs einziger Verwandter. Er war sein Problem, und er musste es lösen. Aber ihm fiel einfach keine Lösung ein. »Das Veteranenbüro hat ihn an eine Selbsthilfegruppe in der örtlichen Beratungsstelle vermittelt. Sie wird von Freiwilligen und einem Typen namens Stewart geleitet.«

Winchester behielt seine lockere Haltung bei und schaute geradeaus. »Und, nützt es etwas?«

Sie betraten den Aufzug. »Ich weiß nicht. Es ist schwer, mehr als zwei zusammenhängende Worte aus dem Jungen rauszukriegen.«

Winchester brummte missbilligend. »Ich könnte Jo mal nach der Gruppe fragen. Falls sie sie nicht kennt, kann sie sich erkundigen.«

Bragg rieb sich den Nacken und drückte den Knopf für Untergeschoss. Hilfe anzunehmen war ihm zuwider. »Das wäre sehr nett.«

Winchester schrieb seiner Frau eine Nachricht. Nach wenigen Sekunden kam schon die Antwort. Er las sie und nickte. »Sie sagt, es sei eine gute Gruppe. Dr. Stewart ist ein renommierter Arzt. Sie muss jetzt zu einem Meeting, sieht aber zu, dass sie noch mehr herausfindet.«

»Sehr gut.«

Die Aufzugtüren öffneten sich. Sie verließen die Kabine und gingen durch den Gang bis zu einer Doppeltür, die in den Autopsieraum führte. Ein fauliger Geruch schlug ihnen entgegen und lenkte ihre Aufmerksamkeit zu einer Bahre aus Edelstahl, auf der eine mit einem Tuch bedeckte Leiche lag. Auf einem weiteren, kleineren Tisch befanden sich mehrere Instrumente. Ein Assistenzarzt in Chirurgenkleidung schlug das Tuch beiseite.

In der Nähe der Bahre stand Dr. Hank Watterson. Watterson, der Mitte dreißig und zaundürr war, hielt sich in seinem grünen Chirurgenkittel sehr aufrecht. Ein dichter, dunkler Schnurrbart ließ sein Durchschnittsgesicht etwas interessanter wirken.

»Dr. Watterson«, grüßte Bragg.

Der Arzt sah von dem Waschbecken hoch, an dem er sich gerade die Hände einseifte. Seine scharfen grünen Augen spähten durch seine Hornbrille. »Sie beide sind also der Grund, weshalb ich an meinem freien Tag hierherkommen musste?«

Winchester grinste. »Tut mir leid, Doc. Der Teufel schläft nie.«

Dr. Watterson schnaubte. »Die Leiche ist vor ungefähr einer Stunde gekommen, und ich wollte gerade mit der Autopsie anfangen.«

Bragg hatte für die Gerichtsmedizin nicht viel übrig. Mit ihrer Kälte, ihrer Sterilität und ihren summenden Leuchtröhren erinnerte sie ihn an das Krankenhaus, in dem seine Mutter gestorben war. Damals war er sechs gewesen. »Danke, dass Sie ihn sich gleich vornehmen.«

»Je eher wir es hinter uns bringen, desto schneller komme ich hier raus.« Dr. Watterson deutete mit dem Kinn zu den Chirurgenkitteln. »Das hier wird nicht ganz einfach werden. Sie können sich schon mal fertig machen.«

Bragg und Winchester zogen beide einen Kittel über und stellten sich dann neben der Bahre auf. Man hatte den Toten entkleidet und seine Kleidung mit Etiketten versehen. Seine Hände steckten noch in Papiertüten, wie schon am Tatort. Dr. Watterson musterte den aufgedunsenen Bauch der Leiche.

Rory Edwards’ Hände und Füße waren schwarz von dem Blut, das sich in ihnen gesammelt hatte. Sein Kopf war nach links gekippt, wie bereits zu dem Zeitpunkt, als er noch am Baum gehangen hatte. Seine Arme und seine Brust waren über und über tätowiert. Ein menschlicher Schädel, der in Flammen stand. Stacheldraht, der sich durch ein Herz auf seinem Arm wand. Kruzifixe. Der Buchstabe E. Nackt machte er einen dünneren, unterernährten Eindruck. Die Venen seiner beiden Arme wiesen zahlreiche verblassende Einstichspuren auf.

Der Arzt begann mit der äußeren Untersuchung, stellte die Schürfwunden am Hals fest, die das Seil verursacht hatte, und bestätigte, dass der Tote außerdem Fesselspuren an den Handgelenken aufwies. Anschließend katalogisierte er die Schürfwunden durch das Seil, die Tätowierungen und das Fehlen weiterer Verletzungen.

Während er ein Skalpell zur Brust senkte, um den Y-Einschnitt auszuführen, sagte Dr. Watterson: »Ich habe gehört, dass der Bruder des Toten ziemlich wohlhabend ist und eine Menge Beziehungen hat.«

»So ist es.« Bragg nickte. »Deshalb wollten wir auch absolut sicher sein, den Richtigen identifiziert zu haben, bevor wir die Familie benachrichtigen.«

Dr. Watterson sah weiter auf die Leiche hinunter. »Hat keinen Sinn, ohne Not in ein Wespennest zu stechen.«

»So ungefähr.«

Der Assistent entfernte das Papier von den Händen des Opfers, und Dr. Watterson schabte, nachdem er sie gründlich inspiziert hatte, unter den Fingernägeln herum. Falls Rory mit seinem Mörder gekämpft hatte, bestand die Möglichkeit, dass sich noch DNA unter den Fingernägeln befand.

»Ich lasse die Gewebeproben untersuchen, die Ergebnisse werde ich allerdings erst in ein bis zwei Tagen bekommen. Dem Gebisszustand nach war er jedoch unterernährt und hatte an einem Zahn eine scheußliche Entzündung. Unbehandelt hätte allein schon die Entzündung ernsthaften Schaden angerichtet. Ich tippe darauf, dass er vor ein paar Jahren mit Meth angefangen hat.«

Dr. Watterson wandte sich zu einem Bildbetrachter, an dem Röntgenbilder von Unter- und Oberkiefer hingen. »Die Brücken und Füllungen von Rory Edwards’ zahnärztlichen Unterlagen stimmen mit denen Ihres Toten überein.«

»Dieser Mann ist also Rory Edwards.«

»Ja. Und ich kann Ihnen bestätigen, dass er erdrosselt wurde.«

»Er hing an einem Baum«, sagte Winchester.

»Vor der Untersuchung kann man sich da nie ganz sicher sein.« Der Arzt ging zum Kopf der Bahre, zog die beleuchtete Chirurgenbrille zum Hals des Toten und sah sich die Schürfwunden an. »Am Hals hat er eine ältere Narbe.«

Bragg runzelte die Stirn. »Was für eine Narbe?«

Der Doktor schwieg kurz. »Sieht nach einer alten Abschürfung durch ein Seil aus. Sie wird größtenteils von der frischen Abschürfung verdeckt. Hätte leicht übersehen werden können. Aber sie ist eindeutig vorhanden.« Er deutete zu einem dünnen weißen Ring um die Kehle des Toten. »Er hat schon früher an seinem Hals gehangen.«

»Selbstmordversuch?«, fragte Winchester.

»Möglich. Bei Risikokandidaten sind Erstickungsspiele nicht ungewöhnlich. Und dieser Bursche war eindeutig ein Risikokandidat.«

Bragg beugte sich vor und betrachtete die blasse, weiße Narbe. »Der Tatort sah eigentlich nicht nach einem Sexspiel aus. Aber wer weiß? Wie alt sind die Narben?«

Dr. Watterson hob die Schultern. »Kann ich nicht sagen, Bragg. Auf jeden Fall mehrere Jahre.«

Bragg dachte an das Foto des Teenagerpärchens, das an dem Baum gehangen hatte. Rory machte darauf einen glücklichen Eindruck. Dem Foto nach hätte Bragg eher das mürrisch wirkende Mädchen für die Quertreiberin gehalten.

2

Montag, 2. Juni, 15:00 Uhr

Die Temperaturen waren über vierzig Grad geklettert, als Bragg und Winchester bei dem eleganten gläsernen Wolkenkratzer im Herzen von Austin ankamen. Das schimmernde Gebäude, eine Hauptattraktion der Stadt, glitzerte und funkelte, hatte jedoch trotz der Hitze etwas Kühlendes.

Sie betraten das Gebäude durch die Drehtür und wandten sich zum Hauptempfang. Bragg zeigte dem untersetzten, grauhaarigen Sicherheitsangestellten hinter dem Tresen seinen Rangerstern. »Die Texas Rangers für David Edwards.«

Damit löste er sichtlich Verwirrung aus, doch der Wachmann nahm den Hörer des glänzenden schwarzen Telefons und drückte einen von den zahlreichen Knöpfen auf seiner Konsole. Er leitete Braggs Anfrage weiter, lauschte und legte dann wieder auf.

Der Wachmann erhob sich und steckte sein Hemd fest. »Sein Büro ist im zwanzigsten Stock. Die Empfangsdame meinte, dass Sie raufkommen können, konnte aber nicht zusagen, dass Mr Edwards zu sprechen ist.«

»Dann werden wir das wohl mit ihr regeln müssen, wenn wir dort ankommen.«

»Ja, Sir.«

Die Ranger gingen zu den Aufzügen und drückten den Knopf für die oberen Stockwerke. Die Türen öffneten sich sofort, und rasch glitt der Aufzug hinauf in den zwanzigsten Stock.

Als sich die Kabine öffnete, lagen weitere Glastüren vor ihnen, hinter denen eine Empfangsdame saß. In die Türen war ein großes E eingraviert.

»Rory hatte sich ein großes E auf die Brust tätowieren lassen«, sagte Winchester.

»Merkwürdig, dass ein Kerl, der seiner Familie sein Leben lang aus dem Weg gegangen ist, sich eine Erinnerung an sie auf den Leib tätowieren lässt.« Bragg schüttelte den Kopf. »Aber in Familien geht es ja nicht immer logisch zu.«

Winchester öffnete die Glastür und ließ Bragg den Vortritt. Bragg zog den Mantel zurück, damit die schlanke Blondine seinen Stern sehen konnte. »Wir wollen zu Mr David Edwards.«

Das kühle Lächeln gab ihrem ansonsten makellosen Gesicht etwas Sprödes. »Er ist in einer Konferenz.«

»Es geht um seinen Bruder.«

»Rory?« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Was hat er diesmal angestellt?«

»Das bespreche ich mit Mr Edwards, Ma’am.« Er lächelte, doch seine Worte klangen scharf. »Ich schlage vor, Sie gehen jetzt und melden ihm, dass wir hier sind, denn wenn er es aus den Medien erfährt, wird er mächtig sauer sein.«

Mit geschürzten Lippen stand sie auf, ging durch den mit Teppich ausgelegten Gang und sprach mit einer anderen Büroangestellten, die vor einem weiteren Büro stand.

»Die hast du dir direkt zur Freundin gemacht«, bemerkte Winchester.

»Für so was hab ich ein Händchen.«

Winchester musterte den modernen Empfangsbereich, der mit viel Chrom und schimmerndem Glas ausgestattet war. »Der Mann scheint eine Schwäche für Eis zu haben.«

»Ist mir auch aufgefallen.«

Die Empfangsdame kam wieder. »Sie können jetzt zu ihm.«

Bragg verzog den Mund zu einem Lächeln. »Gut.«

Die Empfangsdame übergab sie der Sekretärin, einer weiteren kühlen Blondine, die Edwards’ Tür öffnete. Wie das ganze Gebäude war das Büro mit viel Glas ausgestattet. Die Aussicht auf Austin war beeindruckend. Von hier oben war die ganze Congress Avenue bis zur weißen Kuppel des Regierungsgebäudes zu sehen.

Edwards, ein schlanker, mittelgroßer Mann, hatte kurzes, dunkles Haar, einen dunklen Teint und ein kräftiges Kinn. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. An seinen Handgelenken blitzten goldene Manschettenknöpfe. Die Familienähnlichkeit mit dem Opfer war unverkennbar. Beide hatten die gleiche Augen- und Hautfarbe, aber im Gegensatz zu Rory Edwards, der auf seinem Führerscheinbild unter schweren Lidern hervorblickte, war der Blick dieses Mannes scharf und durchdringend.

Edwards kam um seinen Schreibtisch herum und bewegte sich dabei mit dem Selbstvertrauen eines Mannes in seiner eigenen Domäne. Er gab ihnen nicht die Hand. »Ich bin David Edwards.«

»Ranger Tec Bragg und Sergeant Brody Winchester. Texas Rangers«, sagte Bragg. »Wir haben leider keine guten Nachrichten. Es geht um Ihren Bruder.«

»Rory hatte ja schon reichlich Schwierigkeiten, aber nie so schlimme, dass die Texas Rangers gekommen wären.« Aus Edwards’ Tonfall sprach keinerlei Sorge oder Aufregung, ganz als hätte er schon unzählige Male mit der Polizei über seinen Bruder gesprochen.

»Jetzt schon.«

An Edwards’ Wange zuckte ein Muskel. »Was hat er diesmal angestellt? Und was muss ich tun, um die Sache geradezubiegen?«

Rorys Vorstrafenregister enthielt Dutzende von Bagatelldelikten. Natürlich war ein Mann wie David für einen Bruder wie Rory nicht dankbar. Während der letzten Monate war Bragg einige Male wegen Mitch kontaktiert worden. Er hatte die kleineren Fiaskos ausgebügelt und war mit jedem neuen Debakel unwilliger geworden.

»Er hat sich ermorden lassen«, sagte Bragg.

Edwards zog eine Augenbraue hoch. Wieder schien er keineswegs überrascht zu sein, eher vielleicht ein wenig resigniert. Oder sogar erleichtert. »Wie?«

Bragg ging bislang nicht davon aus, dass Mitch schlimm genug abrutschen würde, um ermordet zu werden. Aber wenn er abends lange wach war und auf den Jungen wartete, befürchtete er schon manchmal einen Autounfall oder eine andere Tragödie.

»Man hat ihn aufgeknüpft.«

Das Gesicht des Mannes spiegelte mehr Interesse als Schock. »Aufgeknüpft? Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher«, erklärte Bragg. »Ich war dabei, als man ihn heute Morgen heruntergeschnitten hat.«

Edwards massierte sich den Nacken. »Dann war es also Selbstmord?«

»Genau das dachte der Beamte vor Ort zunächst auch. Aber es sieht ganz so aus, als wäre er bei seinem Tod nicht allein gewesen.«

Edwards schüttelte den Kopf. »Rory hat sich mit üblen Typen herumgetrieben. Ein Haufen Gesocks, das nur am nächsten Schuss interessiert war. Ich könnte mir vorstellen, dass einer von diesen Clowns dabei war, während Rory sich aufgehängt hat, und zu fertig oder zu apathisch war, um ihn herunterzuschneiden.«

»Seine Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt.«

Edwards runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich hatte er nicht den Mumm, um es durchzuziehen, und hat sich helfen lassen.«

»Warum glauben Sie, dass Rory versuchen würde, sich umzubringen?«, fragte Bragg.

»Rory war auf Aufmerksamkeit versessen. Er hat eine Menge Blödsinn angestellt, um meine zu bekommen.«

»Tolle Methode, sie sich zu holen.«

»Er war wütend, weil ich ihm den Geldhahn zugedreht habe.« Edwards seufzte. »Vor etwa einer Woche hat er hier angerufen. Behauptete, er sei clean und wolle alles wieder ins Reine bringen. Nichts, was ich nicht schon mal gehört hätte. Solange unsere Mutter noch am Leben war, habe ich ihn ertragen, aber nach ihrem Tod habe ich ihm gesagt, er solle entweder clean werden oder zum Teufel gehen.«

Winchester legte die Hände an die Hüften. »Und Sie glauben, er hätte seinen Tod durch Erhängen inszeniert, um Ihre Aufmerksamkeit zu bekommen?«

Der Ärger ließ die Falten auf Edwards’ Stirn stärker hervortreten. »Ja. Er weiß, dass ich für ein Amt kandidiere. Er wollte mich blamieren. Aber er hat es vermasselt, wie alle seine Pläne. Wie gesagt, er hat sich da mit ein paar Clowns zusammengetan, und die waren nicht vernünftig genug, ihn abzuschneiden.«

»Man hat ihn in einer ziemlich abgelegenen Gegend gefunden«, sagte Bragg. »Ein echter Schrei nach Aufmerksamkeit müsste doch wohl sehr viel öffentlicher sein.«

»Ich versuche schon sehr lange nicht mehr, Rory zu verstehen. Wie gesagt, er hat seine Handlungen samt ihren Konsequenzen nie sonderlich gut durchdacht.«

»Kennen Sie ein paar von den Typen, mit denen er sich herumgetrieben hat?«, fragte Winchester.

Edwards straffte die Schultern, wandte sich von den Rangern ab und blickte aus dem großen Glasfenster. Einen Augenblick lang schwieg er, dann drehte er sich wieder um und sah sie an. »Dan und Spike wären zwei Namen, die mir einfallen. Mit diesen beiden Idioten ist Rory nämlich vor etwa einem Jahr verhaftet worden. Ich würde mit denen anfangen.«

»Wann haben Sie Ihren Bruder zum letzten Mal gesehen?«, fragte Bragg.

»Vor einem Jahr. An dem Abend, als die Polizei von Austin ihn zusammen mit Spike verhaftet hat. Als er mich aus dem Gefängnis anrief und mich um Hilfe anbettelte, drohte er mir damit, die Presse anzurufen und allen zu erzählen, aus was für einer Familie wir stammten. Ich fuhr zu ihm. Sagte ihm, dass unsere Mutter todkrank war. Aber ihm war es wichtiger, aus dem Gefängnis rauszukommen und ein bisschen Geld abzusahnen. Also habe ich es drauf ankommen lassen. Habe ihm gesagt, er solle ruhig die Presse anrufen. Was er nie getan hat. Und zur Beerdigung unserer Mutter ist er auch nicht gekommen.«

»Wie war Ihre Familie?«, fragte Bragg.

»Nicht perfekt, das gebe ich jederzeit zu. Mein Vater war von Ehrgeiz zerfressen, und meine Mutter, nun ja, die konnte ihm nicht wirklich die Stirn bieten. Nicht perfekt, aber auch bei Weitem nicht die Hölle. Aber Rory hätte schon eine Möglichkeit gefunden, uns als völlig gestört hinzustellen, solange für ihn etwas heraussprang.« Edwards ballte die linke Hand zur Faust. »Seit dem Abend im Gefängnis habe ich Rory nicht mehr gesehen. Als er letzte Woche zum ersten Mal anrief, habe ich meiner Sekretärin gesagt, sie solle keine Anrufe mehr durchstellen.«

»Grollte irgendjemand Rory genug, um ihn umzubringen?«

»Der Mensch, der Rory am meisten hasste, war Rory selbst. Er hat sich in seiner eigenen Haut nie wohlgefühlt. Ganz ehrlich, er hat bestimmt geglaubt, er könne irgendeinen Blödsinn inszenieren, und hat es dabei geschafft, es zu vermasseln.«

Bragg zog das Handy aus dem Gürtel und scrollte zu dem Bild, das er von dem Foto am Baum gemacht hatte. »Dieses Bild wurde in der Nähe der Leiche Ihres Bruders gefunden. Haben Sie eine Ahnung, wer das Mädchen sein könnte? Das Foto scheint mindestens zehn Jahre alt zu sein.«

Edwards sah das Foto an, und augenblicklich verengten sich seine Augen. »Dieses Foto hat man in der Nähe meines Bruders gefunden, sagen Sie?«

»So ist es. Kennen Sie sie?«

»Ja.« Er straffte sich, wie um Distanz zu dem Bild zu schaffen. »Sie hieß Elizabeth Templeton.«

»Hieß?«

»Schon möglich, dass sie immer noch so heißt. Das Foto ist vor zwölf Jahren entstanden. Ungefähr damals ist sie von der Bildfläche verschwunden. Ich habe keine Ahnung, wo sie ist, und will es auch nicht wissen.«

»Und warum sollte jemand das Foto am Galgenbaum Ihres Bruders befestigen?«

Edwards seufzte. »Als Rory und Elizabeth sich kennenlernten, war er neunzehn und sie sechzehn. Er bildete sich ein, er wäre in sie verliebt und sie in ihn. Er wollte sie heiraten, und als mein Vater ihn auslachte, drohte er, mit ihr durchzubrennen. Aber dazu ist es natürlich nicht gekommen. Mein Vater setzte ihren Plänen ein Ende.«

Das E auf Rorys Brust bedeutete nicht Edwards, sondern Elizabeth. »Wie haben Rory und Elizabeth Templeton einander kennengelernt?«

Edwards machte ein finsteres Gesicht. »Muss das unbedingt sein? Rory hat Elizabeth zwölf Jahre lang nicht mehr gesehen. Das Bild hat er vermutlich aufgehängt, um dramatisch zu wirken.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil ich vor mehreren Jahren gehört habe, dass er sich nach ihr erkundigt hatte. Er versuchte, sie zu finden. Mom zuliebe habe ich stillgehalten, aber glücklich war ich nicht darüber. An Rorys zweiunddreißigstem Geburtstag hätte er eine Menge Geld geerbt.«

»Tatsächlich?«

»Dad wollte ihm keinen Cent hinterlassen, aber Mom hatte eine Schwäche für ihr Nesthäkchen. Ich konnte sie überreden, das Erbe zu verschieben, weil ich hoffte, er würde erwachsen werden.«

»Oder sterben?«, meinte Winchester.

Edwards’ Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Er antwortete nicht. Bragg hätte weiterbohren können, doch er wollte nicht, dass Edwards sich einen Anwalt nahm und sie hinauswarf, ehe er Antworten bekam.

»Wieso hätte er sich umbringen sollen, wenn er doch wusste, dass er in einem Jahr mit einem hübschen Sümmchen rechnen konnte?«, fragte Bragg.

»Für Rory war ein Jahr eine Ewigkeit. Er war kaum imstande, bis zur nächsten Woche zu warten.«

»Und Sie wissen nicht, wo Elizabeth Templeton heute ist?« Templeton. Bei dem Namen regte sich eine Erinnerung in ihm.

»Nein. Und es ist mir auch egal. Wenn Sie mich fragen, hat sie Rory nur Probleme gemacht. Die Sache mit dem Weglaufen war ihre Idee. Ohne sie hätte Rory nicht den Mumm gehabt, meinem Vater die Stirn zu bieten.«

Bragg blickte auf das Foto mit dem gezwungen lächelnden jungen Mädchen. Er hätte sie zwar als schwierig eingeschätzt, aber als manipulativ? Nein. Zögerlich, ängstlich, verletzlich, ja. Aber wenn er in seinen zehn Jahren als Ranger überhaupt etwas gelernt hatte, dann dass Menschen Geheimnisse hatten.

»Wo haben die beiden sich kennengelernt?« Bragg wiederholte die Frage. Diesmal würde er sich nicht abspeisen lassen.

»Das sind alte Familiengeschichten. Sie sind traurig, und ich möchte sie lieber nicht aufwärmen.«

»Ich mache hier keine höfliche Konversation, Mr Edwards.« Jetzt klangen die Worte stählern. »Wie haben die beiden sich kennengelernt?«

Edwards stemmte die Hände in die Hüften und richtete sich auf. Er mochte es offenbar gar nicht, wenn man ihn herumkommandierte. »Bitte behandeln Sie die Sache vertraulich. Ich habe immer alles dafür getan, dass Rorys Probleme nicht an die Medien durchsickerten. So etwas ist schlecht fürs Geschäft.«

Der Kerl war an Machtspielchen und ans Gewinnen gewöhnt. Doch das galt auch für Bragg. »Ich kann Ihnen nichts versprechen.«

Ein kurzes Schweigen entstand, dann sagte Edwards: »Sie haben sich in Shady Grove Estates kennengelernt. Das ist eine Einrichtung für schwer erziehbare Jugendliche, die einen persönlichen Rückzugsort brauchen. Ohne neugierige Blicke.«

Winchester nickte. »Ich habe davon gehört. Man schickt dort problematische Jugendliche hin, die einen Selbstmordversuch hinter sich haben. Sehr teuer. Nichts für gewöhnliche Kinder.«

»Ihn über den Sommer dorthin zu schicken hat ein Vermögen gekostet, aber meine Eltern haben es getan, weil sie dachten, dass es dort mit ihm besser werden würde.«

»Inwiefern besser?« Bragg ging langsam die Geduld aus. Er hatte es satt, Spielchen zu spielen.

»Rory fing mit den Drogen an, als er ungefähr sechzehn war. Wir haben alles Mögliche versucht, um ihn auf die richtige Bahn zu bringen, aber nichts hat funktioniert. Es wurde immer schlimmer mit seiner Sucht. Und dann hat er einen Mix aus Drogen genommen, der ihn richtig fertigmachte, und versucht, sich umzubringen. Danach haben meine Eltern ihn nach Shady Grove geschickt.«

»Wo liegt die Einrichtung?«

»Nordwestlich von Austin.«

Bragg legte die Hände an die Hüften. »Wie hat er versucht, sich das Leben zu nehmen?«