Niemand soll dich haben... - Claudio Michele Mancini - E-Book

Niemand soll dich haben... E-Book

Claudio Michele Mancini

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  • Herausgeber: 110th
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Ein Koffer mit einer zerstückelten Leiche, das ist der Auftakt zu einem grandiosen Verwirrspiel, in dem die Kommissare Glatzinski und Levandowski ihre Mühe haben, den Täter zu ermitteln. Erst Polizeipsychologe Dumont kann dem Fall die entscheidende Wendung geben. Augenscheinlich geht es bei dieser Tat um schwerwiegende Liebesverwicklungen, die am Ende den wahren Mörder offenbaren. "Ein höchst kurzweiliger Kriminalroman aus dem Ruhrpott-Milieu.“(Owen B. Parker)

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Seitenzahl: 330

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NIEMAND

soll DICH haben…

Impressum:

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB-ISBN 978-3-95865-002-2

MOBI-ISBN 978-3-95865-003-9

Urheberrechtshinweis:

Schleuse Lirich

»Jupp, komm ma her!«

»Jau.., watt is?«

»Kuck ma da unten, in Kammer II, watt schwimmt'n da?«

Josef Machajewski blickte durch die Panoramaverglasung der Kanzel hinunter in die zweihundertfünfzig Meter lange Schleusenkammer. Seine Augen streiften über die Oberfläche des braunen Brackwassers. »Ich seh' nix.«

»Ganz hinten...! Da schwimmt doch watt.« Alfred Aschoff deutete in die Richtung des Schleusentors. »Komischet Ding«, murmelte er kopfschüttelnd. »Taucht auf und geht wieder unter.«

»Gib ma her...!«

Jupp nahm dem Kollegen das Fernglas aus der Hand und suchte an der angegebenen Stelle die Wasseroberfläche ab. »Jau, gezz seh' ich et au. Sieht aus wie'n flachn Behälter oder sowatt.« Er setzte den Feldstecher ab, wandte sich wortlos um, zog seine orangefarbene Dienstjacke von der Stuhllehne und schlüpfte umständlich hinein. Es war kurz vor 18°° Uhr und bald Schichtwechsel. »Ich geh ma runter und hol’ datt raus. Bin gleich widder da.«

Alfred nickte und beugte sich über die Regler des computergesteuerten Leitstandes. Das Meer grüner und roter Signaldioden tauchte sein Gesicht in ein geheimnisvolles Licht.

»Lass aber die Kammer dicht, bis ich datt Dingen raus hab’«, raunzte Machajewski und wandte sich dem Ausgang zu.

»Nimm dä Funk mit und sach Bescheid, wenne fettich bis. Dä Rotterdamer wartet seit ner halben Stunde. Datt is dann dä Letzte für heut‘«, rief Alfred seinem Kollegen nach. Doch Jupp hatte die Tür hinter sich zugeworfen und stapfte bereits auf der Trennmauer der beiden mächtigen Kammern in Richtung Schleusentor. Er hatte eine lange Hakenstange in der rechten Hand, die für solche Fälle an der Rückseite der Eisentreppe hing.

Machajewski, ein grobknochiger Kerl von etwa Mitte vierzig, mit Händen wie Kohlenschaufeln, einer dem man ansah, dass harte Jahre hinter ihm lagen, stiefelte schwerfällig auf der Kammer entlang in Richtung Schleusentor. Sein schütteres Haar, das ihm wirr ins Gesicht fiel, der blasse, großporige Teint und sein gebeugter Gang ließen ihn müde und abgespannt erscheinen. Doch der Schein trog, auch wenn in seiner Miene melancholische Erschöpfung abzulesen war.

Dennoch, Jupp war im Innersten zufrieden. Ja, er selbst, - würde man ihn gefragt haben -, hätte sich als glücklich bezeichnet. Bis vor fünf Jahren war er "auf Zeche" eingefahren und als sie mangels Ergiebigkeit geschlossen wurde, bekam er durch Fürsprache von Alfreds Schwager Michael, der eine einflussreiche Position im Duisburger Rathaus hatte, diesen Job angeboten.

Es war eine ruhige Arbeit, die von den Zyklen der sich öffnenden und schließenden Schleusentore bestimmt wurden. Sie war genauso ruhig, wie der Rhein-Herne-Kanal, der tagein tagaus träge und trüb dahinfloss. Eine Arbeit ohne Hektik und ohne Aufregungen, mit zufriedenstellender Bezahlung und Ortszuschlag Gruppe "S".

Machajewski hatte die Stelle erreicht, an der Alfred den Gegenstand gesichtet hatte. Das schwappende Etwas entpuppte sich bei näherer Betrachtung als ein Koffer. Und so, wie es aussah, ein ziemlich großer. Doch gleichgültig, ob groß oder klein, alt oder neu, solche Sachen hatten in der Schleusenkammer nichts zu suchen und mussten geborgen werden. Vorschrift!

»Was die Leute allet so innet Wasser werfen«, grummelte er und schaltete sein Funkgerät ein. »Jupp an Brücke, kommen! Hör‘ße mich Alfred?«

»Jau.., watt is gezz?«

»Datt Dingen is'n Koffer. Sieht ziemlich neu aus, wenn’ze mich frachst! Lang liecht der noch nich da drin. Ich hol’ den ma‘ raus.«

»Okay. Beeil’ dich, der Rotterdamer hat mich schon zweimal angefunkt. Der will endlich weiter.«

Alfred beobachtete mit dem Fernglas von der Brücke, wie Jupp nach dem Koffer fischte, der im Abstand von knapp einem Meter von der Kammerwand entfernt auf dem Wasser schaukelte. Er schien mit der Angelei seine liebe Mühe zu haben. Nach einigem Stochern bekam er das Ding an den Haken und zog ihn unter Aufbietung aller Kräfte nach oben. Gerade als er das Ungetüm über den Rand der Mauer hieven wollte, rutschte es ihm aus der Hand. Klatschend stürzte das Gepäckstück wieder auf die Wasseroberfläche und tauchte für einen Moment unter.

»Watt machste für’n verdammten Scheiß!«, knatterte es blechern aus dem Lautsprecher des Leitstandes. Jupp fluchte wie ein Rohrspatz, während Alfred mit leisem Grinsen um die Lippen beobachtete, wie sein Kollege bäuchlings auf der Staumauer liegend versuchte, das Treibgut wieder an den Haken zu bekommen.

»Mach hinne«, rief Alfred ungeduldig ins Mikro. »Stell‘ dich nicht so an«.

»Der ist sauschwer«, presste Jupp angestrengt ins Mikro seines Funkgerätes. »Ich hab’ Angst, dass dä Griff abreißen tut.«

»Hol‘ datt Dingen raus! So schwer kannet nich sein!«

»Halt‘ die Klappe!«, blaffte Jupp zurück und machte sich lang.

Jetzt hatte er das graue Ungetüm am Griff erwischt, fasste mit der zweiten Hand nach, wuchtete den Koffer mit einem Ruck über die Kante und zog ihn auf den Betonabsatz.

»Hab ihn«, keuchte er. »Sauschwer, ich sachet dir! Wieso datt geschwommen is, versteh ich nich. Datt müssen Backsteine oder Goldbarren sein.«

»Mach ihn auf, dann siehße watt drin is«, meinte Alfred mürrisch.

Aschoff versah seinen Dienst nun schon über 25 Jahre im Wasser- und Schifffahrtsamt, und er hatte in seinem Leben schon viele angeschwemmte Koffer und Taschen aus dem Kanal gezogen. Er war, was den Inhalt anbetraf, weniger optimistisch, als sein Kollege. Meist hatte er Leichen darin gefunden, sorgsam verpackt und gebündelt, manchmal auch fein säuberlich tranchiert und portionsweise in Müllsäcke gewickelt. An seine Letzte konnte er sich noch lebhaft erinnern. Jemand hatte eine kleine Frau mit Gewalt in einen großen Reiserucksack gepfercht.

Der grüngelbe Tornister der Marke "ENORM", mit Beckenstützstrebe und modernem Klettverschluss, hatte eine ziemlich gute Qualität, das hatte Alfred sofort bemerkt. Er hätte das Ding wirklich gut gebrauchen können, zumal sein Urlaub in Bayerisch Eisenstein kurz bevorstand. Und da die Leiche in eine Plastikfolie gehüllt und nicht mit dem Stoff des Rucksackes in direkte Berührung gekommen war, konnte man diesen durchaus als neuwertig ansehen. Alfred war in diesen Dingen nicht sonderlich empfindlich, schließlich war auch Omma in ihrem Häuschen gestorben und nun wohnte er drin.

Kurz entschlossen hatte er den in PVC eingewickelten Leichnam, der mit mehreren Einmachgummis zusammengeschnürt war, aus dem engen Gefängnis befreit und neben das Schleusentor gelegt. Den Rucksack hatte er anschließend im Waschraum mit Handwaschpaste und heißem Wasser gereinigt und in seinem Spind verstaut. Eigentlich wollte er das gut erhaltene Stück nach Dienstschluss mitnehmen, doch die Kripo beschlagnahmte das corpus delicti.

Er redete nicht gerne über diesen Vorfall und das peinliche Verhör, das er seinerzeit über sich hatte ergehen lassen müssen. Er erinnerte sich noch gut an den leitenden Kommissar, der seinerzeit beinahe einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, weil er, Alfred, in der festen Überzeugung, niemand würde jemals Anspruch an dem Rucksack anmelden, diesen an sich genommen und von allem Übel gereinigt hatte. Man warf ihm Unterschlagung, Zerstörung von Beweismitteln und versuchten Diebstahl vor. Alfred war am Ende durch die Fürsprache seines Vorgesetzten noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen. Jedenfalls verspürte er seither keine Lust mehr, irgendwelche Gegenstände aus der Schleuse zu ziehen.

Alles in allem liebte Alfred seine Arbeit, die er ohne übertriebene Eile verrichtete und jene außergewöhnlichen Vorkommnisse verglich er mit dem gelegentlichen Wellenschlag, den die schweren Pötte beim Durchpflügen des Kanals verursachten und sanft an die Böschungen des Ufers schwappten.

»Ach du liebe Scheiße....«, schepperte es plötzlich durch den Sprechfunk. »Datt darf nich wahr sein…!« Jupps Stimme hatte einen hysterischen klang angenommen und erstarb abrupt.

»Watt is'n los, Jupp?«

»Datt glaubße nich Alfred, watt da im Koffer is«, brüllte der Schleuser mit sich überschlagender Stimme. Alfred drehte den Lautsprecherpegel um zwei Stufen herunter.

»Sach schon«, fragte er, aber ahnte, was auf ihn zukommen würde, denn Jupps Stimme hatte einen panischen Klang angenommen.

»Da is `ne Leiche drin.« Und nach einer Sekunde Pause fügte er völlig außer sich hinzu: »Ne Halbe!«

»Ober- oder Unterteil?«, erwiderte Aschoff mit einem Anflug von Sarkasmus, als habe er vorausgesehen, dass es heute richtigen Ärger geben würde.

»Bisse noch ganz richtig im Kopf...? Mensch Alfred, ich mach keine Witze! Et is wirklich ne Leiche!«

»Ich glaubet dir, Jupp! Sach gezz, isset 'n Mann oder ne Frau?«

»Mensch, du hass vielleich Nerven, meinße ich hab genau nachgeguckt? Ich glaub ich muss kotzen!«

Alfred dachte fieberhaft nach, was nun geschehen müsse. Doch bevor er zu Ende gedacht hatte, krächzte erneut Jupps Stimme im Äther. »Datt stinkt derartig, datt hält keine Sau aus!« Dann hörte er seinen Kollegen würgen und der Sprachfunk brach jäh ab. Gleich darauf meldete sich Jupp Machajewski mit belegter Stimme zurück. »Bin widda auf Sender…! Watt soll ich jetzt machen?«

»Lass allet so liegen wie’et iss und komm her. Ich ruf die Kripo an. Lass die Finger von dem Koffer und rühr nix mehr an. Sonst is die Malaise am dampfen. Bis die Bullen hier sin, müssenwer den Betrieb übber Kammer Eins abwickeln. Ich brauch' dich hier oben.«

»Du willst doch nich weiter abfertigen?«

»Watt soll’n wa machen? Dä Rotterdamer auf Warteplatz drei macht mir die Hölle heiß.« Alfred stellte die Schärfe seines Fernrohrs nach. Er sah Jupp in der Grasnarbe kniend wie paralysiertes Karnickel auf den aufgeklappten Koffer glotzen. Er setzte das Glas ab, griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der örtlichen Polizeidienststelle.

»Polizei Oberhausen, was kann ich für sie tun?«, meldete sich eine schnarrende Stimme.

»Ja, hier Aschoff! Verbinden Sie mich schnellstens mit der Kripo.«

Die Leitung knackte und der Gefangenenchor von Nabucco erklang. "Wie sinnig", dachte Alfred und wartete. Nach einigen Sekunden meldete sich eine forsche Stimme.

»Kriminalkommissar Fleischer!«

»Wasser und Schiffartsamt, Staustufe Lirich, Alfred Aschoff hier. Wir haben 'ne Leiche gefunden.«

»Wo genau?«

»In Kammer II, bei uns inne Schleuse...«, antwortete Alfred. »In einem Koffer«, fügte er hastig hinzu, denn ihm war das kurze Zögern in der Stimme des Kommissars aufgefallen.

»In der Kammer?«

»Jau, inne Kammer«, bestätigte Alfred in der gleichen Knappheit.

»Dann sind wir nicht zuständig. Bis zur Kammer ja, in der Kammer nein. Rufen Sie die Kollegen in Duisburg an, die Leiche schwimmt nicht auf unserem Gebiet. Außerdem haben wir Dienstschluss.«

»Aber bis getz seid immer Ihr gekommen, wenn watt war!«

»Bis vor einem Jahr. Haben Sie’s nicht mitbekommen? Die Gebietsreform...! Die Gemarkungsgrenzen wurden neu geregelt. Rufen Sie die Kripo Duisburg an!«

Ungläubig starrte Aschoff den Hörer an. »Ach so, 'tschuldigung«, murmelte er konsterniert, obwohl sein Teilnehmer längst aufgelegt hatte. Hastig blätterte er im Duisburger Telefonverzeichnis bis zum Buchstaben „P“. Er fuhr mit dem Zeigefinger die einzelnen Spalten nach unten und las leise mit: »pas.., per..., Pief...., pil.., pozel.., Mist. Steht da nirgends Polizei drin...? Ah..., zu weit...! Seine Augen arbeiteten sich wieder die Spalten nach oben. Pem... Pok..., Pol..., Polizei - aha..! Zwei, Acht, Null, Null!

Ohne Zweifel war er genauso aufgeregt wie Jupp, wenngleich aus völlig anderen Gründen. Immerhin verfügte er über einschlägige Erfahrungen mit Leichenfunden und wusste, dass an einen pünktlichen Feierabend nun nicht mehr zu denken war.

» Polizei Duisburg, Leitstelle!«, tönte es schnarrend aus der Muschel.

»Die Kripo, es ist dringend.«

Im gleichen Augenblick stürmte Jupp völlig außer Atem und leichenblass in den Leitstand und knallte die Tür hinter sich zu. Mit schweren Schritten stiefelte er quer durch den Dienstraum hinüber zum Aktenschrank, entnahm den Ordner: Anweisungen für Notfälle, griff in das dahinter gelegene Dunkel und förderte eine Flasche Cognac zu Tage. Seufzend ließ er sich auf seinen Dienstsessel fallen, schraubte die Flasche auf, setzte sie unter Verzicht eines Glases an den Mund und tat einen tiefen Schluck.

Besorgt blickte Alfred hinüber zu seinem Arbeitskollegen, dem es offensichtlich nicht gut ging. Aber bevor er sich weitergehende Gedanken über Jupps Zustand machen konnte, wurde er verbunden.

»Hauptkommissar Slatkow. Wie kann ich Ihnen helfen?«, hörte Alfred laut und vernehmlich und nahm beiläufig wahr, dass die Stimme alles andere, nur nicht hilfsbereit klang.

»Ähm...! Guten Abend, Wasser- und Lirichamt Schiff-Fahrt, Stufenstau Aschoff. Ich möchte einen Koffer melden.«

»Kleiner Witzbold, was? Wenden Sie sich ans Fundbüro!«

»Hörn’se ma...! Datt glaub ich nich, datt datt Fundbüro dä Koffer nehmen tät.« Alfred hatte sich wieder voll im Griff. »Et is ne Leiche drin«, fügte er an. Die kurz Stille im Hörer löste in Alfreds Mine Zufriedenheit aus.

»Sie melden einen Leichenfund? Warum sagen sie das nicht gleich? Wer sind sie und von woher rufen sie an?« Die bis dahin gleichgültige Stimme klang marginal interessierter.

Alfred dagegen war genervt. Er wollte heute irgendwann mal Feierabend machen. Else würde zu Hause auf ihn warten. »Hab ich doch eben gesa-hagt...! Schleuse Lirich, mein Name ist Aschoff! Diensthabender Leiter der Staustufe. In Kammer II liegt ne Leiche!«

»Mein lieber Herr Arschauf…, Kammer II ist Lirich, und Lirich gehört zu Oberhausen. Wir sind nur bis zum unteren Ausfahrtstor zuständig. Rufen Sie die Kollegen an. Warten Sie, ich gebe ihnen die Nummer....«

„Herr Arsch-auf“! Da war es wieder. Am liebsten hätte Alfred diesem Hauptkommissar Slatkow die Meinung gegeigt, aber dann würde alles nur noch länger dauern. Er holte tief Luft. »Dann also auf Hochdeutsch. Ich brauch’ keine Nummer und ich brauch’ auch keinen Komiker aus dem Fernsehen, Herr Zlatko! Eben habe ich mit ihrem Kommissar Fleischer in Oberhausen telefoniert, und der hat gesagt, ich soll Sie anrufen! Wenn ich gewusst hätte, dass seit neuestem Big Brother in Duisburg stattfindet....« Alfred und kicherte über seine gelungene Retourkutsche.

Hauptkommissar Slatkow kicherte nicht. »Werden Sie nicht unverschämt, Sie Wasserpfeife«, knurrte der Kriminalbeamte bissig. »Wenn Sie einen Toten auf ihrem Gelände haben, dann melden Sie das den Kollegen in Oberhausen. Die sollen ihre Hintern aus den Sesseln heben und sich kümmern.«

Abermals knackte es in der Leitung, dann war Alfred mit Jupp wieder allein. Offenkundig hatte dieser rüde Kripobeamte den Hörer auf die Gabel geknallt. Alfred wollte es kaum glauben. »Helft der Polizei und verprügelt euch selber!«, murmelte er wütend und dachte an zu Hause. Else würde toben.

»Watt is'n gezz los? Jupp hing schlaff in seinem Stuhl und bekam zusehends eine rosige Gesichtsfarbe. Der Pegel der Cognacflasche allerdings hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht.

»Keiner von denen will die Leiche«, knurrte Machajewski und trat mit voller Wucht gegen Papierkorb.

»Datt gibbet do nich! Ruf nomma an.« Jupp schüttelte ungläubig den Kopf und setzte erneut die Flasche an. Aschoff wählte erneut die Oberhausener Nummer. Dieses Mal meldete sich ein Kommissar Klugmann, der offenbar Fleischers Schicht übernommen hatte. Und ebenso offensichtlich schien er von ihm über die Nichtzuständigkeit der Schleusenleiche ins Bild gesetzt worden zu sein. »Sie schon wieder«, höhnte der Beamte, als Aschoff seinen Namen nannte.

»Ja, wer denn sonst! Glauben Sie, datt isn Spaß?«

Alfred dachte an Else, die verdammt unangenehm werden konnte, wenn er nicht pünktlich nach Hause kam. Die Kartoffeln wären verkocht, der Schmorbraten im Rohr verbruzzelt und sein Bier warm. Es wurde Zeit für ein paar deutliche Worte. »Hömma, Meister, gezz habbich abber langsam genuch. Diesen Düssburger Kriminalen sacht klipp un klar, datt ihr zuständich seid. Ich hab ein Recht dadrauf, datt irgendeiner von Euch vorbeikommt und macht, datt die Leiche hier dä Verkehr frei gibt. Ich kann hier nich ewwich rumstehen und mit euch telefonieren!«

»Jau! Die stinkt schon«, fügte Jupp aus dem Hintergrund bekräftigend hinzu. Unmittelbar nach seiner Bemerkung überkam ihn das Würgen und er stürzte, die Hand vor dem Mund gepresst in Richtung Toilette. Der Schnaps und die Erinnerung waren zu viel für seinen Magen. Alfred dagegen schnaubte grimmig durch die Nase und legte lautstark los: »Also, watt is gezz, Meister?«

»Klugmann ist mein Name!«

»Von mir aus, Meister Klugmann. Trotzdem will ich wissen, watt gezz is.«

»Nix is. Wenn ich Ihre Telefonnummer auf dem Display richtig interpretiere, dann habt Ihr doch `ne Duisburger Vorwahl, oder?«

»Ja und…?«

»Das machen die Kollegen in Duisburg. Is doch logisch...!«

Mittlerweile funkte die MS van Gelderen aus Rotterdam wütende Meldungen zum Schleusentower. Eine Stimme beschimpfte die Bediensteten der Liricher Staustufe in übelster Weise. Sie seien miese Pennbrüder, lägen den ganzen Tag auf der faulen Haut, strichen üppige Gehälter ein, und sie würden niederländische Transportschiffe vorsätzlich an der zügigen Weiterfahrt hindern.

»Das is Dischkriminierung von nederlandise Motorschiffe, Godsverdunnere«, plärrte es blechern aus dem Lautsprecher, während Alfred völlig entnervt mit der Dame aus der Vermittlungszentrale im Oberhausener Polizeipräsidium über die Zuständigkeiten von Kapitalverbrechen in und außerhalb von Schleusenkammern diskutierte.

Längst hatte Alfred die Faxen dicke. Erst verscheißerte ihn dieser Fleischer, er solle die Leiche im Fundbüro abliefern, dann ließ ihn Klugmann spüren, dass er ihn nicht ernst nahm und jetzt beleidigte ihn fortwährend der Schiffer aus Holland. Was zu viel war, war zu viel. Stinksauer warf Alfred den Hörer auf die Gabel und er schlug mit der geballten Faust auf den Schreibtisch, dass der Stempelhalter umfiel.

»So nich! Nich mit Alfred Aschoff!! Ich lass mir ja viel nachsagen! Den Pennbruder will ich auch noch überhört haben. Aber Dismikrierung, das ging eindeutig zu weit. Wutentbrannt wandte er sich an seinen Kollegen. »Jupp, du gehß gezz nach vorne und ich lass dä Käskopp in die Kammer. Und wenn ich datt Tor widda aufmach, dann schmeiß du dem dä Koffer auff’e Ladung. Hasse mich verstanden?«

Jupp nickte lethargisch und verließ auf wackligen Beinen den Dienstraum. Auf der Mittelwand der Kammern angekommen griff er zum Funkgerät und krächzte: »Jupp an Brücke, kommen…«

»Watt is?«, schnaubte Aschoff ungehalten.

»Soll ich dä Koffer vorher widder zumachen?«

»Mach watte willz! Is mia doch egal«, knurrte Alfred zurück und schaltete sein Mikro ab.

Wutschnaubend schlug er das Meldebuch auf, trug die MS Van Gelderen, aus Rotterdam kommend, beladen mit Maschinenteilen und dem Fahrtziel Hafenkanal Ruhrort, Becken B - Schrottinsel, in die Rubrik der abgefertigten Schiffe ein. In der Spalte "Besondere Vorkommnisse" vermerkte er: Keine!

Schrottinsel

Übelgelaunt betrat Erich Levandowski sein Büro, warf seine Jacke lässig über den Garderobehaken neben der Tür und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. Er teilte sich mit seinem langjährigen Kollegen Oberkommissar Heiner Glatzinski und ihrer gemeinsamen Sekretärin den spartanisch eingerichteten Raum. Die drei schäbigen Holzschreibtische standen in U-Form zusammengerückt vor dem Fenster.

Immerhin, er hatte den besten Platz mit Blick auf den gegenüber liegenden Park. Einige Rollladenschränke aus Buche, drei Plastikpapierkörbe in himmelblau, vier Vernehmungsstühle und ein kleiner Tisch mit einer pflegeleichten Kunststoffplatte, auf dem die Kaffeemaschine stand, vervollständigten das Inventar.

Erich machte sich schon lange keine Gedanken mehr über die niederschmetternde Einrichtung seiner Arbeitsstätte. Er hatte sich an die Tristesse behördlicher Raumgestaltung gewöhnt. Sein Blick fiel auf die Wanduhr, als das Telefon auf dem Schreibtisch von Frau Siegesmund klingelte. Sicher lag sie um diese Uhrzeit noch zu Hause in ihrem warmen Bettchen. Hauptkommissar Manfred Slatkow kam gewöhnlich erst gegen 9 Uhr, mit ihm war vorerst noch nicht zu rechnen. Seufzend stand er auf, ging um die Schreibtische herum und nahm ab.

»Guten Morgen Levi! Ich bin's! Paul von der Verkehrsleitstelle.«

»Was gibt’s?«, maulte Erich einsilbig. Du hörst dich an, als hättest du heute Nacht durchgesoffen.

»Nachtschicht! Du kennst das ja«, erwiderte sein Kollege vom Telefondienst.

Ja, Nachtschichten kannte Erich Levandowski zur Genüge und zog ein Gesicht, als habe er eine Ratte verschluckt. Aber bevor er sich weitere Gedanken über den Sinn über zermürbenden Schichtdienst machen konnte, sprach Paul weiter.

»Ich habe einen Schiffer aus Holland an der Strippe, der behauptet, eine Leiche in seiner Ladung gefunden zu haben. Ich hab schon mal zwei Funkstreifen zum Hafen geschickt. Ich verbinde dich mal…«

»Okay, stell' durch.« Levandowski klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter und blätterte in den neuesten Mitteilungen auf seinem Schreibtisch. »Unwichtiger Kram...«, murmelte er ärgerlich, »...möchte nur wissen, wer mir immer diesen Mist auf meinen Tisch legt.«

Levandowski war ein introvertierter Typ, hoch aufgeschossen und mit schlaksiger Figur. Seine Frisur erinnerte an Prinz Eisenherz und gab ihm ein jugendliches, ja beinahe schüchternes Aussehen. Er redete nicht viel, doch wenn er es tat, dann mit einer forschen Schnoddrigkeit, die zu seiner arglosen Optik in krassem Widerspruch stand. Als kleiner Junge hatte er davon geträumt, Flugkapitän eines Jumbos zu werden. Doch die gefühlvolle Interpretation eines Gedichtes von Eichendorff in der Abiturprüfung ging völlig daneben, und brachte er kein Wort heraus. Damit konnte er mangels besseren Ergebnissen in anderen Fächern nicht nur seine gymnasialen Ambitionen, sondern auch die Fliegerträume begraben. Doch wo der Ehrgeiz endet, da fängt bekanntlich das Glück an. Er bestand die Tauglichkeitsprüfung bei der Polizei, trat in den Dienst des Staates ein und war in wenigen Jahren in den Rang eines Kommissars aufgestiegen.

Levi verfügte über eine messerscharfe Kombinationsgabe, die im Präsidium einen legendären Ruf hatte, und er genoss die bewundernde Anerkennung seiner Kollegen. Sein analytischer Verstand wurde jedoch durch den störenden Fehler beeinträchtigt, weil er diesen nur weisungsgemäß und wenn, dann mit nahezu übertriebener Konsequenz einsetzte. Aber immerhin mit bemerkenswerter Kreativität. Einmal entwickelte kriminalistische Theorien verfolgte er wie ein Bluthund mit unbarmherziger Effizienz und himmelschreiender Verkennung objektiver Tatsachen. Er war erst dann von seinem Vorhaben wieder abzubringen, wenn Vorgesetzte ihm eine neue Richtung vorgaben oder mit Kündigung drohten.

Nach wie vor wartete er auf die Vermittlung des Gesprächs, und las, eher beiläufig eine hastig gekritzelte Notiz auf seinem Block:

Meldung: Dienstag, 19 Uhr 17

Männliche Person nackt auf Fahrrad am Buchenbaum, Ecke Königstraße gesichtet. Der nicht identifizierte Verkehrsteilnehmer fuhr mit gemäßigter Geschwindigkeit durch die Königstraße. Verfolgung von POM Gertich ab Hohe Straße über Gallenkamp bis in die Tonhallenstraße aufgenommen. Der Exhibitionist bog unvermittelt in eine Einfahrt ab. Die Spur hat sich in Hinterhof des Anwesens Güntherstraße 17 verloren. Das Fahrrad des Unbekannten wurde durchObermeister Gertich um 19 Uhr 23 in der Einfahrt sichergestellt."

Levi zerknüllte den Zettel zu einem kleinen Ball und kickte ihn treffsicher in den Papierkorb, der knapp neben dem Tisch mit der Kaffeemaschine stand. Nach dem zweiten Versuch seines Kollegen klappte die Weiterverbindung. »Ja…!«, meldete er sich mit amtlicher Ungnädigkeit.

Eine männliche Stimme mit holländischem Akzent schien sich vor Aufregung zu überschlagen, so dass Levi kaum ein Wort verstand. Die Verbindung war unter aller Sau. Lautes Rauschen überdeckte zeitweise vollständig das abgehackte Stammeln des Anrufers. Erneut meldete er sich, dieses Mal mit erhobener Stimme. »Kommissar Levandowski! Mordkommission, ich kann Sie kaum verstehen!«

»God sei bedankt...«, jappste der Kerl am anderen Ende der Strippe. »Hier is dat Motorschiff van Gelderen aus Rotterdam, ich bin Kapitän Hans Vandammeren.«

Levi hatte den Eindruck, der Mann am Telefon stünde kurz vor einem hysterischen Anfall.

»Beruhigen Sie sich, Herr Vandammeren. Holen sie erst mal Luft und buchstabieren Sie ihren Namen. Und dann erklären Sie mir in aller Ruhe, was los ist.«

Levandowski entnahm einen Stift aus dem stillgelegten Kaffeepott und schob seinen Schreibblock gerade.

»Meine Mannschaft hat bei das Lösche von die Ladung een Leich gefunne. In een groote, graue Koffer, zwischen die twei Kiste mit die oude Kurbellewelle! Niet smaakeliek, sech ich Ihne.« Vandammeren, dessen Stimme sich immer noch vor Aufregung zu überschlagen drohte, keuchte vernehmlich. Dann fuhr er atemlos fort: »Direkt zwische die Maschinenteile. Ich heb keine Idee, wie die da hinkomme is…«

»Wo liegt ihr Kahn vor Anker?« Levi schoss routiniert seine Fragen ab, um gleich wesentliche Fakten festzuhalten.

»Im Hafen Ruhrort, Becken B, Schrottinsel, de letzte Anleger«, erwiderte der Holländer atemlos.

»Gut…! Rühren Sie nichts an! Stellen Sie sofort alle Entladetätigkeiten ein und bleiben Sie mit Ihrer Mannschaft wo sie sind. Die Funkstreife ist unterwegs. Die Beamten werden in ein paar Minuten bei Ihnen eintreffen. Ich bin in etwa 10 Minuten da.«

Levandowski trennte die Verbindung und wählte die Telefonnummer seines Kollegen Heiner Glatzinski. Es war 6 Uhr 14, er hatte 11 Stunden Nachdienst in den Beinen und immer noch keinen Kaffee. »Koffer...? Koffer..., da war doch was...«, murmelte er vor sich hin. Gerade hatte er eine Notiz mit irgendeinem Koffer in der Hand gehalten. Hastig blätterte er den Stapel Papiere durch. Ja..., da lag die Meldung! Hatte er doch richtig gelesen. Schweigend überflog er ein weiteres Mal den Vorgang.

Meldung: Montag, 18 Uhr 04

Anruf Oberhausen-Lirich, Staustufe 2! Kofferfund mit Leiche in Schleusenkammer. Habe Alfred Aschoff, Leiter der Staustufe an die Kripo Oberhausen verwiesen. OK Fleischer wg. Zuständigkeit telefonisch informiert.

Gez. KHK. Slatkow

»Hm...« Er zog seine Augenbrauen zusammen. Eine Leiche in der Schleuse, eine weitere auf einem holländischen Schrottkahn? »Zufall ist Glaubenssache«, murmelte Levi, während er darauf wartete, dass sein Kollege endlich den Hörer abhob.

Der Rufton riss jäh ab. »Ja«, bellte es unfreundlich aus dem Hörer.

»N'morgen Glatze! Raus aus der Falle! Wir haben Arbeit im Hafen!«

»Scheiße…!«

»Du weißt ja, wer zu spät kommt, hat mehr vom Chef! Treffpunkt in 20 Minuten an der Schrottinsel, es gibt 'ne Leiche auf 'nem Frachter.«

Bevor sein Partner eine weitere unflätige Bemerkung machen konnte, hatte er den Hörer aufgelegt und hämmerte er die Nummer des Erkennungsdienstes in die Tasten. Es war genau 6 Uhr 22, und seine Finger trommelten ungeduldig einen undefinierbaren Rhythmus auf der Schreibtischunterlage.

Es war immer das Gleiche. Wenn es dringend war, schienen sich seine Kollegen in Luft aufgelöst zu haben.

»Hallo?« Überraschenderweise meldete sich eine Frau.

»Was ist denn bei euch im ED los? Pennt ihr noch alle?«, schnauzte Levandowski ohne Einleitung in den Hörer. »Ich brauche sofort einen eurer Alchemisten in meinem Büro. Aber zackzack, wenn ich bitten darf.«

»Ich nix versteh. Ich Putzefrau sein…!«

»Wer…?«

»Ich Frau von Erlan Ötzekül und nix wissen. Nur machen sauber Boden von Büro.«

Bevor Levi etwas erwidern konnte, hatte die Reinigungskraft aufgelegt. »Mein Gott, bin ich im osmanischen Fernsehen gelandet? Es ist nicht zu glauben! Wenn ich ins Bett will, gibt’s entweder Tote oder Sprachprobleme!«

Ärgerlich wählte er die Nummer seines Chefs. Er wusste, Hauptkommissar Slatkow konnte ziemlich ungesellig werden, wenn er nicht sofort über wesentliche Vorkommnisse unterrichtet wurde.

Nach dem vierten Klingelton meldete sich sein Vorgesetzter »Was gibt’s?«

»Morgen, Chef! T´schuldigung, wenn ich so früh störe, aber wir haben eine Leiche im Ruhrorter Hafen.«

»Der Hafen ist groß«, kam es knarzend aus dem Hörer.

»Schrottinsel! Auf einem holländischen Frachter. Glatze ist informiert und ich fahre auch gleich los. Soll ich Ihnen die Fahrbereitschaft schicken?«

»Nein, ich komme mit meinem Wagen. Sichert den Fundort und vergiss nicht, die ED, den KTU und die Spurensicherung zu informieren.«

»Ich hab schon dort angerufen. Es geht keiner dran. Scheinbar pennen die noch alle, aber ich geh gleich zum Wecken vorbei.«

Gerade als Levandowski den Hörer auflegte, betrat Fräulein Siegesmund das Büro.

Nesselchen, so nannten die Männer des K 1 Helga, eine zierliche Blondine, steuerte mit aufreizend schwingenden Hüften ihren Schreibtisch an. Sie stellte ihr schwarzes Handtäsch’chen auf den Drehstuhl und schälte sich aus dem eng geschnittenen rosafarbenen Blazer. Dann klackerte sie auf ihren hohen Stöckelschuhen zum Spiegel, der neben dem Garderobenständer über dem Waschbecken hing. Kritisch betrachtete sie ihr Spiegelbild. Erst jetzt quälte sie sich ein desinteressiertes „Guten Morgen Levi“ über ihren Schmollmund, während sie sich mit dem Lippenstift der Marke „Frevolous Temptation“ die Konturen ihrer vollen Lippen nachzog.

Levandowski kannte die Prozedur. Gleich würde sie sich an den Augenbrauen einige Härchen auszupfen und mit dem Mittelfinger das Fältchen links neben der Nase glatt streichen. Dabei würde sie den kleinen Finger abspreizen. Im Anschluss würde sie mit einem Rougestick ihr Makeup korrigieren und ihre wilden Locken aus der Stirn streichen. Mit einem Anflug sehnsuchtsvollen Interesses äugte Erich aus den Augenwinkeln auf Helgas gut gewachsene Beine.

»Sie sehen fürchterlich aus«, plapperte Nesselchens los. Levandowski schreckte auf, blickte hinüber zur hübschen Sekretärin, die ihm schon am frühen Morgen mit ihren festen Apfelbrüsten und dem sündig geformten Hintern fleischliche Höllenqualen bescherte.

»Ich hatte Nachtdienst« entgegnete er gereizt, »...und jetzt haben wir 'ne Leiche auf einem Frachter. Ich bin unterwegs, halten Sie die Stellung. Adresse des Einsatzortes liegt auf meinem Schreibtisch, falls jemand nach mir fragt...«, sprach's und schlug mit einem letzten Blick auf Helgas himmellange Beine die Tür hinter sich zu.

Zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte er durchs Treppenhaus hinunter zum Parkplatz und bestieg seinen Dienstgolf. Noch während er startete, ließ er das Seitenfenster hinunter, stülpte das Blaulicht aufs Dach und raste mit eingeschalteter Sirene aus dem Hof des Polizeipräsidiums. »Die Kleine würde ich bestimmt nicht von der Bettkante stoßen!« Um ein Haar wäre Nesselchen sein letzter Gedanke gewesen. Mit nahezu hundert Sachen raste er zwischen zwei Verkehrsinseln hindurch, die just in diesem Moment von zwei älteren Damen überquert wurden. Im Slalom kämpfte er sich durch den dichten Verkehr in der Kremerstraße, wich im letzten Moment einem Ampelmast aus und gleich darauf einem entgegenkommenden Kleinlaster. Nun schlug er in einen wilden Haken, bog in die Musfeldstraße ein, weil die Plessinstraße in Richtung Marientor völlig verstopft war. Bei alledem musste er unablässig an Helgas offenherzige Bluse denken. Die ihm sich dargebotenen Rundungen hatten ihn auch heute Morgen wieder völlig verwirrt.

Knapp zwanzig Minuten später hatte Erich die Sympher Straße erreicht, radierte mit kreischenden Reifen durch die Spitzkehre in die Schlickstraße, und bretterte mit unverminderter Geschwindigkeit auf das Haupttor der Thyssen AG zu. Die Schranke zum Hafenbecken war bereits geöffnet. Im Hintergrund türmten sich riesige, rostrote Schrotthalden, die der Halbinsel ein bizarres Gepräge gaben. Scharf bremste er ab, sprang aus seinem Wagen. Erich bahnte sich mit seinen den Weg durch Abfälle und Schrott-Teile, stakste zwischen Blechteilen und T-Trägern zum Ladekran. Direkt unterhalb lag die MS van Gelderen. Kollegen der Funkstreife standen gelangweilt am Kai und beobachteten das Geschehen auf dem Wasser.

Levandowski nickte eine knappe Begrüßung und blaffte böse: »Habt ihr nix zu tun? Sperrt das Areal ab, anstatt wie eine verblödete Hammelherde herum zu stehen und Spuren zu zertrampeln! Er wandte sich ab und ging auf den Mann mit Schiffermütze zu, der neben dem Fallreep am Frachter stand und ihm erwartungsvoll entgegensah. »Guten Morgen, ich bin Kommissar Levandowski. Herr Vandammeren, nehme ich an.« Der Schiffer nickte. »Wir haben vorhin miteinander telefoniert«, stellte Levi fest. Haben Sie die Leiche gefunden?«

»Nein, eine von die Matrose. Wenn wir Ladung löschen, muut immer einer von die Luke aus den Ladekran Anweisunge geben. Piet hat diese Koffer entdeckt und ihn opchemaaht. Ik weit niet wie datt zwischen die Ladung inkomme is.«

»Wo ist der Mann jetzt und wie heißt er mit Nachnamen?«, knurrte Levandowski.

»Van der Meeren.«

»Hat er mit dem Toten etwas zu tun, außer dass er ihn gefunden hat?«

»Liewer God nee! Piet is wirklich een nette Jung! Sreibt in seine Freizeit lyrischen Gedichten. Hej is en Träumer, datt mooten Sie wissen. Hej is sehr sensibel.«

»Wo ist dieser van Meeren jetzt?«

»Niet hier! Er hat eein slimme Nerwenzusammengebruch. Die Ambulanz hat ihn ins Spital geliefert. Er hat nur noch gesrie und is wie ein Wahnsinnige in die Frachtraum auf und ab gerennt. Die Sanitäter haben Piet vor zehn Minütje abtransportiert.«

Vandammeren schien zutiefst erschüttert über das Schicksal seines Matrosen zu sein. Levis Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Irgendeine Kleinigkeit machte ihn misstrauisch. Unter gesenkten Augenliedern beobachtete er den Holländer.

Der Kapitän hatte sich seit dem Telefonat scheinbar gefangen, denn er sprach nun ruhig und überlegt. Ein wenig zu ruhig nach Levis seinem Geschmack.

»Was glaube Sie, Herr Kommissar, wie lange Sie hier zu duun habe? Ich heb Terminfracht un jede Stunde kostet mich eine Haufe Euro.«

»Vorläufig geht hier nichts«, entgegnete der jugendlich wirkende Beamte kurz angebunden. »Bringen Sie mich zur Leiche!«

Levi redete nicht viel drum herum. Er war müde, übernächtigt und außerdem schlechter Laune. Nach vierzehn Stunden Dienst wollte er endlich nach Hause. Seine Frau war schon sauer auf ihn und seine Ehe durch permanente Überstunden strapaziert genug.

Vandammeren balancierte über den schmalen Metallsteg, der die Bordwand des Schiffes mit der Kaimauer verband und stieg die Sprossenleiter hinunter in den Laderaum. Levi kletterte hinterher und folgte dem Kapitän. Im düsteren Bauch des Schiffes angekommen, zwängten sie sich zwischen Gitterboxen voller Maschinenteile, Metallspänen und rostigen Metallteilen nach vorn zum Bug.

Vandammeren blieb unvermittelt stehen und deutete auf ein quadratisches Etwas vor seinen Füßen.

»Da liecht het!« Das Gesicht des Holländers zeigte keinerlei Gemütsregung, selbst dessen Stimme klang sachlich und emotionslos. Zwischen einem Stapel hoch aufgetürmter Metallbehälter steckte ein unförmiger Koffer, der Deckel weit aufgeklappt.

»Merkwürdiges Modell« entfuhr es dem Kommissar spontan beim Anblick des ungewöhnlichen Gepäckstückes. Erich beugte sich über den Koffer. Eine milchweiße Plastikfolie umgab einen sehr kurzen Körper. Das Paket war sorgsam geschnürt und mit einem schwarzen Stretchband zusammen gehalten. Zwei nackte Füße ragten am unteren Ende heraus. Levi versuchte jedes Detail des grauenhaften Sachverhaltes wie eine Digitalkamera in sich aufzunehmen. Am linken Zeh waren deutlich sichtbare, schwarzblaue Druckstellen zu erkennen. Levis Augen saugten sich an dem Plastiksack fest.

Nach erster Einschätzung Levandowskis musste der gut verpackte Torso etwa in Nabelhöhe abgetrennt worden sein. Der Täter hatte das obere Ende der Folie, soweit man überhaupt von oben und unten reden konnte, penibel mit Hasendraht umwickelt. Blut war in großen Mengen in die Folie geflossen und sickerte an einigen Stellen als braunrote Brühe aus dem Sack.

Der infernalische Gestank ließ Levi einen Schritt zurücktreten und von einer weiteren Begutachtung Abstand nehmen. Mit vorgehaltener Hand quetschte er sich eilends durch den engen Zwischenraum des Ladegutes zurück zur Leiter und blickte nach oben.

Offenbar waren sein Chef und Glatze eingetroffen, denn er hörte vertraute Stimmen.

»Hey.., Levi...! Bist du da unten?« Ein dichter, schwarzer Haarschopf erschien in der Öffnung der Ladeluke. Glatze sah zum Fürchten aus. Unrasiert und mit übernächtigtem Gesicht starrte er in den schwarzen Bauch des Motorschiffes. »Hallo?«

»Ja, ich bin hier!«, brüllte Levi zurück

»Moment, ich komm’ runter«, und schon erschienen zwei riesige Füße, die ein wenig unsicher die Sprossen der Eisenleiter ertasteten. Glatze, ein Hüne, war eine Idee kleiner als Levandowski, wirkte aber durch seinen athletischen Körperbau und dem massigen Brustkasten wuchtiger als sein Kollege. Der kurze, muskulöse Hals, der ansatzlos in den kantigen Schädel überging, zeigte an den Seiten beeindruckende Muskelstränge.

Als ehemals erfolgreicher Zehnkämpfer und zweifacher Sieger des Ironman verfügte er über die Kraft eines ausgewachsenen Ochsen. Meist setzte er sie schneller ein, als seinen Kopf. Dennoch durfte man seine Intelligenz nicht unterschätzen. Sie zeigte sich subtil und war nicht immer gleich zu erkennen. Gern gab er sich einfältiger als er war, was ihn umso gefährlicher machte. Die tiefschwarzen, üppigen Haare schienen ebenso wenig zu bändigen, wie sein überschäumendes Temperament angesichts verschlossener Türen oder türkischen Security-Personals in zwielichtigen Diskotheken.

Obwohl Glatzinski über keine nennenswerte Sensibilität verfügte und im Einsatz selten Pardon kannte, war er auf geradezu rührende Weise in Nesselchen verschossen. Und auch sie schmolz beim Anblick dieses Bilderbuchherkules dahin wie Butter in der Sonne. Schon die Nennung seines Namens beförderte sie in einen Zustand fleischgewordener Romantik. Doch trotz glühender Gefühle für ihn, blieb Glatze, dem die schmachtenden Blicke von Nesselchen keineswegs entgingen, auffallend distanziert und näherte sich Helga nie mehr als auf fünf Schritte.

Sichtlich genervt und mit übler Laune war der Kommissar auf dem Grund des Laderaumes angekommen.

»Haste mal 'ne Kippe?«, bellte er ohne Gruß seinen langjährigen Kollegen und Partner an und streckte ihm seine Hand auffordernd entgegen.

Levandowski nestelte umständlich in der Brusttasche seines Oberhemdes eine zerknitterte Schachtel Rothändle heraus und stippte die Packung ein paar Mal an seinen Zeigefinger. Glatze fummelte nach der Zigarette und ließ sich von Levi Feuer geben.

»Wo isse?«, quetschte er durch die Zähne.

»Hinter der vierten Box links«, erwiderte Levi, der die morgendliche Wortkargheit seines Kollegen kannte und deshalb auf lange Erklärungen verzichtete. Dann wandte er sich an den neben ihm stehenden Kapitän und fragte: »Haben sie am Fundort etwas verändert? Wegen der Spuren, meine ich!«

»Nee, natürlich niet«, antwortete dieser brüsk.

»Gut. Dann gehen wir jetzt am besten nach oben, ich brauche eine Namensliste der Besatzung, ihre Fahrtroute und alle Stationen ihrer Anlandungen auf dem Weg hierher.«

Während Glatze sich im Laderaum einen Überblick verschaffte, kletterten die beiden Männer die schmale Leiter an Deck und Vandammeren führte Levi zur Ruderhaus des fast neunzig Meter langen Rheinfrachters. Der Kapitän kramte Logbuch und Ladepapiere aus einer Schublade unter dem Ruder.

Inzwischen hatte sich an der Mole ein großes Aufgebot an Fahrzeugen eingefunden. Die Beamten der Spurensicherung sowie ein Kollege vom Erkennungsdienst, weitere zwei Hilfskräfte, die die sterblichen Überreste im Zinkbehälter der Gerichtsmedizin überstellen sollten und auch der diensthabende Staatsanwalt waren eingetroffen. Levi beobachtete von der Brücke des Motorschiffes aus, dass Hauptkommissar Slatkow und der Staatsanwalt ein wenig unsicher auf dem schmalen Außentritt in Richtung Ladeluke gingen, währenddessen der die Personalliste des Schiffes, die er in der Hand hielt, beiseitelegte.

Die Routineüberprüfung der Papiere und der Mannschaftsunterlagen hatten keine signifikanten Anhaltspunkte ergeben. Nicht der leiseste Hinweis konnte Auskunft über die Herkunft oder Identität des Toten geben. Er verließ das Ruderhaus der MS van Gelderen. Glatze wartete bereits mit glimmendem Zigarettenstummel im Mundwinkel an Deck und beobachtete scheinbar unbeteiligt die Ankömmlinge.

»Bist du schon fertig?«, fragte Slatkow den völlig abgeschlafften Levandowski.

»Ja, alles klar, Chef.«

»In Ordnung, dann sehen wir uns in einer halben Stunde im Büro.«

»Ich bin seit 16 Stunden auf den Beinen«, geiferte Levi empört.

»Erst den Bericht, danach kann'ste von mir aus ein paar Stunden pennen.«

»Glatze kann den Bericht genauso gut machen! Der drückt sich sowieso immer vor dem Schreibkram!«

Oberkommissar Glatzinski bedachte seinen Kollegen mit einem wütenden Blick. »Kollegenschwein!«

Doch Kommissar Slatkow kannte kein Erbarmen, vor allem nicht mit Mitarbeitern, die ihn aus dem Bett geholt hatten. »Schluss jetzt mit der Debatte. Seht es doch einfach mal so: Das Berichtswesen ist die Erotik der Bürokratie.«

»Aber mir geht dabei keiner ab!«, brummte Glatze. »Ich kriege dabei einen Hänger!«

Staatsanwalt Dr. Gert von Südow gesellte sich zu den drei Beamten, die wie Kampfhähne an Deck standen und sich gegenseitig traktierten. Südow war ein filigraner Typ von nicht mal dreißig Jahren, blasser Gesichtsfarbe und starker Akne. Seine arroganten Gesichtszüge korrespondierten mit dem herablassenden Blick, der gerade missbilligend Glatzes unrasiertes Gesicht musterte.

»Sie halten mich auf dem laufenden, Slatkow«, näselte der smarte Anwalt der Gerechtigkeit, ohne seinen Blick von Glatze abzuwenden. »Sie sehen verboten aus.« Die arrogante Süffisanz, die in der Stimme des Staatsanwaltes lag, war unüberhörbar. Doch bevor Glatze etwas Passendes erwidern konnte, hatte dieser ihm den Rücken gekehrt und wandte sich zum Gehen. Doch es schien ihm noch etwa eingefallen zu sein und er verharrte einen Augenblick. »Ach..., auf ein Wort, Herr Levandowski!« Der Staatsanwalt schien nach einer Formulierung zu suchen, während seine Augen mit einem Anflug von Ekel Levi musterten. »Ihre Orthographie im letzten Bericht ließ ziemlich zu wünschen übrig. Außerdem strotzte er nur so vor grammatikalischer Hilflosigkeit! Ich wäre dankbar, wenn Sie zukünftig ein wenig mehr Grips bei der schriftlichen Abfassung von Ermittlungsergebnissen verwenden würden.«

»Bin ich Duden?«, raunzte Levi zurück, wandte sich demonstrativ von Südow ab und starrte beleidigt über die Reling des Schiffes. Überall lauerte einem dieser Kerl mit seinem Bildungs-Senf auf. »Stellen Sie sich doch einen Behördenliteraten ein, wenn Sie auf Lyrik stehen«, maulte er.

Glatze war zwar noch nicht ganz wach, hatte aber dennoch den Rüffel mitbekommen. Mit schnellen Schritten ging er auf Südow zu und blieb nur wenige Zentimeter vor ihm stehen. Seine Augen funkelten zornig. Levandowski zog sich mit einem schadenfrohen Grinsen ein paar Schritte zurück. Er wusste, was nun geschehen würde. Sein Freund neigte zu heftigen Unfreundlichkeiten, besonders dann, wenn er nicht ausgeschlafen hatte. Oft genug hatten ihm seine Ausbrüche Schwierigkeiten eingebracht. Glatze, die Hände tief in die Taschen vergraben, fixierte Südow mit einem vernichtenden Blick. Unvermittelt bellte er den jugendlich wirkenden Staatsbeamten an: »Haben Sie keine Familie?«

»Doch, aber ich mache keinen Gebrauch davon«, erwiderte er giftig, indem er zwei Schritte rückwärts machte.

»Das dachte ich mir. Deshalb fallen Sie uns hier mit Ihrer langweiligen Pädagogik auf die Nerven, anstatt Ihre Kinder damit zu quälen.«

»Und…? Hat das irgendetwas mit meiner Familie zu tun? Mehr Bildung in der Freizeit würde auch Ihnen nicht schaden, Herr Kommissar.«